Systemphysik für Ingenieure
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Physik der dynamischen Systeme – Grundlage einer zeitgemäßen Ingenieurausbildung Werner Maurer ZHAW/SoE/IAMP
[email protected] Flurlingen, 22. Juni 2015 1. Zusammenfassung Die Systemphysik ist von Hans U. Fuchs und Werner Maurer am Technikum Winterthur (heute ZHAW) auf der Basis des Karlsruher Physikkurses für die Ingenieursausbildung entwickelt worden. Die Systemphysik beschreibt die Hydrodynamik, die Mechanik, die Elektrodynamik und die Thermodynamik mit einem einheitlichen Formalismus. Dabei bildet die Bilanz von Primärmengen wie Volumen, elektrische Ladung, Impuls, Drehimpuls und Entropie in jedem dieser Gebiete ein zentrales Gesetz. Ausgehend von der Bilanz wird mit Hilfe der konstitutiven Gesetze (kapazitives, resistives und induktives Systemverhalten) für jedes der genannten Gebiete ein einheitlicher Formalismus entwickelt, der sich auch für die Beschreibung räumlich verteilter Systeme eignet. Die Energie wird kohärent und konsistent dargestellt und die zugehörige Bilanz als zweite Ebene über die die dynamischen Strukturen gelegt. Modellbildung und Simulation werden Im Fach „Physik und Systemwissenschaft“ ab erster Woche eingesetzt, um die Studierenden zu aktivieren, um ihnen die Zusammenhänge zu erklären und um sie zum eigenständigen Modellieren, Simulieren und Validieren von dynamischen Systemen anzuregen. Nach neun Jahren intensiver Entwicklungsarbeit darf behauptet werden, dass es weltweit keinen einführenden Physikkurs gibt, in dem die naturwissenschaftliche Basis für Ingenieure derart konsequent aufgebaut wird wie in der Systemphysik. 2. Einleitung Ingenieure lösen ihre Probleme mit den Methoden, die sich im jeweiligen Kontext bewährt haben. Deshalb entstehen mit jedem Technologieschub neue Verfahren, welche die älteren ergänzen oder gar ersetzen. Weil jeder Ingenieurgeneration in etwa die gleiche Lernzeit zur Verfügung steht, müssen Altlasten [1] entsorgt, das Basiswissen konsolidiert und die Methodenvielfalt auf einem erträglichen Niveau gehalten werden. Technik und Ingenieurskunst entwickeln sich evolutionär. Analog zur biologischen Evolution werden dabei zwei Strategien angewendet: Spezialisierung und Generalisierung. Die hier vorgestellte Physik der dynamischen Systeme (Systemphysik) setzt auf Generalisierung. Mit den drei tragenden Elementen Bilanz, Rolle der Energie und konstitutive Gesetze wird ein theoretisches Gebäude errichtet, das von der Hydraulik über die Elektrizitätslehre und Mechanik bis zur Thermodynamik reicht. Die Systemphysik ist im Bereich der Berufsbildung [2] und an einer Fachhochschule [3] erprobt worden. Das Potenzial dieses Ansatzes dürfte ausreichen, um die gesamte Grundausbildung der Ingenieure effizienter zu gestalten und die jungen Leute besser auf die Bedürfnisse ihrer späteren Arbeit vorzubereiten. Diese gewagte Behauptung stützt sich auf drei Argumente, welche die Stärke des systemdynamischen Ansatzes ausmachen. Erstens ist der Formalismus kompakt und kohärent, wobei sich die Kohärenz sowohl auf die verschiedenen Gebiete als auch auf die Geometrie (räumlich konzentrierte und verteilte Systemen) bezieht. Zweitens sind Bilder entwickelt worden, die das Problemlösungsverhalten der Studierenden positiv beeinflussen. Drittens liefert die Systemphysik eine theoretische Basis für die neueren Modellierungssprachen wie Modelica [4] oder VHDL-AMS [5].
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Das dritte Argument weist auf eine Schwachstelle in der heutigen Ingenieurausbildung hin. Speziell an Fachhochschulen hat die Leistungsfähigkeit der Simulationswerkzeuge dazu geführt, dass die Studierenden viel Zeit damit verbringen, die unterschiedlichsten Tools kennen zu lernen. Statt ihre analytischen und synthetischen Fähigkeiten zu schulen, befassen sich die Studierenden oft nur noch mit der Parametrisierung vorkonfigurierter Modelle. In den nachfolgenden Abschnitten wird dargelegt, wie die Physik der dynamischen Systeme auf älteren Ansätzen aufbaut, wie sie gebietsübergreifend dynamische Strukturen sichtbar macht und wie sie das Modellieren technischer Systeme fördert. 3. Meilensteine auf dem Weg zu einer einheitlichen Systemtheorie Die Forderung nach einer gebietsübergreifenden Beschreibung dynamischer Systeme, einer Art technischen Esperanto, entspricht einem alten Wunsch aus der Regelungstechnik. Diesem Wunsch steht die Realität gewachsener Heuristik entgegen. Wer hier etwas ändern will, muss mit vielen, scheinbar zentralen Lehrsätzen aufräumen, ein neues Paradigma setzen und die Grundlagen soweit aufbereiten, dass eine wachsende Zahl von Ingenieurinnen und Ingenieuren diese Ideen aufnehmen und weiter entwickeln können. Der bloße Hinweis auf analoge Differenzialgleichungen greift zu kurz und ist zuwenig tragfähig. Eine erste Sicht auf die Modellierung dynamischer Systeme zeigt ein ziemlich heterogenes Bild. So werden mechanische Systeme mit Hilfe des Schnittprinzips analysiert und dann nach dem Newton-Euler-Verfahren in ein System von Differentialgleichungen zweiter Ordnung abgebildet. Bei elektrischen Netzwerken geht man von der Topologie aus und setzt dann die Systemeigenschaften in Form von Strom-Spannungs-Beziehungen ein. Thermische Systeme werden je nach Einsatzgebiet unterschiedlich modelliert: im irreversiblen Bereich geht man von der Energiebilanz aus, reversible Prozesse beschreibt man quasistatisch und bei offenen Systemen formuliert man zuerst die Bilanzgleichungen für Energie, Masse und Impuls. Ansätze