Voicings

April 3, 2018 | Author: Anonymous | Category: Documents
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Voicings Voicings V oicing ist die allgemeine Bezeichnung für eine Akkordstruktur bzw. deren Stimmen- und Intervallverteilung. Dieses Kapitel ist ein kurzer Streifzug durch die charakteristischen Sounds des Mainstream-Jazz. Ich möchte euch Voicings vorstellen, wie ihr sie in Klavier- und Gitarrenbegleitungen oder Bläserarrangements finden werdet und mit deren Hilfe ihr selbst einfache, mehrstimmige Sätze oder Melodieharmonisierungen entwickeln könnt. Die Akkordsymbolschrift im Jazz bezieht sich vorwiegend auf vierstimmige Grundtypen. Beginnen wir also mit vierstimmigen Standardvoicings. Sie haben sich als vielseitige und stilunabhängige Klangfarben etabliert. Aufgrund ihres leicht verständlichen Aufbaus eignen sie sich besonders gut als Einstieg in die fast unüberschaubare Fülle möglicher Akkordstrukturen. Enge Lage (Close Voicings) Ausgehend von der traditionellen Terzschichtung bezeichnet man damit eine Tonanordnung, bei der alle Akkordtöne – unabhängig von der Umkehrung – so dicht wie möglich beieinander liegen. Zur besseren Unterscheidung von Umkehrungen werden zwei grundsätzlich verschiedene Bezeichnungssysteme verwendet. Das eine orientiert sich am höchsten Ton (auch Diskant oder Lead genannt), das andere am tiefsten Ton (dem Bass) des Voicings (z. B. C-7): Weite Lage (Drop Voicings) Es ist aus Gründen der Instrumentierung (Tonumfang der Melodielinie) oder des Klangs (Registrierung der Instrumente) nicht immer sinnvoll oder möglich, Voicings in enger Lage zu verwenden. Schauen wir uns ein gängiges Konstruktionsprinzip an, mit dem sich Akkordstrukturen in weiter Lage herleiten lassen. 1 Die neue Jazzharmonielehre Drop Two (↓2) Die 2. Stimme eines Close Voicings wird nach unten oktaviert: Drop Three (↓3) Die 3. Stimme eines Close Voicings wird um eine Oktave nach unten versetzt: Drop Two + Four (↓2+4) 2. und 4. Stimme werden oktaviert: 2 Voicings Es wäre theoretisch auch denkbar, Drop-4- oder Drop-2+3-Voicings zu konstruieren. Beide Möglichkeiten kommen in der Praxis aber nicht vor, weil sie zu unbalancierten Voicings mit einer extrem unregelmäßigen Stimmverteilung führen. Bei Drop 4 wäre die 4. Stimme viel zu weit vom Rest des Voicings entfernt, bei Drop 2+3 würde zwischen der Leadstimme und den Unterstimmen eine zu große Lücke entstehen. Drop 2, Drop 3 und Drop 2+4 sind zunächst rein mechanische Konstruktionsprinzipien, die sich auf jeden Akkordtyp und jede Umkehrung anwenden lassen. Tension Substitutes Jeder Akkordgrundtyp kann natürlich erweitert werden – unabhängig davon, ob es sich um enge oder weite Lage handelt. Sollen die Voicings vierstimmig bleiben, muss man zugunsten von Tensions auf Akkordtöne verzichten. Während Terz und Septime üblicherweise beibehalten werden (sie definieren den Charakter des Akkords), sind Grundton und Quinte fast immer entbehrlich. Sie lassen sich in Abhängigkeit von der Funktion des Akkords und dem dazugehörigen Skalenmaterial durch eine benachbarte Tension ersetzen (substituieren) – daher der Begriff Tension Substitutes: • Grundton durch b9, 9 oder #9 • Quinte durch 11, #11, b13 oder 13 (6) Manchmal wird bei Moll7- oder Moll7(b5)-Akkorden auch die kleine Terz (b3) durch 11 ersetzt (das Ergebnis ist ein sus4-ähnlicher Klang). Zum besseren Verständnis möchte ich in Zukunft folgende Kurzschreibweisen verwenden: b9/1 9/1 #9/1 11/5 #11/5 b13/5 13/5 11/ b3 Das ist mein eigenes und kein allgemein gebräuchliches Notationssystem. Es zeigt aber auf den ersten Blick, welcher Akkordton durch welche Tension ersetzt wird (b9/1 bedeutet: b9 tritt an die Stelle des Grundtons, b13/5 bedeutet: die b13 ersetzt die Quinte usw.). Das folgende Beispiel zeigt, wie ein vierstimmiger Grundklang durch den Einsatz verschiedener Tension Substitutes variiert werden kann. Ich habe F7 in 3. Umkehrung als Ausgangspunkt verwendet (das Prinzip ist natürlich auf jeden Akkordtyp und jede Umkehrung übertragbar). Ihr seht alle Kombinationsmöglichkeiten der Tensions 9 und 13 (diatonisch) sowie b9, #9, #11 und b13 (alteriert): 3 Die neue Jazzharmonielehre Hier eine typische Voicing-Folge für einen Blues in Bb mit Close Voicings und Tension Substitutes (Vorzeichen beachten!): Mit einer einfachen Rhythmisierung lässt sich dieses Beispiel gut als Klavierbegleitung nutzen. Hier dieselbe Akkordfolge mit Drop Two Voicings: 4 Voicings Ich habe weitgehend auf enge Stimmführung geachtet. Die jeweiligen Tension Substitutes