Parentifizierung in der Kindheit und psychische Störungen im Erwachsenenalter

June 14, 2017 | Author: Katarzyna Schier | Category: Psychology
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364 Originalarbeit

Parentizierung in der Kindheit und psychische Störungen im Erwachsenenalter

Autoren

Katarzyna Schier1, Ulrich Egle2, Ralf Nickel3, Bernd Kappis4, Max Herke5, Jochen Hardt5

Institute

Die Institutsangaben sind am Ende des Beitrags gelistet.

Schlüsselwörter

Zusammenfassung ̇

Abstract ̇

Fragestellung: Emotionale Parentizierung wird als schädlich für die Entwicklung von Kindern angesehen. Methode: Insgesamt 975 Patienten einer psychosomatischen Klinik bzw. bei hausärztlichen Konsultationen wurden gefragt, ob sie an einer Studie zu Kindheitsbelastungen teilnehmen. Emotionale Parentizierung wurde als Risikofaktor für die Entwicklung einer Depression und somatoformen Schmerzen im Erwachsenenalter untersucht. Ergebnisse: Emotionale Parentizierung stellt für beide Diagnosegruppen einen Risikofaktor dar. Während das Auftreten von Depressionen eher durch mütterliche Parentizierung prädiziert wird, ist bei der Entwicklung von somatoformen Schmerzen auch der väterliche Einuss relevant. Schlussfolgerung: Emotionale Parentizierung ist ein wichtiger Risikofaktor für das Auftreten psychischer und somatoformer Beschwerden im Erwachsenenalter. Dies gilt insbesondere in Verbindung mit weiteren Risikofaktoren wie wenig Liebe, sexuellem Missbrauch oder dem Aufwachsen ohne Vater.

Background: Emotional parentication is considered harmful to a child’s development. Method: A total of about 975 patients were examined at a Department of Psychosomatic Medicine and in the practices of general practitioners with regard to childhood adversities. Results: Emotional parentication is a risk factor for 2 symptom groups: the patients with depression and the patients with somatoform pain. While the occurrence of depression is mainly predicted by maternal emotional parentication, paternal inuences are also relevant in regard to the development of somatoform pain. Conclusion: Emotional parentication is an important risk factor for the occurrence of psychological and somatoform complaints in adulthood. This is especially apparent in combination with further risk factors, such as low reported values for love, sexual abuse, or being raised without a father.

Einleitung ̇

Kind seine Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit, Sicherheit und Fürsorge aufopfert, um sich anzupassen und für die instrumentellen und emotionalen Bedürfnisse des Elternteils zu sorgen“ ([10] S. 5). Bei der Analyse der Parentizierung kann man zwischen existenzieller und emotionaler Fürsorge für einen Elternteil oder ein Geschwister unterscheiden [3]. Die existenzielle Fürsorge bedeutet: sich um die Geschwister zu kümmern, die Hausarbeit und die Verpegung der Familie zu übernehmen, ggf. das Geld zu verdienen. Die emotionale Fürsorge bezieht sich auf die emotionalen und sozialen Bedürfnisse [4]. Ein Kind kann beispielsweise Verbündeter eines Elternteils sein, einen Elternteil emotional versorgen, der an Depression oder anderweitigen psychischen Er-

̂ Parentizierung ̎ ̂ Langzeitfolgen ̎ ̂ Depression ̎ ̂ somatoforme Schmerzen ̎ ̂ grasches Markov Modell ̎

Keywords ̂ parentication ̎ ̂ long-term e̥ects ̎ ̂ depression ̎ ̂ somatoform pain ̎ ̂ graphical Markov model ̎

eingereicht 2. November 2010 akzeptiert 13. April 2011 Bibliograe DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0031-1277188 Online-Publikation: 30.5.2011 Psychother Psych Med 2011; 61: 364–371 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0937-2032 Korrespondenzadresse Dr. Jochen Hardt Universitätsmedizin Mainz Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Duisbergweg 6 55099 Mainz [email protected]

Emotionale Parentizierung wird in unterschiedlichen Therapieschulen seit Langem als schädlich und als prädisponierend für die Entstehung psychischer Beschwerden Erwachsener angesehen (z. B. [1–6]). Die theoretischen Überlegungen hierzu orientieren sich an unterschiedlichen Modellen. Die ersten Beschreibungen des Phänomens der Parentizierung von Kindern verdanken wir den Psychoanalytikern Melitta Schmideberg, Margaret Mahler und Anna Freud [7, 8], die weitere Entwicklung haben insbesondere die Vertreter der systemischen Familientherapie fortgesetzt (u. a. [7, 9]). Gemeint ist „eine funktionale oder emotionale Parentizierung, in der das