für eine einheitliche Beschreibung dynamischer Systeme findet man am ehesten in der Elektrotechnik. Ausgehend von den elektrischen Netzwerken werden in den andern Gebieten der Technik kapazitive, resistive und induktive Glieder identifiziert. Dass sich die Masse in der Mechanik kapazitiv und in der Hydraulik induktiv verhält, stört den Elektroingenieur wenig. Er ist sich von den Netzwerken her gewohnt, eine Schaltung in zueinander dualen Formen zu realisieren. Wie selbstverständlich Analogieüberlegungen sind, zeigt sich etwa in einem bekannten Lehrbuch zur Regelungstechnik von Dorf und Bishop [6]. Dort werden im zweiten Kapitel lineare Systemen aus der Hydraulik, der Mechanik (Translation und Rotation), der Elektrik sowie der Thermodynamik in Beziehung zueinander gesetzt. Tiefgreifender, formaler und mit einem umfassenderen Anspruch haben sich D. Karnopp, D. Margolis und R. Rosenberg [7] des Problems angenommen. Ihre systemdynamische Beschreibung technischer Prozesse, die unter dem Namen Bondgraphen-Theorie bekannt geworden ist, setzt bei der einheitlichen Beschreibung des Energietransportes an. Energieströme lassen sich oft als Produkt zweier Größen darstellen, wobei die eine Größe Potenzial- und die andere Stromcharakter hat. Mit einem Satz einfacher Regeln werden einmal beschriebene Systeme vereinfacht und kausalisiert. Dieser klaren Sicht auf eine umfassende Beschreibung dynamischer Systeme (unified approach) stehen zwei Mängel entgegen. Erstens fügen sich konvektive Transportprozesse nicht ins Potenzial-Strom-Schema ein. Zweitens sind in der Mechanik Strom und Potenzial dual definiert worden. Dem zweiten Einwand mag man mit dem Hinweis auf die Möglichkeit dualer Schaltungen begegnen. Doch gilt diese Betrachtungsweise nur für konzentrierte Systeme. Bei der Beschreibung räumlich verteilter Systeme muss man für jede Stromgröße eine Kontinuitätsgleichung formulieren und dem Gradienten
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des Potenzials eine „Triebkraft“ zuweisen können. Und das funktioniert mit der dualen Formulierung (Kraft als Potential und Geschwindigkeit als Strom) nicht. Der methodische Ansatz von J. Forrester [8], den man ebenfalls System Dynamics nennt, baut auf der Bilanzierfähigkeit grundlegender Größen auf. Die Darstellung mittels Behälter (Stocks), Raten (Flows) und sowie Parameter, Einfluss- und Zwischengrößen, die über Wirkpfeilen (Action Connector) graphisch miteinander verbunden werden, ist derart intuitiv, dass diese Methode problemlos auf der Sekundarschulstufe II [9] angewendet werden kann. Bei komplexeren Systemen erweist sich die auf einfache Handhabung ausgerichtete Darstellung eher als Nachteil. Dennoch eignen sich die systemdynamischen Werkzeuge auch zur Lösung technischer Probleme [10]. Unabhängig von den Bedürfnissen der Technik und Wirtschaft ist an der Universität Karlsruhe ein Physikkurs entwickelt worden, dem eine ähnliche Philosophie wie der Bondgraphen-Modellierung zu Grunde liegt. Der Karlsruher Physikkurs [11] unterscheidet sich von der historisch gewachsenen Schulphysik durch eine kohärente Beschreibung des Energieaustausches und einer Begriffsbildung, die den Erfahrungshintergrund der Schülerinnen und Schüler stärker berücksichtigt. Wie die Entropie im 7. Schuljahr erfolgreich eingeführt wird, ist auf einer DVD festgehalten [12]. Die Physik der dynamischen Systeme, die in den letzten dreißig Jahren von Hans U. Fuchs und mir in Winterthur entwickelt worden ist, baut auf dem Karlsruher Physikkurs auf, benutzt die systemdynamische Modellierungstechnik und orientiert sich an der mathematischen Sprache der Kontinuumsphysik. In den nachfolgenden Abschnitten sollen die zentralen Ideen der Physik der dynamischen Systeme, ihre Anwendung auf einzelne Zweige der Physik sowie die möglichen Auswirkungen auf die Ausbildung von Ingenieurinnen und Ingenieuren dargelegt werden. 4. Grundprinzipien der Systemphysik Die Bilanz bezüglich eines ausgewählten Systems für Größen wie Masse, Volumen, Stoffmenge, Impuls, Drehimpuls, elektrische Ladung oder Entropie bilden den Kern der systemdynamischen Modellierung. Die Bilanzgleichung setzt Ströme, Quellen und Produktionsraten der Inhaltsänderung im System gleich. Ströme fließen über die Oberfläche, Quellen sind über das ganze System verteilt und Produktionsraten treten nur dann auf, wenn die zu bilanzierende Menge nicht erhalten bleibt. Eine positive Produktionsrate heißt Erzeugungsrate, eine negative nennt man Vernichtungsrate. Für die Entropie existieren demnach nur Erzeugungsraten. Bei offenen Systemen treten neben den leitungsartigen noch konvektive Ströme auf. In Formeln gefasst nimmt die Bilanz die folgende Gestalt an
I i
Mi
I M ,conv. j M M M
(1)
j
M steht für Masse, Volumen, Stoffmenge, Impuls, Drehimpuls, elektrische Ladung oder Entropie. Stromstärken werden mit I, Quellen mit und Produktionsraten mit bezeichnet. Die Bilanzgleichung muss je nach Menge den Gegebenheiten angepasst werden. Eine Menge kann leitungsartig, also ohne nachweisbare Bewegung, oder konvektiv, zusammen mit der „Materie“, über die Systemoberfläche fließen. Die Unterscheidung in konvektive und leitungsartige Ströme ist vor allem für die Größen Impuls und Entropie von Bedeutung. Die leitungsartige Stromstärke des Impulses bezüglich eines Systems nennt man Oberflächenkraft, der konvektive Transport heißt oft Impulsstrom. Da die Begriffe leitungsartig, konvektiv und strahlungsartig der Wärmelehre entstammen, beschreiben sie natürlicherweise die Transportarten der Entropie. Stoffmenge, Masse und Eigenvolumen sind an jedem konvektiven Transport beteiligt. Elektrische Ladung fließt in der Regel ohne nachweisbare
