Die Versuchung des chronischen Schmerzes

May 9, 2018 | Author: Anonymous | Category: Documents
Report this link


Description

MKG-Chirurg 2009 · 2:265–268 DOI 10.1007/s12285-009-0123-0 Online publiziert: 23. Oktober 2009 © Springer Medizin Verlag 2009 H. Haack Bremen Die Versuchung des chronischen Schmerzes Erfahrungen aus Balint-Gruppen   mit Schmerzmedizinern und  psychosomatischen Schmerztherapien Leitthema Auf dem Wege zur erfolgreichen Be- handlung eines chronischen (d. h. trotz anerkannter Therapie länger als ein halbes Jahr) anhaltenden Schmerzes (z. B. im Gesicht) lauern aus psychosomatischem Blickwin- kel zwei Hindernisse: erstens der Pati- ent und zweitens der Arzt. Diese pro- vokante These soll anhand der inne- ren psychischen Dynamik der Betei- ligten und ihrer zwischenmensch- lichen Interaktion genauer betrach- tet werden. Wodurch kann der chronisch schmerzkranke Patient psychisch auf seinen Arzt einwirken? Der therapierefraktäre Schmerzpatient ist für den Facharzt für Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie (wie aber auch für die übrigen schmerzspezialistisch arbei- tenden Mediziner) eine Herausforderung, da er 1. trotz meist mehrerer vorangegan- gener Facharztbesuche immer noch leidet, was Mitleid und Helferwillen im Arzt ak- tiviert. 2. tritt dieser Patient dem Arzt we- gen der bisher nicht genügend erfolgreich erlebten Behandlung mit hohen Erwar- tungen auf Hilfe gegenüber, was in diesem die innere Position einer Herausforderung betont. Das Grundvertrauen auf eine er- folgreiche Therapie ist 3. zumindest ver- mindert, denn der Patient hat spezifische Vorerfahrungen und vergleicht, schafft damit eine kritische, meist auch ängst- liche Beobachtung des ärztlichen Han- delns. In vielen Fällen sind für den Pati- enten 4. die Aussagen vorbehandelnder Kollegen nicht konsistent, manchmal so- gar offen kontrovers gewesen und haben eine innere Verunsicherung mit der Folge reduzierter Vertrauensbereitschaft (Com- pliance) erzeugt, was den aktuell Behan- delnden enttäuschen, ja kränken kann. 5. hat der Kranke als Reaktion auf den aus- bleibenden Therapieerfolg sich in die Tie- fen des Internets begeben, dort Vieles ge- funden und nicht alles verstehen können. Auf der Arztseite schafft er damit aber ei- ne Konkurrenzsituation und geht nun da- von aus, dass wir die Fundstellen auch al- le kennen, erwartet im schlimmsten Fall unsere Stellungnahme dazu und nötigt uns die innere Entscheidung auf: „Ist es günstig zu sagen, dass ich davon gar nichts weiss? Untergräbt das nicht meine thera- peutische Autorität?“ 6. Die meisten the- rapierefraktären Schmerzpatienten haben sich als Folge der ausgebliebenen Linde- rung oder autochton (s. unten) ein eigenes Ursachenmodell der Schmerzen gebildet, das anzuhören den Arzt anstrengt, weil es seinem Fachwissen widerspricht und sogar in sich teilweise nicht rational ist. Das reizt zu schnellem Widerspruch und zwingt manchmal dazu, mühsam ein Lä- cheln zu unterdrücken. 7. scheinen chro- nische Schmerzpatienten (CS-Patient) in der ärztlichen Wahrnehmung nicht die einfachsten Menschen zu sein, sind nicht leicht für ein notwendiges Arbeitsbündnis zu gewinnen. Hier wird auch der MKG- Chirurg in einen inneren Zwiespalt zwi- schen Wahrnehmung und Benennbarkeit gedrängt: „Darf ich den Kranken über sein konkretes Leiden hinaus bewerten? Habe ich dafür überhaupt die Kompetenz? Ist es nicht sogar unethisch in die Reflexion des Gesichtsschmerzes die Persönlichkeit des Kranken und seinen Stil von Krank- heitsverarbeitung (Coping) mit einzube- ziehen? Welche handlungsprägenden Affekte kann der CS-Patient bei seinem Arzt auslösen? Allein in der Psyche des Arztes kann der schwierige, meist anderenorts schon vor- behandelte, Schmerzpatient auf der be- wussten oder nur unbewussten Ebene v. a. zwei Affekte zünden, die beide unser ärztliches Handeln hintergründig zu be- einflussen vermögen: 1. Eine ANGST: „Wie soll ich dem, bei der Vorgeschichte denn noch helfen können?