entsprechen zwar den üblichen Skalenklischees, sind aber so gewählt, dass ihr möglichst viele verschiedene Klangfarben kennen lernt. Wir sehen, dass die herkömmliche Denkweise – Akkordtöne unten, Erweiterungen oben – bei Close und Drop Voicings nicht immer greift. Durch die Verwendung von Tension Substitutes können auch in den unteren Stimmen Erweiterungen liegen. Die Praxis zeigt, dass manche dieser Situationen mit Vorsicht zu behandeln sind. Für traditionelle Voicings haben sich folgende Regeln herauskristallisiert: 5 Die neue Jazzharmonielehre • Eine kleine Sekunde (b2) zwischen Lead und 2. Stimme ist zu vermeiden (es sei denn, man will diesen speziellen Soundeffekt). Der Grund: Die Oberstimme wird nicht mehr als Melodie wahrgenommen – sie wird durch die Dissonanz zugedeckt. In den Unterstimmen dagegen stellt eine kleine Sekunde kein Problem dar – die Spannung ist zumindest in enger Lage gut in den Gesamtklang eingebettet. • Bei Drop Voicings sollte man b9-Beziehungen aus dem Weg gehen. Der Grund: In weiter Lage sind die einzelnen Töne und ihre Intervallverhältnisse viel exponierter als bei einem Close Voicing. Eine b9 würde mit ihrer extremen Dissonanz recht deutlich aus dem Klangbild herausstechen und den meist konsonanten Charakter dieser Voicings stören. Nachfolgend alle theoretisch möglichen Konstellationen, die zu einem dieser Probleme führen können: oben unten 1 maj7 b3 9 3 #9 11 3 b5 11 5 #11 b13 5 b7 13 b9 Liegt eine der oberen Intervallfunktionen in der Leadstimme, dann ist der jeweils untere Ton im Voicing zu vermeiden und als conditional (situationsabhängige) Avoid Note zu behandeln, um der b9 aus dem Weg zu gehen (Ausnahme ist der 7(b9)-Akkord). Bedingt durch das Konstruktionsprinzip kommen einige dieser Möglichkeiten bei Close und Drop Voicings nicht vor. Wir werden aber noch andere Voicingtypen besprechen, bei denen jeder der aufgeführten Fälle möglich wäre. Hier ein paar konkrete Beispiele, um das Prinzip zu verdeutlichen (analysiert die Voicings und achtet auf die Tonverteilung): Man kann Close und Drop Voicings zu fünfstimmigen Strukturen erweitern, indem man als 5. Ton die Leadstimme eine Oktave tiefer verdoppelt. Man spricht dann von einer Double Lead. Bei Close Voicings führt die Double Lead zu einem Klangkonzept, das als „Shearing“ bekannt geworden ist. Es geht auf den Pianisten George Shearing zurück, der berühmt dafür war, Melodien beidhändig in enger Lage zu harmonisieren (locked hand). Hier sind einige Beispiele für Double Lead Voicings: 6 Voicings Aufgabe Notiert die folgenden Voicings. Leadstimme, Voicingtyp und eventuell zu verwendende Tension Substitutes sind jeweils vorgegeben: Analysiert die folgenden Voicings (schreibt Voicingtyp und Tension Substitutes unter die Noten): 7 Die neue Jazzharmonielehre Harmonisiert die folgende Phrase in Drop 2: Low Interval Limits Ihr habt sicherlich schon bemerkt, dass viele Voicings immer verzerrter und matschiger klingen, je tiefer sie liegen (versucht es selbst am Klavier, indem ihr z. B. einen einfachen Durdreiklang chromatisch nach unten verschiebt – ab einem bestimmten Punkt klingt er nicht mehr angenehm). Dahinter steckt die physikalische Tatsache, dass die Obertonreihen der einzelnen Akkordtöne im unteren Frequenzbereich immer näher zusammenrücken und sich dadurch immer stärker gegenseitig stören. Für jedes Intervall gibt es einen unteren Grenzwert – ein so genanntes Low Interval Limit (LIL) – ab dem der Zusammenklang als störend empfunden wird. Dabei handelt es sich nicht um absolute, eindeutig fixierbare Grenzen, sondern um diffuse, von Musiker zu Musiker unterschiedlich erlebte Bereiche, die durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst werden: • Durch die Hör- und Spielgewohnheiten (ein Bassist, der sich laufend im tiefen Register bewegt, wird wesentlich sensibler auf dieses Phänomen reagieren als z. B. ein Trompeter, dessen Instrument ihn nie mit LILs in Berührung bringt); • durch das persönliche Verhältnis zu Dissonanzen (je toleranter unser Ohr mit Spannungen umgeht, desto tiefer wird unser persönliches LIL liegen); • durch die Instrumentierung (für eine homogene Besetzung – z. B. ein Posaunenquartett – kann man tiefer schreiben als für einen gemischten Bläsersatz, bei dem die Einzelstimmen sehr unterschiedliche Klangcharakteristika besitzen). Dennoch haben sich im Laufe der Zeit Erfahrungswerte herauskristallisiert. Hier sind die LILs für alle Intervalle innerhalb der Oktave: 8 Voicings Größere Intervalle werden als Oktavierungen der Grundintervalle