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Bewegung, also meistens leitungsartig, durch die Materie hindurch. Der Transport von Drehimpuls entzieht sich dem direkten Nachweis, kann dafür aber mittels Quellen und begleitenden Impulsströmen beschrieben werden. Eine umfassendere Erklärung zu den einzelnen Größen und ihren Transporten wird in den jeweiligen Abschnitten gegeben. Die Systemphysik weist der Energie eine klar definierte Rolle zu. Energie kann wie jede andere Menge gespeichert oder ausgetauscht werden. Nur ist die Energie schwerer fassbar als etwa die elektrische Ladung oder der Impuls. Seit Einstein wissen wir, dass Energie und Masse äquivalent sind, dass die Energie schwer und träge ist. Wenn fälschlicherweise von Umwandlung von Masse in Energie die Rede ist, dann wird zum Ausdruck gebracht, dass diese beiden Mengen im eigenen Weltbild getrennte Größen darstellen. Dies hängt nicht nur mit der historischen Entwicklung des Energiebegriffs und der verknorzten Einführung im Unterricht zusammen. Was wir umgangssprachlich als Energie bezeichnen, ist nur die in einem Prozess umgesetzte Energie (3). Zudem schreiben wir der Energie Eigenschaften zu, die sachlogisch zur Entropie, zur elektrischen Ladung oder zum Impuls gehören. Gespeichert wird die Energie entweder vom System selber (innere Energie), in einem äußeren Feld (potenzielle Energie) oder relativ zum Beobachter (Bewegungsenergie). Ein geschlossenes System kann Energie in Form von Arbeit, Wärme oder Elektrizität mit der Umgebung austauschen. Ihren Namen erhält die ausgetauschte Energie von der mittransportierten Größen: die Energie heißt Arbeit, weil sie zusammen mit dem Impuls oder Drehimpuls über die Systemgrenze geht; bei der Wärme ist die Entropie die Begleiterin und bei der Elektrizität die elektrische Ladung. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die verschiedenen Energieformen nach dem Karlsruher Physikkurs. Menge Masse Volumen Stoffmenge el. Ladung Impuls Drehimpuls Entropie
M m V n Q px Lx S
Stromstärke IM Massenstrom Im Volumenstrom IV Stoffmengenstrom In el. Strom I Kraft Fx Drehmoment Mx Entropiestrom IS
Potential (Energieträger) Gravitationspotenzial Druck chemisches Potential elektrisches Potential Geschwindigkeit Winkelgeschwindigkeit absolute Temperatur
M G p
vx
x
T
Energiestrom IW G Im p IV In I vxFx+ vyFy+ vzFz xMx+y My+z Mz T IS
Tabelle 1: Mengen, Ströme, Potentiale und zugeordneter Energiestrom
Der Energiestrom wird nachfolgend zugeordneter Energiestrom genannt. Der Energiestrom eignet sich speziell für die Energiebilanz, wie sie in der Hydrodynamik, der Mechanik oder der Thermodynamik formuliert wird. In der Elektrotechnik betrachtet man dagegen meist nur die Prozessleistung über einem Stromglied. Weil beide Sichtweisen ihre Berechtigung haben, unterscheidet die Systemphysik klar zwischen zugeordnetem Energiestrom und Prozessleistung. Die Prozessleistung berechnet sich aus der Differenz des zugeordneten Energiestromes zwischen Ein- und Ausgang eines Stromgliedes. Im einfachsten Fall koppeln zwei Prozesse über die Prozessleistung. zugeordneter Energiestrom: Prozessleistung:
IW M I M
P M 1 M 2 I M
(2) (3)
Der Unterschied zwischen zugeordnetem Energiestrom und Prozessleistung entspricht den 0und 1- Junction der Bondgraphen. Tabelle 1 gilt mit Ausnahme von Masse, Volumen und Stoffmenge für leitungsartige Ströme. Sobald Volumen, Masse und Stoffmenge ausgetauscht wird, nennt man das System offen und den zugehörigen Strom konvektiv. Bei konvektiven Strömen ist das Karlsruher Energie-
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trägerschema oder auch die Bondgraphentheorie nicht mehr ohne weiteres anwendbar. Im konvektiven Strom führt die Masse kinetische sowie potentielle und das Volumen hydraulische Energie mit. Dazu kommt noch der Transport der inneren Energie IW ,tot
v2 v2 ghI m I m pIV wI m gh p W IV 2 2
(4)
Der Energie weisen wir das Formelzeichen W zu. Spezifische Größen, also Mengen pro Masse, werden klein geschrieben und Dichten werden mit dem griechischen Buchstaben bezeichnet. Innere und hydraulische Energie lassen sich zur Enthalpie (Formelzeichen H) zusammenfassen v2 IW ,tot gh h I m 2
(5)
Vergleicht man den Energietransport bezüglich zweier Referenzflächen längs eines stationären Stromes, erhält man aus (4) den Satz von Bernoulli. Der Satz von Bernoulli in seiner engeren Formulierung (ohne innere Energie) besagt, dass längs eines stationären Stromes die Summe über drei Energietransportarten konstant bleibt. Die Energie kann also nur zwischen hydraulischer, potentieller und kinetischer neu verteilt werden. Mit der Systemphysik lassen sich räumlich konzentrierte System nach einem einheitlichen Schema modelliert. In einem ersten Schritt müssen die bilanzierfähigen Größen identifiziert werden. Danach stellt man für jedes Teilsystem und jede Größe eine Bilanzgleichung auf. Die Modellierung ist abgeschlossen, sobald genügend Systemeigenschaften, konstitutive Gesetze genannt, formuliert und eingebracht worden sind. Aus didaktischen Gründen behandeln wir als erstes Gebiet die Hydrodynamik mit dem Eigenvolumen als bilanzierfähige Menge und dem Druck als zugehöriges Potenzial. In der Hydrodynamik werden die grundlegenden Bilder erzeugt und eine Einführung in die Modellbildung mittels systemdynamischer Werkzeuge gegeben. Bild 1 zeigt das systemdynamische Modell für den Druckausgleich zwischen zwei PET-Flaschen.