“ Oder: „Wird es mir über- haupt möglich sein, dessen privates Krankheitskonzept noch zu öffnen und damit rationalen Therapiestrate- gien wieder eine Chance zu geben?“ 2. Einen STOLZ, der bis zur Selbstge- fälligkeit werden kann, mit inne- ren Fragen wie: „Bei mir ist der Pa- tient endlich richtig, warum denn nicht gleich so?“, und/oder: „Wer hat denn den vorbehandelt, warum trau- en sich andere überhaupt an so etwas ran?“, der aber auch zu der inneren Gewissheit führen kann: „Dieser Pa- Redaktion M. Daubländer, Mainz V. Thieme, Bremen 265Der MKG-Chirurg 4 · 2009  |  tient hat meine Kompetenz sofort er- kannt!“ Die innerpsychischen Positionen des the- rapierefraktären Schmerzpatienten und die im Arzt dadurch im Einzelfall aus- gelösten inneren Einstellungen bergen ein hintergründiges Fehlerpotential, das im ungünstigen Fall, d. h. ohne Selbstre- flektion, ohne den Besuch einer Balint- Gruppe, oder ohne kollegiale Intervision z. B. in einer Schmerzkonferenz zu einer falschen Selbstpositionierung führen kann, die wiederum Einfluss auf die Be- handlung hat. Entweder halten wir uns der Aufgabe gegenüber für zu klein, sind es aber nicht und stören so den Aufbau einer positiven therapeutischen Autori- tät für den Patienten, was den meisten Ärzten aus den Anfängen ihrer beruf- lichen Tätigkeit wohl noch vertraut ist. Oder wir halten uns für zu groß(artig) und sind damit zur Primadonnen-Rolle verführt, in der wir verkennen, bei die- sen schwierigen Patienten gar nicht allein zuständig sein zu können. Was ist typisch für die psychische Situation eines CS-Patienten? Die chronifizierte Schmerzsymptoma- tik hat zwar fast immer einen neuropa- thischen Ursprung, für den Mund, Kiefer und Gesicht vielfältige Anlässe bieten, sie weist aber außerdem im Falle der Chro- nifizierung, wenn das organische Kor- relat eher einen Kann- als einen Muss- Faktor hergibt, indirekt auch auf Pro- bleme im psychosozialen Feld hin. Hier sind Schwierigkeiten mit der horizonta- len Familie (eine psychische Verletzung durch den Partner, die nicht ausgespro- chen werden kann) häufiger als mit der vertikalen (eine elterliche Verpflichtung zur Unterstützung, die total überfor- dernd erlebt wird, aber nur mit Hilfe des Schmerzleidens zurückgewiesen werden kann) zu finden. Sehr oft aber bestehen auch gravierende Schwierigkeiten im be- ruflichen Umfeld (eine Rückkehr an den Arbeitsplatz nach dort erfolgter psy- chischer Verletzung, z. B. durch Mob- bing, erscheint unmöglich, das soma- tische Leiden soll durch Krankschrei- bung die Distanz zum Konfliktort auf- recht erhalten). Fallbeispiel Ein Fallbeispiel aus einer psychosoma- tischen Begutachtung soll eine mög- liche Pathodynamik im Hintergrund ei- ner chronischen Schmerzstörung illus- trieren: Ein 63-jähriger Mann, selbständiger Handwerker, wird vor 7 Jahren schuld- los in einen Autounfall verwickelt, bei dem er sich eine Schädelprellung sowie eine Halswirbelsäulendistorsion mit Contusio spinalis zuzieht. Eine initial diskrete Schwächung der Motorik der rechten Körperseite bildet sich im Laufe eines Vierteljahres zurück, es persistiert