Peripherie und Zentrum: Zagreb im 19. Jahrhundert aus einer anderen Perspektive, in: The Entangled Histories of Vienna, Zagreb and Budapest (18th-20th Century), ed. Iskra Iveljić (Zagreb, 2015), 59-93
ZAGREB, PERIPHERIE UND ZENTRUM: DIE STADT DES 19. JAHRHUNDERTS AUS EINER ANDEREN PERSPEKTIVE Das Denken nimmt in der Stadt Gestalt an, aber die Stadtgestalt ihrerseits bedingt das Denken (Lewis Mumford, Die Stadt, 1963)
Bemerkungen zum Zentrum-Peripherie Konzept in der Forschung der Habsburgermonarchie Einer der wahrhaft größten Fragenkomplexe der Geschichte der Habsburgermonarchie verbirgt sich hinter der Relation Zentrum-Peripherie (oder auch „Zentrum-Semiperipherie-Peripherie“). Von der politischen bis hin zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte, bietet dieser Fragenkomplex immer wieder neue Blickwinkel, neue Positionen, die sich einer imaginär erwünschten Gesamtgeschichte des Habsburgerreichs hinzufügen. In der Wirtschaftsgeschichte wurde die Terminologie des Soziologen und Historiker Immanuel Wallerstein, der Zentrum und Peripherie im Rahmen eines ursprünglichen kapitalistischen Weltsystems analysierte, nach anfänglicher Begeisterung stark unter Kritik gestellt und danach auch von ihm selbst redigiert.1 Die Kulturund Sozialgeschichte dagegen haben für das „Zentrum-Peripherie Modell“, im Bezug zur Donaumonarchie, dem großen multikulturellen mitteleuropäischen Raum eine doch langzeitig wirkende Position gefunden.2 Das Konzept „Centerperiphery“ des bekannten amerikanischen Soziologen Edward Shils (19101995), dessen Grundlagen sich auch auf Max Webers Werk beziehen, wurde in der Geschichtsschreibung langsam ausgearbeitet; erstens war es das Zentrum, das genau wie bei Shils durch gemeinsame Werte und Ansichten, Institutionen und einer Elite spezifiziert wird - und im Fokus der Forschung liegt, während
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Immanuel Wallerstein, The Modern World System. Bde. 1-3. New York, San Francisco, London 1974.; Ders., World System versus World-Systems, in: Andre Gunder Frank und Barry K. Gills (Hg.), The World System: Five Hundred Years Or Five Thousand? London 1996. Für eine Entwicklungsgeschichte des „Zentrum-Peripherie Konzept“ s. Dietmar Rothermund, The Evolution of the Center-Periphery Concept, in: Vera Alexander (Hg.), Peripheral Centres. Central Peripheries: India and Its Diaspora(s). Münster 2006. Siehe z. B.: Ernst Bruckmüller / Hannes Stekl (Hg.), Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit. Wien, Köln, Weimar 1992.
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die Peripherie ungleichmäßig analysiert wurde oder sogar komplett vernachlässigt blieb.3 Historikern bzw. Kulturwissenschaftlern wurde aber bald klar dass das modernisierende, fortgeschrittene, elitäre, dynamische, Institutions- und behördenstarke Zentrum dabei durchaus nicht ein paradigmatischer Fall ist, der das Ganze schildert oder pars pro toto andere entfernte Elemente definieren kann. Die Geschichte der Kroaten oder Slowaken in Wien ist keinesfalls ein Paradigma für eine Geschichte Kroatiens oder der Slowakei, nicht einmal für eine Geschichte der Kroaten oder Slowaken in der Donaumonarchie. Es sind mehr oder weniger konkrete Fälle eines Kulturaustausches. Hinzugefügt muss in Acht genommen werden, dass Wien ein bestimmtes Modell für die mitteleuropäische Stadt bereitstellt, das durch z. B. verschiedene Arten von Kulturtransfers mehrere Elemente der Wiener Gesellschafts- und Geisteskultur auf andere mitteleuropäische Städte spiegelt, aber nur als eines der möglichen Modelle besteht. Die polyzentrische Struktur des Habsburgerreichs verweist auf mehrere parallel ausgeformte mitteleuropäische Städte der Monarchie im 19. Jahrhundert, die ein Zentrum der eigenen Region formieren (auch innerhalb einer Peripherie) und autochthone kulturelle Elemente in den gemeinsamen Kulturaustausch hinfügen.4 Dazu bemerkt man sehr schnell, das von außen kommende Komponenten in der Kultur- und Geistesgeschichte Wiens, meistens auch eine interessante Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte in der Peripherie haben. Der Forscher der Habsburgermonarchie hatte diese grundsätzliche, in der Geschichtsschreibung und der allgemeinen zentrumsorientierten Kulturgeschichte erst relativ neuerlich akzeptierte, Kritik der Zentrum-Peripherie Verhältnisse5 schon lange Zeit im Augenmerk. Freilich war erstens das Zentrum ein Maß aller Geschehnisse; aber schon in den 1970-er Jahren erschien das Buch Austrian Mind6 des amerikanischen Kulturhistorikers William M. Johnston, das 3
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Edward Shils, Center and Periphery. Chicago 1975. Dazu noch: Joel S. Migdal, State in Society: Studying How States and Societies Transform and Constitute One Another. New York 2001, 43-47. Horst Haselsteiner, Ogledi o modernizaciji u Srednjoj Europi. Zagreb 1997, 239-240. Ähnlich wie das Konzept der „Semiperipherie“ eine ernsthafte Herausforderung für Wallersteins Weltsystem darstellte, wird in der neueren Gesichtsschreibung von vernachlässigten Ländern der Dritten Welt, die in eine westernisierte Geschichtserklärung nicht reinpassen, allmählich immer öfters gesprochen. Das Bild Machthaber gegen Kolonie/ Provinz/Peripherie wird unter Kritik gestellt und von postkolonialen Studien in Frage gestellt. S. Johannes Feichtinger / Ursula Prutsch / Moritz Csáky (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck, 2003. In deutschsprachigen Raum ist das Buch unter dem Titel Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte mit dem Untertitel „Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938“ im Böhlau Verlag in mehreren Auflagen erschienen.
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„Ideen im Donauraum“, also eine makro- sowie mikrosoziologische Perspektive erforschte, und sich nicht nur streng auf Wien abgrenzte.7 Doch erstaunend lange hat es gedauert bis verschiedene Ansätze, von der französisch (auf einer Seite) und amerikanisch/britisch (auf anderer Seite) geprägten „Nouvelle histoire/New history“ bis zu frühen literaturgeschichtlichen Kulturanalysen oder postkolonialen Theorien, von Historikern der Habsburgermonarchie wahrgenommen und in konkreten Fallstudien eingesetzt wurden. In den letzten Jahren erscheinen dann zahlreiche Studien, die kritisch und mit großer Präzision verschiedene Teile der Habsburger-Peripherie unter die Lupe nehmen, ihre politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Eigenschaften betrachten, um sie dann schließlich mit Zentren wie Wien, Budapest oder Prag zu vergleichen.8 Die Ambiguität der Peripherie offenbart eine Komplexität der Struktur des Habsburgerreichs: wie Joseph Roth es so deutlich in seinem Radetzkymarsch ausdrückt, die Grenze - die Peripherie des Reichs, war zur gleichen Zeit rückwärtig und doch in manchen Sachen vorangeschritten, der kommenden Realität näher oder mehr bewusst.9 So 7
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William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Wien-Köln-Weimar, 2006, 20-22. Auch in seinem neuen Buch setzt Johnston deutlichen Wert auf eine gemeinsame Perspektive der Doppelmonarchie. Dazu: William M. Johnston, Zur Kulturgeschichte Österreichs und Ungarns 1890-1938. Auf der Suche nach verborgenen Gemeinsamkeiten. Wien-Köln-Weimar, 2015. Hier werden nur einige Exemplare neuerer Geschichtsschreibung die sich auf Gebiete der Peripherie der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert konzentrieren erwähnt: Isabel Röskau-Rydel, Kultur an der Peripherie des Habsburger Reiches: die Geschichte des Bildungswesens und der kulturellen Einrichtungen in Lemberg von 1772 bis 1848. Wiesbaden 1993. (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund Bd. 15); Eleonóra Babejová, Fin-de-siècle Pressburg: Conflict & Cultural Coexistence in Bratislava 1897-1914. Boulder 2003; Markian Prokopovych, Habsburg Lemberg: Architecture, Public Space, and Politics in the Galician Capital, 1772-1914. West Lafayette 2008; Kurt Scharr, „Die Landschaft Bukowina“: das Werden einer Region an der Peripherie 1774-1918. Wien-Köln-Weimar 2010; Larry Wolff, The Idea of Galicia: History and Fantasy in Habsburg Political Culture. Stanford 2012; Daniela Druschel, Kommunikation zwischen Zentrale und Peripherie. Wien und Galizien 1772-1848, in: Lisa Bicknell / Benjamin Conrad / Hans-Christian Petersen (Hg.), Kommunikation über Grenzen. Münster 2013, 63-80. Über Joseph Roth und sein Bild der Peripherie bzw. Provinz siehe u.a.: Kaszyński, Stefan H.: Metropole und Provinz im Roman Radetzkymarsch von Joseph Roth, in: Arno Dusini / Karl Wagner (Hg.), Metropole und Provinz in der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts: Beiträge des 10. Österreichisch-Polnischen Germanistentreffens, Wien 1994, 165-174; Krzysztof, Lipiński, Mondäne Sehnsucht und verkleinerte Größe: zum Bild der galizischen Provinz bei Joseph Roth und Andrzej Kuśniewicz, in: Arno Dusini / Karl Wagner (Hg.), Metropole und Provinz, Wien 1994, 175-187; Anna de Berg, „Nach Galizien“: Entwicklung der Reiseliteratur am Beispiel der deutschsprachigen Reiseberichte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2010.