Bilde 1: System und Modell mit Bilanzebene, konstitutiven Gesetze für Druck und Volumenstromstärke sowie Energieebene.
Weil sich die Physik der dynamischen Systeme an der Sprache der Kontinuumsphysik orientiert, findet beim Übergang von den konzentrierten zu den räumlich verteilten Systemen kein Paradigmenwechsel statt: Bilanzgleichungen gehen in die Kontinuitätsgleichungen über, die konstitutiven Gesetze behalten ihre Struktur bei und die Rolle der Energie bleibt sich gleich.
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5. elektrische Netzwerke
Die Theorie der elektrischen Netzwerke liefert wichtige Elemente zur Systemphysik. Die elektrische Ladung, der separat messbare Strom und das elektrische Potenzial bilden die Basisgrößen, um elektrische Systeme dynamisch zu modellieren. Mit drei linearen Elemente Kapazität, Widerstand und Induktivität kann schon eine stattliche Zahl von Erscheinungen in den verschiedenen Zweigen der Physik erklärt werden. Da elektrische Netzwerken seit jeher dynamisch modelliert werden, sollen hier im Sinne einer Ergänzung nur ein paar kontroverse Fragen diskutiert werden.
Bilde 2: Zwei isoliert aufgestellte Metallkugeln werden entgegengesetzt gleich aufgeladen. Verbindet man die beiden Kugeln mit einem optimal isolierten Draht, sind nachher beide Kugeln ungeladen. Die Symmetrie dieses Vorgangs wird gebrochen, sobald man der Ladung ein Vorzeichen zuweist. Damit ist auch die Richtung des elektrischen Stromes festgelegt.
Die Richtung des elektrischen Stromes ist mit der Wahl des positiven Vorzeichens für die Ladung festgelegt (Bild 2). Die Problematik der negativen Ladung des Elektrons hat sich in der Pionierzeit der Elektrotechnik noch nicht gestellt, weil das Elektron erst 1895 entdeckt worden ist. Heute wird dieses Thema praktisch in jedem Lehrbuch aufgegriffen und oft mit der logisch nicht haltbaren Definition von technischer und physikalischer Stromrichtung regelrecht erschlagen Ein Elektron ist ein Teilchen mit einer negativen Ladung. Folglich fließen im Kupferdraht ein Elektronenstrom und ein elektrischer Strom, wobei die beiden Ströme über die Ladung pro Teilchen gekoppelt sind. Statt Elektronenstrom kann auch der Stoffmengenstrom genommen werden
I Q zeI N zeN A I n
(6)
z heißt elektrochemische Wertigkeit oder Ladungszahl, e ist die Elementarladung und NA steht für die Avogadrokonstante. Weil die Ladungszahl bei Elektronen negativ ist, fließt der Teilchenstrom gegen den elektrischen Strom. Auch der weiter unten zu behandelnde konvektive Impulsstrom fließt gegen den Massenstrom, sobald der spezifische Impuls (Impuls pro Masse) negativ wird. Die Vorzeichenfrage bei Strömen und die Kopplung zwischen den einzelnen Strömen sollten möglichst früh und konsistent geklärte werden. Nur so kann man später darauf zurückgreifen. Für das Verhalten eines einfachen Speichers liefert die elektrische Netzwerktheorie kein tragfähiges Bild. Kapazitäten sind wie Widerstände und Induktivitäten Stromglieder, die netto keine Ladung speichern. Das Bilanzgesetz erscheint in der Elektrizitätslehre nur in der dürftigen Form des Knotensatzes. Dies hat zur Folgen, dass auf den Begriff des zugeordneten Energiestromes verzichtet werden kann und nur die Prozessleistung (3) von Bedeutung ist.