behandelt. Überprüft diese Tabelle am Klavier (nicht an einem Keyboard! – das entspricht nicht der Realität, weil es zu sauber gestimmt ist) und bildet euch ein eigenes Urteil. Ihr werdet feststellen: LILs hängen vom Dissonanzgrad des jeweiligen Intervalls ab – je reiner bzw. spannungsärmer ein Intervall ist, umso tiefer lässt es sich verwenden (auch hier erkennt man den Einfluss der Obertonreihe). Hier sind einige Voicing-Beispiele, die – bezogen auf die obige Tabelle – LIL-Situationen enthalten (beachtet den Bassschlüssel): Es leuchtet sicher ein, dass man besonders bei Voicings in weiter Lage (z. B. Drop Voicings) auf LILs achten müsst. Close Voicings werden selten so tief verwendet, dass es Schwierigkeiten gibt. Ihr seht auch, dass LIL-Probleme nicht nur auf den Abstand der beiden tiefsten Stimmen beschränkt sind – manchmal können auch Mittelstimmen betroffen sein. Zudem kommt es immer wieder vor, dass ein Voicing mehrere LIL-Situationen enthält. Einen wichtigen Punkt gilt es noch zu beachten: Wenn – wie bei vielen Close und Drop Voicings – die tiefste Stimme nicht der Grundton ist, so muss dieser dennoch mit berücksichtigt werden, da er ja meist vom Bass gespielt wird. Das folgende Beispiel zeigt, dass ein Voicing einerseits gut funktionieren, andererseits aber ein LIL-Problem aufweisen kann – je nachdem, auf welchen Grundton es sich bezieht: *) *) Als G-7/Bb wäre das Voicing in Ordnung (tiefste Stimme und Basslinie spielen jetzt denselben Ton, und die LIL-Situation wäre damit aufgehoben). 9 Die neue Jazzharmonielehre LILs dürfen nicht dogmatisch gehandhabt werden. Sie sind keine exakten Trennlinien, die keinerlei Spielraum zulassen nach dem Motto „darüber gut, darunter schlecht“. Sie sollen euch zwar für ein Klangproblem sensibilisieren, das besonders beim Schreiben von Bläsersätzen oder bei der Begleitung (Klavier, Gitarre) eine Rolle spielt; es gibt jedoch genügend Beispiele, die einen relativ toleranten Umgang mit LILs demonstrieren. Manchmal kann ein „Verstoß“ gegen ein LIL sogar ein wünschenswerter musikalischer Effekt sein. Spreads Die bisher besprochenen Voicingtypen werden von „oben nach unten“ konstruiert – die Leadstimme ist der Ausgangspunkt, unter jeden Melodieton wird ein Voicing gehängt. Dagegen baut man Spreads von „unten nach oben“ auf – also der traditionellen Denkweise entsprechend: Akkordtöne unten, Tensions oben. Unter Spreads (von „to spread“ = ausbreiten, spreizen) versteht man Voicings in sehr weiter Lage. Sie werden folgendermaßen konstruiert: • Der Grundton liegt in der tiefsten Stimme (Ausnahme: Umkehrungen). • Darüber platziert man Terz und Septime in beliebiger Anordnung. • Zuletzt werden ein oder zwei weitere Töne (Akkordton oder Tension) hinzugefügt, je nachdem, ob das Voicing vier- oder fünfstimmig sein soll. • Damit der innere Zusammenhalt des Voicings nicht verloren geht, sollte der Abstand zwischen zwei benachbarten Stimmen nicht mehr als eine Septime betragen (Ausnahme: Zwischen der tiefsten Stimme = Grundton und der darüber liegenden Stimme kann der Abstand beliebig groß sein; Grund: Die Obertonreihe des Grundtons füllt die Lücke). Hier sind einige fünfstimmige Einzelvoicings sowie ein Beispiel für eine mit Spreads harmonisierte Phrase: 10 Voicings Euch fällt sicher auf, dass einige dieser Voicings auf dem Klavier nur schwer oder gar nicht spielbar sind (außer ihr habt Spinnenfinger oder benutzt das Pedal und schlagt die Töne nacheinander an). Das ist Absicht – man sollte Voicingkonzepte nicht von den Möglichkeiten eines einzelnen Instruments abhängig machen. Wenn man sich nur daran orientiert, was auf dem Klavier machbar ist, dann lernt man viele Sounds, die man z. B. im Rahmen eines Bläsersatzes sehr wohl antreffen kann, womöglich gar nicht kennen. Spreads verfügen (wegen des Grundtons in der tiefsten Stimme) über viel Eigenresonanz und sind daher sehr ausdrucksstarke, stabile, mächtige Klänge. Sie wirken allerdings auch schwerfälliger als kleine, kompakte Voicings. Für schnelle Melodielinien (z.B. Achtelpassagen) sind sie zu unbeweglich. Sie eignen sich gut für längere Sounds oder um Höhepunkte zu markieren. Spreads können natürlich auch dreistimmig sein. Ein gutes Beispiel findet ihr in den Takten 13 und 14 von „Stolen Moments“ von Oliver Nelson (siehe pdf-J). Quartvoicings An der Schnittstelle zwischen Bebop und Cool Jazz ändert sich die Denk- und Hörweise von einem vorwiegend Changes-orientierten (vertikalen) zu einem mehr skalenbezogenen (horizontalen) Klangkonzept (siehe dazu auch