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auch Roths Graf Chojnicki: „Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie“.10 Doch nicht nur in der österreichischen Literaturgeschichte, bei Roth, Musil und anderen großen Literaten spielt die Beziehung ZentrumProvinz/Peripherie eine wichtige Rolle: man kann ohne Rückhaltung behaupten, dass fast jede nationale Literaturgeschichte der ehemaligen HabsburgerLänder eine spezifisch geprägte Entwicklung zu diesem Thema besitzt. Von Ksaver Šandor Gjalski (1854-1935) bis zu Miroslav Krleža (1893-1981), dem Nestor der Literaturen Jugoslawiens, war diese Peripherie - in kroatischem Wortschatz manchmal auch ispust [„Ablauf“] genannt - also Kroatien und Slawonien, ein düsteres Feld negativer und rückfälliger Ausformungen, dass durch die Macht und den Prunk des Zentrums dauerhaft leidet und von der Geschichte ständig belastet wird. Für Krleža ist Kroatien ein „halbkoloniales“ Gebiet der Habsburgermonarchie, das von seinen kolonialen Meistern, Österreich und Ungarn, und vor allem den Habsburgern, Jahrhunderte lang vernachlässigt wurde und dadurch schwächere wirtschaftliche und kulturelle Strukturen ausbaute; dabei erreicht das Land im 19. Jahrhundert einen „Tiefpunkt“ des Bewusstseins und der Deformierung.11 Der kroatische Literaturhistoriker Nikola Petković warnt vor Krležas Perspektive, eine Perspektive aus dem marginalen, Zentrum-entfernten Kroatien, die manchmal voreingenommen oder nicht objektiv genug oder kroatenzentrisch erscheinen kann.12 Und gerade in diesem Falle wird eine weitere Ambiguität offensichtlich: ein Blickwinkel zum Verhältnis Zentrum-Peripherie in der Literatur hängt auch von den biografischen Fakten und dem lebensweltlichen Kontext der jeweiligen Schriftsteller ab - Krleža sieht die Peripherie anders als Roth oder Musil, weil er eben auch anders positioniert war. Zurück zur Geschichtsschreibung: diverse Historiker wie Luďa Klusáková,13 Andrea Komlosy14 oder Stijn Vervaet15 warnen, dass Joseph Roth, Kapuzinergruft. Köln 1987, 17. Unter anderen: Miroslav Krleža, 99 varijacija. Beograd 1972, 43; Zahlreiche Schriften und Essays von Krleža thematisieren diese Frage. Gute Nachweise zur Originalliteratur: Nikola Petković, A Central Europe of Our Own. Rijeka 2003. 12 Nikola Petković, Srednja Europa: zbilja - mit - utopija. Rijeka 2003, 187. 13 Luďa Klusáková, The Czech Lands in the Habsburg Empire (Economic Centre but Political Periphery), in: Hans Heinrich Nolte (Hg.), Internal Peripheries in European History. Göttingen 1991; Dies., Frontiers and Identities: Exploring the Research Area. Pisa 2006. 14 Andrea Komlosy / Václav Bůžek /Frantiśek Svátek (Hg.), Kulturen an der Grenze. Wien 1995; Dies., Regionale Ungleichheiten in der Habsburgermonarchie: Kohäsionskraft oder Explosionsgefahr für die staatliche Einheit, in: Hans Heinrich Nolte (Hg.), Innere Peripherien in Ost und West. Stuttgart 2001 (Historische Mitteilungen: Beiheft 42). 15 Stijn Vervaet, Centar i periferija u Austro-Ugarskoj: dinamika izgradnje nacionalnih identiteta u Bosni i Hercegovini od 1878. do 1918. godine na primjeru književnih tekstova. Zagreb, Sarajevo 2013. 10
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ökonomische oder kulturelle städtische Brennpunkte nicht immer auch politische Zentren sind. Diese Einsichten, kombiniert mit Arbeiten von Historikern wie Wolfgang Maderthaner, die ein dominantes Bild der Wiener Fin de siècle Gesellschaft „von innen“ abbauen,16 weisen nun einmal mehr auf die Komplexität der Einzelbegriffe „Zentrum“ und „Peripherie“ hin, die keineswegs einseitig, als Gesamtschlüsselwort für eine historiographische Darstellung zu Nutze sind. Allerdings bedeutet das auch wieder keine komplette Ablehnung dieser Konzepte, denn gerade mit dieser historischen Perspektive erreicht man vergleichende Resultate die auf beiden Seiten wertvolle Einsichten geben. In dieser Hinsicht kann man auch von einer „inneren Peripherie“, dessen Vertreter Hans-Heinrich Nolte das Konzept als „[…] Gebiet innerhalb eines Staates definiert, in dem die Bedingungen so organisiert sind, daß sie Personen zugute kommen, die im Zentrum leben“,17 der Habsburgermonarchie als zentralisiertes Imperium mit verschiedenen peripheren Provinzgebieten sprechen. Der Fall der kroatischen Länder, die nach dem Ausgleich 1867 in zwei Teilen, Kroatien und Slawonien zu Ungarn gehörig, und Dalmatien und Istrien zum österreichischen Teil der Monarchie, weist auf mehrere Komponenten hin. Erstens, muss man feststellen, dass für das heutige urbane Gebiet der Republik Kroatien mehrere verschiedene Zentren der kulturellen, wirtschaftlichen und institutionellen Modernisierung parallel aktiv waren. Während Zivil-Kroatien und -Slawonien und die Militärgrenze Modernisierungszentren in Wien, Budapest, Graz und in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch in Prag fanden, übernahmen diese Rolle in Dalmatien und Istrien neben Wien auch sämtliche italienischen Städte wie Venedig, Padua, Bologna, Rom, Triest usw. In der Langzeitperspektive bedeutete diese Lage selten autonom eingerichtete Institutionen, also parallele Formen von modernen Organen, die wegen der zusätzlichen externeren Modernisierungszentren potentiell immer wieder in Konflikte gerieten. Zweitens, entwickelt sich Banalkroatien als ein Exemplar der inneren Peripherie, abhängig vom Kaiser, Wien und Budapest. Der kroatische Banus (Prorex) wird von Herrscher, also dem Kaiser und König, auf Vorschlag des ungarischen Minister-Präsidenten ernannt, und darf „seine Macht und Prärogative nur insoweit genießen“ wie weit sich der Kaiser und der
Wolfgang Maderthaner / Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900. Frankfurt am Main, New York 1999. 17 Zitiert nach: Hans-Heinrich Nolte, Innere Peripherien. Das Konzept in der Forschung, in: ders. (Hg.), Innere Peripherien, 15. 16
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ungarische Minister-Präsident mit diesem einig sind.18 Der Kunsthistoriker Werner Telesko deutet in Hinsicht zu den Zentrum-Peripherie Verhältnissen auf das Staatswesen der Habsburgermonarchie, auf das ständige schwanken „zwischen Zentralismus und Föderalismus“,19 also die Ambivalenz des Herrschersystems Österreich-Ungarns, die sich auf einer Seite als klares Imperium mit „apostolischer Majestät“ an der Spitze äußerte, aber dennoch im 19. Jahrhundert eine tief vernetzte Subsidiarität entwickelte. Diese Schwankungen im allgemeinen Staatskonzept treffen auf die kroatischen Länder mit spezifischer Stärke zu, denn die geopolitische Lage als doppelte oder zweiseitige Peripherie - also geografische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Verflechtungen zwischen dem Osmanischen Reich und den differenzierten österreichischen Kernländern - bedeutet schon zu Beginn eine rückfälligere Rolle. Damit kommt man auch zum dritten Punkt, denn der Stadt Zagreb/Agram wurde durch eine langfristige Türkengefahr eine Rolle als Stadt im Peripheriegebiet/Grenzgebiet zugeteilt. Diese Rolle wird im 18. Jahrhundert nur mit der ähnlichen Rolle eines Stadtzentrums am Rande vor den österreichischen Kernländern ersetzt.20 Letztlich spielt dabei gerade die allgemeine geografische Lage der Donaumonarchie eine wichtige Rolle: der große mitteleuropäische kontinentale Raum ist an den Randflächen mit den sich ineinander schlingenden Hochgebirgen, aus denen kleinere und größere Flüsse strömen die sich natürlich mit und durch die Donau verschließen, die wahrhaftige Bindegewebe der Habsburgermonarchie - dreiviertel des Gesamtgebiets der Monarchie gehören dem Donaugebiet an. Eingeschlossen in ein System finden sich dort ein österreichischer Teil, auf Handwerk und Industrie gestützt, und ein ungarischer Teil, auf Agrarverhältnisse eingerichtet: zwei miteinander verbundene Teile der Monarchie liegen im 19. Jahrhundert in konstanter Symbiose und Austausch. Der innere Handelsverkehr dieser beiden Teile erreicht den halben Wert des Gesamtvolumens des Wirtschaftsverkehrs der Habsburgermonarchie mit dem Ausland.21 Die geografische Position Banalkroatiens als Verbindungsgebiet zwischen den nordwestlichen, westlichen und östlichen Teilen Österreich-Ungarns wurde unter
Die legitimen und historischen Rechte Croatiens und der Ausgleich mit Ungarn. Wien 1871, 63. 19 Werner Telesko, Kulturraum Österreich: die Identität der Regionen in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar 2008, 180. 20 Drago Roksandić, Izlazak izvan zidina, in: Ivo Goldstein / Slavko Goldstein (Hg.), Povijest grada Zagreba. Zagreb 2012, 205. 21 Filip Lukas, Hrvatska narodna samobitnost. Zagreb 1997, 51. 18
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politisch-historischen Bedingungen, der langen Türkenbelagerung und den Türkenkriegen, im wirtschaftlichen Sinne schlecht ausgebaut; innerhalb des ungarischen Agrarteils der Donaumonarchie bildet Kroatien noch im 19. Jahrhundert ein Agrikulturland ohne nötiger Infrastruktur, das nur langsam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts industrialisiert oder besser vernetzt wurde.22 Ein geografisch günstiger Standpunkt der Stadt Zagreb ermöglichte die Entwicklung im Austausch mit Agrarprodukten zwischen Norden und Süden der Monarchie und erweiterte somit die wirtschaftliche Position der kroatischen Hauptstadt.23 Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ungarn und Kroatien nahmen einen anderen geschichtlichen Verlauf als im Falle der politischen Entwicklungen, wo erst mit dem Ausgleich, der Krise des Dualismus und der Stärkung einer immer wichtiger werdenden bürgerlichen Gesellschaft, eine radikale Konfrontationsphase zwischen Kroaten und Ungarn beginnt, denn man darf die lange Dauer der engen Verbindungen des kroatischen und ungarischen Adels nicht übersehen.24 Im politischen Bereich deuten diese Gestaltungen auf die These des amerikanischen Politologen Alexander Motyl hin, der Beziehungen zwischen Eliten im Zentrum und der Peripherie untersuchte und darauf aufmerksam machte, dass die Verbindungen der Peripherie mit dem Zentrum aufrecht bestehen solange das Zentrum etwas bietet.25 Der ungarische Nationalismus entsorgte diese Verbindung, aktivierte, wie gesagt, insbesondere nach 1868 und dem Ungarisch-kroatischen Ausgleich einen ständig eruptierenden Konflikt, und lenkte Zagreb und Kroatien, Slawonien und Dalmatien noch mehr nach Wien, wo die Eliten in der Tat magnetisch auf die oberen gesellschaftlichen Schichten wirkten. Doch auf anderer Seite leistete die Wirtschaftspolitik des Dualismus, das heißt die Ausarbeitung eines Eisenbahnnetzwerks und die Verkehrserschließung des kroatisch-ungarischen Raums, die Expansion der Bank- und Kreditgeschäfte und eine stärkere Integration des regionalen Markts, auch gute Resultate in den Zentren der Peripherie, wie der Historiker Dazu: Igor Karaman, Industrijalizacija građanske Hrvatske: 1800-1941. Zagreb 1991; Ders. Hrvatska na pragu modernizacije (1750 - 1918.). Zagreb 2000. 23 Božena Vranješ-Šoljan, Zagrebs Aufstieg zur kroatischen Hauptstadt, in: Harald Heppner (Hg.), Hauptstädte in Südosteuropa: Geschichte, Funktion, nationale Symbolkraft. Wien, Köln, Weimar 1994, 204. 24 Wolf Dietrich Behschnitt, Nationalismus bei Serben und Kroaten, 1830-1914: Analyse und Typologie der nationalen Ideologie. München 1980, 243. 25 Zitiert nach: Miroslav Hroch, Das Europa der Nationen: die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen 2005, 136 [Alexander Motyl, How Empires Rise and Fall: Nation, Nationalism and Imperial Elites, in: Justo G. Beramendi (Hg.), Nationalism in Europe, Past and Present I. Santiago de Compostella 1994, 383]. 22
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David F. Good bemerkt, die das Dreieinige Königreich in eine bessere Position in Vergleich zu Balkanländer wie Serbien, Rumänien oder Bulgarien stellte.26 Obwohl die Logik der Eisenbahntrassen den Interessen von Budapest diente (also potentielle Konkurrenz für Rijeka zu unterbinden) oder bestenfalls ein scharfes Konkurrenzfeld zwischen Österreich und Ungarn bildete und keine Rücksicht oder Acht auf das Dreieinige Königreich nahm, war es doch gerade die allgemeine wirtschaftliche Aufteilung der Habsburgermonarchie, durch die auch Zagreb in ein stärker verbundenes inneres wirtschaftliches System eingewickelt wurde.27 Unterschiedlich von der Relation Wien-Donau, Budapest-Donau, Prag-Moldau, war Zagreb nie eine „Stadt an der Save“; im wirtschaftlichen Sinne bedeutete also viel mehr eine Eisenbahnvernetzung die Zidani Most/Steinbrück und Zagreb mit Sisak/Sissek und der Adria verbündete. Fast bis zur Jahrhundertwende waren, wirtschaftlich gesehen, Städte wie Osijek/Esseg im Vergleich zu Zagreb fortgeschrittener und selbständiger; erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und nach dem Ausgleich holt Zagreb schrittweise den Rückstand auf und erreicht die wirtschaftliche Spitze Kroatiens. Diesbezüglich deutet sich an, dass Kroatien eine Doppelrolle in den hier erwähnten Verhältnissen zwischen Zentrum und Peripherie spielte: zum einen stellten Kroatien und Slawonien eine feste Peripherie der Habsburgermonarchie, zum anderen war in Bezug zu Ungarn Banalkroatien eine innere Peripherie. Gleichzeitig war aber Zagreb, seit den 1850er Jahren die amtliche Hauptstadt des Dreieinigen Königreichs, ein Zentrum der inneren Peripherie, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrittweise politisch, kulturell und wirtschaftlich entwickelte.