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Emotional Childhood Parentication and Mental Disorders in Adulthood

krankung leidet, es kann die Rolle des Vermittlers zwischen den Eltern auf sich nehmen, es kann dem Elternteil emotionale Unterstützung geben, es kann die Rolle des Sündenbocks, einer „guten“ Mutter oder sogar die des sexuellen Partners übernehmen. Ein wichtiges Kriterium, das Parentizierung in der Familie zu erfassen hilft, ist das Gerechtigkeitsgefühl. Es bezieht sich auf das Gleichgewicht zwischen dem Geben und Nehmen in der Familie, d. h. es beinhaltet auch die Vorstellung des Kindes, ob etwas fair oder unfair ist [11]. Es gibt Situationen in manchen Familien, in denen das Kind die Rolle der Eltern übernehmen muss, der Prozess aber o̥en zugegeben wird und die Eltern ihre Dankbarkeit äußern. Dies geschieht z. B. in den Familien von Immigranten, in denen Kinder oft als Übersetzer dienen müssen. Diese Situation kann, aus der Sicht des Kindes, eine Belastung darstellen, wird aber nicht unbedingt und sicherlich nicht in jedem Fall als unfair erlebt werden. Dies gilt auch für Kinder chronisch kranker (oder sterbender) Eltern [12]. Kinder können in diesem Fall sogar besondere soziale Kompetenzen erwerben [12, 13]. Es gibt Verbindungen zwischen dem Konzept der emotionalen Parentizierung und der Bindungstheorie [14, 15]. Ein Kind kümmert sich dann um die Bedürfnisse der Eltern, wenn diese selbst bedürftig sind, oder – in den Worten der Bindungstheorie – wenn sie selbst entweder unsicher gebunden sind [7] oder einen Bindungsstil des „unverarbeiteten Traumas“ haben [16]. Die zugeschriebene Rolle zu übernehmen ist eine Überlebensstrategie des Kindes. Nach Solomon und George [17] bezeichneten sich Mütter insbesondere von Kindern mit einem desorganisierten Bindungsstil als unfähig, ihrem Kind Fürsorge und Schutz zu bieten. Da sie eigene Emotionen nicht regulieren konnten, waren sie nicht in der Lage, den Kindern beim Erlernen der Selbstregulierung zu helfen [8, 18]. Die Kinder lernen, sich exakt in die inneren Zustände der Eltern einzufühlen, entwickeln dementgegen aber sehr wenig Wahrnehmung der eigenen Gefühle [8]. Mangel an Selbstregulierungsstrategien und chronische innere Spannung können möglicherweise psychische Störungen als Folge haben [8]. Mit der vorliegenden Studie untersuchen wir mögliche Zusammenhänge zwischen emotionaler Parentizierung in der Kindheit und psychischen Störungen im Erwachsenalter. Die Hypothese wurde in Bezug auf 2 unterschiedliche Diagnosegruppen operationalisiert: 2 Störungen, eine mit primär psychischer und eine mit körperlicher Akzentuierung der Symptome. Als theoretische Grundlage haben wir uns auf die Bindungstheorie bezogen. Im Speziellen wurde in dieser Arbeit die Überlegung zugrunde gelegt, dass Erwachsene, die als Kinder emotional parentiziert wurden möglicherweise wenig Zugang zu adäquaten Regulationsstrategien ihrer Gefühle haben und daher in besonderem Ausmaße entweder zur Depression oder aber zur Somatisierung neigen. Zur Überprüfung möglicher Zusammenhänge wurde ein Grasches Markov Modell zugrunde gelegt. Verschiedene Faktoren, wie z. B. mütterliche Liebe, der sexuelle Missbrauch, das Aufwachsen ohne Vater, usw. wurden in das Modell aufgenommen, da sie diesen E̥ekt mediieren oder moderieren könnten.

Schmerzen und unklarer Schmerzgenese ausführlich körperlich und psychisch untersucht. Hintergrund hierzu war die Durchführung einer Studie zur Gruppenpsychotherapie bei somatoformen Schmerzen. Eingeschlossen wurden Patienten mit einer der Diagnosen „Somatisierungsstörung“ (ICD-10: F45,0) mit Leitsymptom Schmerz oder „anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ (ICD10: F45,40). Ausgeschlossen wurden Patienten, bei denen eine Gewebs- oder Nervenschädigung (nozizeptive oder neuropathische Schmerzgenese) als pathogenetisch relevant nachgewiesen werden konnte, die älter als 65 Jahre waren, die unter einer psychiatrischen Erkrankung im engeren Sinne (Psychose) oder einer Suchterkrankung litten, die der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig waren bzw. bei denen gerade ein Rentenverfahren anhängig war. Von insgesamt 490 infrage kommenden Patienten konnten 442 in die vorliegende Untersuchung eingeschlossen werden. Weitere 543 Patienten wurden in 4 Hausarztpraxen in Hessen und Rheinland-Pfalz befragt, nachdem sie sich wegen verschiedener Beschwerden bei einem der Ärzte vorgestellt hatten. Die Patienten wurden im Rahmen der von ihnen veranlassten ärztlichen Konsultationen nach ihrer Bereitschaft gefragt, innerhalb eines Zeitraumes von ca. 2–6 Wochen einen Interviewtermin mit einer Mitarbeiterin der Universitätsmedizin Mainz wahrzunehmen. Eine detaillierte Beschreibung der Datenerhebung in den Hausarztpraxen ndet sich bei Mingram [19]. Die Patienten unterzeichneten vor der Befragung eine Einwilligungserklärung, dass die Daten zu Forschungszwecken verwendet werden können. Die Datenerhebungen waren durch die Ethikkommission Rheinland-Pfalz genehmigt worden (Nr. 837.117.00), die Studie an den Patienten der psychosomatischen Klinik ist zusätzlich im International Standard Randomized Controlled Trial Number Register gelistet (ISRCTN57684245). Die Patienten der psychosomatischen Klinik wurden an mehreren Terminen mit einer Gesamtdauer von 6 bis 9 Stunden untersucht. In dieser Zeit wurde ein strukturiertes biograsches Interview (MSBI: [20]) und das strukturierte klinische Interview zur Erfassung psychischer Störungen nach DSM-IV (SKID: [21]) durchgeführt. Weiterhin wurde ein Fragebogenheft, das unter anderem den Kindheitsfragebogen [22] enthielt, ausgefüllt. Die Patienten in den Hausarztpraxen durchliefen eine abgekürzte Prozedur von etwa 2 Stunden Dauer, dabei wurde ein MSBI von denselben Studenten durchgeführt, die auch die Patienten der psychosomatischen Klinik befragten sowie ein vergleichbares Fragebogenheft ausgegeben. Eine SKID-Diagnosik war in diesem Rahmen nicht möglich, hier wurde auf die klinischen Diagnosen ̂ Tab. 1 zeigt die in dieser Studie der Praxen zurückgegri̥en. ̎ verwendeten Variablen beider Stichproben. Es zeigt sich ein Altersunterschied von etwa 3 Jahren (Patienten mit somatoformen Schmerzen sind älter), sowie Unterschiede hinsichtlich Parentizierung und wahrgenommener elterlicher Liebe (Patienten mit somatoformen Schmerzen berichten durchweg ungünstigere Werte). Keine Unterschiede bestehen bezüglich Geschlecht, dem Vorliegen einer Lebenszeitdiagnose Depression, längerer Abwesenheit eines Elternteils, sexuellem Missbrauch oder der Tatsache, ohne Vater aufgewachsen zu sein.

