Johannes GROTZKY, Dr. phil. (*1949) Studium der Slawistik, Balkanologie und Geschichte Ost-‐ und Südosteuropas. Seit 2002 Hörfunkdirektor des Bayeri-‐ schen Rundfunks. Bücher: Gebrauchsanweisung für die Sow-‐ 4 jetunion (1985, 1990), Herausforderung Sowjetunion (1991), Konflikt im Vielvölkerstaat (1991), Balkankrieg (1993), Freiheit alleine macht nicht satt Hrsg. (1996), Schachmatt (2004, 3 2 2012), Fremde Nachbarn (2009, 2012), Lenins Enkel (2009), „Mit welchem Recht kämpfen wir dort?“ (2011)
Eine Welt ohne Archive -‐ Eine Welt ohne Gedächtnis
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An der Schwelle zur Praxis
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Sprache und politischer Wandel
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Eine andere mediale Erfahrung: Mit Mariss Jansons in Russland
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Vorwort Die Worte 'panta rhei' (griechisch πάντα ῥεῖ, "alles fließt") sind zu einer Metapher für die stän-‐ digen Veränderungen ("Prozessualität") der Welt geworden. Diese Erkenntnis wird dem Philoso-‐ phen Heraklit von Ephesos zugeschrieben, der um 520 -‐ 460 vor Christus gelebt hat, also vor gut zweieinhalbtausend Jahren. Der Philosoph Platon (428 -‐ 348 v. Chr.) hat diesen Gedanken aufge-‐ nommen und fortgeschrieben: Πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει: „Alles bewegt sich weiter und nichts bleibt so, wie es war.” In der vorliegenden Textsammlung sollen mit dieser Erkenntnis die ständigen Umbrüche in der Medienwelt bezeichnet werden, die sich vor al-‐ lem in der Zeit der Digitalisierung für jedermann greifbar schnell vollziehen. In der Tat haben sich Produktion und Rezeption der Medien durch die Digitalisierung und durch das Internet nachhaltig verändert, alles bewegt sich weiter und nichts bleibt mehr so, wie es einmal war. Allen voran haben dabei die "sozialen Netzwerke" eine medial 7
relevante Bedeutung gewonnen, weil sie zu einer Plattform des Informationsaustausches und der Meinungsbildung außerhalb bislang bekannter Strukturen und Regularien geworden sind. Die Deutungshoheit der traditionellen Medien, denen in einem rechtlich sogar geschützten Rahmen gerne die Rolle der „Vierten Gewalt“ zugeschrie-‐ ben wurde, wird nun durch Vernetzung und Ver-‐ vielfältigung individueller Meinungsprozesse in Frage gestellt. Daneben stehen aber bis auf weiteres noch die traditionellen Medien, die sich mit dem viel disku-‐ tierten Kulturbegriff beschäftigen, der sich aus dem Kulturauftrag vor allem im öffentlich-‐ rechtlichen Bereich der Medien ableitet. Auch der Umgang mit Tradition, Brauchtum und Musik bleibt relevant, weil es sich hier um Inhalte han-‐ delt, die zwar in neuen Formen aufscheinen, aber ihrem Selbstverständnis nach weiterhin dem Er-‐ halt vertrauter Identitäten dienen. Von besonde-‐ rer Bedeutung war auf dem heimischen Radio-‐ markt die Auseinandersetzung um so genannte deutsche Musik geworden; unklar blieb allerdings die Absicht, ob es sich dabei um deutschsprachige oder in Deutschland und mit deutschen Gruppen produzierte Musik vor allem im Pop-‐ und Rockbe-‐ reich handeln solle. Inhalte welcher Art auch immer behalten je-‐ doch ihre Bedeutung nur dann, wenn sie zeitun-‐ abhängig und möglichst barrierefrei für den Nut-‐ zer wieder auffindbar sind. Hier gelten zwar recht-‐ 8
liche Grenzen des Urheberschutzes. Dennoch si-‐ chert erst das dokumentarische Gedächtnis der Medienarchive, zu denen sich die Podcast-‐ Angebote gesellt haben, dieser Vergangenheit eine Zukunft, macht sie wieder verfügbar und überprüfbar. Dabei reicht es nicht, sich einfach auf den Algorithmus fremd bestimmter Suchmaschi-‐ nen im Internet zu verlassen. Denn die Mediendo-‐ kumentation gewichtet, versieht den Quellentext, das Video, das Audio mit notwendigen Begleitda-‐ ten, um später deren Bedeutung rekonstruieren zu können. Gerade der Beitrag über die Digitalisie-‐ rung des Hörfunks belegt, dass schon vor mehr als einem halben Jahrzehnt die Weichen für eine künftige Neuausrichtung gestellt wurden, die auch auf das veränderte Verhalten der Rezipienten einging. Einige Angaben von damals wurden aktu-‐ ell ergänzt, wenngleich die grundsätzlichen Her-‐ ausforderungen von damals für die traditionellen Medien weiterhin bestehen. Eine besondere Rolle spielt bei all diesen Ver-‐ änderungen der sprachliche Wandel. Am Beispiel meines eigenen Fachgebietes Ost-‐ und Südosteu-‐ ropa versuche ich aufzuzeigen, dass politische und gesellschaftliche Veränderungen gerade in der Sprache ihren medienwirksamen Niederschlag finden. Denn Sprache ist das unverzichtbare Merkmal jeder Kommunikation, wenn ich mich nicht nur auf die ikonenhafte Zeichensprache des Bildes verlassen will. Hier sind es besonders Bei-‐ spiele aus dem Sprachbereich des zerfallenden 9