Das Werden einer Hauptstadt in der Peripherie Nicht immer war Zagreb die Hauptstadt des Dreieinigen Königreichs. Dieses geschah, wie man feststellt, in einem relativ kurzen Zeitraum. Als Hauptkonkurrent figurierte lange Zeit Varaždin im Norden Kroatiens;
David F. Good, The Economic Rise of the Habsburg Empire, 1750-1914. Berkeley, Los Angeles, London 1984, 104. 27 Dazu: Bernard Stulli, Prijedlozi i projekti željezničkih pruga u Hrvatskoj 1825-1863, Bd. 1-2. Zagreb 1975; Richard Georg Plaschka / Anna M. Drabek / Brigitta Zaar (Hg.), Eisenbahnbau und Kapitalinteressen in den Beziehungen der österreichischen mit den südslawischen Ländern. Wien 1993 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte Österreichs 19); Klaus Reisinger, österreichs Eisenbahnwesen als Bindeglied zwischen Zentraleuropa und den Balkanländern, in: Harald Heppner (Hg.), Der Weg führt über Österreich: zur Geschichte des Verkehrs- und Nachrichtenwesens von und nach Südosteuropa (18. Jahrhundert bis zur Gegenwart). Wien, Köln, Weimar 1996, 107-142. 26
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während der Herrschaft Maria Theresias erreichte diese stark deutsch geprägte Stadt ihren politischen Höhepunkt. Tagungen des kroatischen Landtags (Sabor) sowie Treffen der Kommission für die Militärgrenze wurden im 17. und 18. Jahrhundert mit Regelmäßigkeit in Varaždin abgehalten: zwischen 1730 und 1760 wurden mehr Sitzungen in Varaždin als in Zagreb gehalten.28 Auch die Banaltafel (Banski stol) hatte in Varaždin einen Sitz, obwohl Zagreb schon seit 1723 ein ständiger Sitz zugeordnet wurde. Dazu muss noch erwähnt werden dass der kroatische Banus Varaždin besiedelte. Deswegen überraschen auch nicht Maria Theresias große Entwicklungspläne für Varaždin: 1767 gründete die Kaiserin den kroatischen königlichen Rat (Consilium regium Croaticum) mit seinem Sitz in Varaždin. Der kroatische Sabor (Landtag) hatte einen neuen Sitz in Zagreb in einem speziell eingerichteten Landtagsgebäude vorgeschlagen, doch die Kaiserin lehnte dies ab. Im wirtschaftlichen Sinne prosperierte Varaždin dazu noch durch das Vorantreiben des Handels und der Gründung erster Manufakturwerkstätten. Daher kann man durchaus Varaždin als ein Zentrum kroatischer Politik, aber auch kultureller und sozialer Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrachten.29 Diese Situation änderte sich erst, als im Jahre 1776 bei einem katastrophalen Brand ein Großteil Varaždins zerstört wurde, sodass Maria Theresia eine Verlegung des Consilium regium Croaticum gemeinsam mit der Banaltafel nach Zagreb anordnete. Im Juli 1776 zog auch die Besiedelung des Banus nach Zagreb. So verhinderte eine Naturkatastrophe den weiteren Aufstieg Varaždins, und schon zur Zeit Josephs II. gingen die zentralen politischen und militärischen Funktionen auf Zagreb über.30 Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zählte Varaždin fast die doppelte Stadtbevölkerung (zirka 4.800 Einwohner) in Vergleich zu Zagreb.31 Den abrupten Ereignissen zufolge - das neue institutionell-politische Zentrum
Drago Roksandić, Izlazak izvan zidina, 232. Božena Vranješ-Šoljan, Stanovništvo gradova banske Hrvatske na prijelazu stoljeća. Zagreb 1991, 149-152; Franjo Buntak, Povijest Zagreba. Zagreb 1996, 440-441. Dazu noch: Andre Mohorovičić (Hg.), Varaždinski zbornik: 1181-1981: zbornik radova sa znanstvenog skupa održanog u Varaždinu od 1. do 3. listopada 1981. godine povodom obilježavanja 800. godišnjice grada. Zagreb-Varaždin, 1983; Miroslav Šicel / Slobodan Kaštela (Hg.), 800 godina slobodnog kraljevskog grada Varaždina: 1209.-2009.: zbornik radova s međunarodnog znanstvenog skupa održanog 3. i 4. prosinca 2009. godine u Varaždinu. Zagreb-Varaždin, 2009. 30 Franjo Buntak, Povijest Zagreba, 442-444. 31 Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, Statistische Aufklärungen über wichtige Theile und Gegenstände der österreichischen Monarchie. Göttingen 1797, 276. 28 29
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erforderte eine angemessene Anzahl von deutschsprechenden Beamten und ausgebildeten Soldaten - verschaffte die Stadt Zagreb ein „AgramerAussehen“ und eine „Agramer-Mentalität“ die im Laufe des 19. Jahrhunderts zur gesellschaftlichen Charakteristik der Hauptstadt wird. Die Stadt bietet bald, nach dem neuen Aufschwung, immer komfortablere Lebensumstände und wird zur anziehenden Kraft der ganzen Region: Adel, Beamtentum, Militärpersonen - alle mit deutschsprachigen Präferenzen, aber auch wienerischen Traditionen und kulturellen Gesinnungen - wandern in die Stadt zu. Die Kommunikation zwischen Zagreb und Wien stärkt am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhundert wahrhaft. Eine neue Alltagskultur, geprägt von deutschen bzw. wienerischen Traditionen wird in Zagreb immer dominanter.32 Beispielsweise erscheinen 1784 die Agramer Deutsche Zeitung (kein einziges Exemplar blieb von dieser Zeitschrift erhalten) und 1789 in der Zagreber Filiale des berühmten Buchdruckers Johann Thomas Edler von Trattner aus Wien die Zeitschrift Kroatischer Korrespondent.33 Als erstes richtiges Journal für Kroatien: erscheint auf Deutsch ab 1826 Luna, Agramer Zeitschrift. Als neues Zentrum Nordkroatiens lockten Zagreb und das Zagreber Komitat (schon um 1800 mit 2 Städten, 6 Märkten, einigen zusammenhängenden größeren Ortschaften und zahlreichen Dörfern34) immer mehrere Adlige,35 verschiedene Händler und Handwerker, Unternehmer, Soldaten, Beamte aber auch Künstler aus allen Teilen der Monarchie: am meisten aus dem naheliegenden Gebieten, aber auch aus Österreich, den böhmischen Ländern und Ungarn.36 Die deutsche Sprache war also meistens die Sprache der zugewanderten Bevölkerung, einer höheren Gesellschaftsschicht, der Bürokratie und des Militärs, sowie der zahlreichen deutschen Handwerker die sich im 18. Jahrhundert in Zagreb ansiedelten.37 Zur gleichen Zeit wird Franjo Buntak, Povijest Zagreba, 444. Mirjana Stančić, Verschüttete Literatur: die deutschsprachige Dichtung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien von 1800 bis 1945. Wien, Köln, Weimar 2013, 90. 34 Johann Andreas Demian, Darstellung der Österreichischen Monarchie nach den neuesten statistischen Beziehungen. Bd. 3, Wien 1806, 62-66. 35 Schon um 1800 sind im Zagreber Komitat laut Johann Andreas Demian 5759 Adelige tätig, während in Varaždiner Komitat nur 611 Adelige gezählt wurden. Demian, Darstellung, 59. 36 Franjo Buntak, Povijest Zagreba, 510. 37 Ibid., 445; Zvjezdana Sikirić-Assouline, „Gradski proračun“ Slobodnoga i kraljevskoga grada Zagreba 1848. Pogled na prihode i troškove te strukturu uprave prije patenta Franje Josipa o ujedinjenju zagrebačkih općina u jedan grad, in: Iskra Iveljić (Hg.), Zbornik Nikše Stančića. Zagreb 2011, 99-112. 32 33
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Zagreb auch zum kulturellen und wissenschaftlichen Zentrum: die Anzahl der Buchbinder, Typographen und Drucker in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts steigert sich stetig. Dazu wird 1776 noch die Königliche Akademie der Wissenschaften (Regia scientiarum academia),38 die mit einer öffentlichen Bibliothek und den sechsjährigen Archigymnasium verbunden war, feierlich eröffnet. Im Umkreis der Stadt breiten sich verschiedene Bauhandwerker aus; neue Wohnhäuser, Kirchen und Kommunalobjekte werden errichtet. An der Schwelle des 18. Jahrhunderts fängt auch die Expansion des engeren Stadtkerns an. So beginnt man schon 1794 mit dem Bau des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder an dem Platz Harmica, eine der Erweiterungen und Verbauungen in der Unterstadt (Donji Grad).39 Das neue Jahrhundert markierte aber auch den Beginn einer Krise: im Februar 1811 wurde das Schuldenproblem des Habsburgerreiches mit einem partiellen Staatsbankrott gelöst. Schlechte Erntejahre fügten sich einem früher begonnenen Prozess des Verfallens des allgemeinen Lebensmittelhandels in Zagreb, sodass die Stadt auch eine Hungernot erlitt. Offensichtlich wird während dieser Krise auch die schlechte Verbundenheit Zagrebs und der restlichen Städter des Dreieinigen Königreichs sowie mit der Monarchie überhaupt: noch immer kann man in dieser Hinsicht von einer Peripherie sprechen. Bauarbeiten und Stadtplanung gerieten in Stillstand. Charakteristisch für dieses Zeitalter sind eine Verarmung der Stadtbevölkerung, ein Niedergang der Grundbesitzer und der Verfall alter Adelsfamilien. Auf anderer Seite prosperierten teilweise nur Händler und Handwerker die sich schon im 18. Jahrhundert etabliert haben. Beinflusst wurde damit eine grundsätzliche Änderung der gesellschaftlichen Struktur der Stadt. Eine Verbesserung der Situation beginnt mit den 1830-er Jahren, während der sogenannten kroatischen nationalen Wiedergeburt, in der sich die politischen Programme auch auf die Entwicklung der Wirtschaft, insbesondere des Handels, orientieren.40 Um die wirtschaftliche Lage Zagrebs und insbesondere den Handel zu verbessern wurde so 1835 ein „HandelsGremium“ als institutioneller Vorläufer der Handels- und Gewerbe Kammer gegründet. Während der illyrischen Bewegung kommt es in den kroatischen Ländern zu einem erneuert wichtigen kulturellen Aufschwung, der aus Die Königliche Akademie der Wissenschaften entwickelte sich aus der verbotenen Jesuitenakademie und wurde zur höchsten Bildungsanstalt der kroatischen Länder. 39 Stjepan Krivošić, Zagreb i njegovo stanovništvo od najstarijih vremena do sredine XIX. stoljeća. Zagreb 1981 (Građa za gospodarsku povijest Hrvatske 19), 86-89; Franjo Buntak, Povijest Zagreba, 557-558. 40 Franjo Buntak, Povijest Zagreba, 627-627, 659, 734. 38
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Zagreb einen kulturellen und künstlerischen Brennpunkt macht. Zum ersten Mal richten sich die Augen des ganzen Dreieinigen Königreichs nach Zagreb. Die junge kroatische Intelligenz erstrebte eine allgemeine und einheitliche kroatische Schriftsprache und Rechtsschreibung, durch die das kroatische Element der Stadt Zagreb zutage trete. Obwohl in Zagreb die lokal-kroatische Bevölkerung klar überwiegte, die jetzt in der Stadt ein wissenschaftliches, sprachliches und kulturelles Zentrum fand, war Deutsch noch immer die Sprache der oberen gesellschaftlichten Schichten.41 Zum Beispiel bietete die erste kommerzielle Leihbibliothek Agrams, 1835 von Emil Hirschfeld eröffnet, in ihrem Katalog mehrere tausende deutschsprachiger Bücher. Durch deutsche Buchhandlungen und ihr Personal wurden nicht nur deutsche Belletristik sowie wissenschaftliche Fachbücher promoviert, auch im weiteren Sinne eines Netzwerks der großen Verleger wurde die Stadt Zagreb in ein deutschsprachiges Raum einbezogen.42 Diese Bilingualität der Stadt blieb ein dauerhaftes Merkmal im Laufe des ganzen 19. Jahrhunderts, wobei die deutsche Sprache als integratives Element der bürgerlichen Gesellschaft Zagrebs zugleich auch als wichtige Kommunikationsverbindung mit Wien und den westlichen deutschsprachigen Zentren diente.43 Jaroslav Šidak, Hrvatski narodni preporod - ilirski pokret. Zagreb 1990, 119. Dazu auch: Jaroslav Šidak, Ein Rückblick auf die Geschichte des kroatischen Volkes, Jugoslavija: Illustrierte Zeitschrift 11 (1955), 10-19. 42 Wolfgang Kessler, Buchproduktion und Lektüre in Zivilkroatien und -slawonien zwischen Aufklärung und Nationaler Wiedergeburt (1767-1848), Archiv für Geschichte des Buchwesens 16/3 (1976), 469. Dazu noch: Ders., Lesebarrieren. Buch und Leser in Kroatien vom Ende des 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Herbert G. Göpfert / Gerard Kozielek / Reinhard Wittmann (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa. Berlin 1977, 321-346; Ders., Zur Geschichte des Buchdrucks im binnenkroatischen Raum bis zum Beginn der „Illyristischen Bewegung“ (1835), in: Detlef Haberland (Hg.), Buch- und Wissenstransfer in Ostmittel- und Südosteuropa in der Frühen Neuzeit: Beiträge der Tagung an der Universität Szeged vom 25. - 28. April 2006. München 2007 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im Östlichen Europa; 34), 215-280. Reinhard Lauer spricht dazu von einer „Multiliterarizität“; d. h. Zagreb als gleichzeitiges Zentrum kroatischer Literatur und Peripherie deutschsprachiger Literatur zur Zeit der Illyrischen Bewegung. Reinhard Lauer, Centar i periferija u multiliterarnim okolnostima, in: Dubravka Oraić Tolić / Ernő Kulcsár Szabó (Hg.), Imaginacije prostora. Centri i periferije - metropole i provincije u književnostima i kulturama Srednje Europe. Zagreb 2013, 13-19; Danijel Baric, Die deutsche Sprache in Kroatien von 1815 bis 1848. Ergebnisse einer interkulturellen Untersuchung, Zagreber Germanistische Beiträge 14 (2005), 237-249. 43 Mario Strecha, Zur Frage des Einflusses der Metropole Wien auf die kulturelle Identität Zagrebs im 19. Jahrhundert, Österreichische Osthefte 37/2 (1995), 586. In einen 41
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Die Stadt Zagreb wird also am Ende des 18. Jahrhunderts und bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch starke Diskontinuitäten geprägt. Fast alle Entwicklungsprozesse waren von Visionen einer geringen Zahl individueller Förderer abhängig. Es mangelte an langfristiger Planung und Stadtentwicklung; einzelne Projekte und Investitionen dominierten. Mitte des 19. Jahrhunderts ist Zagreb auch deswegen noch eine relativ kleine Stadt mit ungefähr 15.000 Einwohnern.44 Im wirtschaftlichen Bereich hatte auch die industrielle Revolution eine schwache Auswirkung in Zagreb, genau wie in ganz Kroatien: die Gesamtzahl der Bevölkerung stagnierte. Die Gründerzeit in Österreich ermöglichte dennoch eine Ausdehnung der Bankgeschäftstätigkeiten von Wien auf Ungarn, wobei Zagreb in dieses finanzielle Netzwerk miteinbezogen wurde. Wien erhebt sich zum noch stärkeren Zentrum mit großer Auswirkung auf die Hauptstadt Banalkroatiens: alle größeren Unternehmen kommen ohne Wien nicht zustande. Das bedeutete, dass sich gemeinsam zwei modernisierende Prozesse, ein externes aus dem Zentrum (Wien) oktroyiertes und ein internes aus eigener Kraft als Zentrum der Peripherie, überlappten. Die Notwendigkeit nach starken urbanen Zentren in der Donaumonarchie als absolutistische Ecksteine der Habsburgerpolitik reflektierte sich auch in Kroatien: der zentralistische Habsburgerstaat verlangte einen sicheren Kontrollpunkt für das Dreieinige Königreich, und da sich Zagreb seit dem Verfall Varaždins, aber besonders während der illyrischen Nationalbewegung und der Revolutionsjahren 1848/1849 als stabilstes politisches Zentrum Kroatiens erwies, war die Wahl eher einfach. Als unbequeme aber erwartete Nebenwirkung des Wiener Zentralismus kamen die internen Schaffungsansätze vorwiegend zunichte.45 Nach einer kurzen Stabilisierung, gerieten so die internen
neulich erschienenen Artikel weist der italienische Architekt Paolo Tomasella auf multilinguale Aspekte der Stadt Zagreb; oft wird, neben der kroatischen und deutschen Komponente, die ungarische Kultur- und Sprachkomponente vergessen. Während des 19. Jahrhunderts existiert in Zagreb auf Anregung der Politik eine differenzierte und besonders geformte ungarische Welt, die auch in den Stadtbehörden und Kanzleien, der Eisenbahnverwaltung oder der hohen Politik zu finden ist. Siehe: Paolo Tomasella, Agram, Zàgràb, Zagreb. Le trasformazioni urbane della capitale del regno di Croazia durante il XIX secolo, Storia Urbana (2008), 103-125. 44 Franjo Buntak, Povijest Zagreba, 752. 45 Mirjana Gross, Počeci moderne Hrvatske. Neoapsolutizam u civilnoj Hrvatskoj i Slavoniji 1850-1860. Zagreb, 1985, 465-468; die deutsche Version: Dies., Die Anfänge des modernen Kroatien. Gesellschaft, Politik und Kultur in Zivil-Kroatien und -Slawonien in den ersten dreißig Jahren nach 1848. Wien, Köln, Weimar 1993; Božena Vranješ-Šoljan, Zagrebs Aufstieg, 206.