Methode ̇ Stichprobe

Depression und Somatisierung

Die Erhebung der Daten fand in der Zeit von August 1998 bis Juni 2003 statt. Es wurden 2 Gruppen von Patienten untersucht. (1) In der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Mainz wurden Patienten mit chronischen

Als primäre Zielgrößen wurden die Lebenszeit-Diagnosen „Dê Tab. 1 pression“ und „somatoformer Schmerz“ festgelegt. Wie ̎ zeigt, unterscheiden sich die Raten von Depression nach multipler Imputation nicht signikant zwischen den Patienten mit somatoformen Schmerzen (21,6 %) und den Kontrollen (16,7 %, p = 0,374).

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Tab. 1 Deskriptive Kennwerte. Som. Schmerz (n = 442) X ¯ kontinuierliche Variablen mütterliche Liebe mütterliche Parentizierung väterliche Liebe väterliche Parentizierung Alter

0–3 0–3 0–3 0–3 18–82

Dichotome Variablen Depression längere Abwesenheit sexueller Missbrauch vaterlos aufgewachsen Geschlecht: weiblich

1,86 0,82 1,51 0,48 45,50

(SD) 0,80 0,69 0,81 0,54 10,80

% Ja 21,6 15,2 8,4 4,7 70,4

Parentizierung und elterliche Liebe Emotionale Parentizierung und elterliche Liebe wurden mithilfe des Kindheitsfragebogens [22] erhoben. Die emotionale Parentizierung wurde als emotional dauerhaft überfordernd gefühlte Zuständigkeit für die psychische Bendlichkeit des Elternteils, deniert. Die Parentizierungs-Skala enthält Items wie zum Beispiel „Ich war der Seelentröster meiner Mutter/ meines Vaters“ oder „Wenn meine Eltern Auseinandersetzungen hatten, wollte meine Mutter/mein Vater immer, dass ich zu ihr/ ihm hielt“. Mit 5 Items zeigt die Skala interne Konsistenzen von Cronbachs dz = 0,77 für Mütter und 0,71 für Väter. Die Skala Liebe enthält Items wie „Meine Mutter/mein Vater war immer für mich da, wenn ich sie/ihn brauchte“. Darüber hinaus sind auch bewertende Items enthalten (z. B. „Wirkliche Liebe habe ich von meiner Mutter/meinem Vater nicht erfahren“). Die Skala zeigt interne Konsistenzen von Cronbachs dz = 0,93 für Mütter und 0,95 für Väter. Liebe wurde in die Analyse eingeschlossen, da vorhergehende Untersuchungen einen deutlichen Zusammenhang zwischen elterlicher Liebe und dem Auftreten von Depressionen zeigten (z. B. [23, 24]). Eine Kurzform des KFB mit 4 Skalen kann unter www.screening4you.de angesehen werden.

Manifeste Kindheitsbelastungen Längere Abwesenheit eines Elternteils wurde mittels des MSBI erhoben. Positiv kodiert wurden hier Zeiträume von 6 Monaten oder länger. Sexueller Missbrauch deniert sich im MSBI als sexuelle Manipulation oder Penetration, damit sind Non-Kontakt Formen wie beispielsweise exhibitionistische Erlebnisse nicht eingeschlossen. Aufwachsen ohne Vater wurde über den Kindheitsfragebogen operationalisiert, sofern keine Angaben zu einer Vaterperson gemacht wurden. Kontrolliert wurde dies über das MSBI, bei 51 % der Personen war der Vater gestorben, bei 40 % hatten sich die Eltern getrennt, bei den übrigen 9 % lagen andere Gründe vor. Es wurde bewusst hier nicht das Fehlen des leiblichen Vaters codiert, obwohl dieses auch langfristig negative Konsequenzen zeigt [25].