S. 159 ff). Während die Melodik ihre ersten modalen Gehversuche macht, beginnt sich die Harmonik von traditionellen Akkordstrukturen zu lösen. Frage: Wie begleitet man ein Stück, das sich über längere Strecken auf einen einzigen Akkord oder Modus bezieht? Bei einem Thema wie „So What“ (siehe S. 160), das ausschließlich in Dorisch steht (D-7 und Eb-7), könnte man z. B. mit verschiedenen Voicings in enger und weiter Lage (Close und Drop Voicings, Spreads), deren Umkehrungen sowie den für Dorisch typischen Tension Substitutes arbeiten. Eine weitere Variante wäre die Verwendung von diatonischen Nebenklängen – also nicht nur des Tonikaklangs I-7, sondern auch der Sounds, die auf der II., III., IV. Stufe usw. von Dorisch stehen. All diese Möglichkeiten leiten sich aber ausschließlich von den traditionellen Terzschichtungen ab. Es ist daher nur logisch, dass man irgendwann auch mit anderen Intervallzusammensetzungen zu experimentieren beginnt – so z. B. mit Quartvoicings. Ihr Konstruktionsprinzip ist denkbar einfach: 11 Die neue Jazzharmonielehre • Man wählt eine zum Akkordsymbol passende Skala und einen Melodieton (Leadstimme). • Alle Skalentöne (abzüglich eventueller Avoid Notes) stehen zur Verfügung und werden – wenn möglich – in reinen Quarten unter den Melodieton gesetzt. Eine übermäßige Quarte (#4/b5) fügt sich ebenfalls gut in das Klangbild ein. Die Low Interval Limits gelten natürlich auch für Quartvoicings. • Um eine Avoid Note zu umgehen, kann man bei vier- oder fünfstimmigen Quartvoicings notfalls auch eine Terz einbauen. Es muss aber eine große Terz sein – eine kleine Terz erzeugt in Verbindung mit zwei reinen Quarten eine b9 (Beispiel 1). Sie sollte zudem – wenn möglich – oben liegen, damit die Quarten das Fundament bilden. Liegt die Terz in der Mitte oder gar unten, klingt das Resultat nicht mehr wirklich nach einem Quartvoicing (Beispiel 2). Schaut euch als Beispiel die Klavierbegleitung von „So What“ auf S. 160 an – die beiden Voicings für D-7 bestehen aus reinen Quarten sowie einer großen Terz zwischen der 1. und 2 Stimme (Beispiel 3): Quartvoicings haben eine recht eigentümliche Färbung, die sie deutlich von traditionellen Voicingformen abhebt. Auch aus funktionaler Sicht sind sie schwer einzuordnen. Begleitungen, die Quartvoicings enthalten, erzeugen daher den Eindruck eines offenen, schwebenden Klangteppichs. Quartvoicings kann man auf jeden Akkordtyp bzw. jede Skala anwenden. In der folgenden Darstellung ist eine G-Durtonleiter mit vierstimmigen Quartvoicings harmonisiert. Als Akkordsymbol ist Gmaj7 vorgegeben. Das C (Avoid Note) ist daher zu vermeiden – als Melodieton sowieso und in den Unterstimmen ebenfalls. Folglich entfallen alle Voicings, die ein C enthalten (sie sind durch ein „X“ markiert). Als mögliche Alternative könnte man statt des C ein C# (= #11) verwenden. Die resultierende Skala ist damit Lydisch und nicht mehr Ionisch. Das wäre aber bei einem Maj7-Akkord nicht ungewöhnlich (die jeweiligen Voicings sind durch ein „L“ gekennzeichnet). Ebenfalls denkbar ist es, eine Terz einzubauen. Alle mit einem * gekennzeichneten Voicings können als Harmonisierung von Gmaj7 verwendet werden: 12 Voicings Fünfstimmige Quartvoicings für C-7/Dorisch: Ihr seht bei beiden Akkordreihen, dass einige der Voicings die Akkordsymbole Gmaj7 bzw. C-7 nur unvollständig wiedergeben. Das liegt in der Natur von Quartvoicings. Es ist völlig unerheblich, ob die wichtigen Funktionstöne (Terz und Septime) im Voicing enthalten sind oder nicht. Es geht nur darum, eine ganz spezielle Intervallstruktur und die jeweilige Skala zu bedienen. Umgekehrt beweist das folgende Beispiel, dass ein einziges Quartvoicing sehr viele verschiedene harmonische Situationen ausdrücken kann: Ein Dummkopf, der alles nachprüft – es handelt sich zudem nur um die wichtigsten Deutungen. Das Beispiel zeigt aber, dass Quartvoicings sehr vielfältige Interpretationen zulassen, die mit der herkömmlichen Akkordsymbolschrift nur schwer zu beschreiben sind (diese basiert ja auf Terzschichtungen). Im folgenden Beispiel hat fast keines der dreistimmigen Quartvoicings einen eindeutigen Bezug zum jeweiligen Akkordsymbol: 13 Die neue Jazzharmonielehre Auch für Quartvoicings gibt es Umkehrungen, die man durch Oktavierung der Außenstimmen erhält: Aufgabe Harmonisiert G-7/Dorisch, G7/Mixolydisch und G7/Alteriert nach demselben Muster wie Gmaj7 (Ionisch/Lydisch) oben – diesmal aber mit fünfstimmigen Quartvoicings (Low Interval Limits beachten!). Cluster Der Begriff Cluster bedeutet soviel