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Stadtentwicklungspläne während des Absolutismus in eine weitere Starre. Obgleich, während des absolutistischen Zeitalters wurde Zagreb auch ein amtliches politisches Zentrum - eine Hauptstadt: diese Stellung wurde allen Verwaltungszentren der Kronländer erteilt.46 Auch zum kroatischen geistlichen Zentrum wird Zagreb 1852; die päpstliche Bulle erhebt das ehemalige Bistum in den Rang eines Erzbistums. Die restlichen drei Diözesen in Kroatien und Slawonien wurden hiermit dem Erzbistum Zagreb untergeordnet, was eine kirchliche Trennung von Ungarn und die Formierung einer selbständigen kirchlichen Provinz bedeutete. Kardinal Juraj Haulik, der die kulturellen und sprachlichen Bemühungen der illyrischen Bewegung befürwortete, ermöglichte wesentliche finanzielle Unterstützung für wichtige Stadtprojekte wie z. B. die Anlegung des großen Parks Maksimir (Park Jurjaves), an dessen Fertigstellung auch mehrere Wiener Architekten und Künstler tätig waren.47 Eine weitere Stufe in der Entwicklungsgeschichte zum Zentrum war 1850 erreicht, indem die mittelalterlichen Siedlungen Zagrebs, die königliche Freistadt, das kirchliche Kaptol mit der Laška Ves und der Nova Ves des Domkapitels in eine Stadt zusammengeschlossen wurden. Mit der Stadtvereinigung wurde eine notwendige Kommunikation in der Stadt hergestellt, die einen weiteren Bevölkerungswachstum ermöglichte.48 Daher konzentrierten sich die folgenden Bestrebungen auf eine urbanistische Entwicklung der Stadt, die das „Provinzzentrum mit ungepflasterten Strassen und offenen Abflusskanälen“49 in ein modernes Landeszentrum umwandeln sollten. Nach der Abschaffung des Feudalismus wurde die Errichtung eines Katasters immer notwendiger; so wurde in Wien um 1853/1854 der erste moderne Stadtplan Zagrebs erschaffen. Dieser Plan weist bereits deutlich das Entwicklungspotential der Stadt aus. Klar ist dass sich ein neuer Stadtkern um größere Straßen der Unteren Stadt bildet, während um 18% der Stadtbevölkerung (Zagreb zählt 15.114 Einwohner) in der Vorstadt und den Nebendörfern mit der Innenstadt verbunden leben. So wird in den nächsten Etappen ein neues Stadtzentrum, vom mittelalterlichen Kern distanziert, schrittweise erbaut.50 In den 1860er Jahren Mirjana Gross / Agneza Szabo, Prema hrvatskome građanskom društvu. Zagreb 1992, 555. 47 Lelja Dobronić, Beziehungen zwischen Wien und Zagreb (Agram) in Architektur und Städtebau des 19. und 20. Jahrhunderts, Der Aufbau 8 (1962), 332. 48 Vladimir Bedenko, Die Gestaltung einer Hauptstadt, werk, bauen + wohnen 9 (2001), 19; Paolo Tomasella, Agram, Zàgràb, Zagreb, 103-125. 49 Vladimir Bedenko, Die Gestaltung, 19. 50 Stari planovi Zagreba. Zagreb 1961, 14. 46
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wurde dann auch der erste Regulierungsplan erlassen, während die Stadt mit neuen Bahnlienen jetzt eine wesentlich schnellere Verbindung mit Wien oder Triest, aber auch Sisak, Karlovac (Karlstadt) und letztendlich Rijeka (1873) hatte. Dabei diktierten klar österreichische und ungarische Interessen den Bau dieser Eisenbahnnetzwerke, wie z. B. den Bau der Trasse nach Triest, die für Zagreb in Vergleich zu einer erwünschten Linie nach Rijeka deutlich ungünstiger war.51 Im wirtschaftlichen Sinne entwickelte sich die Stadt nur langsam und eine ökonomische Einheit mit dem Gebiet des Dreieinigen Königreichs konnte in den 1860er und 1870er Jahren trotz aller Bemühungen nicht erreicht werden. Dennoch wurde Zagreb mit den neuen Verbindungen ein stärkeres Zentrum der inneren Peripherie, ohne genügend politische Kraft gegen den Willen Budapests von alleine ein weitreichendes Entwicklungsszenario zu erreichen, aber mit einer großen Lokalperspektive als Hauptstadt des Dreieinigen Königreichs. Mit der Abschaffung des Feudalismus und den Verlust der alten Privilegien ändert sich die Lage des Adels, was schrittweise zu einem grundsätzlichen Verfall ihrer Macht in Kroatien führt. Mit diesem Vorgang wird aber auch ein damit verbundener Prozess in dem Adelige neue Dienste in der Bürokratie aufsuchen beschleunigt, während sich eine Lücke für den Auftritt anderer Sozialschichten (Handwerker, Unternehmer, Intelligenz, Bürokratie, usw.) in einer Führungsrolle öffnet. In den nächsten Jahrzehnten bildet sich dagegen schrittweise ein Stadtbürgertum52 das sich während der 1860er und 1870er Jahren immer mehr und dauerhaft für Fragen aus dem Bereich der Stadtentwicklung, der Kommunal- und Verkehrspolitik, weiter für kulturelle und institutionelle Einrichtungen und wirtschaftliche Strukturen auf einer lokal-städtischen Ebene interessiert. Diese strukturell-gesellschaftliche Veränderung differenziert sich von den früheren Zeitaltern der Stadtgeschichte, weil sie partikuläre Ansätze des Adels oder individueller Mäzene weitaus übertrifft. Die städtische wirtschaftliche Elite übernimmt immer mehr politische, wirtschaftliche und kulturelle
Ivo Perić, Zagreb od 1850. do suvremenog velegrada. Zagreb 2006, 54-56; Željko Holjevac, Temelji modernizacije, in: Ivo Goldstein / Slavko Goldstein (Hg.), Povijest grada Zagreba, Bd. 1, 315. 52 Zum Stadtbürgertum im mitteleuropäischen Sinne: Horst Matzerath, Grundstrukturen städtischer Bevölkerungsentwicklung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, in: Wilhelm Rausch, Die Städte Mitteleuropas im 19. Jahrhundert. Linz 1983; Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert. München 1990. 51
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Verantwortung und leistet mit diesen Bemühungen auch einen „inneren“ Fortschritt der Hauptstadt.53 Diese Position hatte positive Auswirkung in Bezug auf die weitere Stadtentwicklung: die Selbstwahrnehmung als Hauptstadt war den kroatischen politischen und kulturellen Eliten stets bewusst, sodass bald ein Wunsch entsteht, Zagreb als richtiges Zentrum des Dreieinigen Königreichs und als eine moderne mitteleuropäische Metropole zu präsentieren - immer mehr wurde Zagreb für Kroatien zum Bild und Maß aller Sachen.54 Zagreb wird zu einem Zentralpunkt der Reformen des Banus Ivan Mažuranić (1814-1890), die durch deutsche und österreichische Staats- und Rechtsmodelle, die übernommen und angepasst wurden, eine weitreichende Modernisierung anstrebten; ihr begrenztes Resultat - bzw. der auf verschiedenen Bereichen ungleichmäßige Erfolg weist auf die periphere Lage des Dreieinigen Königreichs, aber auch auf die politisch unterlegene Rolle in Bezug zu Ungarn hin.55 Der Zwang des Ungarisch-kroatischen Ausgleichs (1868), mit dem die Freiheit und Autonomie des Dreieinigen Königreichs auf innere Angelegenheiten, auf das Gerichts-, Schul- und Kirchenwesen beschränkt wurde, wirkte positiv insofern das „innere Angelegenheiten“ einen weiteren Aufbau und die Expansion der Stadt Zagreb bewirkten. Ein monumentaler Historismus fand in Zagreb, wie auch in anderen mitteleuropäischen Zentren der Habsburgermonarchie, schrittweise seinen dominanten Platz - auch wieder als Zeichen eines autonomen Fortschrittes der Stadt einerseits, aber auch eines immer mehr stilistisch unifizierten Charakters der Donaumonarchie und des fremden Einflusses. Eine Reihe auswärtiger Baumeister, von Bartol Felbinger (1785-1871) bis zu Hermann Bollé (18451926) kennzeichnet einige der wichtigsten Stadterweiterungsprozesse in Zagreb.56 Noch in den 1860er Jahren war der alte Stadtkern (die Obere Stadt) Lothar Gall, Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert. München, 1990, 7; Iskra Iveljić, Očevi i sinovi. Privredna elita Zagreba u drugoj polovici 19. stoljeća. Zagreb 2007, 18-35. 54 Mirjana Gross / Agneza Szabo, Prema hrvatskome građanskom društvu, 555. 55 Dalibor Čepulo, Središte i periferija: europske i hrvatske odrednice Mažuranićevih reformi ustrojstva vlasti i građanskih prava 1873-1880, Zbornik Pravnog fakulteta u Zagrebu 6 (2000), 915-917. 56 Dazu u. a.: Lelja Dobronić, Beziehungen, 332; Dies., Bartol Felbinger i zagrebački graditelji njegova doba. Zagreb 1971; Olga Maruševski, Architektonisch- urbanistische Verbindungen zwischen Zagreb und Wien um der Jahrhundertwende, in: Damir Barbarić / Michael Benedikt, Ambivalenz des Fin de siècle: Wien-Zagreb. Wien-Köln-Weimar 1998; Dragan Damjanović, Arhitekt Herman Bollé. Zagreb 2013. 53
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als Stadtzentrum bezeichnet; doch mit den Regulierungsplan von 1865 entpuppt sich die innere Stadt als neuer Teil neben dem Stadtkern, auf einem freien Raum zwischen der Unteren Stadt und der geplanten Bahnlinie mit Ungarn.57 Als der Vorschlag des Wiener Architekten Friedrich Schmidt, der dem Bau des Gebäudes der Südslawischen Akademie der Wissenschaften und Künste auf dem Gebiet der Oberen Stadt befürwortete, von der Stadt abgelehnt wurde, wurde offensichtlich das die Neuorientierung tatsächlich auch durchgeführt wird. Stattdessen wurde dem Gebäude ein Bauplatz auf dem Zrinjevac (Zrinyplatz) erteilt, also auf der erwähnten Relation Untere Stadt-Bahnhof. Zrinjevac wurde zum Stadtkorso, rundherum entstanden repräsentative Hausbauten der gesellschaftlichen Eliten. Das große Erdbeben von 1880 stoppt nur vorübergehend weitere Pläne. Nach einem ursprünglichen Schock - relativ viele verletzte Bürger und große materielle Verluste - wurde die neuentstandene Situation für eine Öffnung der zentralen Stadträume, einen planmäßigen Wiederaufbau und schließlich auch für die Konzipierung eines neuen Stadtregulationsplans (1887) benutzt. In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beschleunigen sich die modernisierenden urbanistischen Prozesse: die Wiener Ringstrasse diente als Inspiration für das 1887 entworfene Konzept der ganzen Innenstadt, das wegen der Form eines eckigen Rings auch als „Grünes Hufeisen“ benannt wurde. Der neue Stadtentwicklungsplan konzipierte eine Reihe von miteinander verbundenen Plätzen und Parkanlagen, mit repräsentativen Monumentalbauten und Stadtvillen: der früher erbaute östliche Bogen des Hufeisens bildete mit einer Reihe von wissenschaftlichen (die Akademie der Wissenschaften und Künste, ein Chemielaboratorium) und kulturellen Institutionen (Kunstpavillon), die sich bis zum Bahnhof (und den später gebildeten Bahnhofsplatz - dem Franz-Joseph-Platz) ausdehnten, eine neue repräsentative Stadtansicht, während im später erbauten westlichen Bogen ein neues Universitätsgebäude mit der Universitätsbibliothek, das Nationaltheater und weitere Bildungsinstitutionen eingerichtet wurden.58 Die Bauarbeiten fanden mit dem Besuch Franz Josephs von 1895 einen Höhepunkt, der feierlich die neuen Anlagen, das Nationaltheater, das
Vladimir Bedenko, Die Gestaltung, 20-21. Olga Maruševski, Architektonisch- urbanistische Verbindungen, 205; Vladimir Bedenko, Die Gestaltung, 22; Bojana Bojanić Obad Šćitaroci / Mladen Obad Šćitaroci, Stadtparks in Kroatien 1867-1918, in: Géza Hajós (Hg.), Stadtparks in der österreichischen Monarchie 1765-1918: Studien zur bürgerlichen Entwicklung des urbanen Grüns in Österreich, Ungarn, Kroatien, Slowenien und Krakau aus europäischer Perspektive. Wien, Köln, Weimar 2007, 166-168; Snješka Knežević, Zagrebačka zelena potkova. Zagreb 1996.