Demograsche Variablen Ausschließlich als Einussgrößen wurden Alter und Geschlecht, erhoben im MSBI, betrachtet.

Statistische Auswertung Die Auswertung erfolgt auf Basis eines Graschen Markov Modells. Es handelt sich hierbei um eine Weiterentwicklung der

% fehlend 13,8 13,6 18,5 18,3 0 % fehlend 3,8 0 2,5 0 0

Kontrolle (n = 543) X ¯ 1,95 0,61 1,66 0,39 41,97 % Ja 16,7 17,5 7,7 6,0 72,9

Unterschied

(SD)

% fehlend

t

p

0,76 0,59 0,79 0,44 12,18

9,8 10,1 15,8 15,1 0

ï 1,91 4,78 ï 2,62 2,46 4,75

0,057 < 0,001 0,009 0,014 < 0,001

% fehlend

z

p

24,9 21,2 4,4 0 0

0,89 ï 0,79 0,22 0,13 0,89

0,374 0,432 0,829 0,893 0,374

Pfadanalyse, in der neben linearen E̥ekten auch Interaktionen getestet werden können. Dies ist für die vorliegende Fragestellung von besonderem Interesse, da emotionale Parentizierung bei Vorliegen von manifesten Belastungen besondere Auswirkungen haben könnte. Zusätzlich können auch binäre Variablen in das Modell integriert werden [26, 27]. Rechnerisch bestehen Grasche Markov Modelle aus einer Serie multipler linearer und multipler logistischer Regressionen, abhängig davon, ob die jeweilige Zielgröße quantitativ oder binär ist. 2 Arten von Grafen illustrieren die Zusammenhänge: Ein Übersichtsgraf mit Pfeilen für gerichtete Assoziationen und Linien für ungerichtete zeigt Zusammenhänge zwischen den Variablen an, fehlende Verbindungen bedeuten bedingte Unabhängigkeiten. Quantitative Zielgrößen werden im Übersichtsgrafen als Kreise dargestellt, binäre als Punkt (engl.: continuous variable = circle; discrete = dot). Pfeile kennzeichnen signikante Beziehungen, fehlende Pfeile bedeuten bedingte Unabhängigkeiten. Art und Stärke der beobachteten Zusammenhänge von Variablen aus verschiedenen Blöcken werden mittels X-Y Grafen und Regressionstabellen dargestellt. Die Kurven zur Darstellung von Art und Stärke der Zusammenhänge in den X-Y Grafen werden jeweils nur für die mittleren 90 % der beobachteten Verteilung einer jeweiligen Einussgröße gezeichnet. Quadratische und Interaktionse̥ekte hingegen werden in einem Algorithmus getestet, der alle Kombinationen untersucht und die 5 mit der besten Passung anzeigt. Hieraus wird manuell das Modell ausgewählt, das die E̥ekte aller 5 am besten repräsentiert. Zu diesem Modell werden die Interaktionsterme angeboten. Der E̥ekt mit dem höchsten |t|-Wert (bei logistischen Regressionen |z|-Wert) wird, ggf. mit den zugrunde liegenden Haupte̥ekten, getestet. Eine Variable oder Variablengruppe (Term) wird aufgenommen, wenn sowohl der t-Wert (bei logistischen Regressionen z-Wert oder Wald-Statistik) des quadratischen – oder Interaktionse̥ekts als auch der F-Wert (bei logistischen Regressionen X2-Wert) für den gesamten Term signikant ist, d. h. p < 0,05. Anderenfalls wird der nächste Term getestet. Nachdem ein Term in das Regressionsmodell aufgenommen wurde, werden alle verbleibenden E̥ekte erneut auf Signikanz geprüft. Diese Prozedur wird so lange wiederholt, bis alle signikanten Terme aufgenommen sind. Die Variablenselektion erfolgte nach multipler Imputation einzelner Fehlwerte durch ein Monte Carlo Markov Chain Verfahren [28]. Dabei wurden für jeden Fehlwert mehrere Ersetzungen vorgenommen, von denen jede einen Zufallsfehler enthält. Das

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Mögliche Werte

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Abb. 1 Übersichtsgrak zu den signikanten Beziehungen.

Prädiktoren der primären Zielgrößen

Sexueller Missbrauch

Depression

Liebe Mutter Parentifizierung Mutter

Geschlecht Vaterlos

Alter

Elternteil abwesend

Liebe Vater Parentifizierung Vater

Somatoforme Schmerzen

Sexueller Missbrauch Liebe Mutter Parentifizierung Mutter

Geschlecht Vaterlos

Liebe Vater

Alter

Elternteil abwesend

Parentifizierung Vater

hier verwendete Verfahren wird beispielsweise von Schafer and Graham [29] empfohlen und zeigte auch in eigenen Simulationen gute Ergebnisse [30]. Nach der multiplen Imputation werden die statistischen Parameter separat für die verschiedenen Imputationsstichproben geschätzt und kombiniert. Generell werden für Letzteres die Regeln von Rubin angewendet [31]. Die Berechnungen wurden mit den Programmen Stata [32] und R [33] durchgeführt. Alle Tests wurden 2-seitig bei dz = 0,05 durchgeführt.