Jugoslawien wie auch aus der Sowjetunion der Perestrojka, die eindrucksvoll zeigen, welche Ab-‐ hängigkeit zwischen Sprache und medialer Ver-‐ mittlung bei politischen Umbrüchen besteht. In einer Reihe von Beiträgen, die teilweise als Vorträge angelegt waren, sind all diese Aspekte und deren jeweilige Auswirkungen auf die Medi-‐ enkultur zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässen behandelt worden. Es besteht also kein chronolo-‐ gischer Zusammenhang zwischen diesen Texten, die sich gleichwohl alle in ihren Beobachtungen mit der Kultur unserer Medien ganz generell be-‐ schäftigen. Zu guter Letzt habe ich eine Russlandreise mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rund-‐ funks zum Anlass genommen, um über eine medi-‐ ale Erfahrung besonderer Art zu berichten. Denn auch diese Arbeit gehört zum Programmauftrag eines Hörfunkdirektors, aus dessen Alltag heraus diese Beiträge entstanden sind. München, Sommer 2012
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Wie sozial sind soziale Netzwerke? Noch bevor ich in die Schule kam, interessierte ich mich für das, was in einem Radio vor sich ging. Ich wollte wissen, wie diese Menschen in das Ge-‐ rät kommen, um dort zu sprechen oder zu musi-‐ zieren. Und ich wollte wissen, ob ich mit diesen Menschen Kontakt aufnehmen könnte. Meine weitaus älteren Schwestern erklärten mir im Vorschulalter, die Sprecher und Musiker liefen durch das Stromkabel aus der Wand in das Radio hinein. Und wenn das Programm beendet sei, packten sie alles zusammen und verließen das Gerät wieder durch das Stromkabel Richtung Steckdose. Ich war begierig, mit den Radiomenschlein Kontakt aufzunehmen. Als ich alleine im Zimmer war, wartete ich -‐ mit einer Schere in der Hand -‐ das Ende eines Musikstückes ab. Noch bevor der Sprecher mit der Absage begann, schnitt ich schnell das Kabel durch in der Hoffnung, nun 11
müssten mir alle die Musiker in die Hand purzeln und ich könnte endlich mit Ihnen in Kontakt tre-‐ ten. Das Unglück war verhältnismäßig überschau-‐ bar. Ein Kurzschluss, eine versengte Schere, eine verbrannte Hand und ein heulender Knabe. Heute würde ich natürlich einen anderen Weg zur Kontaktaufnahme gehen, dank sozialer Netz-‐ werke. Denn sie ermöglichen Zugang zu unseren Programmleuten -‐ allen voran über Facebook. Meine frühe Idee, Broadcast, also die Sendefunk-‐ tion von einem Punkt zu vielen Empfängern, in einen Dialog zu verändern, gewissermaßen einen Rückkanal aufzubauen, ist heute Kommunikati-‐ onsstandard. Etwas euphorisch haben wir dieser Plattform den Begriff der sozialen Netzwerke zugeschrieben, ohne zu wissen, dass es dabei zwar keine ver-‐ brannten Hände, sehr wohl aber verbrannte See-‐ len geben kann. Natürlich ist mir klar, dass diese Einrichtung, die im Englischen als „social network“ firmiert, nichts mit dem Begriff „sozial“ zu tun hat. Korrek-‐ terweise müsste man dies mit „gesellschaftlichem Netzwerk“ übersetzen. Das konterkariert natür-‐ lich auch die Überschrift über diese kurze Einlas-‐ sung, hat aber dennoch seine Berechtigung, weil unter dieser Rubrik manches passiert, was nicht unbedingt unsere gesellschaftliche Billigung finden dürfte. 12
Im Gegensatz zu dieser virtuellen Welt stehen die realen sozialen Netzwerke, die zu Recht ihren Namen verdienen. Mein Vater gehörte nach dem Krieg in Niedersachsen zu den Mitbegründern des „Hilfswerks der Freien Wohlfahrtverbände“, ein echtes Netzwerk sozialen Engagements. Dort wirkten Innere Mission, Arbeiterwohlfahrt, Jüdi-‐ sche Wohlfahrt und Caritas gemeinsam. Es ging darum, eine Verbindung zu schaffen zwischen allen Hilfsbereiten und allen Hilfsbedürftigen in der Nachkriegszeit: Überlebende KZ-‐Opfer, verwaiste Kinder, Flüchtlinge und Vertriebene, Staatenlose oder solche Menschen, denen die Rückkehr in ihre Heimat (oft wegen der kommunistischen Macht-‐ ergreifung) verwehrt war. Die Flüchtlingslager in Friedland und Uelzen -‐ sicher auch anderswo in Deutschland -‐ waren überfüllt. Die letzten Kriegs-‐ gefangenen kamen erst 1955 aus der Sowjetunion zurück. Ich selbst wurde von meinen Eltern in jenen Jahren überall mit hingenommen. Noch heute spüre ich die halbrund-‐geduckte Bauform der Nissenhütten aus den Lagern, in denen es mir immer zu warm oder zu kalt vorkam. In der ameri-‐ kanische Presse gibt es Fotos aus jenen Jahren, die mich, den erfolglosen Erforscher von Musikern und Sprechern im Radioempfänger, mit einem großen Schild NCWC zeigen. Ich stehe auf einem amerikanischen Militärlaster, aus dem die Care-‐ Pakete verteilt wurden, mal von der National Ca-‐ 13
tholic Welfare Conference, dann wieder von den Quäkern aus den USA. Bis heute wirken diese rea-‐ len sozialen Netzwerke fort, institutionell weiter in der Hand solcher Verbände wie der Inneren Mis-‐ sion, undenkbar aber ohne das vielfältige Enga-‐ gement von ehrenamtlichen Helferinnen und Hel-‐ fern. Viel Gutes wurde zu Notzeiten geleistet, und viel Gutes wird weiter geleistet, weil gesellschaft-‐ liche und individuelle Not immer wieder Konjunk-‐ tur haben. Hier geschieht das Gegenteil dessen, was sich in der virtuellen Welt jener sozialen Netzwerke vollzieht, die ich mit einem kritischen Blick hier im Folgenden betrachten werde. Nun also der Sprung in eine Gegenwart, die mehrheit-‐ lich noch von der jüngeren Generation gelebt wird: Vielen von Ihnen wird dabei die traurige Ge-‐ schichte bekannt sein, die der „New Yorker“ un-‐ ter dem Titel „The Story of a Suicide“ bekannt gemacht hat. Dabei handelte es sich dabei einen Studenten, der seinen Mitbewohner über eine Webcam bespitzelt hat, um dann -‐ in etwas gehäs-‐ siger Absicht -‐ dessen schwule Neigungen über Twitter zu posten. Der ausspionierte Student beging Selbstmord. Ich kann nicht sagen, ob hier ein Zusammen-‐ hang besteht zu der Entscheidung von Facebook, für solche Fälle eine Art Prophylaxe anzubieten. Zumindest können inzwischen Facebook-‐Freunde reagieren, falls jemand aus deren Community Suizidgedanken äußert. Facebook bietet als Hilfe 14