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Musikvereins- und Gymnasiumgebäude eröffnete. Dieses pompöse Ereignis, das mit einem Fahnen-Skandal auf dem Jelačić-Platz (die ungarische Trikolore wurde von protestierenden Studenten verbrannt) und Krawallen in der Stadt ziemlich gestört wurde, war als eine Feier der Früchte der „inneren Angelegenheiten“ des Dualismus, also der Erfolge des Staatssystems gedacht. Zagreb wurde als eine moderne Hauptstadt des Dreieinigen Königreichs mit typischen Elementen der mitteleuropäischen Architektur und Baukunst, fast wie in jeder Metropole der Donaumonarchie vorhanden, präsentiert. Mit schrittweise geformtem neuem Stadtimage homogenisierte sich Zagreb mit dem Rest der Zentren des Habsburgerreiches.59 Das neue Nationaltheatergebäude, von den österreichischen Architekten Fellner & Helmer entworfen - damals bereits das fünfundzwanzigste Theaterprojekt dieses Architektenbüros - diente dabei als Exemplar für eine unifizierte stilistische Bearbeitung, die ein Provinzzentrum endgültig zum Zentrum umwandelte, zu einer Stadt, die mit ihrem monumentalen Aussehen Wien oder Budapest ähnlich ist, also die wahren Zentren der Monarchie mit ihren Facetten wiederspiegelt. Der Besuch des Monarchen war im diesen Sinne die höchste Legitimation der staatsgeförderten neuen Visualisierung einer Stadt des Habsburgerreichs.
Die Hauptstadt und das fremde Auge Das Bild einer fast exotischen Peripherie, des Landes der Kroaten mit ihrer Hauptstadt Zagreb, hat einige bemerkenswerte Kontinuitäten. Die Germanistin und Kulturwissenschaftlerin Mirna Zeman markiert vier wichtige tradierte Imagothemen die das Kroatenbild in einer langen Dauer vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert konstruieren: das martialische, das illyrische, das poetische und das exotische Imagothema.60 Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zu den Revolutionsjahren 1848/1849, besteht in der deutschsprachigen Literatur von Hans Jacob Christoph von
Eve Blau, The City as Protagonist: Architecture and the Cultures of Central Europe, in: Eve Blau / Monika Platzer, Shaping the Great City: Modern Architecture in Central Europe 1890-1937. München, London, New York 1999, 12-13. 60 Mirna Zeman, Kroatische Imagothemen. Deutschsprachige Fremddarstellungen illyrischer Völkerschaften, in: Mirosława Czarnecka / Thomas Borgstedt / Tomasz Jabłecki (Hg.), Frühneuzeitliche Stereotype: zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster: V. Jahrestag der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft, Wrocław, 8. bis 11. Oktober 2008. Bern 2010 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A - Band 99), 132; Mirna Zeman, Reise zu den „Illyriern“: Kroatien-Stereotype in der deutschsprachigen Reiseliteratur und Statistik (1740-1809). München 2013. 59
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Grimmelhausen (1621-1676) bis hin zu Hugo von Hofmannsthal (18741929), wie der Germanist und Literaturhistoriker Marijan Bobinac bemerkt, ein Imagotyp in der Wahrnehmung der Kroaten als „grausame Krieger und Plünderer“, dem nur teilweise andere Visionen, z. B. die der Kroaten als Verteidiger des Habsburgerreichs (diese Darstellung ist mit den antinapoleonischen Kriegen verbunden), dazukommen.61 Das Bild der Kroaten als kriegerisches Volk an der Peripherie und Grenze der Habsburgermonarchie konzipierte sich während der Türkenkriege und des Dreißigjährigen Kriegs; im 19. Jahrhundert kamen dann die antinapoleonischen Kriege und die Revolutionsjahre 1848/1849 noch dazu. Bei der Darstellung der Kroatenrolle während der Revolution bezeichnet man dieses Land bzw. dessen prominente Vertreter nicht nur in der deutschsprachigen Literatur im militärischen Kontext. Auch in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts kommen der „ritterliche“ Banus Jelačić und seine tapferen aber wilden „Grenzern“ und „Rothmäntlern“ oder „kampfgeübte“ Kroaten die während seiner Feldzüge plündern fast regelmäßig vor.62 Außerhalb der Literatur kommen im 19. Jahrhundert Beschreibungen der Stadt Zagreb und ihrer Bewohner in verschiedenen historischen Büchern, journalistischen Reisereportagen, Reisehandbüchern oder landeskundlichen enzyklopädischen Editionen vor: betont werden dabei Augenzeugenberichte, also konkrete Begegnungen mit dem Fremden/ Anderen die mit mehr oder weniger datenreichen und wissenschaftlichen Schilderungen ergänzt werden. Eine Praxis der Reiseberichte in Form von Handbücher oder Reisetexten entwickelt sich schon während der frühen Neuzeit und wird im 19. Jahrhundert tradiert: wie der Historiker Jürgen Osterhammel bemerkt, besteht eine gewisse Kontinuität.63 Dennoch multiplizieren sich verschiedene Formen von Reiseberichten nach 1800 und insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Modernisierung und Industrialisierung Mitteleuropas. Die Eisenbahn, mit einen ganzen Angebot von modernen Wahrnehmungsformen, wird zum Marijan Bobinac, Der wilde Krieger und der treue Vaterlandsverteidiger. Zum Kroatenbild in der deutschprachigen Literatur, in: Jean Marie Valentin (Hg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005: „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Bern 2007 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A - Band 85), 132-135. Zdenko Škreb, Lik i ime Hrvata u njemačkoj književnosti, Croatica 6-7 (1977), 209-215. 62 Z.B. Ernst Blümel, Geschichte der Revolutionsjahre 1848 und 1849: Dem deutschen Volke zur Belehrung und Warnung erzählt. Eisleben 1898, 124; W. G. Dunder, Denkschrift über die Wiener October-Revolution. Wien 1849, 24, 266. 63 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt: eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, 51-53. 61
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neuen Mittel der modernen Reisenden. Übernommene Reisesitten aus der frühen Neuzeit und den Tagen der langen Kutschenreisen werden im 19. Jahrhundert ersetzt: schnell findet man im Laufe eines Tages den Weg von einer Stadt zur anderen, was beispielsweise in den Reiseberichten neuen Platz für vergleichende Analysen öffnet oder auch mangelhafte Landschaftskenntnisse (und daher auch Analysen) hervorbringt.64 Auch die modernen multiplizierenden Medien - eine reichere Auswahl von täglichen, wöchentlichen oder monatlichen Zeitungen - ermöglichen den Massen schnelleren Zugriff auf verschiedene Formen von unterhaltenden Reisefeuilletons. Dazu kommt noch dass unmittelbar nach Ende der osmanischen Gefahr verschiedene Abenteurer, Wanderer, Wissenschaftler, Händler usw. die innere Peripherie der Monarchie, Teile Ungarns, Kroatiens, Dalmatiens, Istriens und später auch Bosnien und Herzegowina in Reiseberichten „wiederentdecken“ bzw. ihren Lesern näherbringen. Die österreichische Schriftstellerinn Maria Therese von Artner (1772-1829), seit 1822 in Zagreb, durchreiste mehrmals verschiedene Teile Kroatiens (z. B. Sisak, Glina, Plitvicer Seen usw.) und schrieb dazu ausführliche Berichte/Briefe (an die österreichische Salonière Karoline Pichler) die nach ihrem Tod veröffentlicht wurden.65 Gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts erscheinen neben den Reisehandbüchern und Reiseberichten auch immer regelmäßiger spezifische Reiseführer für verschiedene Länder oder Städte der Donaumonarchie.66 Der deutsche Verleger Karl Baedeker (1801-1859)
Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München 1977, passim; Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur: Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990 (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonderh. 2), 491-497. 65 Therese von Artner, Briefe über einen Theil von Croatien und Italien an Karoline Pichler. Pesth 1830; Ivan Pederin, Therese von Artner und die österreichische Literatur des Biedermeiers in Zagreb, in: Österreich in Geschichte und Literatur 28 (1984), 300-312. 66 B. I. Krasnobaev / Gert Robel / Herbert Zeman (Hg.), Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung. Berlin 1980; Antoni Mączak / Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung. Wolfenbüttel 1982 (Wolfenbütteler Forschungen 21); Michael Maurer (Hg.), O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll: deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts. München 1992; Arnd Bauerkämper / Hans Erich Bödeker / Bernhard Struck (Hg.), Die Welt erfahren: Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute. Frankfurt/Main 2004; Philip Bracher / Florian Hertweck / Stefan Schröder, Materialität auf Reisen: zur kulturellen Transformation der Dinge. Berlin, Münster 2006. 64
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revolutionierte gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Reiseangewohnheiten mit seinen faktenreichen, präzisen und aktuellen Reiseführern, die ausgestattet mit verschiedenen Karten und Plänen individuelle Reisen durch Deutschland, Italien oder Österreich (darunter auch Kroatien und Zagreb, mit lapidaren aber übersichtlichen und niveauvollen Daten) ermöglichten und wesentlich erleichterten.67 Auch geografischstatistische Gesamtüberblicke der Habsburgermonarchie werden immer häufiger publiziert, wie beispielsweise die großen Arbeiten von Johann Andreas Demian (1770-1845), der von 1804 bis 1807 eine mehrbändige „Darstellung der Österreichischen Monarchie“ in Wien publizierte, die in Bezug auf statistische Daten auch Kroatien bzw. Zagreb berücksichtigt und den Leser zahlreiche Daten über die Bevölkerung und deren Wohnstellen, Wirtschaft, Charakterologie, usw. hervorbringt.68 Die geografische Lage der Stadt Zagreb weist schon früh auf eine possibilistische soziogeografische69 Verortung der Stadt zwischen der kroatischen Landschaft und der stark sichtbaren deutschen Komponenten Zagrebs. Deswegen sind die Beschreibungen Zagrebs in deutschsprachigen Zeitungen oder Handbüchern fast immer auf eine zweiseitige Komparation mit anderen österreichischen (also allgemein deutschen) und kroatischen (slawischen) Städten orientiert: sie berichten zur gleichen Zeit über einen Zentrum der Kroaten und den Rand des deutschgeprägten Raums der Habsburgermonarchie der das Andere (meistens Slawen) ankündigt. Diese Quellen sind freilich sehr heterogen und schildern je nach Zweck eine genaue oder ungenaue, fachliche oder romantisierte, mehr oder weniger ausführliche aber doch vielfache Perspektive aus fremdem Auge. Die praktische Natur der Reisehandbücher, die als Aushilfe für reisende Händler, Amtsleute oder Wanderer und Forscher dienten, bietet eine grundsätzliche Skizze der Stadtentwicklungen mit verschiedenen Ansätzen, je nach den beliebigen Interessen der Autoren dieser Reiseberichte selbst. Obschon der Berichterstatter seine Schilderungen aus einem entfernten aber subjektiven Blickwinkel schreibt, und sich meistens mit Aspekten beschäftigt, die
Bsw.: Handbuch für Reisende in Deutschland und dem Österreichischen Kaiserstaat. Coblenz 1855. 68 Johann Andreas Demian, Darstellung der Österreichischen Monarchie nach den neuesten statistischen Beziehungen, Bd. 1-4. Wien, 1804-1807 (Kroatien wird im 3., die Militärgrenze im 4. Band bearbeitet). 69 Im wissenschaftlichen Sinne wird dieser Begriff im 20. Jahrhundert mit dem Namen des Historikers Lucien Febvre in Verbindung gestellt. Lucien Febvre, La terre et l‘évolution humaine; introduction géographique à l‘histoire. Paris 1922. 67