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Anhand des elektrisch zugeordneten Energiestromes (2) kann die Problematik einer Modellstruktur gut erläutert werden. Fragt man sich bei einer Hochspannungsleitung wo die Energie genau durchfließt, stößt man auf das elektromagnetische Feld als „Energieträger“. Der Energietransport ist mit Hilfe des Poynting-Vektors sogar lokalisierbar. Obwohl die Elektroingenieure wissen, dass die Energie bei elektrischen Netzwerken über das elektromagnetische Feld transportiert wird, verzichten sie meist auf diese Erklärung und beschränken sich auf eine einfache Betrachtung mit Strom und Spannung. Wenn nachfolgend von zugeordnetem Energiestrom und von resistivem, kapazitivem oder induktivem Systemverhalten die Rede ist, geht es also nicht um die letzte „Wahrheit“, sondern um ein praktisches Verständnis dynamische Systeme im Sinne einer gewissen Denkökonomie. 6. Impuls und Drehimpuls als Mengen
Die Newton-Euler-Mechanik, die ansatzweise schon an Volksschulen als Einführung in die Physik unterricht wird, ist am Himmel entstanden und eignet sich deshalb eher schlecht zur Beschreibung irdischer Prozesse. Ob sich der nachfolgend dargelegte Vorschlag zur Umgestaltung der Mechanik durchsetzen wird, hängt von vielen Faktoren ab. Entscheidend wird letztlich die Haltung der Dozierenden an den Hochschulen sein. Mit der Relativitätstheorie ist der Impuls oder etwas präziser der Energie-Impuls-Vektor zu einer zentralen Größe aufgerückt. Der Drehimpuls, der bis anhin nur als geisterhafte Erhaltungsgröße in Erscheinung getreten ist, hat mit der Quantenmechanik eine ähnliche Aufwertung erfahren. Folglich ist der Impuls so fundamental wie die Masse oder die Energie und der Drehimpuls ist quantisierbar wie die elektrische Ladung. Impuls und Drehimpuls sind Primärgrößen, deren Existenz heute nicht mehr über Erhaltungssätze bewiesen werden muss. Im Gegensatz zur Masse oder elektrischen Ladung haben Impuls und Drehimpuls Vektoreigenschaft. Das erschwert ihre Einführung im Elementarunterricht. Wer kann sich schon eine vektorwertige Menge vorstellen? Versieht man nun das zwingend einzuführende Bezugsystem zusätzlich mit einem euklidschen Koordinatensystem, spaltet dieses Weltsystem sowohl den Impuls als auch den Drehimpuls in die zugehörigen Komponenten auf. Jede dieser sechs Komponenten darf danach als eigenständige Menge behandelt werden. Der Einwand, dass nur in koordinatenfreier Darstellung die Struktur der Mechanik klar erkennbar sei, trifft vielleicht für die Ausbildung von Physiker zu, aber nicht für die Grundlagen der Ingenieurskunst. In der Praxis muss auf jeden Fall ein Weltsystem eingeführt werden. Zudem wissen heute viele Studierende dank den Computerspielen, wie man Koordinaten transformiert. Impuls und Drehimpuls sind Primärgrößen und als solche sollten sie auch wahrgenommen werden: ein Körper bewegt sich, weil er Impuls aufgenommen hat, und er dreht sich, sobald er Drehimpuls speichert. Erklärt man Impuls und Drehimpuls analog zur elektrischen Ladung, stellen sich ganz neue Fragen. Woher holt das Auto den Impuls beim Anfahren und wohin gibt es diese Bewegungsmenge beim Bremsen wider ab? Wie fließt der Impuls bei einem Boxkampf? Wie strömt der Drehimpuls durch einen Antriebsstrang? Sich rückwärts bewegende Körper oder rückwärts drehende Schwungräder weisen einen Mangel an Impuls beziehungsweise Drehimpuls auf. Um sie anzuhalten, muss man ihnen den Fehlbetrag von der Erde her zuführen. Der Symmetriebruch bezüglich vor- und rückwärts, der mit der Einführung des Koordinatensystems passiert, ist so willkürlich wie die Vorzeichendefinition in der Elektrizitätslehre. Einem negativ geladenen Körper muss man auch Ladung zuführen, damit er elektrisch neutral ist. Die Erde funktioniert als „Grossbank“, welche Impuls und Drehimpuls liefert und Überschüsse absorbiert. In der systemdynamischen Betrachtungsweise mutiert die Erde von einem
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reinen Träger des Koordinatensystems zu einem aktiven System, dass dank seiner Größe nur unmerklich auf den Austausch von Impuls und Drehimpuls reagiert. Ein Körper kann bis zu sechs Bewegungsmengen speichern. Die zugehörigen Speichergesetze lauten pi mvi
(i x, y, z )
(7)
Li J ij j
(i, j x, y, z )
(8)
In Formel (8) ist die Summationskonvention von Einstein, wonach über gleiche Indices zu summieren ist, angewendet worden. Die Masse und die drei Massenträgheitsmomente (Diagonalelemente des Trägheitstensors) bilden Kapazitäten bezüglich der zugehörigen Komponenten. Die Deviations- oder Zentrifugalmomente (Nichtdiagonalelemente des Trägheitstensors) sorgen für eine Kopplung zwischen nicht zusammengehörigen Komponenten von Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeit. Speichervorgänge für Impuls und Drehimpuls können im Flüssigkeitsbild veranschaulicht werden. In diesem Bild erscheint der Impuls oder der Drehimpuls als Flüssigkeit. Den Körper selber stellt man als zylinderförmiges Gefäß dar, das in einem riesigen See, der die Erde darstellt, eingetaucht ist. Die Geschwindigkeit oder die Winkelgeschwindigkeit ist als Füllhöhe direkt erkennbar. Bild 3 zeigt das Flüssigkeitsbild und das Geschwindigkeits-Zeit-Diagramm eines Rangierstoßes zwischen einem auflaufenden und einem stehenden Güterwagen. Der stehende Wagen ist gebremst und halb so schwer wie der auflaufende. Die Puffer sind mit klassischen Reibfedern bestückt.
Bilde 3: Das Flüssigkeitsbild zeigt die dynamischen Zusammenhänge eines Auflaufstoßes bei Güterwagen. In diesem Bild wird der Impuls zu einer Flüssigkeit, die Wagen zu Töpfen mit der Masse als Grundfläche und der Geschwindigkeit als Füllhöhe. Der von einem Wagen zum andern fließende Stromer erzeugt in beiden Gefäßen eine Füllhöhenänderungsrate (Beschleunigung). Kinetische Energie, Energieumsatz, zugeordneter Energiestrom und Prozessleistung können direkt dem Bild entnommen werden.
Am Beispiel des Rangierstoßes können wesentliche Zusammenhänge der Mechanik erläutert werden. Beim Aufprall gibt der auflaufende Wagen Impuls an den ruhenden ab. Die Geschwindigkeit, das zugehörige Potenzial, legt fest, wie viel Energie der Impulsstrom aus dem auflaufenden Wagen mitnimmt, in den Puffern freisetzt und dem zweiten Wagen zuführt. Bild 4 zeigt das systemdynamische Modell eines Rangierstoßes sowie das simulierte Kraft-HubDiagramm.