eine Hotline und einen Link zu einem Berater an. Der Gang zu einer sozialen Einrichtung, zu einem glaubwürdigen Berater aus der realen Welt, ist hier nicht mehr vorgesehen. Viele Nutzer von Facebook, My Space und an-‐ deren Plattformen machen sich vermutlich nur selten klar, dass sie mit Ihren Einträgen nicht nur ihre Freunde „beglücken“. Oftmals werden ihre Daten von einem Metadaten-‐Staubsauger aufge-‐ sogen und weiter verarbeitet. Damit meine ich nicht die werbetreibende Wirtschaft, die georefe-‐ renziell und personenbezogen ihre Reklameange-‐ bote individualisiert und für jedermann und jede-‐ frau zielgruppenspezifisch das Richtige zur rechten Zeit anzubieten glaubt. Das ist ein Preis, den zu bezahlen jeder in Kauf nimmt, der scheinbar kos-‐ tenlose Dienste im Internet nutzt. Mir scheint sich hier eine Entwicklung aufzutun nach dem Motto: „Überantworten Sie uns ihre Existenz, und wir führen Ihr Leben für Sie.“ Reale soziale Hilfe beabsichtigt das Gegenteil: Nämlich die Selbstverantwortung des Menschen zu fördern und zu stützen und nur subsidiar und dann auch unter der Achtung der Menschenwürde helfend einzugreifen. Doch im Internet geht es um noch mehr: zum Beispiel um Lexi Nexis, einen Dienst, der Pro-‐ gramme anbietet, um in den USA Behörden mit Informationen aus den sozialen Netzwerken zu versorgen. Das kann mal für die IRS (Internal Re-‐ venue Service), die US-‐amerikanische Steuerbe-‐ 15
hörde, interessant werden oder aber für die Ein-‐ wanderungsbehörden. Wenn man weiß, dass US-‐Staatsbürger, wenn Sie erst einmal eine „Social Security Number“ ha-‐ ben, unabhängig von ihrem Wohnsitzland immer in den USA steuerpflichtig bleiben, der wird ver-‐ stehen, dass die internationale Vernetzung von Facebook eben doch den Hinweis auf gut verdie-‐ nende US-‐Staatsbürger in anderen Ländern er-‐ möglicht. Und sei es nur, weil einer mit seinem neuen Auto, einer teuren Reise oder Ähnlichem bei Freunden angeben will. Nicht weniger interessant sind für Einwande-‐ rungsbehörden weltweit die sozialen Netzwerke, u.a. bei Asylverfahren. Hier geht es darum, Spu-‐ ren in das Ursprungsland oder zu Verwandten zurückzuverfolgen und zu testen, ob die amtlich gemachten Angaben mit der Wirklichkeit überein-‐ stimmen. In der Süddeutschen Zeitung hat am 10. Febru-‐ ar 2012 Lori Andrews, Direktorin vom „Institute for Science, Law and Technologie“ am „Chicago Kent-‐College of Law“ diese und andere Überra-‐ schungen aus der Welt der sozialen Netzwerke geschildert. Dabei erwähnt sie auch eine Firma namens SPOKEO, die für Personalabteilungen das Netz durchforsten. Einer Studie zufolge haben 70 Prozent aller Personalchefs in den USA eine Be-‐ werbung unter Berufung auf Informationen aus dem Internet abgelehnt. 16
Es sollte heute jedem Nutzer von sozialen Netzwerken, aber auch von E-‐Mails klar sein, dass natürlich gigantische Massen auf vermeintlich kritische Begriffe durchforstet werden, und zwar von Geheimdiensten rund um den Globus. Der Bundesnachrichtendienst (BND) ist in dieser Sa-‐ chen ebenso fleißig wie andere Dienste. In den Medien taucht immer wieder die Zahl von bis zu 37 Millionen E-‐Mails, die der BND pro Jahr auf Reizbegriffe prüfen lässt, ohne dass die Nutzer davon etwas mitbekommen 1 . Dann erfolgt eine zweite Stufe der Prüfung, um zu sehen, ob die Scanner nur einer witzigen Formulierung aufge-‐ sessen sind oder gar gesetzeswidrige Aktivtäten entlarvt haben. Natürlich gibt es eine Reihe von Rechtsvorschriften dabei zu beachten, aber in den USA hat die Homeland Security zuweilen den Ein-‐ druck sehr voreiliger Maßnahmen vermittelt. Anhand einer harmlosen fiktiven Mail oder ei-‐ nes Tweets, einem Text, den ich mir für heute ausgedacht habe, werden Sie erkennen, wie schnell man in ein Fahndungsnetz geraten kann, wenn der Scanraster auf bestimmte Suchwörter eingestellt ist. Der Text lautet: „Heute erwartet Sie eine Bombenstimmung. Wir revolutionieren ihre Party und lassen es kra-‐ chen -‐ eine Explosion von Spaß und Überraschun-‐ gen. Rechts und links werden ihre Nachbarn radi-‐
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Süddeutsche Zeitung, 17./18. März 2012 17