Ergebnisse ̇ Zusammenhang zwischen Depression und der emotionalen Parentizierung Die primäre Zielgröße „Depression“ wird durch 5 Variablen prä̂ Abb. 1, oben). Die stärksten E̥ekte zeigen dabei diziert (vgl. ̎ ̂ Abb. 2c) sowie das Gedie mütterliche Parentizierung (̎ ̂ Abb. 2a). Mit zunehmender mütterlicher Parentischlecht (̎ zierung steigt die Wahrscheinlichkeit, eine Depression als Lebenszeitdiagnose zu erhalten von ca. 10 % auf über 30 % ̂ Abb. 2c). Frauen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, an (̎ ̂ Abb. 2a). einer Depression zu erkranken als Männer (̎

Mütterliche Liebe und sexueller Missbrauch Zwischen mütterlicher Liebe, Depression und sexuellem Missbrauch zeigt sich ein Interaktionse̥ekt. Bei missbrauchten Kindern zeigt sich ein sehr starker Zusammenhang zwischen emotionaler Parentizierung und Depression, für sie erreicht die Wahrscheinlichkeit bei wenig mütterlicher Liebe eine Depression zu entwickeln fast 50 %. Bei nicht missbrauchten Kindern hingegen ist der Zusammenhang zwischen emotionaler Parenti̂ Abb. 2d). Auch das Alter zierung und Depression sehr gering (̎ zeigt einen zu erwartenden Zusammenhang zur Lebenszeitdiagnose einer Depression: Je älter die befragte Person war, desto höher war das Risiko, jemals im Leben eine depressive Phase er̂ Abb. 2b). lebt zu haben (̎

Zusammenhang zwischen somatoformen Schmerzen und emotionaler Parentizierung Die primäre Zielgröße „somatoforme Schmerzen“ wird durch ̂ Abb. 1, oben). Auch hier zeigt müt4 Variablen prädiziert (vgl. ̎ terliche emotionale Parentizierung den stärksten E̥ekt ̂ Abb. 2f). Auch väterliche emotionale Parentizierung ist mit (̎ dem Auftreten somatoformer Schmerzen assoziiert, allerdings in Verbindung mit väterlicher Liebe, wobei insbesondere die Kombination wenig Liebe, starke Parentizierung das Auftreten ̂ Abb. 2g). Auch hier somatoformer Schmerzen prädiziert (̎

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Prädiktoren der sekundären und tertiären Zielgrößen

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Auch für die sekundären Zielgrößen zeigen sich wesentliche Prädiktoren. Geringe mütterliche Liebe ist mit sexuellem Misŝ Abb. 1, unten). Missbrauchte Kinder bebrauch assoziiert (̎ ̂ Abb. 2i). Zudem zeigt richten über weniger mütterliche Liebe (̎ ̂ sich ein Alterse̥ekt (̎ Abb. 2h). Mütterliche Parentizierung wird durch das Fehlen des Vaters und sexuellen Missbrauch prä̂ Abb. 1). Ohne Vater ist die Parentizierung ausgediziert (̎ ̂ Abb. 2k), sexuell missbrauchte Kinder berichten geprägter (̎ ringere Werte der mütterlichen Parentizierung als nicht miss-

a

0,15

Männlich

0,10 0,05 0,00

0,6 Mutter Liebe

Weiblich

Somatoforme Schmerzen (p)

0,20 Depression (p)

i

e 0,25

0,4 0,2

m 3,0

3,0

2,5

2,5

2,0 1,5

Kein Missbrauch

1,0

Missbrauch

0,5 0,0

Geschlecht

40

50

1,5 1,0

Missbrauch

0,0 Sexueller Missbrauch

60

Kein Missbrauch

0,5

0,0 30

2,0

Sexueller Missbrauch

Alter

f

0,3 0,2 0,1 0,0

0,6 0,4 0,2

0,5

Kein Missbrauch

0,4 0,3 0,2 0,1 0,0

Sexueller Missbrauch

30

40

k

g Somatoforme Schmerzen (p)

0,4 0,3 0,2 0,1 0,0

Durch schnitt

0,4

Viel Liebe 0,2

0,20

0,0

Parentifizierung Mutter

1,0 Vaterlos 0,5

Vater

0,0

0,0

–0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5

d

Wenig Liebe

0,5

1,0

1,5

60

o 1,5

0,6

50

Alter

Parentifizierung Mutter

c

0,15 Weiblich 0,10 0,05

Männlich

0,00 Vaterlos

2,0

Geschlecht

Parentifizierung Vater x Liebe Vater

h

l

p

0,6

3,0

3,0

0,5

2,5

2,5

0,4

2,0

2,0

0,20

Missbrauch

0,2

1,5 1,0

Vaterlos (p)

0,3

Mutter Liebe

0,15 Liebe Vater

Depression (p)

Missbrauch

–0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5

Alter

Depression (p)

1,0

0,0

0,0

60

0,5

Sexueller Missbrauch (p)

50

40

1,5

Parentifizierung Mutter

30

n

j

Elternteil abwesend (p)

Somatoforme Schmerzen (p)

Depression (p)

0,4

Parentifizierung Mutter

b

1,5 1,0

0,10 0,05

0,5

0,1 Kein Missbrauch

0,0 0,0

1,0

2,0

3,0

0,5 0,0

0,0 30

Liebe Mutter x Sexueller Missbrauch

Abb. 2

40 Alter

50

60

0,00 30

40 Alter

X-Y-Grafen zur Art der signikanten Beziehungen.