aber eine diffuse Kopfschmerzsympto- matik. Mit zunehmender Tendenz hin- gegen entwickelt sich eine neurologisch nicht nachvollziehbare Sensibilitätsstö- rung der gesamten rechten und später auch linken Körperhälfte einschließlich des Gesichts, eine Kraftlosigkeit im Be- reich des rechten Beins sowie ein gele- gentliches Stürzen aus dem Stand bei Kraftanstrengung. Ein Heben von Las- ten über die Horizontale ist ihm nicht möglich. Der Patient wird viele Male ohne Ergebnis, auch stationär neurolo- gisch, untersucht. Er ist seit 7 Jahren ar- beitsunfähig und hat jetzt einen Renten- antrag gestellt. Im Hintergrund wird eine Persön- lichkeitsstörung erkennbar, die auf schwere Verlust- und Belastungserleb- nisse in der Kindheit zurückgeht. Er wurde im letzten Krieg als 5-jähriger von Soldaten fast erschossen, erlitt im 12. Lebensjahr, in dem auch sein Vater verstarb, einen Bauchschuss, als Kinder mit einer gefundenen, noch funktions- fähigen Kriegswaffe spielen. Im 11. Le- bensjahr explodiert ihm beim Rauchen seiner ersten Zigarette fast der Darm und er raucht nie wieder, im 23. Lebens- jahr erlebt er beim autogenen Schwei- ßen eine Verpuffung und fasst nie wie- der ein solches Gerät an. Er lebt ab dem 13. Lebensjahr aufgrund seiner Ausbil- dungsstelle von der Mutter getrennt, ar- beitet später überwiegend auf Montage, gründet mit 30 als Flüchtling in einem niedersächsischen Dorf gegen den Wi- derstand der „Eingeborenen“ seinen ei- genen Betrieb und arbeitet vom Morgen bis in die Nacht. Die Psychodynamik Die erfahrungsgetragene Angst vor Ge- fahren wird vom Patienten bis zum Un- fall durch eine exzessiv betonte Leistungs- und Arbeitsfähigkeit oder aber Vermei- dungen in Schach gehalten. Der Verkehrs- unfall, ohne bleibende körperliche Schä- digungen, bekommt die individuelle, psy- chische Bedeutung eines Genickschusses, es entsteht ein posttraumatisches Belas- tungssyndrom. Er kann aus Angst vor der erlebten Gefährlichkeit nach dem Unfall im LKW nicht mehr Autofahren, d. h. er kann seinen Beruf nicht mehr ausü- ben. Diese Wahrheit aber lässt sein Stolz nicht zu, sie wird verdrängt. Die chronifi- zierte Schmerzsymptomatik rationalisiert die psychische Unfähigkeit, wieder arbei- ten zu können, sie dient der Abwehr ei- ner überbordenden neurotischen Angst vor Gefahr und Tod, die mit dem (spe- zifisch männlichen) Selbstbild des Pati- enten nicht vereinbar ist. Es resultiert ei- ne hypochondrisch-depressive Selbst- wahrnehmungsstörung mit überwertigem Schmerzerleben und ängstlicher Vermei- dung, die bisher allen Behandlungsversu- chen trotzt. Sein Schmerz hat eine „psy- choprothetische Funktion“ erhalten. Die Symptomatik kann als Versuch einer Selbstheilung verstanden werden, darf al- so nicht verschwinden, weil sie intrapsy- chisch noch gebraucht wird. Die Regelabweichung, das Symptom, ist in der Körpermedizin oft identisch mit anatomisch lokalisiertem Handlungsauf- trag, an dem aber auch der Arzt zu leiden beginnt, wenn es seinen therapeutischen Bemühungen trotzt, also chronisch wird. Im Fachgebiet der Mund-Kiefer-Gesichts- chirurgie erbringen dann auch Aufbiss- schienen, veränderte Prothesen und chir- urgische Interventionen bei chronisch Schmerzgeplagten leider häufig nicht die erwünschten Ergebnisse. Beim chronischen Schmerzpatienten führt eine reduktionis- tische Handlungsweise mit gut austarier- ter Analgetikagabe leider oft nicht zu der vom Patienten ersehnten und vom Arzt erwünschten Schmerzfreiheit [1]. Denn dieses Symptom ist ursächlich und wesent- lich auch von der psychischen Situation des Kranken hinterlegt. Auf diesen Unter- schied zu der geläufigeren psychischen Be- troffenheit durch anhaltende Schmerzen sei hier ausdrücklich hingewiesen! 