kal neidisch reagieren. Buchen Sie noch heute den Knalleffekt für jede lustige Gesellschaft.“ Ein konkretes Beispiel hat in den letzten Wo-‐ chen im Netz die Runde gemacht: Ein Brite na-‐ mens van Bryan wollte mit seiner Freundin in die USA reisen. Offensichtlich in Urlaubsstimmung twitterte er etwas von “destroying America and digging up Marylin Monroe”. Der junge Mann und seine Freundin wurden bereits bei der Einreise in den USA abgefangen, verhört, zwölf Stunden fest-‐ gesetzt und dann wieder zurück nach Großbritan-‐ nien geschickt. Dort wiederum regte man sich über die vermeintliche Dummheit jener Fahnder auf, die nicht wissen, dass man im britischen Eng-‐ lisch gerne “to destroy” als Synonym verwendet für den Ausdruck “eine tolle Zeit haben”. Wem solche Zwischenfälle bekannt und die Folgen bewusst sind, der wird seine Kommunika-‐ tion in den sozialen Netzwerken überdenken und nicht allzu vertrauensselig darauf bauen, dass alles nur auf den freigegebenen Kreis der angemelde-‐ ten Freunde begrenzt bleibt. Natürlich gibt es genügend Beispiele, wie Hacker das Vertrauens-‐ verhältnis unter Freunden ausgenutzt haben. Bei-‐ spiel: Ein Hilfeschrei im Netz, auf einer gehackten Facebook-‐Seite. Der angebliche Inhaber dieser Facebook-‐Seite schreibt an seine „Freunde“: „Ich sitze in London fest und mir ist alles Geld geklaut worden.“ Dazu ein paar vermeintlich intime Anspielun-‐ gen auf Daten -‐ ebenfalls im Internet geklaut -‐ , 18
die niemand außer den besten engsten Freunden kennt. Und schon hat jemand zur Hilfe Geld über Western Union an eine hinterlegte Adresse raus-‐ geschickt. Geschickt gelinkt, kann man da nur sagen. Einige solcher erstaunlichen Beispiele schilderte Ulrich Hottelet schon vor drei Jahren im Online-‐Forum der Wochenzeitung DIE ZEIT.2 Den wenigsten ist vermutlich bewusst, dass zum Beispiel Facebook und Google Plus morali-‐ sche Grundsätze für die Nutzung ihrer Dienst for-‐ muliert haben, die anerkannt werden müssen. Das Cybermobbing ist demnach ausdrücklich verboten ebenso wie die Verherrlichung von Gewalt oder Identitätsklau durch Aneignung fremder Daten. Twitter hingegen vertraut auf die Eigenverantwor-‐ tung seiner Nutzer. Dies alles schließt aber das professionelle Data-‐Mining, also die Auswertung der Daten durch Dritte nicht aus. Es erscheint heute müßig, die genauen Zahlen von Nutzern in sozialen Netzwerken oder die Re-‐ korde bei Tweets pro Sekunde zu benennen. Im ersten Fall sind es viele hunderte von Millionen Menschen und im zweiten Fall dürfte irgendwann auch die Zehntausender-‐Grenze von Tweets pro Sekunde bei einem Großereignis erreicht oder gar überschritten werden. Als einer der Höhepunkte galten lange 7.196 Tweets in einer Sekunde, als Japan 2011 die Fußballweltmeisterschaft der Frauen gewann. 2
23. Juli 2009 19
In Deutschland werden rund einhundert soziale Netzwerke benutzt: Neben dem Marktführer Fa-‐ cebook natürlich auch stayfriends, schuelerVZ, StudiVZ, Wer-‐kennt-‐wen, XING und so weiter. Aber auch russische soziale Netzwerke wie Odnoklassniki, Vkontakte oder Moj Mir haben dank der Migrationsbewegung in Deutschland über eine Million Anhänger, in Russland und der GUS sogar mehr als einhundert Millionen Nutzer. Daneben spielt in Brasilien und Indien das Netzwerk ORKUT, allerdings mit Google-‐ Unterstützung, eine große Rolle. Wikipedia ver-‐ mutet, dass es auch im Iran und von Exiliranern als Austauschplattform intensiv genutzt wurde, bevor die iranische Regierung den Zugang geblockt hat. Ungleich größer ist der chinesische Markt, al-‐ lerdings auch streng kontrolliert. Sprachbarrieren machen es den meisten von uns nahezu unmög-‐ lich zu verfolgen, was in den chinesischen Netz-‐ werken wie RenRen, Kaixin001, Qzone und 51.com passiert. Die sollen zusammen auf rund 750 Millionen Nutzer kommen. Inzwischen entstehen Vernetzungen mit ande-‐ ren Verbreitungswegen, sozusagen Meta-‐ Strukturen, die oft schon auf Nutzerebene kreiert werden, wenn Meldungen, Bilder, Videos ver-‐ knüpft gepostet werden über YouTube, Flickr, Google+, Facebook und Twitter. So wie es Meta-‐ Suchmaschinen gibt, werden auch Meta-‐ Verknüpfungs-‐Maschinen im Internet alles mit 20
allem und jeden mit jedem in Kontakt bringen können. Besonders heftig wird es, wenn solche Ver-‐ knüpfungen bei Bashing-‐Vorgängen, also der Be-‐ schimpfungen im Netz, einen Schneeballeffekt auslösen und nicht wieder einzufangen sind. Noch schwieriger sind die Trolle, also jene anonymen Netzwerker, die in Foren und Blogs unverhüllt provokativ bis hin zu regelrechten Hetztiraden Stimmungen anheizen. Der Begriff „Shitstorm“, etwas euphemistisch als „Empörungswelle“ über-‐ setzt, ist für solche Internetaktionen inzwischen international bekannt. Am Schluss gilt auch hier im übertragenen -‐ leider auch negativen -‐ Sinn die Erkenntnis des Mephistopheles aus Faust I von Goethe: „Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“. Was früher schwarz auf weiß, also dokumenta-‐ risch gedruckt, beweisbar und wiederholbar war, das ist heute das Netz. Und das „zu Hause“ für die immerwährende Auffindbarkeit ist eben unser Cyberspace. Die Frage ist: Wo bleibt die soziale Verantwortung und wo die Achtung vor dem Menschen, wenn alles in jeder beliebigen Kombi-‐ nation auf Dauer abrufbar ist und weiter verbrei-‐ tet werden kann. Ich war bis hierher etwas unfair und habe kri-‐ tisch beäugt, was uns an argen Überraschungen im Netz bevorstehen kann. Eine typisch journalis-‐ tische Haltung. Denn auch im Journalismus wird eher der Absturz eines Flugzeugs statt tausende 21