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50

60

30

40 Alter

50

60

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Zusätzliche E̥ekte

̂ Abb. 2j). Väterliche Liebe wird durch das brauchte Kinder (̎ ̂ Abb. 1). MissAlter und sexuellen Missbrauch prädiziert (vgl. ̎ brauchte Kinder berichten über weniger väterliche Liebe als ̂ Abb. 2m), jüngere Patienten hanicht missbrauchte Kinder (̎ ̂ Abb. 2l). Väterben mehr väterliche Liebe erfahren als ältere (̎ liche Parentizierung zeigt keine Prädiktoren in der vorliê Abb. 1). genden Studie (vgl. ̎ Die tertiären Zielgrößen weisen einige Prädiktoren auf ̂ Abb. 1). Sexueller Missbrauch wird von Mädchen wesentlich (̎ ̂ Abb. 2o). Vaterlos aufgehäuger berichtet als von Jungen (̎ wachsen sind vor allem die älteren Patienten, d. h. die Kriegsjahr̂ Abb. 2p), ebenso gab es hier häuger längere Abwegänge (̎ ̂ Abb. 2n). ̎ ̂ Tab. 2 stellt die Resenheiten eines Elternteils (̎

Liebe Vater

zeigt sich ein Alterse̥ekt, die Wahrscheinlichkeit für somatô Abb. 2e). forme Schmerzen ist am größten bei den 50-jährigen (̎

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Tab. 2 Multiple Regressionsmodelle.

Modell Zielgröße

Ǵ

Einussgröße

sd(Ǵ)

z

p

mütterliche Liebe mütterliche Parentizierung Geschlecht Alter (in Dekaden) Konstante Modell Variablen nicht im Modell väterliche Liebe väterliche Parentizierung mütterliche Liebe 2 mütterliche Parentizierung 2 väterliche Liebe 2 väterliche Parentizierung 2 Alter 2 Stichprobe längere Abwesenheit sexueller Missbrauch vaterlos aufgewachsen mütterliche Parentizierung * Geschlecht väterliche Parentizierung * Geschlecht mütterliche Parentizierung * Stichprobe väterliche Parentizierung * Stichprobe

ï 0,24 0,11 0,73 0,15 ï 0,55 0,23 0,32 0,08 ï 2,84 0,47 F4, 970 = 20,32; p < 0,001 Pseudo R2 = 0,14

ï 2,16 4,98 ï 2,39 4,26 ï 6,02

0,031 < 0,001 0,017 < 0,001 < 0,001

ï 0,17 0,07 0,10 ï 0,05 0,07 0,02 ï 0,00

0,22 0,24 0,13 0,07 0,15 0,12 0,01

ï 0,78 0,29 0,81 ï 0,70 0,44 0,16 ï 0,15

0,433 0,771 0,416 0,482 0,656 0,875 0,878

0,17 0,50 0,70 0,61 0,29 0,42 0,15

0,26 0,28 0,46 0,39 0,42 0,27 0,39

0,73 1,79 1,50 1,55 0,68 1,55 0,39

0,465 0,073 0,134 0,120 0,498 0,121 0,689

Die weiteren Regressionsanalysen können vom Letztautor bezogen werden

gressionsgleichung für die Zielgröße Depression exemplarisch dar. Die entsprechenden Tabellen für alle weiteren Variablen können von JH angefordert werden.

Diskussion ̇ Die Ergebnisse dieser Beobachtungsstudie zeigen, dass emotionale Parentizierung in der Entwicklung psychischer sowie somatoformer Störungen eine wichtige Rolle spielen kann. Parentizierung in der Familie wird oft sowohl von Forschern als auch von Psychotherapeuten vernachlässigt [14]. Die vordergründig „braven“ Kinder werden nicht selten als „familiy heroes“ dargestellt (z. B. in der Presse) und das Leid, das sich hinter Parentizierung in der Familie verbirgt, wird oft nicht ausreichend wahrgenommen. Die Säuglingsforschung belegt die enorme Bedeutung von frühen nonverbalen Interaktionen mit der Mutter für die interpersonale, emotionale Abstimmung [34]. „Die ontogenetische Entwicklung des Gehirns wird von Beginn an durch Interaktions- und Bindungsprozesse zwischen den primären Bezugspersonen und dem Kind geprägt, wie die moderne Neurowissenschaft umfassend nachgewiesen hat. Die Ḁekt- und Emotionsregulierung ist die Grundlage der Selbstregulation“ ([34] S. 53). Das parentizierte Kind kann keine sichere Basis (nach [35]) zum Elternteil entwickeln, d. h., es kann seine Gefühle nicht selbst regulieren und kann keine stabile innere Repräsentation von sich selbst und anderen Personen aufbauen [7, 18]. Statt sich selbst in den Augen der Mutter zu sehen, sieht es deren Depression, Verwirrung oder Angst. Wenn man nicht gespiegelt wurde, kann man auch keine stabile innere Struktur formen – sie beinhaltet stets Dezite [8]. Genetische Faktoren sind in der Ätiopathogenese der Depression im Sinn einer erhöhten Vulnerabilität recht gut gesichert (z. B. [36]). Kommen zu dieser Disposition weitere Faktoren hinzu, beispielsweise eine emotionale Parentizierung durch die Mut-