wie „Tontraube“. Er beschreibt also eine besonders enge Tonanordnung. Typisch für einen Cluster sind Sekundschichtungen (2/b2). Cluster klingen daher üblicherweise sehr dicht und dissonant. Man kann den Spannungsgrad aber variieren, indem man die Anzahl der kleinen Sekunden (b2) im Voicing steuert – sie bestimmen in erster Linie die Klangschärfe des Clusters. Das Konstruktionsprinzip: • Man wählt eine zum Akkordsymbol passende Skala sowie einen Melodieton. • Das Tonmaterial (abzüglich einer eventuellen Avoid Note) wird in Sekundschritten unter die Leadstimme gehängt. Falls nötig (z. B. um einer Avoid Note aus dem Weg zu gehen) kann auch eine Terz eingebaut werden. • Anders als bei Close Voicings ist bei einem Cluster eine kleine Sekunde (b2) zwischen 1. und 2. Stimme denkbar (hier fügt sich die starke Dissonanz gut in den spannungsreichen Grundcharakter des Sounds ein). Will man aber ein klareres Melodiegefühl, dann sollte eine Terz oder gar eine Quarte zwischen den beiden obersten Töne liegen, damit sich die Leadstimme freier bewegen kann. • Vier- bis fünfstimmige Cluster sollten mindestens zwei Sekunden enthalten, um den dissonanten Charakter des Voicingtyps zu gewährleisten. • Das Außenintervall sollte bei einem vierstimmigen Cluster nicht mehr als eine Sexte, bei einem fünfstimmigen nicht mehr als eine Septime betragen, um ihn deutlicher von Close Voicings abzugrenzen. 14 Voicings Bei einem Cluster hat man – wie auch bei Quartvoicings – nicht immer einen eindeutigen Bezug zum Akkordsymbol. Man bedient zwar die jeweilige Skala, einzelne Bestandteile des Grundakkords können aber fehlen (besonders bei drei- oder vierstimmigen Clustern). Es geht eher um die Strukturierung des Tonmaterials, um einen ganz speziellen Sound und weniger um das korrekte Aussetzen eines bestimmten Akkordsymbols im Sinne der traditioneller Terzschichtungen. Hier ist ein Beispiel für eine Harmonisierung mit Clustern (auf dem Klavier spielen!). Die Akkordfolge bezieht sich auf die Ballade „Blue In Green“ (siehe pdf-F). Spielt die Basstöne in der linken Hand mit, damit ihr die Sounds besser zuordnen könnt: Upper Structures, Polychords, Slash Chords, Hybrids Jetzt wird’s kompliziert! Ich möchte hier noch kurz ein harmonisches Prinzip vorstellen, das den modernen Jazz nachhaltig geprägt hat und inzwischen zum gängigen Klangvokabular gehört, die so genannten Upper Structures. Im modernen Jazz sind sie eines der wichtigsten Mittel, um auch traditionellen Akkordverbindungen eine etwas ungewöhnlichere Färbung zu verleihen. Hier kurze Definitionen der verschiedenen international gebräuchlichen Begriffe: • Upper Structures: Wie der Name schon sagt, bezeichnet dieser Begriff Strukturen, die in erster Linie aus den oberen Bestandteilen eines Akkords – also vorwiegend den Tensions – zusammengesetzt sind. Dabei wird das verfügbare Tonmaterial einer Skala (abzüglich eventueller Avoid Notes) so angeordnet, dass Drei- oder Vierklänge entstehen, die nicht dem jeweiligen Akkordsymbol entsprechen. Die resultierenden Strukturen werden in beliebiger Umkehrung über den Grundton und/oder die wichtigsten Töne (z. B. 3/7) des eigentlichen Akkords geschichtet (Akkord über Akkord). • Polychords / Bitonale Akkorde: Unter diesem Begriffe versteht man harmonische Strukturen, die aus einer Kombination von mehreren Klängen mit unterschiedlichem Grundton bestehen (Akkord über Akkord). Man spricht daher von Polychords (poly = viel, chord = Akkord). Da bei diesem harmonischen Konzept in den meisten Fällen zwei 15 Die neue Jazzharmonielehre Akkorde zu einem Gesamtklang verbunden werden, spricht man auch von bitonalen Strukturen (bi = zwei). Upper Structures sind zwangsläufig Polychords. Während sich aber Upper Structures aus der Skala des Grundakkords ableiten, können bei Polychords beliebige Akkordtypen miteinander kombiniert werden, ohne dass zwischen beiden Klängen eine tonale oder funktionale Beziehung bestehen muss. • Slash Chords: Dieser Begriff bezeichnet pauschal alle Strukturen, bei denen ein Dreioder Vierklang über einem Basston angeordnet ist, der nicht zum Akkord selber gehört. Dieser Basston wird wie bei Umkehrungen durch einen Schrägstrich (= „slash“) abgetrennt notiert. • Hybrids: Dieser vorwiegend in den USA verwendete Begriff bezeichnet Klänge, die zwar aus Akkordgrundtypen abgeleitet sind, denen aber die Terz und damit die eindeutige Dur/Moll-Zuordnung fehlt. Hybrids werden üblicherweise als Slash Chords notiert. Obwohl es sich scheinbar um unterschiedliche Voicingformen handelt, so