von erfolgreichen Landungen zum Thema ge-‐ macht. Mit einem Wort: Die Netzwerke eröffnen ungeheure positive Chancen der Begegnungen, des Austausches -‐ schlicht der Kommunikation. Das heißt aber auch, dass Sozialverbände sich dieser Netzwerke bedienen können. Ich nenne als Beispiel nur die Anonymen Alkoholiker, Hilfsplatt-‐ formen für Drogensüchtige oder für verzweifelte Menschen. Wichtig ist nur, dass das Gemeinte und das Gesagte vertrauensvoll überein stimmen: Wer Hilfe über soziale Netzwerke im Internet anbietet, muss sozusagen das Zertifikat der Glaubwürdig-‐ keit mitliefern. Und dazu wären sicher Einrichtun-‐ gen wie die Innere Mission am besten berufen. Wo aber liegt nun die Herausforderung für den öffentlich-‐rechtlichen Rundfunk bei dieser Ent-‐ wicklung? Eigentlich haben wir hier eine Parallele zu den realen sozialen Einrichtungen. Wir bauen auf unsere Glaubwürdigkeit, erreichen aber nicht immer die Menschen dort, wo wir sie bislang an-‐ gesprochen haben. Denn individualisierte Kom-‐ munikation ist für junge und zunehmend auch ältere Menschen oft interessanter als lineare In-‐ formation, obwohl unser Zeitbudget für die Medi-‐ ennutzung noch beides nebeneinander zulässt. Natürlich kann ich eine Kinokritik anschauen, eine Buchbesprechung hören. Doch wenn meine eigenen Freunde mich antwittern und sagen: „Su-‐ perfilm, musst Du sehen“ oder „Heißer Stoff, un-‐ bedingt lesen“, dann ist die Überzeugungskraft meist noch größer. Ich kann auch eine Sendung 22
über die Nöte des Alltags anhören oder einem Gesundheitsgespräch mit Marianne Koch folgen. Doch auch hier lösen die Foren und Blogs im Netz immer mehr die Autorität geprüfter Fachleute ab. Wenn der öffentlich-‐rechtliche Anbieter in die-‐ sen Kommunikationsprozess mit seinen Produkten nicht eingebunden ist, dann kann er einen Teil seines Publikums verlieren -‐ oder gar nicht erst erreichen. Und ein Teil seiner Kompetenz geht verloren. Deshalb sind beim Bayerischen Rund-‐ funk einige Dutzend Redaktionen und Sendungen auf Facebook aktiv, ganz zu schweigen von der persönlichen Facebook-‐Seiten vieler Moderato-‐ rinnen und Moderatoren. Und auch uns stehen dazu die Mediadaten zur Verfügung, die zeigen, wie vielen Nutzern welches Produkt gefällt, wie viele Personen gerade darüber sprechen und wie die Entwicklung der wöchentlichen Reichweite unserer Themen im Facebook sind. Sendebeglei-‐ tung im Netz, Rückmeldungen zum laufenden Programm oder auch schon Vorabdiskussionen, was man hören oder sehen möchte, gehören bei einigen Anbietern bereits mehr und mehr zum Alltag. Wir wären nicht öffentlich-‐rechtlich, hätten wir nicht ein mehrseitiges Papier, nämlich die „Social Media Guidelines“ des Bayerischen Rundfunks. Dies ist allein schon deshalb wichtig, weil wir einer Kontrolle durch den Rundfunkrat unterliegen, der durch ein Telemedienkonzept für den Bayerischen Rundfunk Vorgaben erfüllt, die das Rundfunkge-‐ 23
setz und der Rundfunkstaatsvertrag verlangen. Das klingt kompliziert, ist auch ein langwieriger Prozess gewesen, gleichzeitig aber auch notwen-‐ dig, damit es zu keinem Wildwuchs kommt. Natür-‐ lich gelten alle journalistischen Kriterien aus dem Programm auch für diesen Bereich. Simpel gesagt: Wir belügen nicht unser Publikum, auch wenn wir Fehler machen. Wir manipulieren keine Meinung, sondern unterstützen plurale Meinungsbildung. Fakten, die wir vertreten, sind sorgfältig und überprüfbar recherchiert. Wenn Sie nun solche Ansprüche der stürmi-‐ schen Entwicklung im Netz gegenüberstellen, dann bemerken Sie schnell die Kluft zwischen in-‐ dividualisierter, aber auch wertender Kommunika-‐ tion und dem Versuch, auf demselben Weg mit anderen Mitteln und Inhalten Menschen zu errei-‐ chen. Dies ist wahrscheinlich die größte Heraus-‐ forderung, vor der unser öffentlich-‐rechtliches System seit seiner Gründung steht. Die Folge wird sein, dass sich die Form des öffentlich-‐rechtlichen Rundfunks ebenso wie die Geschäftsfelder der etablierten Verlage drastisch ändern werden. Natürlich bleibt es bei Audios und Videos, auf lange Zeit auch bei den beliebten linearen Radio-‐ und Fernsehmarken. Doch der drohende Genera-‐ tionenabriss vor allem im Fernsehen zwingt den öffentlich-‐rechtlichen Rundfunk, seine Gebühren, die von fast allen entrichtet werden, auch dort einzusetzen, so sich der größte Teil seiner Gebüh-‐ 24
renzahler in Zukunft bewegen wird. Und zwar im Netz und mit Hilfe sozialer Netzwerke. Wenn dabei die realen sozialen Netzwerke, die ohnehin kontinuierlich Gegenstand unserer Be-‐ richterstattung sind, projektbezogen auch noch unserer Partner sind, dann können wir in gemein-‐ samer Verantwortung auch der virtuellen Welt noch viel Gutes abgewinnen. Vortrag anlässlich der Verleihung des Karl-‐ Buchrucker-‐Preises der Inneren Mission am 26. März 2012 in München. Nachdruck in epd medien 35/2012, S. 29-‐32.