ter, wird die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich eine depressive Störung auszubilden, deutlich erhöht. Präventive Strategien sollten somit schon auf das mütterliche Verhalten, oder sofern eine depressive Störung der Mutter vorliegt, auf deren frühzeitige Behandlung zielen. In der aktuellen Untersuchung zeigt sich ein Zusammenhang zwischen emotionaler Parentizierung nur in der Beziehung zwischen Mutter und Kind, nicht aber hinsichtlich einer väterlichen Parentizierung, dies wäre weiter zu untersuchen. Zudem wurde ausschließlich emotionale Parentizierung untersucht. In weiteren Arbeiten wäre es wichtig, verschiedene Formen der Parentizierung zu unterscheiden und deren möglicherweise unterschiedliche Einüsse auf psychische und körperliche Beschwerden Erwachsener, insbesondere auch das Ausbilden einer depressiven Störung, zu klären. Die Interaktion zwischen mütterlicher Liebe und sexuellem Missbrauch im Hinblick auf Depression muss vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass mütterliche Parentizierung, die negativ mit Liebe assoziiert ist, bereits im Modell enthalten ist. Natürlich bedürfen auch nicht missbrauchte Kinder der mütterlichen Liebe, das Ergebnis zeigt aber die wichtige moderierende Wirkung mütterlicher Liebe bei missbrauchten Kindern: Bei fehlender mütterlicher Liebe entwickelt die Hälfte der Betro̥enen eine Depression. Ähnlich geartete E̥ekte von Interaktionen zwischen Parentizierung und Liebe bzw. Kontrolle zeigen sich in Bezug auf Suizidversuche [37]. Während der Vater im Prädiktionsmodell für die Depression nicht direkt enthalten war, stellt er in der Vorhersage der Entwicklung somatoformer Schmerzen einen wesentlichen Faktor dar. Vorherige Untersuchungen legen nahe [3, 10], dass das Geschlecht der parentizierten Person sehr wichtig ist. In unserer Kultur übernehmen vor allem Frauen oft Aufgaben im Bereich der Fürsorge und Pege, sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft [10]. Verschiedene Wissenschaftler, die einen Zusammenhang zwischen traumatischen Erfahrungen in der Kindheit, der Entwicklung der inneren Struktur (u. a. Abwehrmecha-

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Depression

370 Originalarbeit

Einschränkungen Die vorliegende Studie zeigt folgende Einschränkungen. (1) Beim Begri̥ emotionale Parentizierung wurden keine unterschiedlichen Formen di̥erenziert – Jurkovic [3] unterscheidet beispielsweise 4 verschiedene Formen der Parentizierung. (2) Die Studie ist nicht hypothesentestend angelegt. Die Ergebnisse dieser Beobachtungsstudie können nicht kausal interpretiert werden. Es ist möglich, dass die beobachteten Assoziationen teilwei-

se auf nicht berücksichtigte Hintergrundvariablen zurückgehen, ferner ist die Anordnung der Variablen insbesondere in Bezug auf die Reihung „manifeste Kindheitsbelastungen“ – „ElternKind-Beziehungen“ ein methodisch notwendiger Kompromiss. Natürlich kann wenig elterliche Liebe die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Kind sexuell missbraucht wird. Die hier beschriebenen Zusammenhänge müssen noch hypothesentestend geprüft werden. (3) Die verwendeten Daten beruhen hinsichtlich der Eltern-Kind-Beziehungen und der Kindheitsbelastungen auf einer retrospektiven Erfassung. Es ist nicht auszuschließen, dass hierdurch systematische Verzerrungen und zufällige Fehler in die Daten gelangt sind. Eine prospektive Studie an parentizierten Kindern könnte wichtige Informationen zu Schutzfaktoren und der möglichen Entstehung von Resilienz liefern. (4) Die Diagnose Lebenszeit-Depression wurde unterschiedlich erhoben. (5) Ein Teil der Daten stammt aus den Dokumentationssystemen der Arztpraxen bzw. der Klinik. Da einige Patienten in dieser Zeit möglicherweise mehrere verschiedene Ärzte aufgesucht haben, ist hierin eine Unterschätzung enthalten.

Anmerkungen ̇ Die Arbeit wurde gefördert durch die Stiftung Rheinland-Pfalz für Innovation (61/496) und die DFG (EG/125/1). Die Autoren danken 2 anonymen Gutachtern der PPmP für wertvolle Hinweise und Anregungen zu einer früheren Version des Manuskripts, die sehr zu Verbesserung beigetragen haben.