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in seinem persönlichen Interessenfeld liegen,70 ist der Reisende in diesem Falle dem komparativen Historiker am nähersten - mit seinem akkumulierten Wissen leuchtet er ein dominantes Stadtimage aus: in vergleichender Analyse bieten also Reiseberichte Einsicht in die Modernisierungslogik, die deutlich verschiedene Schritte zu verschiedenen Zeitpunkten der urbanen Entwicklungsprozesse anzeigt.71 Eine Art zweiseitiger Fremdenlage kennzeichnet diese Berichte: zum einen sind es österreichische/deutsche Reisende, die ihre Beobachtungen und Erfahrungen notieren, zum anderen machen sie dieses auf Deutsch und für die deutschsprachige Leserschaft der Monarchie bzw. Österreichs. Im Endeffekt fokussieren sich die meisten Reiseberichte auf die nicht-deutschen Elemente: sie beschreiben Kleidung, Sprache, Kultur, Tradition und Sitten immer in Vergleich mit dem erwarteten Erfahrungsraum der Leser, also entweder mit den noch exotischeren „zweiten“ Anderen (Kroaten in Bezug zu den Osmanen/Türken, Serben, Slawen im allgemeinen Sinne, usw.) oder mit den bekannten Topoi aus Literatur und Volkskunde, also mit einer Auswahl von Symbolen und Formen die im kollektiven Imaginären dem kroatischen Anderen dazugehören. Mit anderen Worten, die Reisenden waren in ihren Berichten bemüht neue Informationen und exotische Sensationen mit, im kollektiven Sinne, „typisch-kroatisch“ gehaltenen Elementen (Aussehen, Sprache, Sitten, usw.) zu mischen. Das literarische Werk hat in diesem Fall eine zweifache Auswirkung, als konstruiertes Kulturfeld und als Bestandteil des soziokulturellen Kontexts.72 Dazu kommt noch, das bis in die 1880er und 1890er Jahre Zagreb noch eine relativ kleine Stadt in Vergleich zu anderen Hauptstädten der Monarchie war, und gerade deswegen kommen in den Reiseberichten klare Gesamtdarstellungen des visuellen Eindrucks und der Stadtbevölkerung leichter zum Ausdruck. Am Anfang des 19. Jahrhunderts geben die ersten Handbücher für Reisende in der Habsburgermonarchie natürlich nur sture oder beschränkte Informationen über Zagreb, meistens als eine „Provinzial-Stadt“, die sich So liegt den hier besprochenen Sebastian Brunner die kirchliche Geschichte näher, Adalbert Krickel interessiert sich für Mineralogie und Morphologie, Evans für Archäologie, Ethnographie und Geschichte, während „professionelle“ Journalisten wie Hebbel oder Spitzer einen mehr balancierten Eindruck auf Zagreb bieten. 71 Diese Methode wird z.B. bei dem französischen Annales-Historiker Bernard Lepetit als eine Art Testquelle für seine urbane Entwicklungsgeschichte auf äußerst interessanter Weise appliziert. S. Bernard Lepetit, The Pre-industrial Urban System: France 17401840. Cambridge 1994, 74. 72 Zrinka Blažević, Prevođenje povijesti. Teorijski obrati i suvremena historijska znanost. Zagreb 2014, 129. 70
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mitten in der unentdeckten Landschaft und Natur Kroatiens befindet. Der Wiener Adalbert Joseph Krickel (1791-1847), ein Rechnungsoffizial der k. k. Cameral-Hauptbuchhaltung und Autor zahlreicher Berichte über seine „Fußreisen“ durch die „österreichischen Staaten“, besuchte 1828 die Stadt Zagreb und hinterließ in Form von Tagebucheinträgen interessante Schilderungen. Dabei ist die schwach entwickelte Infrastruktur der Stadt am Anfang des 19. Jahrhunderts erkenntlich: „[d]er Eintritt in die Hauptstadt Kroatiens ist unangenehm, finster und schmutzig“.73 Zum einen bemerkt Krickel die „reizende Umgebung“, also die intakte Natur in der unmittelbaren Nähe des Stadtrandes, zum anderen aber die ungeeigneten Bedingungen der Stadt die „[f]ür einen Menschen, der nicht weit zu Fuße zu gehen, oder bergab zu steigen gewohnt ist dürfte Agram kein angenehmer Aufenthalt sein“.74 Aufmerksam macht Krickel, neben anderen Beschreibungen, auf die Naturressourcen in Zagreb, die z. B. die Errichtung einer Porzellanfabrik im Gebiet der „ländlich gebauten Vorstadt Agrams“ - der Nova Ves (Krickel schreibt „Neudörfl“) ermöglichten.75 Außerdem wird gerade aus Krickels Bericht offensichtlich, dass die fortgeschrittenen Unternehmer - als wichtige interne Stadtentwicklungskraft - in Zagreb häufig aus den deutschen Bildungsschichten stammen.76 Wie aus Krickels Beschreibung eindeutig wird, ist nur der innerste Stadtkern besser verbunden und repräsentativ ausgestattet, wobei neue Fabriken und Unternehmen in der noch dörflich aussehenden Vorstadt errichtet werden. Kaum ein Jahrzehnt nach Krickel schreibt der Geschichtsforscher und Registratur-Direktor des Wiener Stadtmagistrates Franz Tschischka (1786-1855) in seinem Handbuch Der Gefährte auf Reisen in dem österreichischen Kaiserstaate (1834) „nach den neuesten und bewährtesten Quellen“ über „das gut gepflasterte Agram“ mit „mehrere[n] ansehnliche[n] Plätze[n]“.77 Neben den kunstgeschichtlichen Sehenswürdigkeiten (die bischöfliche Residenz mit der Domkirche, die St. Markuskirche, usw.) und kulturellen Institutionen (Königliche Akademie mit Bibliothek, Archigymnasium, Theater, usw.) auf die Tschischka andeutet, ist zu erkennen, dass sich in der
Adalbert Joseph Krickel, Fußreise durch den größten Theil der österreichischen Staaten in den Jahren 1827, 1828 bis Ende Mai 1829. Bd. 2. Wien 1830, 270. 74 Ibid., 270. 75 Adalbert Joseph Krickel, Fußreise, 273. 76 Ibid. 77 Franz Tschischka, Der Gefährte auf Reisen in dem österreichischen Kaiserstaate. Für Reisende jeden Standes und Zweckes, nach den neuesten und bewährtesten Quellen bearbeitet von F. Tschischka. Wien, 1834, 1. 73
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Vorstadtzone weitere Fabriken und besonders der Agrarprodukthandel entwickelt haben.78 Doch spezifische Charakterisierungen der Stadtbewohner oder persönliche Eindrücke sind bei Tschischka oder Krickel nicht zu finden. Auch das Reisetagebuch eines anonymen Reisenden, der im Juli 1842 einige Tage in Zagreb verbrachte, betont die Nähe der „Illitza Vorstadt“ und der eigentlichen Stadt mit Markt. Die Beschreibung der kroatischen Bauern, die sich auf der Erde frei „rohes Fleisch am Feuer“ rösteten, sollte wahrscheinlich die schlechte kulturelle Entwicklung der Stadt betonen; auf anderer Seite zeigten sich für den Anonymus gerade deutsche Buchdrucker in der Stadt als zugänglich - sie nahmen ihn auf und ihretwegen blieb er einen Tag mehr in Zagreb um zusätzlich wichtige Stadtteile zu besichtigen.79 Vielfältiger dagegen sind die Darstellungen der fast drei Jahrzehnte später veröffentlichten Notizen über Vergangenheit und Gegenwart der Hauptstadt Croatiens (1871) des österreichischen Theologen Sebastian Brunner (1814-1893). Schon am Anfang erwähnt Brunner auch die relativ schnelle Verbindung mit Wien, natürlich durch Eisenbahnlinien ermöglicht - „61 deutsche Meilen“ Bahnwegs, das heißt eine 22-stündige Fahrt mit dem Personenzug oder eine 13-stündige Fahrt mit einem Schnellzug.80 Seine historische Schilderung der Stadtgeschichte stützt sich auf das Quellenmaterial das er in Zagreb untersucht hat und auf Informationen von dem kroatischen Historiker Ivan Krstitelj Tkalčić (1840-1905). Außer einem geschichtlichen Überblick und kürzeren Notizen zur Entwicklung des Kirchenwesens, mit Berichten wie z. B. über die Metropolitanbibliothek oder das Domkapitel, bringt Brunner auch Stadtbeschreibungen und kurze Informationen über ihre Bevölkerung: „Die Tracht der croatischen Landleute“, so Brunner, „[…] ist eigenthümlich“.81 Besonders fallen ihm die bäuerlichen Sitten in Kleidung und Handel der Kroaten am Marktplatz auf; schließlich erklärt er das Stadtvolk als „sehr gefällig und freundlich“.82 Weiter schildert Brunner die Volksgebräuche während der Messe, eine patriotische Ausrichtung der Kroaten, die ihre „Heimat lieben“ und nur selten verlassen, weiter die Entwicklung der kroatischen Sprache und Literatur unter der Antriebskraft der Akademie der Wissenschaften und Künste.83 Zur Ibid., 1-2. Bent M. Scharfenberg (Hg.), Reise nach Italien 1842: Deutschland, Italien, Österreich u. a. Berlin 2003, 34. 80 Sebastian Brunner, Agram. Einige Notizen über Vergangenheit und Gegenwart der Hauptstadt Croatiens. Wien 1871, 3. 81 Ibid., 28. 82 Ibid., 29. 83 Ibid., 30. 78 79
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Zeit seines Besuches war die Obere Stadt noch immer das Stadtzentrum, das von unten gesehen einen „imposanten Anblick“ gab - eine neue Stadtentwicklung und Orientierung bemerkt Brunner noch nicht. Sein konservativ-kirchlicher Blickwinkel, in dem sich seine starken antijosephinistischen und antisemitistischen Überzeugungen äußern, ist stets auf das geistliche in Zagreb als wichtige Stadttriebe konzentriert. Im Vergleich mit Tschischkas kürzerem Bericht kann man also bei Brunners Notizen über Zagreb in erster Linie mehr Betonung auf geistliche und kulturelle Entwicklungen in der Stadt bemerken. Ohne Unterschätzung weist Brunner auf die unumstritten bedeutende Tätigkeit der Akademie und der geistlichen Vorführern, wie die des Erzbischofs Juraj Haulik, als wichtige Faktoren der Stadtentwicklung. Brunner deutet auch auf die Entwicklung der Sozialpflege und Betreuung der Armen durch Erzbischof Josip Mihalović (1814-1891), der in Zagreb diese caritativen Aktivitäten pflegte.84 Reichere, wenn auch romanisierte oder übertriebene Darstellungen findet man in der österreichischen Journalistik. Das Bild der Kroaten mit typisch literarischen Imagotypen spiegelte sich in den Reiseberichten der Journalisten, die ihre Kroatien-Besuche als exotische Erlebnisse aus der Wildnis darstellten. Die Nachrevolutionszeit brachte für die österreichische Presse eine härtere Zeit, die durch absolutistische Repressivsysteme und gesetzliche Mittel unterdrückt wurde. Auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen der österreichischen Presse kamen in diesem Zeitalter in Frage. Bei den vorhandenen Zeitschriften dominierten in diesen Jahren literarisch-belletristische und wissenschaftliche Unterhaltungsartikel. Politik und ernsthafte Feuilletons kamen nur langsam in den Fokus allgemeiner Aufmerksamkeit zurück.85 Unter diesen Umständen erscheinen auch mehrere Reiseberichte über östliche oder südöstliche Teile der Monarchie oder Mitteleuropas; die Zeitschrift Der Wanderer veröffentlicht in der Rubrik „Ost“ kürzere Berichte aus Kroatien. Präziser handelt es sich um Reisebriefe des deutschen Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel (1813-1863) der in Begleitung seiner Gemahlin, der Schauspielerin Christine Enghaus, einige Tage in Agram verbrachte und Reisebriefe in Form von Aufsätzen schrieb, die am 11. und 14. Juli 1850 im Wanderer erschienen.86 Hebbel, der seit der zweiten Hälfte der 1840er Jahren in Wien tätig war, setzte sich aus einer regierungsloyalen Position für eine Stärkung Deutschlands ein. Ibid., 24-26. Ernst Viktor Zenker, Geschichte der Journalistik in Österreich. Wien 1900, 45-55; Astrid Stein, Friedrich Hebbel als Publizist. Münster,1989,190-191. 86 Friedrich Hebbel, Tagebücher, Bd. 3. Berlin, 1905, 371. 84 85