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„Was heißt hier eigentlich Kulturradio?“ Diskussionen um den Begriff der Kultur sind le-‐ gendär. Warum soll das beim Radio anders sein. Ich bekenne vorweg, dass ich Schwierigkeiten mit dem Begriff „Kulturradio“ habe. Denn ich weiß nicht, was sich dahinter verbergen soll. Reden wir von einem Programm, das sich als Spartenpro-‐ gramm ausschließlich der Vermittlung von und den Berichten über Kultur widmet? Oder sprechen wir von klassischen Vollpro-‐ grammen, die in der Tradition des Hörfunks den Auftakt zur Rundfunkgeschichte gebildet haben? Damals wurden rundfunktypische Genres wie das Hörspiel oder die Technik der Live-‐Übertragung von Konzerten entwickelt. Dazu kam die gespro-‐ chene Literatur; der oder das Essay, dann das
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Hörbild und mit der Entwicklung beweglicher Tonbandgeräte auch noch das Radiofeature. Oder meinen wir heute mit „Kulturradio“ schlicht einen Alibibegriff, um all jene Bereiche abzudecken, die wir einem öffentlich-‐rechtlichen Rundfunkauftrag schulden, über dessen Inhalt wir jedoch sehr herzhaft zu streiten verstehen? Damit möchte ich auf das Problem hinweisen, dass der Rundfunkauftrag in seiner Ausgestaltung -‐ bis auf einige Grunddefinitionen -‐ in der Tat Spielraum für verschiedene Interpretation und Umsetzungen lässt. So heißt es im Bayerischen Rundfunkgesetz: „Die Sendungen des Bayerischen Rundfunks dienen der Bildung, Unterrichtung und Unterhal-‐ tung. Sie sollen von demokratischer Gesinnung, von kulturellem Verantwortungsbewusstsein, von Menschlichkeit und Objektivität getragen sein und der Eigenart Bayerns gerecht werden. Der Bayeri-‐ sche Rundfunk hat den Rundfunkteilnehmern einen objektiven und umfassenden Überblick über das internationale, das nationale und das bayeri-‐ sche Geschehen in allen Lebensbereichen zu ge-‐ ben.“ Erst in einer Ergänzung vom Oktober 2011 sind weitere inhaltliche Zuweisungen definiert worden. Im Rahmen der Digitalisierung, die in Bayern von den privaten wie von den öffentlich-‐rechtlichen Anbietern mit Nachdruck betrieben wird, sind die Hörfunkprogramme des BR ausgebaut worden. Dadurch sind wir mit der Erstellung von nunmehr 27
zehn Radioprogrammen beauftragt, deren einzel-‐ ne Schwerpunkte ebenfalls im Gesetz markiert, nicht aber ausdefiniert sind. Bei diesen Pro-‐ grammschwerpunkten unterscheiden wir zwi-‐ schen „Kultur“ im Sinne des Wortradios einerseits und „Klassik“ andererseits. Im Klartext: Unser Rundfunkgesetz weist diese beiden Schwerpunk-‐ ten zwei verschiedenen Programmen zu. Wenn wir also von einem Radio wie Bayern 2 sprechen, dann umschließt dies eben nicht den Bereich der Klassik. Oder anders ausgedrückt: Im Tagesverlauf von Bayern 2 findet überhaupt keine Klassik statt, wenn man von einer Nachstrecke für bayerische Gegenwartskomponisten absieht. Dennoch ist dieses Programm die Heimat all jener originären Genres, die den Kulturbegriff im Radio geprägt haben als da zu nennen sind: -‐ Das Hörspiel mit seiner Weiterentwicklung zur radiophonen Kunstform, bei uns Medienkunst genannt. Dieses Genres ist ebenso legendär wie unsterblich solange wir Radio hören. -‐ Die Literatur im Radio. Um die Bedeutung dieses Genres zu verstehen, muss man sich in jene Zeit nach der kulturelle Enthauptung unserer Gesell-‐ schaft durch den Nationalsozialismus versetzen. Die verbrannte Literatur musste wiederentdeckt werden. Buchdruck und Buchverkauf liefen erst langsam an. Doch durch den Einsatz des Radios als Propagandamaschine hatte Goebbels zumindest erreicht, dass in den meisten Haushalten auch nach dem Krieg noch Radios vom Typ Volksemp-‐ 28
fänger waren. Diese Geräte dienten nun der Überwindung jenes unseligen Zeitgeistes, für des-‐ sen Propaganda sie eigentlich produziert worden waren. Doch auch heute noch ist die gesprochene Literatur eine Interpretation von Text und texutel-‐ ler Konzeption. -‐ Als nächstes möchte ich das Hörbild erwähnen, also das getextete Bild als gesprochenes Wort, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Bayeri-‐ sches Rundfunk genreprägend durch solche Grö-‐ ßen wie Reinhardt Raffalt und Horst Krüger (der Schriftsteller, nicht der Musiker) vertreten. -‐ Dann „der“ oder „das“ Essay, der freie, gesell-‐ schaftliche Diskurs in seiner radiotypischen Form. Das gesprochene Wort als Reflexion, Provokation und Addition zu vermeldeten Mehrheitsmeinun-‐ gen oder vermeintliche Zeitströmungen, beim BR als eigenes Genre, ergänzt durch andere Formen, unter dem Begriff „Nachtstudio“ bis heute weiter-‐ geführt. -‐ Mit der zunehmenden Mobiliät von Aufnahme-‐ geräten -‐ eine Vorstellung, die heute nur noch über Sechzigjährige mit mir teilen können -‐ hat das Radiofeature eine neue Dimension erhalten. Neben den Studioproduktionen trat das Original-‐ ton-‐Feature. Der Autor als akustischer Interpret von Vorgängen und Sachverhalten. -‐ Dann bleibt auf jeden Fall noch das Feuilleton, das in seiner Formen-‐ und Themenvielfalt unter verschiedenen Sendungsnamen erfolgreich ge-‐ pflegt wird. 29