266 |  Der MKG-Chirurg 4 · 2009 Leitthema Zu welchen therapeutischen Fehlhaltungen kann der CS-Patient verführen? Wie schon ausgeführt sollte daraus kein Zweifel an der eigenen fachlichen Kom- petenz erwachsen, aber die Erkennt- nis gestärkt werden, dass in Kooperati- on mit den vorbehandelnden Fachvertre- tern, mit Schmerzambulanzen und nicht zuletzt mit der Psychosomatik die Erfolg- schancen für den Patienten, Besserung zu erfahren, steigen. In patientenorientierten Fallbesprechungen (Balint-Gruppe) erle- be ich immer wieder, wie sehr der ausblei- bende Behandlungserfolg Ärzte verführt, allein in ihrem Fachgebiet nach weiteren Hilfsansätzen zu suchen. Dies ist bei aku- tem Schmerz sicherlich geboten, bei einer chronischen Schmerzanamnese dem Er- folg aber eher abträglich, ja kann in einem „furor therapeuticus“ enden. Wie bekommt man den Psychoaspekt in das somatische Setting hinein? Die diagnostische Einbeziehung der psy- chosozialen Lebensumstände durch einen psychosomatisch geschulten Arzt oder Psychologen sollte bei entsprechender Krankengeschichte von Beginn der Be- handlung an möglichst als Teil des Praxis- oder Kliniksettings erfolgen. Hierdurch lässt sich der Eindruck des Kranken, sein Körperarzt wisse auch nicht mehr weiter und erkläre ihn nun zum „Psycho“, deut- lich reduzieren. Der MKG-Chirurg, der trotz vorlie- gender organischer Befunde beim chro- nischen Schmerz die Möglichkeit einer psychischen Überlagerung zuerst ein- mal in seinem Kopf zulässt, hat das psy- chosomatische Fachwissen auf seiner Sei- te, wonach Depressionen und Ängste als psychische Krankheitsentitäten die sub- jektive Schmerzwahrnehmung wesent- lich mitbestimmen (und er weiß es eigent- lich auch schon von sich selbst und seinen Kindern!). Diese Bereitschaft eröffnet eine rechtzeitige therapeutische Unterstützung durch Krankengymnastik, Entspannungs- verfahren, Psychotherapie, Soziale Hilfen. Als kuratives Gesamtprogramm wird auch dem Patienten die Akzeptanz dieses erwei- terten Behandlungsansatzes erleichtert. Zusammenfassung · Abstract MKG-Chirurg 2009 · 2:265–268   DOI 10.1007/s12285-009-0123-0 © Springer Medizin Verlag 2009 H. Haack Die Versuchung des chronischen Schmerzes. Erfahrungen aus Balint-Gruppen mit Schmerzmedizinern und psychosomatischen Schmerztherapien Zusammenfassung Mit dieser Zusammenstellung von Erfah- rungen aus der Balint-Gruppenarbeit mit  Schmerzmedizinern und als Psychosomatiker  in einer Schmerzambulanz sollen schlaglicht- artig die inneren Horizonte von Arzt und Pati- ent beleuchtet werden, die die an sich schon  schwierige Aufgabe der Behandlung chro- nisch schmerzleidender Menschen zusätz- lich durch Affekte, Reaktionen und Haltungen  komplizieren können. Darüber hinaus will  der Autor bei den schmerzmedizinisch arbei- tenden Kollegen für eine Offenheit gegenü- ber dem psychosomatischen Krankheitsmo- dell werben, dieses selbst kennen zu lernen  und/oder aber in ihrer Arbeitsituation durch  geeignete Fachkräfte im laufenden Behand- lungsgang zu realisieren – denn der zu späte  Hilferuf an die Psychosomatik kommt zu spät! Schlüsselwörter Chronischer Schmerz · Arzt-Patient-Inter- aktion · Balint-Gruppe · Psychosomatische  Schmerzfaktoren · Psychohygiene The Temptation of Chronic Pain. Experiences of Balint groups of doctors involved in chronic pain treatment and psychosomatic pain treatment methods