verfolgen all diese Begriffe im Prinzip denselben Grundgedanken: Sie bezeichnen Klänge, die ein Gefühl der harmonischen Mehrdeutigkeit auslösen. Dabei können traditionelle Akkordsymbole auf eine andere Art und Weise strukturiert werden, es können aber auch gänzlich neue Sounds entstehen. Eine kurze Bemerkung zur Symbolschrift. Dummerweise werden sowohl der einzelne Ton als auch der Durdreiklang mit einem Großbuchstaben bezeichnet. Um Notationschaos zu verhindern, werden Upper Structures – anders als Umkehrungen oder Slash Chords – durch einen Horizontalstrich von ihrem Grundklang abgetrennt: Hier ist jeweils ein Beispiel für die verschiedenen Konzepte: 16 Voicings Der Begriff „Slash Chords“ wird grundsätzlich auf jede Situation angewendet, bei der ein Drei- oder Vierklang über einen Basston gelegt wird. Es ist daher wichtig, konventionelle Umkehrungen von ungewöhnlicheren Klängen unterscheiden zu können. Bei Umkehrungen liegt immer ein Akkordton im Bass, während bei anderen Klängen der Basston nichts mit der darüber angeordneten Struktur zu tun hat und sich meist mit ihr reibt. Schauen wir uns zwei Beispiele im Vergleich an (auf dem Klavier spielen): Hier seht ihr elementare Dreiklangsumkehrungen in traditioneller Stimmführung. Das folgende Beispiel zeigt dieselben Dreiklänge, deren Wirkung aber durch die Verwendung von ungewöhnlichen Basstönen stark verfremdet wird: Wer genau hinhört, erkennt, dass auch die Basslinie einem eigenen tonalen Konzept folgt: Sie ist eindeutig in Ab-Dur zu hören (mit einem chromatischen Zwischenschritt). Das Beispiel zeigt also ein poly-tonales Aufeinandertreffen von G-Dur (Akkorde) und Ab-Dur (Basslinie). Solche Spielchen sind im modernen Jazz sehr beliebt. Upper Structure Triads Upper Structures sind Voicingtypen, die aus dem Vokabular des modernen Jazz nicht mehr wegzudenken sind. Viele Komponisten und Arrangeure schreiben fast nur noch mit diesem Symbolsystem. Grundsätzlich kann jeder Akkordtyp mit jedem anderen Akkord oder Basston kombiniert werden – die Zahl der möglichen Klänge ist fast unendlich. Ich möchte 17 Die neue Jazzharmonielehre mich daher auf so genannte Upper Structure Triads (UST) beschränken, bei denen Durund Molldreiklänge (seltener übermäßige oder verminderte Akkorde) über einen Grundklang geschichtet werden. Tasten wir die wichtigsten Akkordtypen und die dazugehörigen Skalenvarianten nach möglichen Upper Structures ab. Damit das gewünschte Gefühl der Mehrschichtigkeit entsteht, muss eine Upper Structure mindestens eine Tension enthalten (je mehr, desto besser; umso deutlicher hebt sich der Klang vom Akkordgrundtyp ab). In der folgenden Übersicht sind alle Dreiklänge aufgelistet, die sich für ein bestimmtes Akkordsymbol aus der dazugehörigen Skala ableiten lassen (auch hier entfallen jene Dreiklänge, die eine Avoid Note enthalten). Die mit einem * markierten Akkorde eignen sich besonders gut als USTs (Versetzungszeichen gelten immer nur für den jeweiligen Ton): Da in Äolisch und Dorisch die 6. Stufe Avoid Note ist (b6 bei Äolisch und 6 bei Dorisch), haben beide Skalen dieselben USTs (Ausnahme: Wenn Dorisch nicht im funktionalen Kontext verwendet wird, dann ist 6 keine Avoid Note). Bei Alteriert und HM5 habe ich alle Dreiklänge so notiert, dass sie auch als solche erkennbar sind – daher die vielen enharmonischen Verwechslungen. 18 Voicings Die Skala HTGT könnt ihr auf S. 153 nachschlagen – sie enthält sehr viele interessante UST-Möglichkeiten. Aus der Ganztonleiter lassen sich – der symmetrischen Struktur wegen – nur übermäßige Dreiklänge ableiten, die sich alle als USTs für Dominanten eignen (keine Avoid Note). Sus4(b9)-Akkorde könnt ihr in Verbindung mit HM5 abtasten (hier geht es um die Avoid Note, die nicht mehr 4, sondern 3 ist). Aufgabe Untersucht auch Lokrisch, Harmonisch Moll, HM5 und Mixo(#11) auf die darin enthaltenen USTs. UST-Voicings müssen mindestens fünfstimmig sein, damit der Grundakkord zu seinem Recht kommt. Das Fundament sollte aus Grundton und Terz (1/3, 1/b3) bzw. Terz und Septime (3/maj7, 3/b7, b3/b7 etc.) in beliebiger Anordnung bestehen. Die Tonkombinationen 1/5, 1/7 oder 5/7 eignen sich weniger gut, weil sie den Akkordcharakter nicht klar genug definieren (fehlende Terz) oder zu wenig Grundklang enthalten. Die 5 lässt man, besonders bei alterierten Dominanten, ohnehin besser weg, weil sie mit einer #11 oder b13 in der UST in Konflikt geraten würde. Bei sechs oder noch mehr Stimmen ist der Grundakkord meist vollständig. Dadurch kommt es häufig zu Tonverdopplungen