Ungenannt bleiben dabei Formen wie das Ge-‐ spräch, die Reportage, der Kommentar, die natür-‐ lich alle ihre Berechtigung als angemessene Gefä-‐ ße für kulturelle Inhalte haben. Mir ging es jedoch um die bisher genannten Inhalte, die ich zu den kulturellen Genres im Radio zähle und aus denen sich das Kulturradio beim Wort und im wortüber-‐ greifenden radiophon-‐akustischen Bereich über-‐ wiegend speist. Doch der Programmauftrag geht deutlich wei-‐ ter. Denn während diese Genres kulturstiftend und/oder kulturprägend sind, muss das Kulturra-‐ dio auch schlicht informieren. Und zwar über kul-‐ turelle Ereignisse. Natürlich gehören eine Bespre-‐ chung des Theaters -‐ auch des Musiktheaters -‐, eine Bücherschau, ein Kulturkalender, ja Kultur-‐ partnerschaften im gesellschaftlichen Raum bis hin zu Hörtouren und der Erstellung von Audio-‐ guides, nicht zuletzt aber der Dialog -‐ wie heute hier -‐ zu jenen Aufgaben, die dem Kulturradio obliegen. Wenn ich bis hier her die Klassik vom Altertum bis zur Moderne ausgelassen habe, so hängt dies damit zusammen, dass wir im Bayerischen Rund-‐ funk ein erweitertes Genreverständnis entwickelt haben, das den Bereich des Radios überschreitet. Denn die bisher genannten Inhalte werden bei uns nicht mit klassischer Musik verbunden. Die Hörer der geschilderten Wortangebote bevorzugen un-‐ serer Erfahrung nach eine völlig andere Musik, 30
über die auf dieser Tagung sicher noch fachkundig berichtet werden wird. Wir haben statt dessen die Dachmarke „BR Klassik“ gegründet, die folgende Bestandteile um-‐ fasst: -‐ Ein 24-‐stündiges Hörfunkprogramm mit Klassik aus allen Zeitepochen, Berichten über Klassik, dem Musikfeature sowie Klassikangebote für Ju-‐ gendliche und Kinder. -‐ Alle Klassiksendungen in unseren Fernsehpro-‐ grammen, also im Bayerischen Fernsehen und in BR-‐alpha, die ebenfalls mit demselben Signet wie die Radiowelle „BR Klassik“ gebrandet sind. -‐ Alle Klangkörper des BR, also das Symphonieor-‐ chester mit seinem zusätzlichen Kammerorches-‐ ter, das Münchner Rundfunkorchester, den Chor des Bayerischen Rundfunks. -‐ Ein eigenes CD-‐ und DVD-‐Label „BR Klassik“, das wir mit gemeinsamer Anstrengung aus der Taufe gehoben haben und das nach den ersten Aus-‐ zeichnungen mit Echo-‐Klassik und anderen Preisen sich nun bereits selbst trägt. -‐ Alle off-‐air-‐Aktivitäten vor allem im musikpäda-‐ gogischen Bereich. -‐ Alle begleitenden Publikationen und Marketing-‐ maßnahmen, die ebenfalls unter der Gemein-‐ schaftsmarke BR Klassik firmieren. Hier also liegt -‐ um in der Diktion unserer Ta-‐ gung zu bleiben -‐ ein echtes und ausschließliches Kulturradio-‐Angebot vor. 31
Kommen wir also zu den Problemen, die unse-‐ re Mischformen im sonst so genannten Kulturra-‐ dio aufwerfen. Da ist zunächst der immer weiter wachsende Bereich von Wissenschaft und Bildung. Lassen sich aber die Fragen der Fort-‐ und Weiter-‐ bildung, der Bildungspolitik, der Wissenschaftspo-‐ litik, die neuen Erkenntnisse der Genetik, der Im-‐ munologie oder der Organverpflanzung, die Rätsel der Algorithmen von Google und Facebook, der Massenmarkt von App-‐Entwicklungen, psychologi-‐ sche und soziologische Studien zu frühkindlicher Entwicklung oder aber das Ringen um die jüng-‐ sten Theorien zum Frauen-‐Mentoring im MINT-‐ Bereich noch unter einen gemeinsamen Oberbe-‐ griff subsumieren? Ist dies alles noch Kulturradio? Und ist die Pflege von Brauchtum, Dialekten, regionaler Identität und Volksmusik -‐ was alles beim Bayerischen Rundfunk eine große Rolle spielt -‐ keine Kultur? Eine solche Behauptung wäre vermessen. Gleichwohl würden sich viele Vertei-‐ diger eines Kulturradios vermutlich mit der Pflege von solchen Themen eher schwer tun. Auch hier weist Bayern 2 einen recht großen Spagat auf, obwohl diese Inhalte schwerpunktmäßig einem anderen Programm zugeordnet sind. Und wie steht es mit der kulturellen Pflege der Nachwuchsszene im Rock-‐ und Popbereich? Na-‐ türlich haben wir dafür ebenfalls andere Schwer-‐ punktprogramme. Gleichwohl nimmt der legendä-‐ re Zündfunk auf Bayern 2 genau jene avantgardis-‐ tische Rolle ein, die nötig ist, um überhaupt ein 32