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Bilde 4: Das systemdynamische Modell eines Auflaufstoßes: Links unten die Impulsbilanz, links oben die Kinematik, dazwischen die Verknüpfungen und Gesetze für den Reibfederpuffer; rechts die Energiebilanz mit kinetischer sowie Pufferenergie und den zugeordneten Energieströmen bzw. der Prozessleistung. Die folgenden Beziehungen bilden das Grundgerüst dieser Modellierung sowie das KraftHub-Diagramm
Impulsbilanz:
I
Impulsinhalt:
px mvx
(10)
zugeordneter Energiestrom:
IW vx I px
(11)
Prozessleistung:
P vx1 vx 2 I px
(12)
Energiebilanz:
I
(13)
px
W
p x
W kin
(9)
Impulsströme nennt man auch Kräfte und der zugeordnete Energiestrom heißt Leistung der Kraft. Die Leistung über den Puffern, zu der es in der klassischen Darstellung kein Pendant gibt, erscheint im Flüssigkeitsbild als Stromstärke mal Fallhöhe. Mit etwas Intuition kann die Formel für die kinetische Energie (Impuls mal mittlere Pumphöhe) direkt dem Flüssigkeitsbild entnommen werden kinetische Energie:
Wkin px
vx 1 2 mvx 2 2
(14)
Kräfte sind Impulsströme bezüglich eines Körpers. Wer dies einmal begriffen hat, wird die Schnittbilder (free-body-diagram) anders lesen und mit der korrekten Anwendung des Wechselwirkungsprinzips kaum Mühe haben. Kombiniert man die Impulsbilanz mit dem Kapazitivgesetz, erhält man das Grundgesetz der Mechanik (Aktionsprinzip von Newton). Dieses 2. Gesetz von Newton verknüpft die Impulsbilanz mit der kapazitiven Systemreaktion. Dabei sollte man bedenken, dass nur im Modell des starren Körpers die Beschleunigung des Massenmittelpunktes eine direkt beobachtbare Größe ist. Folglich ist der historisierende Einstieg über die Newtonschen Gesetze, der die Kraft auf die Beschleunigung zurückführt, weder denkökonomisch noch didaktisch sinnvoll. In der Drehmechanik kann eine zum Aktionsprinzip von Newton analoge Beziehung nur für den Spezialfall der Rotation um eine Hauptachse gefunden werden. Das etwas komplexere Kapazitivgesetz (8) erlaubt im Allgemeinen keinen direkten Bezug zwischen Drehmoment und Winkelbeschleunigung. Sogar bei einer Rotation um eine feste Achse, besteht kein direkter Zusammenhang mehr zwischen den Drehmomenten und der Winkelbeschleunigung. Betrachten wir dazu eine Eiskunstläuferin bei der Pirouette, die ihre Arme und Beine axial
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ausrichtet. Sie erfährt bei dieser Aktion eine Winkelbeschleunigung ohne Einwirkung eines Drehmomentes. Ohne diese Entkopplung von Drehmoment und Winkelbeschleunigung könnte eine fallende Katze nicht immer auf den Pfoten landen. 7. Kraftflüsse
Mit der korrekten Darstellung der Impulsströme könnte der Traum vieler Konstrukteure in Erfüllung gehen. Die Idee des kraftflussgerechten Gestaltens geistert seit Jahrzehnten in den Köpfen herum. Gebäude, Brücken, aber auch Maschinenteile sollten gemäß dieser Lehrmeinung so gestaltet werden, dass der Kraftfluss optimal durchgeleitet wird [13]. Geht man der Frage nach, was unter dem Kraftfluss genau zu verstehen ist, läuft man ins Leere. Eine Kraft, also eine Schnittgröße, kann nach Definition nicht fließen. Nur mengenartige oder bilanzierfähige Größen wie der Impuls, die elektrische Ladung oder die Entropie bilden Flüsse. Folglich ist hinter dem Begriff Kraftfluss der Transport von Impuls zu vermuten. Die Dichte des leitungsartigen Impulsstromes wird bis auf das Vorzeichen und ein wirkungslose Transposition durch den Spannungstensor dargestellt. Will man nun Impulsströme graphisch darstellen, benötigt man drei Bilder, für jede Impulskomponente eines. Bild 5 zeigt die beiden Impulsstrombilder eines auf Zug belasteten Blechstückes. Der primäre Impulsstrom wird durch die Verengung gegen die Mitte abgedrängt. Infolge der Symmetrie des Spannungstensors werden Wirbelströme der zweiten Komponente induziert. Diese StromStrom-Kopplungen sorgt dafür, dass ein eingekerbter Zugstab an der engsten Stelle höher belastet ist, als mit dem naiven Kraftflussbild zu erwarten wäre.
Bilde 5: In einem unter Zug stehenden Blechstreifen fließt der x-Impuls gegen seine Bezugsrichtung, Dieser Impuls erzeugt bei der Verengung infolge der Symmetrie des Spannungstensors Wirbelströme der y-Komponente.