Fazit für die Praxis Trotz der genannten Einschränkungen zeigt die vorliegende Studie, dass die festgestellten Zusammenhänge zwischen der Parentizierung in der Kindheit und Depression im Erwachsenalter sowohl theoretisch als auch klinisch neue interessante Perspektiven erö̥nen. Aus der klinischen Sicht wäre es z. B. sinnvoll, unter den Patienten mit Depression diejenigen auszuwählen, die in der Kindheit parentiziert wurden. Die Behandlungsmethode sollte sich dann vielleicht direkter und präziser auf die Bearbeitung des interpersonellen Traumas konzentrieren. Dadurch könnte man parentizierten Menschen dabei helfen, die ebenfalls in einer emotionalen Parentizierung innewohnenden inneren Fähigkeiten und Ressourcen zu verwirklichen. In Anbetracht der zunehmenden Anzahl von Kindern, die mit einem Elternteil aufwachsen, und für die damit ein besonders hohes Risiko besteht, eine Parentizierung durch den betreuenden Elternteil zu erleben, verdient diese mehr Aufmerksamkeit, als ihr heute zukommt [8].

Interessenkonikt : Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonikt besteht. Institute 1 Universität Warschau, Psychologische Fakultät, Warschau, Polen 2 Klinik Kinzigtal, Psychosomatische Fachklinik, Gengenbach 3 Horst-Schmidt Kliniken Wiesbaden, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Wiesbaden 4 Universitätsmedizin Mainz, Klinik für Anästhesiologie, Mainz 5 Universitätsmedizin Mainz, Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Mainz

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nismen) und der Psychopathologie untersuchten, weisen darauf hin, dass eine der möglichen Formen der Bewältigung der Parentizierung der Mechanismus der Somatisierung ist [16, 38]. Auch hier werden transgenerationale Transmissionen der Beziehungsstile und der Adaptations- und Abwehrstrategien angenommen [18, 39]. Bialas und Craig [40] beobachteten Mütter mit verschiedenen psychiatrischen Diagnosen mit Kindern im Alter von 4 bis 8 Jahren in Spielsituationen und stellten fest, dass Mütter mit Somatisierungsstörungen (somatisation disorder) im Vergleich mit gesunden Müttern seltener auf die unterschiedlichen Bedürfnisse ihrer Kinder eingingen. Der Mechanismus wurde in folgender Weise beschrieben [8, 18]: Wenn die Person über nicht ausreichende Ressourcen der Selbstregulation verfügt, wenn bei ihr Verlust und Stress eine chronische innere Spannung hervorrufen, die nicht alleine mit psychischen Mitteln reduziert werden kann, beginnt folglich der Körper eine größere Rolle zu spielen. Da die inneren Zustände nicht als Gedanken und Vorstellungen wiedergegeben werden können, werden sie als körperliche Wahrnehmungen repräsentiert. Die Funktion der Mentalisierung kann sich nicht voll entwickeln – stattdessen gewinnt die Körpersprache an Bedeutung [41]. Der wichtigste Prädikator für mütterliche Parentizierung in unserer Studie ist das Fehlen des Vaters. Auch wenn sich dieses Ergebnis bei den hier vorliegenden Daten überwiegend auf Kriegsvermisste bezieht, so hat es doch in Anbetracht der zunehmenden Rate Alleinerziehender eine aktuelle Bedeutung. O̥ensichtlich haben Alleinerziehende weniger Unterstützung als Familien mit 2 Elternteilen, und basierend auf den hier dargestellten Ergebnissen scheinen Mütter diese zumindest zum Teil bei ihren Kindern zu suchen. Dass es sowohl den Kindern Alleinerziehender als auch den Alleinerziehenden selbst schlechter geht als 2-Eltern-Familien, ist heute unbestritten [42–44]. Ob und wie stark die emotionale Parentizierung hier eine Rolle in der Entwicklung der Kinder spielt, ist unklar. Die hier dargestellten Ergebnisse sollten uns jedoch zumindest auf diese Möglichkeit aufmerksam machen. Als letztes Ergebnis dieser Studie soll ein E̥ekt erwähnt werden, der als Folge der gewählten Auswertungsmethode sichtbar wurde, aber nicht bei der Planung der Studie intendiert war. Wir fanden bei mütterlicher sowie väterlicher Liebe kurvilineare Alterse̥ekte: Die ca. 50-Jährigen berichteten die niedrigsten Werte hinsichtlich elterlicher Liebe. Bei Daten, die in den Jahren 1998– 2003 erhoben wurden, sind dies die Geburtskohorten der letzten Kriegs- und insbesondere der frühen Nachkriegsjahre. Wir hatten einen solchen E̥ekt im Kindheitsfragebogen schon auf Basis anderer Daten beobachtet, nämlich Befragungen via Internet an gesunden deutschen und polnischen Probanden [45]. Wir hatten damals argumentiert, dass das deutsche Klischee der Nachkriegszeit „wir hatten zwar nichts zu essen, haben aber immer fest zusammengehalten“ nicht zutre̥end war und dass der Krieg tiefe Schäden in den Familien hinterlassen hat. Die vorliegenden Daten bestätigen dies.

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