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Er stellte sich dessen folgend skeptisch zur Frage des Slawentums sowie zur Gleichberechtigung aller Völker der Habsburgermonarchie. In seinen politischen Artikeln äußert er sich als ein klassischer 1848-er Vertreter der Separationsbestrebungen der österreichischen Nationalitäten.87 Sein Kroatenbild, sowie das Bild der Stadt Zagreb, sind mit diesem politischen (Sub)Kontext ständig durchsetzt. Er sieht die Hauptstadt als eine „Silhouette“ des ganzen Landes, und für Hebbel ist Zagreb „mit einem erst halb angekleideten Menschen zu vergleichen“.88 Gras, Unkraut, Zuchttiere, schlechte und schmutzige Straßen durch die man nicht spazieren kann, Kulturmangel, keine „Sittenstrenge“, überfüllte Haftanstalten, Soldaten auf den Straßen - so beschreibt Hebbel Zagreb. Er deutet auf eine nationalgeprägte Teilung der Stadt: auf einer Seite befinden sich „illyrische Dilettanten“ deren Bosheit „von den Magyaren auf die ‚Germanen’“ übertragen wurde, auf der anderen Seite das deutsche Kontingent, das für Kultur und Fortschritt steht.89 Eine „mittlere“ Partei fehlt in Kroatien - so Hebbel - die diese Feindseligkeiten überbrücken könnte, die das „nationale Wesen“ aufheben könnte, aber die auch einsieht, auf „welch‘ einer niedrigen Stufe“ das Land zur Zeit steht.90 Hebbel sieht ganz Kroatien als ein rückfälliges Land. Für ihn müssen Kroaten im „Wettkampf“ mit dem Deutschtum beweisen das sie ein richtiges Volk und kein Stamm sind. Dabei wiegt Hebbel die zivilisatorische Stufe Kroatiens mit Herder’schen Idealen ab: zum einen erwähnt er, dass man es in Kroatien „noch nicht einmal zu einer Grammatik gebracht“ hat, also das Medium für die Bildung einer Nation. Zum anderen deutet er auf die „anerkennungswerthe[n] Energie der nationalen Partei“, durch die ein sehenswürdiges Museum in Agram errichtet wurde - also das Bestehen einer kulturellen Basis.91 Hebbel sieht das künstlerische und wissenschaftliche Potential Kroatiens darin, dass seiner Meinung nach eine deutschfreundliche Politik ausarbeiten könnte - doch Kroatien lehnte die deutsche Hilfe, die Germanisierung die für Hebbel (zivilisatorisch) nur positiv sein kann, ab: „ohne Zweifel würden die Deutschen gern mit Hand anlegen, wenn man sie nur nicht zurückstieße“.92 Hebbels Beurteilung liegt
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Astrid Stein, Friedrich Hebbel, 228-229. „Agram“, Der Wanderer, (11. VII. 1850). Ibid. Hebbel sieht dabei den kroatischen Banus, Josip Jelačić, als eine Schlüsselperson die „in Croatien allgemein auf den Händen getragen wird“ und von dem die Parteien „das Außerordentliche“ erwarten. „Agram“, Der Wanderer, (14. VII. 1850). 91 Ibid. 92 Ibid. 87
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tief in seinen deutschnationalen Anschauungen verwurzelt, doch machte er seine Erfahrungen mit Zagreb in einem Zeitraum vor der planmäßigen Stadtentwicklung, die zirka fünfzehn Jahre nach seinem Besuch sich in Bewegung setzte. Das bäuerliche und agrarische mischt sich während Hebbels Aufenthalt in Zagreb natürlicherweise noch mit dem elitären deutschgeprägten Adel und der wachsenden Bürokratie, sodass auch mancher unparteiischer Betrachter diese Zwiespältigkeit der Stadt klar erkennen konnte. Gut vergleichbar ist Hebbels Stadtimage mit den Reiseberichten des Daniel Spitzers (1835-1893), für die Neue Freie Presse, die im Sommer 1874 erschienen. Spitzer zählt wahrscheinlich zu den bekanntesten Journalisten dieser Zeit in Wien, wo er zu Beginn Causerien über seine Stadtspaziergänge unter den Kolumnennamen „Wiener Spaziergang“ publizierte. Mit seinen sarkastisch-humorvollen Artikeln, die eine Kombination von seriösen Journalismus und humorvoll ironisierenden „Berichtsstyl“ charakterisierte, erreichte Spitzer bald in den liberalen Kreisen Wiens einen hohen Status - seine Spaziergänge und Reisebriefe waren ein wichtiges Kaffeehausthema.93 Das ursprüngliche Areal der Spaziergänge, die Stadtzone Wiens, erweiterte sich bald in seinen Reisebriefen auf verschiedene Teile der Donaumonarchie. So berichtet Spitzer im Sommer 1874 auch aus Zagreb und vermittelt den Eindruck eines ganz ungewöhnlichen Spaziergangs: für Spitzer war eine Reise nach Zagreb ein Sprung in die „Barbarei“, in ein exotisches Land mit „naturwüchsigen Panduren“ und der Wildnis.94 Hier stützt sich Spitzer stilistisch auf das schon erwähnte Kroatenbild in der deutschen Literatur, und setzt seine Analyse fort; der Name Zagreb „erinnert“ Spitzer „ein wenig an das Innere von Afrika“, währenddessen ihm der „freundliche“ Klang des Namens Agram wahrscheinlich geeigneter für die Hauptstadt Kroatiens scheint. So thematisiert Spitzer schon am Anfang seines Berichts die Dualität und Ambivalenz der Stadt: einerseits bekannt und mit Potential, deutschfreundlich und naheliegend, andererseits wild und ungezähmt, der Wiener Salonintelligenz völlig fremd und unbekannt. Dazu u.a.: Matthias Nöllke, Daniel Spitzers „Wiener Spaziergänge“: liberales Feuilleton im Zeitungskontext. Frankfurt am Main-New York,1994; Gilbert Ravy / Jeanne Benay, Satire, parodie, pamphlet, caricature en Autriche à l‘époque de François-Joseph, 18481914. Rouen 1999 (Etudes Autrichiennes 7); Wolfgang Duchkowitsch, Medien zwischen Missbrauch und Orientierung in vier Jahrhunderten: 22 Texte zur österreichischen Kommunikationsgeschichte. Münster 2011. Vgl. Daniel Spitzer, Wiener Spaziergänge, Walter Obermaier (Hg.), Bde 1-3, Wien 1986-1988. 94 Neue Freie Presse, (15. VIII. 1874). 93
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Interesse zeigt Spitzer für die Sprache die ihm, ganz im Gegenteil zu Hebbel, sehr „höflich“ klingt - doch kann man Spuren von ironisieren bemerken, wenn er feststellt: „Gasse heißt Ulica, Platz Terg, Sloga Eintracht und Oglas Kundmachung. Wie aber Erdäpfelknödel auf croatisch heißen, weiß man nicht, da der große Sprachforscher Kurelac, dem man die Erfindung sehr vieler croatischer Wörter verdankt, leider vor acht Wochen gestorben ist, ohne das Geheimnis verraten zu haben“.95 Sein weiterer Kommentar nähert sich dann doch Hebbel: „[…] glücklicherweise spricht in Agram jeder, der eine Hose trägt, auch Deutsch“ - Spitzer referiert auf die überwiegende Bilingualität der oberen Stadtschichten in Zagreb, aber bemerkt, dass sich ein „Sprachenstreit“ abzeichnet; Kinder werden absichtlich angehalten, kein Deutsch zu sprechen, bemerkt er.96 „Der Spaziergänger“ charakterisiert weiter die Kleidungsweise der Kroaten - „National-Négligé“, als „Hemd“ mit weiter „Unterziehhose“ für Männer und eine „ganze Toilette aus Hemd und Unterrock“ für Frauen die sich also im Vergleich zu früheren Reiseberichten nicht viel verändert haben.97 Die Stadt ist für Spitzer, so scheint es, langweilig - in Vergleich zu Wien oder Budapest hatte Zagreb in den 1870-er Jahren kein außerordentlich großes Netz von Kaffee- und Gasthäusern, die erst um die 1880er und 1890er zum eigentlichen Trend in Zagreb werden,98 während das Nationaltheater im Sommer geschlossen blieb und - so Spitzer - es keine anderen Vergnügungsorte gab. Doch Spitzers Besuch passiert zu einer Zeit, in der sich die Stadtentwicklungsprozesse die einen neuen Mittelpunkt in der Unteren Stadt aufsuchten, schon einige Jahre vorführen. Spitzer bemerkt nicht die Schönheit oder das repräsentative Gesicht der Oberen Stadt, sondern dass sie „wie ausgestorben“ ist, und nur zu Gunsten des Friedhofs noch „ein bischen belebt wird“.99 Die Bauarbeiten und Umplanungen der Stadt waren zu dieser Zeit noch im Vordergrund; ein ausgebildetes Alltagsvergnügungsprogramm für Gäste und Touristen war noch nicht zum Ausdruck gekommen.
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Ibid. Ibid. Neue Freie Presse, (15. VIII. 1874). Zu dem Thema der Kaffeehäuser in Zagreb s.: Ines Sabotič, The Coffeehouse in Zagreb at the Turn of the Nineteenth and Twentieth Centuries, in Charlotte Ashby / Tag Gronberg / Simon Shaw-Miller (Hg.), The Viennese Cafe and Fin-de-Siècle Culture. New York, Oxford 2013 (Austrian and Habsburg Studies vol. 16). 99 Neue Freie Presse, (15. VIII. 1874). 95 96
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In seinem Reisebrief aus Zagreb vergleicht Spitzer für die österreichischen Leser der Freien Neuen Presse Zagreb bzw. einige Elemente der inneren Stadt mit Wien. In diesem Vergleich hat die Hauptstadt der Donaumonarchie natürlich offensichtlichen Vorrang: so stellt Spitzer die Reiterstatue des Banus Jelačić, das Werk des österreichischen Bildhauers Anton Dominik Fernkorn, den Autor der Prinz-Eugen und Erzherzog-Karl Reiterdenkmäler am Wiener Heldenplatz, gerade diesen zwei HabsburgerHelden entgegen und betont, dass sich das Pferd des Banus nicht heldenhaft und stolz auf beide Vorderbeine erhebt, wie eben bei den zwei Heldenplatz-Denkmälern. So fragt sich Spitzer ironisch, ob nicht das Pferd an die „strategischen Talente seines Reiters“ zweifelt?100 - und denkt auf das kämpferische Kroatenbild nach, das in den liberalen Kreisen nicht immer positive Bedeutung trägt. Weiter ist für Spitzer die Ilica Straße, die von den Agramern „Jägerzeile“, nach der Wiener Jägerzeile genannt wird, noch „lange nicht so exclusiv“ - denn Tiere, Ochsen und Kühe, kann man auch beim Durchspazieren treffen. Als einzige richtige Sehenswürdigkeit sieht Spitzer den alten Dom, während ihm Parkanlagen wie Maksimir menschenleer oder das Nationalmuseum ohne richtige Seltenheiten vorkommen. Daniel Spitzers Stadtbild ist also noch immer von Vorstellungen mit exotischen Elementen der Provinz, Rückfälligkeit und minderwertiger Kultur geprägt, die im Vergleich zur wahren Hauptstadt Wien, aber auch den anderen größeren Städten der Monarchie, nicht mithalten kann. Den Mangel an interessanten Sehenswürdigkeiten und gesellschaftlichen Ereignissen - in Kontext der wienerischen liberalen Bürgerschaft - ersetzen deswegen Hyperbeln, die den Wiener Lesern das Fremde, das Andere schildern. Zwei verschiedene Reiseberichte, die in unmittelbarer Zeitspanne zu Spitzers Artikel aus der Neuen Freien Presse stehen, bieten einen weiteren Vergleich an. Beide kommen aus ausländischer Fremde: aus Preußen und Großbritannien. Der preußische Publizist Franz Maurer besuchte vor 1870 Kroatien und Agram als eine der Stationen während seiner Bosnienreise. Detailliert beschreibt Maurer die Kleidungsart der Kroaten, analysiert Landschaft und Volk (das er schon aus seinem Bahnwagon betrachtet), was ihn schon zu Beginn darauf bringt, seine Vorstellungen über Kroatien/ Kroaten neu zu bewerten: „Oft [...] frage ich mich, ob ich mich den wirklich in Kroatien, in demselben verrufenen Lande befände, aus dem einstmals die Horden Tilly’s, Trencks oder Jellatschitj’s gekommen waren und Deutschland verheerend überschwemmt hatten“.101 Maurers Eindrücke sind Ibid. Franz Maurer, Eine Reise durch Bosnien, die Saveländer und Ungarn. Berlin 1870, 53.