Die Systemphysik liefert zwei Erklärungen für den Kraftfluss. Die erste bezieht sich auf den Transport der drei Impulskomponenten, deren Ströme über die Symmetrie des Spannungstensors koppeln. Die Wirkung der Gravitation, die je nach Wahl des Koordinatensystems als Quellen- oder Senkendichte in Erscheinung tritt, vervollständigt das Bild der Impulsströme in statischen Strukturen. Die zweite Erklärung nimmt den Transport des Drehimpulses dazu. Neben dem Impuls wird auch noch Drehimpuls durch ein Bauwerk oder eine Maschine transportiert. So fließt in gebogenen Stäben Drehimpuls quer zu eigenen Bezugsrichtung. Bei Torsion wird, wie man anhand einer Antriebswelle zwischen Motor und Schwungrad überlegen kann, Drehimpuls in seine eigene Bezugsrichtung transportiert. Drehimpulsströme sind
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immer von Impulsströmen eingegrenzt. Zudem erzeugen quer fließende Impulsströme Drehimpulsquellen und -senken. Eine umfassende Darstellung von Impuls- und Drehimpulsströmen in statischen Strukturen ist in einem weiteren Aufsatz zu finden [14]. 8. offene Systeme
Impuls fließt leitungsartig durch die Materie hindurch oder wird quellenartig mit dem Gravitationsfeld ausgetauscht. Beide Transportarten führen zum Kraftbegriff, sobald ein System ausgegrenzt, also frei geschnitten wird: eine Oberflächenkraft markiert die Stärke eines Impulsstromes bezüglich eines Systems und die Gewichtskraft gibt die Quellenstärke bezüglich dieses Systems an. Die dritte Transportart, der konvektive Impulsstrom, kann nicht ohne Einschränkung als Kraft bezeichnet werden. Das soll am Beispiel einer senkrecht startenden Rakete gezeigt werden. Die Impulsbilanz bezüglich der Rakete enthält auf der „Stromseite“ drei Terme, die Gewichtskraft, den Luftwiderstand und den konvektiven Impulsstrom des austretenden Gases
FG FW I pz conv pz
(15)
Die positive z-Achse des Koordinatensystems weist nach oben. Ersetzt man nun den Impulsinhalt der Rakete durch Masse mal Geschwindigkeit und die konvektive Impulsstromstärke durch spezifischen Impuls mal Massenstromstärke, nimmt (15) folgende Form an FG FW vGas I m
d mvz dt
vGas vz c
(16)
Die Geschwindigkeit des ausströmenden Gases bezüglich der Erde ist der spezifische Impuls (Impuls pro Masse). In der Literatur wird leider oft die Ausströmgeschwindigkeit c des Gases relativ zur Rakete als spezifischer Impuls bezeichnet. Die Impulsbilanz (16) kann nun mit Hilfe der Massenbilanz (Massenstromstärke gleich Änderungsrate der Masse) vereinfacht werden z mv z FG FW vz c I m mv
I m m
FG FW cI m mvz
FG , FW , I m 0
(17)
Nennt man die Größe -cIm Schubkraft, nimmt die Impulsbilanz (17) die Form des Aktionsprinzips an. Nur ist in diesem Fall Masse mal Beschleunigung nicht mehr gleich der Änderungsrate des Impulses. Generell erschwert das historisierende Festhalten an der NewtonMechanik den Zugang zu offenen Systemen. Baut man die Mechanik dagegen vom Impuls und vom Drehimpuls statt von der Geometrie her auf, fallen einige monströse Herleitungen weg. Impuls wird leitungsartig oder konvektiv durch den Raum transportiert und im Innern des Systems mit dem Gravitationsfeld ausgetauscht. Die Summe über alle Stromstärken ergibt zusammen mit der Quellenstärke die Änderungsrate. Will man diese Aussage auf die kontinuierlich verteilte Materie übertragen, muss die Kontinuitätsgleichung für die Größe Impuls formuliert werden. Dazu setzt man die Divergenz der beiden Stromdichten zusammen mit der Änderungsrate gleich der Quellendichte
gi T ji , j vi v j , j vi ,t
(i, j x, y, z )
(18)
Formel (18) ist in der Einsteinnotation geschrieben. Danach ist über gleiche Indices zu summieren. Ein Index nach einem Komma bedeutet die partielle Ableitung nach dieser Koordinate. Die einzelnen Terme in (18) sind in der gleichen Reihenfolge wie bei der Rakete (16) aufgeführt: der erste Term beschreibt den Impulsaustausch mit dem Gravitationsfeld, der zweite (Divergenz über den negativen und transponierten Spannungstensor Tij) den leitungs-
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artigen und der dritte (die Divergenz über das Tensorprodukt aus Impulsdichte und Geschwindigkeit) den konvektiven Impulstransport. Nimmt man noch die Kontinuitätsgleichung für die Masse dazu, wonach die Divergenz über die Stromdicht zusammen mit der Änderungsrate null ergeben muss, erhält man einen Ausdruck, der für Newtonsche Flüssigkeiten direkt in Navier-Stokes-Gleichung überführt werden kann
gi T ji , j vi ,t vi , j v j
(i, j x, y, z )
(19)
Gleichung (19) könnte man unter Mithilfe von ziemlich viel Mathematik direkt aus der Newtonschen Mechanik ableiten. Nur tritt dann die Tatsache, dass es sich dabei um eine Kontinuitätsgleichung für den Impuls handelt, stark in den Hintergrund. Impuls- und Drehimpuls sind die Primärgrößen der Mechanik. Ihre Stromstärken bezüglich eines Systems heißen Kräfte bzw. Drehmomente. Die Leistung einer Kraft oder eines Drehmomentes fügt sich als zugeordneter Energiestrom zusammen mit der Prozessleistung in eine systemdynamisch begründete Energiebetrachtung ein. So bringt die Systemphysik die Mechanik in eine zur Elektro- oder der Thermodynamik analoge Form. Diese kohärente Beschreibung erleichtert die Modellbildung beträchtlich, insbesondere bei neuen oder noch kaum beschriebenen Phänomen. 9. Knacknuss Thermodynamik