Abstract This compilation of experiences gathered  in Balint groups consisting of physicians in- volved in treatment of chronic pain aims to  briefly show the inner horizons of both doc- tor and patient, which, by their emotions, re- actions, and attitudes, complicate the al- ready difficult task of treating individuals suf- fering from chronic pain. In addition, the au- thor would like to turn the interest of col- leagues – maxillofacial surgeons working in  the field of chronic pain treatment – toward  open attitudes regarding psychosomatic  pathogenic models. He recommends study- ing these models and consulting appropri- ate psychosomatic cotherapists early in the  course of treatment, for a late cry of help is a  cry too late. Keywords Chronic pain · Doctor-patient relationship ·  Doctor-patient retroactive action · Balint  group · Psychosomatic pain factors 267Der MKG-Chirurg 4 · 2009  |  Wie schützt sich der hilflose Helfer gegenüber der Komplexität des CS-Patienten? Aus der Diskrepanz zwischen soma- tischem Befund und subjektivem Leid, aus der Schilderung von Schmerzorten und -ausbreitungen, die jeder bekannten Innervation widersprechen und durch die vom Patienten geschilderten subjektiven Ursächlichkeits- und Verstärkungstheo- rien der Symptomatik, inklusive wissen- schaftlich nicht nachvollziehbarer Linde- rungserfolge, entsteht für den behandeln- den Arzt die Versuchung, sein professio- nelles Okular ganz eng zu stellen, sich auf das zu fokussieren, was er wissen kann, um nicht in „schwieriges Gelände“ zu ge- raten. Diese Einschränkung des ärztlichen Blickwinkels unter Aussparung der psy- chosozialen Krankheitsumstände führt aber leicht in eine therapeutische Sackgas- se und wird daher als Schutzmaßnahme unwirksam, weil sie den Behandlungser- folg erschwert. Erreicht wird lediglich die Versuchung zu minimieren, das alles für Quatsch und schlimmer noch, für aggra- viert oder sogar simuliert zu halten und sich dadurch ausgenutzt, gebraucht zu fühlen mit üblicherweise wenig positiver Wirkung auf die Arzt-Patient-Beziehung. Gibt es eingebildet Kranke? Im medizinischen Alltag sind Menschen, die nicht erleiden, was sie vorgeben, nicht auszuschließen, auch solche nicht, die die Intensität ihrer Betroffenheit bewusst übertrieben schildern. Diese suchen aber in der Regel eine schnell wirksame psy- chische und/oder soziale Entlastung, z. B. die Krankschreibung. Nach meiner Er- fahrung in der Schmerzambulanz und in Balint-Gruppen sind sie für die Präsenta- tion eines chronischen Schmerzes viel zu ungeduldig. Bei den Schmerzpatienten mit ausge- prägt psychosomatischer Genese von „ein- gebildet“ Kranken zu sprechen, würde die Symptombildung des Patienten in der Tra- dition von Molieres letztem Theaterstück (bei dessen 4. Aufführung er als Protago- nist noch im Kostüm an einem Blutsturz verstarb), mit einem ungerechten, komö- diantisch-lächerlichen Beigeschmack be- legen. Die psychosomatische Symptom- bildung geschieht unbewusst, entspringt einem inneren Dilemma und versucht, dessen Lösung zu sein (s. oben)! Wie bereits angesprochen, ist es dem Kranken in seiner individuellen Gewor- denheit und Lebensbedingung verwehrt, seinen inneren Konflikt direkt zu formu- lieren, weil er damit gegen innere Ge- bote (Erziehung, Vorbilder, Rolle, Er- wartungen) verstieße oder aber fürchtet (manchmal sogar befürchten muss), die Folgen einer offenen Auseinandersetzung nicht ertragen/verantworten zu können. Das Schmerzsymptom ist bei dieser psy- chodynamischen Betrachtung geradezu der Beleg