zwischen UST und Grundakkord. Hier eine mit USTs harmonisierte Akkordfolge: Obwohl die Akkordfolge an sich recht konventionell ist, erhält sie durch die USTs einen viel farbigeren Charakter. Wichtig ist, UST und Grundakkord räumlich so voneinander zu trennen, dass sie (wie im Notenbild) als eigenständige Strukturen erkennbar bleiben. Ein Pianist wird z. B. den Grundakkord mit der linken und die UST mit der rechten Hand spielen, ein Arrangeur legt zum Beispiel den einen Akkord in die Posaunen, den anderen in die Trompeten. Grundsätzlich sollte mindestens eine Quarte zwischen beiden Ebenen liegen, damit die Mehrschichtigkeit des Gesamtklangs gewährleistet ist. 19 Die neue Jazzharmonielehre Dreiklang über Bass Wenn man die Entwicklung der Upper Structures historisch verfolgt, kann man feststellen, dass sie sich emanzipiert haben und inzwischen unabhängig vom Grundakkord verwendet werden. Schauen wir uns daher an, welche Strukturen entstehen, wenn man alle chromatisch möglichen Dur- und Molldreiklänge mit demselben Basston kombiniert. Einige der resultierenden Sounds werden euch vertraut sein, andere dagegen sind vermutlich nur schwer einzuordnen. Ich habe in den folgenden beiden Tabellen die jeweils wichtigsten Skalen- oder Akkordassoziationen zusammengefasst. Sie sollen euch den Zugang zu den teilweise recht sperrigen und ungewöhnlichen Sounds erleichtern. Ihr werdet sehen, dass die Interpretationsmöglichkeiten von der Betrachtungsweise abhängen. Es stellt sich nämlich die Frage, worauf sich der Gesamtklang bezieht: auf den Basston oder den Grundton der Upper Structure? Grundsätzlich neige ich dazu, den Basston als Bezugspunkt aufzufassen, weil das Ohr am stärksten auf das Fundament eines Sounds – also den tiefsten Ton – reagiert. Bei Umkehrungen der grundlegenden Drei- oder Vierklängen wird man allerdings eher den Grundton der Upper Structure als Bezugspunkt wahrnehmen. Durdreiklang / Basston G/G Ab / G A/G Bb / G B/G C/G C# / G D/G Eb / G E/G F/G F# / G G-Durdreiklang in Grundstellung Phrygisch, HM5, G7(sus4/b9), Abmaj7 mit Septime im Bass Lydisch oder Mixo(#11), A7 mit Septime im Bass (Sekundakkord) G-7 (vierstimmige Grundstellung) Lydisch(#5), Gmaj7(#5) C-Durdreiklang in 2. Umkehrung Alteriert, HTGT, G7(b9/#11) ohne Terz Gmaj9 (Ionisch/Lydisch) oder G-maj9 (HM/MM) ohne Terz Eb-Durdreiklang in 1. Umkehrung HTGT, G13(b9) ohne Septime Mixolydisch, G9(sus4), Dorisch/Äolisch, G-11 ohne Terz GTHT, G°7 mit Tension Spielt die verschiedenen Sounds auf dem Klavier und entscheidet selbst, ob diese Assoziationen für euch nachvollziehbar sind. Es kann durchaus sein, dass ihr noch weitere Interpretationen findet. Entscheidend ist, dass ihr ein Gespür für diese Klänge entwickelt, damit ihr sie auch im Zusammenhang wieder erkennt. In der obigen Tabelle sind die Slash Chords 20 Voicings der Übersicht halber chromatisch aufgelistet. Man kann sie aber auch anders gruppieren, indem man sie z. B. ihrem Spannungsgrad entsprechend sortiert. Es gibt natürlich noch andere Ordnungskriterien. Ich habe aber festgestellt, dass die meisten Musiker auf diesen Aspekt besonders stark reagieren. Die folgende Aufstellung führt von den konsonantesten zu den dissonantesten Farben: 1) G/G, C/G, Eb/G (Dreiklänge) 2) Bb/G (Moll7-Vierklang) 3) A/G, D/G, F/G (Umkehrung eines Vierklangs, Hybrid, Sus4) 4) B/G, F#/G (Slash Chords) 5) Ab/G, C#/G, E/G (Slash Chords) Während die Kategorien 1) und 2) nur „basic sounds“ enthalten, finden wir in Kategorie 3) Klänge, die zwar verhältnismäßig konsonant sind, die aber nicht mehr zu den Grundakkorden zählen und schon allein deswegen eine recht eigene Ausstrahlung haben. Ab Kategorie 4) haben wir es mit ungewöhnlicheren Farben zu tun, die sich nur noch schwer in das herkömmliche Akkordsystem einfügen oder mit der traditionellen Symbolschrift beschreiben lassen. Der Unterschied zwischen den Kategorien 4) und 5) liegt in ihrer Intervallstruktur. B/G und F#/G enthalten jeweils eine große Septime, während die letzten drei Sounds wegen der b9 den höchsten Spannungsgrad haben: Das Notenbeispiel zeigt, dass die Dreiklänge in beliebiger Umkehrung über dem Basston geschichtet werden können. In der Praxis findet man allerdings am häufigsten die 2. Umkehrung. Das mag – wieder einmal – an der Obertonreihe liegen. Die Obertöne 3 – 8 bilden die drei Umkehrungen eines Durdreiklangs: 2. Umkehrung (3/4/5), Grundstellung (4/5/6), 1. Umkehrung (5/6/8). Es wäre also denkbar, dass die 2. Umkehrung als besonders stimmig, satt, fett, fundamental und in