Wie arbeitet ein Kühlschrank? Die gängige Erklärung, wonach das Kühlaggregat Wärme mit Hilfe der elektrischen Energie von innen nach außen fördert, ist korrekt und einleuchtend. Setzt man nun das Wort Wärme mit thermischer Energie gleich, kommt man in einen Erklärungsnotstand, insbesondere wenn man Energie als Arbeitsvermögen definiert hat. Wie kann das eine Arbeitsvermögen, die elektrische Energie, ein anderes Arbeitsvermögen, die Wärme, pumpen? Spätestens seit Einstein im Jahre 1905 gezeigt hat, dass die Trägheit eines Körpers ein Maß für den Energieinhalt ist, hätte man sich der Problematik der Energieformen bewusst werden sollen [15]. Setzt man das umgangssprachliche Wort Wärme dem physikalischen Begriff Entropie gleich, können viele thermische Erscheinungen unmittelbar erklärt werden: zum Heizen muss Entropie zu- und zum Kühlen abgeführt werden; durch Reibung entsteht Entropie. Einzig bei schnellen Kompressions- und Dekompressionsvorgängen sollte man zusätzlich wissen, dass ein Gas Entropie über eine Volumen- und eine Temperaturvergrößerung zu speichern vermag. Folglich verringert sich bei der Kompression der räumlich gespeicherte Teil der Entropie, worauf das Gas mit einer Temperaturerhöhung reagiert, um den Gesamtbetrag an Entropie konstant zu halten. Die mit Formel (3) gegebene Prozessleistung beschreibt die idealisierte Arbeitsweise von Wärmepumpen und Wärmekraftmaschinen, vorausgesetzt die Entropie S wird als Primärmenge und die absolute Temperatur T als Potenzial gesehen Prozessleistung:
P T1 T2 I S
(20)
Mit dieser Zuordnung steht man im Widerspruch zur energetischen Beschreibung thermischer Phänomene, welche mit der Energie als Menge und der Celsiustemperatur als Potenzial arbeitet. Doch diese energetische Beschreibung beschränkt sich auf die einfachen Transport- oder Speichervorgänge und lässt sich nicht zu einer umfassenden Darstellung thermodynamischer Vorgänge ausbauen. Der Schlüssel zu einem umfassenden Verständnis der Thermodynamik liegt bei der Formulierung dissipativer Prozesse. Die Prozessleistung (3) beschreibt, wie viel Energie bei einem Prozess pro Zeit freigesetzt oder aufgenommen wird. Oft koppelt ein treibender Pro-
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zess mit einem getriebenen, wobei der getriebene maximal so viel Leistung aufnehmen kann, wie der treibende freisetzt. Die Differenz, die dissipierte Leistung, dient der Entropieproduktion. Für die zugehörige Produktionsrate gilt S
Entropieproduktionsrate:
Pdiss T
(21)
Bei der Wärmeleitung steht kein zweiter Prozess zur Verfügung, um die vom Entropiestrom freigesetzte Leistung aufzunehmen. Folglich wird die durch das „hinunterfallen“ des Entropiestromes freigesetzte Leistung vollständig dissipiert, womit der Entropiestrom um den produzierten Anteil an schwillt
I S 2 I S1 S I S1
T1 T2 I S1 T2
T1 I S1 T2
(22)
Multipliziert man die Entropiebilanz (22) mit der Temperatur am Ausgang des Wärmeleiters T2, erhält man ein Resultat, das mit Hilfe der Energiezuordnung (2) einfach zu interpretieren ist IW 2 T2 I S 2 T1 I S 1 IW 1
(23)
Die Energieerhaltung längs eines Wärmestromes, der die weit verbreitete Ansicht von Wärme gleich Energie festigt, darf als Ergebnis von Entropieleitung mit maximal möglicher Entropieproduktion gesehen werden. Das Bild des fallenden Wassers lässt sich problemlos auf elektrische oder mechanische Prozesse übertragen: Ladung, Impuls und Drehimpuls können bezüglich ihres eigenen Potenzials hinunterfallen und eine Prozessleistung freisetzen. Nur in der Wärmelehre stößt man mit diesem Bild auf Schwierigkeiten. In einem Widerstand, einer Reibschicht oder einer Rutschkupplung bleiben die durchfließende Ladung, der Impuls- oder der Drehimpulsstrom erhalten und die mitgeführte Energie nimmt ab, wogegen im Wärme leitenden Stab die mitgeführte Energie konstant bleibt und die sie transportierende Entropie zunimmt. Dieser Umstand, der Mitte des 19. Jahrhunderts zur unglücklichen Gleichsetzung von Wärme und Energie geführt hat, erschwert auch heute noch den Zugang zu einem elementaren Verständnis der Entropie. Wer die Thermodynamik verstehen will, sollte sich deshalb zuerst mit reversiblen Vorgängen beschäftigen. Erst danach, wenn die grundlegenden Prozesse verstanden sind, sollte man sich den total irreversiblen Prozessen zuwenden. Die Systemphysik stellt die klassische Thermodynamik vom Kopf auf die Füße: Statt mit den Begriffen Arbeit und Wärme werden Stoffe mit Hilfe von thermischen und mechanischen Prozessen beschrieben [16]. Die Energiebetrachtung bildet dann wie in den andern Zweigen der Physik eine zweite Ebene. Dass eine dynamische Beschreibung thermischer Vorgänge die Modellbildung erleichtert, konnte im Rahmen des Fachs „Physik und Systemwissenschaft für Aviatik“ gezeigt werden. 10. Ingenieurphysik im Studiengang Aviatik
Die Physik hat eine lange und sehr erfolgreiche Geschichte hinter sich. Entsprechend heftig fällt die Kritik an all denen aus, die einen Bruch mit der Tradition herbeiführen wollen [17]. Doch dieser Bruch hat schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts stattgefunden. Die Quantenmechanik stützt sich kaum auf die Axiome und Hauptsätze der klassischen Physik und die Relativitätstheorie hat die Gravitation, das Herzstück Newton-Mechanik, auf reine Geometrie reduziert.
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Die Systemphysik erhebt nicht den Anspruch, die Studierenden besser auf die Anforderungen der modernen Physik vorzubereiten. Sie fokussiert auf die Ausbildung von Ingenieuren. Eine erste Version dieses Aufsatzes ist im Sommer 2006 im Rahmen der Vorbereitungen für den Studiengang Aviatik geschrieben worden. Damals ging es um die theoretische Basis für das Fach „Physik und Systemwissenschaft für Aviatik“. Diese Unterrichtsveranstaltung umfasst 2 x 8 ECTS-Punkte, was für die Studierenden etwa 480 Arbeitsstunden bedeutet. Neben dem totalen Umbau der Inhalte und der zeitlichen Abfolge der Themen sind systemdynamische Modellbildung und Präsentationstechniken wie Bericht, Vortrag und Poster-Präsentation integriert worden. Später kam noch das didaktische Konzept des Flipped Classroom hinzu. Heute, nachdem alle Skripte, Übungen mit umfassenden Lösungen und Videos online verfügbar sind [18] [19] [20], darf behauptet werden, dass weltweit in keinem Physikkurs derart konsequent Modellbildung und Simulation eingesetzt wird mit dem Ziel, die Basisideen einer kohärenten, dynamischen Physik zu vermitteln. Literatur
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