seiner aufrichtigen Betroffen- heit, denn gesucht wird ja nicht primär der körperliche Schmerz, sondern die Entlassung aus einer psychosozial über- fordernd erlebten Lebenssituation. Der als Schmerztherapeut aufgesuchte MKG- Chirurg steht in diesen Fällen oft vor einer „medicalization of misery“ [2] und muss erleiden, dass die Behandlung sowohl von den Betroffenen wie auch von ihm als ent- täuschend erlebt wird. Viele Patienten mit chronischen Schmerzen wissen außerdem um ihre see- lische Betroffenheit (meist Angststörung oder Depression), aber berichten vor- sichtshalber erst, wenn sie denn danach gefragt werden, auch dem Schmerzthera- peuten von ihrer psychiatrischen Behand- lung oder Psychotherapie, denn sie spal- ten ihre körperlich erlebte Störung von ih- rer seelischen Betroffenheit ab. Sie sind zu dieser somatisierten Entäußerung ihres Leids verführt, weil sie im täglichen Le- ben immer wieder erleben, dass sich die mitmenschlichen, leider oft auch die ärzt- lichen Reaktionen gegenüber körperlichen Erkrankungen und seelischen Störungen deutlich unterscheiden, da Letztere, trotz aller Aufklärungsbemühungen und be- kannter Zahlen über deren Verbreitung, immer noch leicht einen Vorbehalt in der zwischenmenschlichen Akzeptanz ja so- gar der Glaubwürdigkeit auslösen. Gibt es Möglichkeiten zur ärztlichen Psychohygiene? Gegen die eigene Verführbarkeit, sich dem chronischen Schmerzpatienten gegenüber zu klein aber v. a. zu groß zu fühlen, aber auch gegen die Verführungsbemühungen des Kranken, für ihn endlich der Entde- cker des bisher verborgenen Körperfeh- lers zu sein und dabei dessen psychoso- ziales Elend zu übersehen, ist es hilfreich, als Mann ab und zu einen klassischen Western zu gucken und als Frau eine ent- sprechende, weibliche „one-hero-story“ zu sehen. So lässt sich, per Identifikation, das eigene geplagte Arzt-Ego pflegen. Bei der Diagnostik und Therapie die- ser schwierigen Patientengruppe aber sollte der Schmerztherapeut sich von Be- ginn an besser als Glied einer multimoda- len Helferkette positionieren. Bei refrak- tären Schmerzpatienten ist die Halbwerts- zeit der Idealisierung des Spezialarztes oft schneller vorbei, als Hilfe überhaupt wir- ken kann. Die Höhe des uns zugewie- senen Ehrenpodestes bestimmt zugleich die Fallhöhe des Sturzes bei enttäuschter Erwartung. Dann beginnt, bei fortgesetzt ausschließlich somatischer Fokussierung, das Gerangel, ja der Kampf zwischen Arzt und Patient, den Hermann Hesse für sich so gut beschrieben hat: „… Wir be- grüßten einander, wie es gesitteten Bo- xern geziemt, vor dem Wettkampf mit herzlichem Händedruck. Vorsichtig be- gannen wir den Kampf, tasteten einan- der ab, probierten zögernd erste Schlä- ge. Noch waren wir auf neutralem Ge- biet, unser Disput ging um Stoffwechsel, Ernährung, Alter, frühe Krankheiten und troff vor Harmlosigkeit, nur bei einzelnen Worten kreuzten sich unsere Blicke, klar zum Gefecht …“ (zit. nach [3]). Korrespondenzadresse Dr. H. Haack Wernigeroderstraße 9,  28205 Bremen [email protected] Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor  gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur   1.  Timmermann J (2008) Psychosomatisch orien- tierte Behandlung von Schmerzpatienten. Ärztl  Psychother 3:196–198   2.  Hadler NM (2003) „Fibromyalgia“ and the medicali- zation of misery. J Rheumatol 30: 1668–70   3.  Neitscher F (2008) Chronischer Schmerz und Psy- chosomatische Medizin. Ärztl Psychother 3:153– 154 268 |  Der MKG-Chirurg 4 · 2009 Leitthema


Comments

Copyright © 2024 UPDOCS Inc.