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die eines freundlichen und zahmeren Landes. Nur einzelne Bilder in seiner Durchreise rechtfertigen den alten Imagotyp der kämpferischen Kroaten. Die Hauptstadt Zagreb, notiert er, ist in den Augen der Kroaten „ein Wunderwerk“ - natürlich, aus dem Standpunkt der Bauern in näherer Umgebung.102 Maurers persönliche Bemerkungen zur Stadtentwicklung treffen oft zu. So erklärt er, dass die Vorstadt Zagrebs nur eine Verlängerung der Hauptstraße, Ilica, ist: urbanisiert ist also nur der innerste Umkreis des Stadtkerns, wobei sich schon in der Nähe größere Grundstücke und Landflächen erstrecken und als eigentliche Vorstadtgebieter in direkten Kontakt mit den Hauptstraßen liegen. Maurer kommt die Stadt im Allgemeinen „deutsch“ vor, „[...] Mindestens ebenso deutsch wie - - Pesth und Ofen“.103 Damit ist gemeint: die Bevölkerung spricht meistens Deutsch (darunter überwiegend Militäroffiziere und Beamte), der Stadtcharakter ist hauptsächlich auf das Familienleben ausgerichtet - ohne richtiges Wirtshausleben - also „todt und still wie eine norddeutsche Kleinstadt“,104 während die Straßen sauber und grundsätzlich ordentlich (obwohl Makadam und Staub ein Problem sind), wenn auch nicht adäquat ausgestattet sind. Insofern treffen sich Maurers und Spitzers Beschreibungen der Stadt; beide erwähnen eine Abwesenheit der Vergnügungsorte. Dazu bemerkt Maurer auch bei der Bürgerschaft einen „Sinn für Reinlichkeit und Ordnung“, Ähnlichkeiten mit den Wienern in Bezug zu alltäglichem Gemütlichkeitssinn („man isst und trinkt vortrefflich und zwar reichlich und häufig“), doch auch einen weniger ausgeprägten Unternehmensgeist.105 Maurers Darstellungen entstehen durch seine eigenen Beobachtungen, aber auch durch den Kontakt - Erkundigungen und Gesprächen - mit der Bevölkerung. Interessant ist dabei zu bemerken, dass in Sachen des Schulwesens und der allgemeinen Kultur Maurer die Beurteilung derselben eines quasi „kroatischen Mittredners“ andeutet, der, anders als die Tschechen oder Ungarn (so Maurer), kein Trugbild der Lage besitzt und sich kritisch äußert - der also eine kulturelle Erweiterung und Verschärfung des Schulwesens erwartet.106 Knapp ein Jahr nach Daniel Spitzer, 1875, besuchte Zagreb auch Arthur J. Evans (1851-1941), der berühmte britische Archäologe. Sein Fremdenblick differenziert sich von den bisherigen Reiseberichten insofern, dass er in Kroatien weit vielfältigere orientalische Elemente bemerkt; 104 105 106 102 103
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nicht auf die Grenzen der Donaumonarchie beschränkt, analysiert Evans die kulturhistorischen und ethnographischen Markenzeichen Zagrebs und Kroatiens und bemerkt die slawischen Sonderheiten - und Ansätze einer „Slawisierung“. „Anders als Deutsch“ bezeichnet Evans die Stadt: in der unterschiedlichen Kleidung im Vergleich zum näherliegenden Marburg oder anderen Städten Sloweniens und der „slawischen“ Bauart findet Evans östlich-türkische Techniken und natürlich auch italienische Einflüsse.107 Seiner Schlussfolgerung nach sprechen in Zagreb die meisten Bürger nicht nur Kroatisch und Deutsch, sondern regelmäßig auch Italienisch und vielleicht auch Französisch.108 In Sachen ästhetischer Kultur sind Kroaten, seiner Meinung nach, wie auch ganz Ungarn, rückfällig. Interessant ist auch Evans Bemerkung, dass die Untere Stadt, von oben gesehen, in unordentliche Dörfer verstreut Buda ähnlich ist.109 Ein vorhandener Stadtplan (1878) offenbart diese Charakterisierung, denn die neuen Stadtstraßen, die zur Eisenbahnstrecke führen, waren erst in der Planphase und das Gebiet urbanisierte sich nur schrittweise.110 Zwanzig Jahre später, näher der Jahrhundertwende, ändern sich die Eindrücke der Reisebesucher Zagrebs. Auch der Kaiser Franz Joseph, der während seines ersten Besuchs 1852 noch seiner Mutter schrieb: „das Land [Kroatien, F.Š.] ist recht hübsch, die Stadt Agram minder“,111 änderte während seines dritten Besuches 1895 seine Perspektive im wesentlichen Sinne. Öffentlich und privat lobte so der Kaiser Zagreb, betonte „[d]ie Stadt entwickelt sich sehr rationell, in Agram wird viel und schön gebaut“112 und schrieb seiner Katharina Schratt noch dazu: „Die Stadt ist sehr groß, hübsch und sauber geworden mit vielen schönen, neuen öffentlichen Gebäuden und sehr gut gehaltenen Gartenanlagen. Die Gegend ist sehr freundlich und war noch sehr grün [...]“.113 Wie schon erwähnt, besuchte der Kaiser und Arthur J. Evans, Through Bosnia and the Herzegovina on Foot during the Insurrection, August and September 1875: With an Historical Review of Bosnia, and a Glimpse at the Croats, Slavonians, and the Ancient Republic of Ragusa. Cambridge 2013, 2-6, 25. 108 Ibid., 25. 109 Ibid., 5. 110 Zagreb na geodetsko-katastarskim zemljovidima i u zemljišnim knjigama. Zagreb 1994, 90-91. 111 Franz Schnürer (Hg.), Briefe Kaiser Franz Josephs I. an seine Mutter: 1838 - 1872. München 1930, 201. Dazu noch: Franjo Bučar, O posjeti Franje Josipa I. godine 1852. u Zagrebu, 9/23 (1930), 323-325. 112 Neue Freie Presse, (22. X. 1895). 113 Brigitte Hamann (Hg.), Meine liebe, gute Freundin! Die Briefe Kaiser Franz Josephs an Katharina Schratt. Wien 1992, 329. 107
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König Zagreb im Rahmen einer feierlichen Eröffnungen sämtlicher Kulturund Schulinstitutionen, integriert in das „Grüne Hufeisen“, die der Stadt ein neues großstädtisches Erscheinungsbild verliehen. Besonders das Werk des Architekten Hermann Bollé (1845-1926), aber auch andere architektonische Werke im „gesamtmonarchischen“ monumentalen Stil (wie das Nationaltheatergebäude von Fellner und Helmer), ein neu errichteter Stadtbahnhof (1890-1892), Parkanlagen und Plätze, usw. sorgten für ein modernisiertes und mit der Habsburgermonarchie visuell stärker verbundenes Zagreb, das den unerreichbaren Vorbildern von Wien und Budapest somit ein wenig näher kam. Parallel mit diesem Prozess und damit eng verbunden, entsteht in Zagreb auch eine moderne, den Historismus kritisch bewertende, Tendenz: der Jugendstil. Aber auch die „moderne“ Architektur findet um 1900 in Zagreb immer mehr ihren Platz, geprägt von Otto Wagner oder Adolf Loos und seinen, für die Zeit seines Wirkens, unkonventionellen Verständnis der Architektur, mit einer starken Empfindsamkeit für traditionelle, also nationale, Bauformen.114 * Das Zeitalter von 1790 bis 1850 ist für die Stadt Zagreb eine Übergangsphase: zum einen wurde mit dem Ende der Türkenbedrohung und nach dem Brand von Varaždin eindeutig Zagreb zum politischen Zentrum. Dennoch, zum anderen, war die Stadt noch immer eine „ungarische Marktstadt“, ohne die notwendigen Verbindungen mit den restlichen kroatischen Ländern.115 Schritt für Schritt bilden sich positive Voraussetzungen, die dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Reformen von außen und innen eine Transformation zur richtigen Hauptstadt des Dreieinigen Königreichs bewirken. Die Stadt vereinigte als Verwaltungszentrum alle wichtigen Aspekte einer modernen Hauptstadt: politische Institutionen (Landesregierung, Komitats- und städtisches Munizipium, Bezirksbehörde) sowie Gerichts- (Septemviraltafel, Banaltafel, Gerichtshof, Bezirksgericht) und Finanzbehörden (Finanzdirektion, Steueramt, Hauptzollamt). Der Eisenbahnverkehr, mit Zagreb als einen Zentralpunkt, löst die bisher unbestritten wichtige Rolle der Save ab. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Aleksander Laslo, Zagreb 1880-1918. Modern-architectural town, 136-144; Eugenia Ehgartner-Jovinac, Zagreb und die Jahrhundertwende: ein Ort der Moderne?, in: Heidemarie Uhl (Hg.), Kultur - Urbanität - Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900. Wien 1999. 115 Mirjana Gross / Agneza Szabo, Prema hrvatskome građanskom društvu, 555. 114
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wächst auch die Stadtbevölkerung rapide: 1880 sind es noch fast 30.000, knappe zwanzig Jahre später fast 80.000.116 Zur Jahrhundertwende findet man Zagreb als eine richtige Hauptstadt mit modernen Einrichtungen ausgestattet: einer Wasserleitung, Kanalisation, Gasbeleuchtung, Straßenbahn, Zentralfriedhof, usw. Auch die ökonomische Situation verbessert sich wesentlich in Zagreb. Um 1900 waren in Zagreb etwa 40 Industriebetriebe tätig: Handel, Verkehr, Bankwesen, Handwerk und Industrie wachsen zu dieser Zeit.117 Die Stadt wird zum wichtigsten organisierten Exportplatz des Dreieinigen Königreichs, aus dem Rindvieh, Pferde, Schweine, Schafe und Ziegen quer durch die Monarchie ausgeführt wurden.118 Gleichfalls folgt Zagreb im künstlerischen und allgemein kulturellen Sinne zu dieser Zeit fast ohne jegliche Verspätung modernen Tendenzen, die aus den mitteleuropäischen Zentren Wien, Budapest und Prag ausstrahlten. Im letzten Band des Kronprinzenwerkes (Bd. 24), Kroatien und Slawonien gewidmet, bezeichnet Robert Pinter (1863-1912), ein Gymnasialprofessor und Autor der Sektion „Agram und Umgebung“, Zagreb als „die letzte große europäische Stadt an der Schwelle des Orients“.119 Aus einer Langzeitperspektive zeigen verschiedene Reiseberichte wie sich eine Hauptstadt von innen und außen bildet und wächst; doch das Bild von der Peripherie bleibt eine Kontinuität und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dominant. Positive kulturelle und wirtschaftliche Ausformungen werden mit deutschen bürgerlichen Elementen verbunden, die mit dem bäuerlichen Charakter der Kroaten kontrastiert werden. Diese Ambivalenz spiegelt sich in der Beurteilung der Stadt und dem Stadtbild im Allgemeinen: Zagreb liegt zwischen einer Hauptstadt und einer Provinzstadt. Im Wesentlichen fällt bei den meisten Beschreibungen auf, dass Zagreb immer wieder als ein überraschend urbanisierter Fleck zwischen dem fast unpassierbaren Bergland von Zagreb (Zagrebačko gorje oder Medvednica), der Save und den Acker- und Wiesenländer der naheliegenden Dörfer die sich mit der Vorstadt direkt beifügen. Diese Charakteristik erhält sich während des ganzen 19. Jahrhunderts und auch zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein letzter Fremdenblick auf Zagreb schildert sehr offensichtlich die Transformation der Stadt; am Vorabend des Ersten Weltkriegs besucht der amerikanische Pastor Francis Edward Clark (1851-1927) Zagreb. Sein Staunen ist groß; er hatte eine „drittklassige Provinzstadt“ erwartet die „fast 118 119 116 117
Božena Vranješ-Šoljan, Stanovništvo gradova, 146-148. Ibid. Geoffrey Drage, Austria-Hungary. New York 1909, 466. Die Österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, Bd. 24. Wien 1902, 305.
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die Zeit und das Geld eines Reisenden nicht wert wäre“, doch überrascht hat Clark eine „scharmante Stadt“ mit modernen Sitten und Ausstattung gefunden, nach „Schönheit und Betrieb“ im gleichen Rang mit anderen kleineren europäischen Hauptstädten.120 Das „Grüne Hufeisen“ hatte seine vollkommene Wirkung auf Clark: als er aus der Bahnstation ausstieg, erwarteten ihn schon die repräsentativen Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen, Monumentalbauten, Grünanlagen, dann der neue Stadtkern und die Alte Stadt mit ihrer Geschichte.121 Der kroatische Publizist Josip Horvat (18961968) schildert in seinen Erinnerungen wichtige Veränderungsprozesse der Stadt während des Ersten Weltkrieges: die Ilica und der Jelačić-Platz werden um 1918 zum richtigen Stadtkern, die Stadt verbindet sich organisch mit ihrer Umgebung (und wirkte daher mehr als „kroatisches Zentrum“) und dadurch werden die spezifischen Mentalitäten der Stadtbevölkerung, zwischen kleinbürgerlichen provinziellen Geist und einer bürgerlichen Intelligenz geteilt, noch deutlicher.122 Auch Horvats Beschreibung weist also noch am Anfang des 20. Jahrhunderts auf ein geteiltes, ambivalentes Zagreb, das ein festes Zentrum für Kroatien darstellt, aber seiner Struktur nach auch mit der „Peripherie“ (der Habsburgermonarchie sowie Kroatiens) verbunden ist. Binnen des 19. Jahrhunderts bleibt der Erwartungshorizont der fremden Besucher stets auf selber Ebene, doch mit den Modernisierungsprozessen der Stadt erweitert sich der Erfahrungsraum. Deswegen stellt auch Hermann Bahr (1864-1934) während seiner Dalmatienreise (als kleines Büchlein 1909 veröffentlicht) für Zagreb fest: „Architektonisch läßt sich nichts Österreichischeres denken als die alte Stadt Agram“, also wie in Salzburg oder „der alten Stadt Steyr“.123 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Zagreb also die wahrhafte Hauptstadt Kroatiens und ein Zentrum, nach dem sich das Land ausrichtet. Manchmal bedeutet das auch Kritik aus der „weiteren“ Peripherie, meistens aber die Entwicklung einer marginozentrischen Mitte,124 die politisch, kulturell Francis E. Clark, Old Homes of New Americans. The Country and the People of the Austro-Hungarian Monarchy and Their Contribution to the New World. Boston-New York 1913, 189-190. 121 Ibid., 190-191. 122 Josip Horvat, Živjeti u Hrvatskoj. Zapisci iz nepovrata 1900-1941. Zagreb 1984, 120121. 123 Hermann Bahr, Dalmatinische Reise. Berlin 1909, 124. 124 Dazu: Marcel Cornis-Pope, Introduction: Representing East-Central Europe‘s Marginocentric Cities, in: Marcel Cornis-Pope / John Neubauer, History of the Literary Cultures of East-Central Europe: Junctures and Disjunctures in the 19th and 20th Centuries, Vol. 2. Amsterdam-Philadelphia, 2006. 120
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The Entangled Histories of Vienna, Zagreb and Budapest (18th-20th Century)
und teilweise auch wirtschaftlich mit der Donaumonarchie homogenisiert wirkt, aber im selben Moment sich auch als eigenmächtiges Zentrum der nationalen Tendenzen enthüllt. Nach 1918 wird die erwähnte Ambivalenz Zagrebs (das heißt z. B. eine politische, wirtschaftliche, intellektuelle oder kulturelle Orientation, aber auch die Mentalität im Allgemeinen) zu einer der Hauptfragen in Bezug auf die Weiterentwicklung der Stadt; ein bedeutender Zustrom der Bevölkerung aus unterschiedlichen Teilen Kroatiens verschärft dieses Problem nur zusätzlich. Die Wege des 19. Jahrhunderts und die der fast fünf Jahrhunderte alten Habsburgererbschaft, oft kritisch oder hyperkritisch betrachtet, werden allerdings in der Praxis der urbanen Logik und grundsätzlichen Entwicklungszügen auch weiterhin im 20. Jahrhundert eine starke und weitreichende Spur hinterlassen.
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Report "Peripherie und Zentrum: Zagreb im 19. Jahrhundert aus einer anderen Perspektive, in: The Entangled Histories of Vienna, Zagreb and Budapest (18th-20th Century), ed. Iskra Iveljić (Zagreb, 2015), 59-93 "