sich ruhend empfunden wird, weil sie in der Obertonreihe am tiefsten liegt (das ist aber nur eine Vermutung). Gerade die ungewöhnlicheren Slash Chords werden gerne als Substitutionen für herkömmliche Sounds verwendet, um das Klangbild interessanter zu gestalten. Die Klänge aus Kategorie 4) findet man häufig anstelle von Maj7- oder Moll7-Akkorden. So können B/G oder F#/G an die Stelle von Gmaj7 treten (beide Sounds enthalten große Terz und/oder große Septime), F#/G kann G-7 bzw. G-maj7 ersetzen. Die Sounds der Kategorie 5) hört 21 Die neue Jazzharmonielehre man wegen ihres hohen Spannungsgrades häufig als Ersatz für Dominanten. Hier sind einige Harmonisierungen für eine II-V-I-Verbindung (G-Dur bzw. G-Moll): Schauen wir uns an, welche Konzepte hinter den einzelnen Beispielen stecken: 1) Gmaj7 wird durch B/G = Gmaj7(#5) ersetzt. Der Sound enthält sowohl die große Terz als auch die große Septime und kann damit problemlos als Tonikaklang verwendet werden. 2) Gmaj7 wird durch F#/G ersetzt (enthält die große Septime). Die kleine Terz stört dabei nicht – man könnte den Sound auch als Gmaj7(#9/#11) ohne Terz interpretieren. Wichtig ist vielmehr, dass F#/G als relativ stabiler Tonikaklang empfunden wird. 3) G-7 bzw. G-maj7 wird durch F#/G ersetzt. Der Slash Chord enthält die kleine Terz und die große Septime. Die #4 (C#) stört nicht, weil der Klang zwar ungewöhnlich wirkt, aber in sich ruht und keinen sehr starken Auflösungsdrang besitzt. 4) Hier wird jeder Akkord durch einen Slash Chord ersetzt. G/A klingt zwar wie ein A9(sus4), weil die Mollterz fehlt – der Sound ist einem Mollklang aber sehr ähnlich. Ab/D entspricht einer alterierten Dominante ohne Terz. A/G muss als G6(#11) gehört werden, 22 Voicings dem ebenfalls die Terz fehlt. Alle drei Slash Chords sind daher Hybrids. Dass die Tonika nun nicht mehr Ionisch sondern Lydisch ist, verleiht der Klangfolge zusätzliche Spannung. Das Beispiel zeigt schön, wie man durch geschickte Wahl der Dreiklänge zu interessanten Stimmführungen kommt. Während die Basslinie im Quintfall abwärts verläuft, bewegen sich die Dreiklänge in Gegenbewegung chromatisch aufwärts. 5) Hier wird D7 durch eine Dreiklangsfolge ersetzt. Jeder der Dreiklänge lässt sich aus einer Dominantskala herleiten: B/D aus D7-HTGT, Bb/D aus D7-Alteriert und Ab/D aus Alteriert oder HTGT. A-7 wird bewusst als C/A notiert, damit die konsequent chromatisch abwärts verlaufende Dreiklangsreihe deutlich erkennbar wird. G/Eb ist eine kleine Spielerei, die zeigt, wie vieldeutig Slash Chords genutzt werden können. Obwohl ein Eb im Bass liegt, reicht der G-Durdreiklang aus, um weiterhin ein deutliches Tonikagefühl hervorzurufen. Der Sound lässt sich zudem als Gmaj7(#5) in Umkehrung analysieren. 6) Dieses Beispiel zeigt, wie weit man das Spiel mit Slash Chords treiben kann, ohne die traditionelle Basis zu verlassen. Das Klangbild wirkt gleichermaßen seltsam und vertraut. Wie ist das möglich? Auch hier geht es um eine II-V-I-Verbindung in G-Dur, wie man an der Basslinie unschwer erkennen kann. Wer aber genau hinhört, wird auch in den Dreiklängen eine Grundkadenz entdecken: IV-V-I in F#-Dur. Da es sich bei IV-V-I und II-V-I im Prinzip um dieselbe Funktionsfolge handelt, treffen hier zwei chromatisch gegeneinander verschobene Grundkadenzen aufeinander – wir haben es also mit einer bitonalen Klangverbindung zu tun. Dies sind einige wenige Beispiele, die nur andeutungsweise zeigen können, welche Klangvielfalt in diesem Voicingkonzept steckt. Molldreiklang / Basston G- / G Ab- / G A- / G Bb- / G B- / G C- / G C#- / G D- / G D#- / G E- / G F- / G F#- / G G-Molldreiklang in Grundstellung HM5, G7(b9/b13) ohne Septime, HM/MM, Ab-maj7 m. Sept. im Bass Mixolydisch, G13(sus4) ohne Septime, A-7 mit Septime im Bass G-7(b5) (vierstimmige Grundstellung) Gmaj7 (vierstimmige Grundstellung) C-Molldreiklang in 2. Umkehrung HTGT, G13(b9/#11) ohne Terz G9 (Mixolydisch) oder G-9 (Dorisch/Äolisch) ohne Terz keine Ahnung, special sound E-Molldreiklang in 1. Umkehrung HM5, G7(sus4/b9) Lydisch, Gmaj9(#11) ohne Terz 23 Die neue Jazzharmonielehre Aufgabe Vergleicht auch diese Slash Chords, untersucht sie auf weitere Klangassoziationen und ordnet sie nach ihrem Spannungsgehalt. Dasselbe Spiel könnten wir jetzt mit übermäßigen und verminderten Dreiklängen sowie mit allen vier- und fünfstimmigen Akkordtypen treiben. Das würde aber den Rahmen dieses Buchs sprengen. Für den Moment reicht es, zu wissen, dass es diese Klänge gibt. 24


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