Forum für neue Musikentwicklungen im Rock-‐und Popbereich zu ermöglichen. Wenn der Begriff Kultur für die Gestaltungsviel-‐ falt einer Gesellschaft über die Grundbedürfnisse an Information hinaus steht, dann müssen wir auch dem Kulturradio einen solchen breiten Stel-‐ lenwert einräumen. Wenn ich mich jedoch auf einen sehr engen -‐ aus meiner Sicht elitären -‐ Kulturbegriff der Opernhäuser und Theater, der Literatur und Schönen Künste zurückziehe, dann wäre das Kul-‐ turradio ein Spartenangebot, das nur einem selbstreferenziellen Marketingeffekt für die Kul-‐ turszene entspräche. In jedem Fall also Bedarf es einer Klärung des-‐ sen, was wir darunter verstehen. Wie ich eingangs erwähnt habe, ringe ich mit mir immer, wenn es um den Begriff des Kulturradios geht, weil in mei-‐ ner Denktradition Radio schlechthin für Kultur steht. Und zwar für eine Radiokultur, die ich nach inhaltlichen wie nach formalen Kriterien für mei-‐ nen Verantwortungsbereich als Hörfunkdirektor schon oft vorgetragen haben. An erster Stelle steht die Forderung: Wir bilden die Welt so umfassend, vorurteils-‐ frei und barrierefrei ab wie möglich. Wir wissen, dass unsere Programmstunden be-‐ fristet sind ebenso wie die Arbeitskraft der Produ-‐ zenten und die Aufnahmefähigkeit der Rezipien-‐ ten. Der Begriff „umfassend“ legt daher nur nahe, 33
dass wir nicht einseitig Fakten traktieren und an-‐ dere, ebenso relevante Fakten unterschlagen. Trotz Bemühen, vorurteilsfrei zu sein, bin ich ein leidenschaftlicher Anhänger des Kommentars, der in sich nicht ausgewogen sein soll, dem aber zur Ausgewogenheit bei Bedarf ein anderer Kommen-‐ tar folgen kann. Barrierefrei heißt, dass wir eine Sprache benut-‐ zen, die nicht verklausuliert, sondern entschlüs-‐ selt. Barrierefrei heißt, dass wir uns nicht hinter Bil-‐ dungsattitüden verstecken, sondern zur Bildung anregen. Barrierefrei heißt, dass wir nicht mit unserem kulturellen Anspruch Menschen verschrecken, sondern sie zur Kulturrezeption anregen. Wir belügen nicht unser Publikum. Wir machen zwar Fehler, aber wir legen uns Rechenschaft ab über das Verhältnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Mit anderen Worten: Wir vergewissern uns unserer Quellen, die unser Den-‐ ken und Urteilen speisen und begründen unsere Urteile. Und wir sagen auch, was wir nicht wissen oder nicht wissen können. Wir bemühen uns um angemessene radio-‐ phone Formen und audiophone Standards. Das heißt aber auch, nicht alles muss in 5.1 Technik produziert werden, aber 5.1 Produktionen müssen auch möglich sein. Selbstfahrerstudios 34
und STBRs müssen ebenso möglich sein, wie Pro-‐ duktionen mit künstlerischen Tonmeistern und Tonmeisterinnen. Wir streben nach eine Quote, die ich als quali-‐ fizierende Quote definiere. Wenn eine Gesellschaft vier bis fünf Prozent der Bevölkerung als klassikaffin ausweist, dann möchte ich, dass unser Klassikprogramm in die-‐ sem Segment die Mehrheit der Zielgruppe er-‐ reicht. In diesem Fall entsprechen für mich 2,5 Prozent Reichweite einer 50-‐prozentigen qualifi-‐ zierenden Hörerquote. Entsprechend genrebezo-‐ gen kann man alle Stunden-‐, Halbstunden-‐, ja sogar Viertelstundenreichweiten nach ihrem qua-‐ lifizierenden Quotienten bewerten. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Erhebung unserer Hörerzahlen auf ein anderes Messverfahren um-‐ gestellt wird. Denn Radio ist das einzige Medium ohne Einzelverkauf in Deutschland, dessen Nut-‐ zung bisher nicht elektronisch gestützt wird. Sogar die Nutzung der Plakatwerbung wird zielgruppen-‐ gestützt mit Scannern erhoben! Diese Grundpositionen bilden für mich jenen Anspruch auf Radiokultur, die jedem Programm zu eigen sein soll. Deshalb definiere ich diesen Kul-‐ turbegriff beim Radio als horizontale Basisleiste, auf der alle einzelnen Programmsäulen bezie-‐ hungsweise alle Programwellen stehen. Dass sich darunter -‐ zumindest im BR -‐ zwei Wellen, nämlich Bayern 2 überwiegend und BR Klassik fast aus-‐ 35
schließlich der Interpretation von Kultur und der Kulturvermittlung widmen, mag sie als Kulturra-‐ dio auszeichnen. Unsere sehr ernüchternde Erkenntnis jedoch zeigt, dass bei einschlägigen Umfragen zur Na-‐ mensgebung das Attribut „Kultur“ potentielle Hörer eher verschreckt als anlockt. In diesem Sin-‐ ne, so warne ich, kann das beharren auf dem Be-‐ griff „Kulturradio“ dem Ziel einer Barrierefreiheit für alle, die wir für das Radio gewinnen oder die wir am Radio halten wollen, entgegenstehen. Aber das muss ja nicht immer so bleiben. Vortrag anlässlich einer Tagung zum Thema „Kulturradio“ am 15. Juni 2012 in der Evangeli-‐ schen Akademie Tutzing. Nachdruck in epd medien 38/2012, S. 7-‐10.
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Tradition und Brauchtum als Medienfaktor Das Bayerische Rundfunkgesetz, hält eine Be-‐ sonderheit bereit, die in dieser Formulierung ein-‐ malig sein dürfte. Demnach sollen die Sendungen des Bayerischen Rundfunks nicht nur von demo-‐ kratischer Gesinnung, von kulturellem Verantwor-‐ tungsbewusstsein, von Menschlichkeit und Objek-‐ tivität getragen sein; darüber hinaus sollen die Sendungen auch der Eigenart Bayerns gerecht werden. Damit dürfte der öffentlich-‐rechtliche Rundfunk in Bayern das einzige Medium sein, dem ein gesetzlicher Auftrag obliegt, der in dieser Form für kein Privatradio, kein Privatfernsehen, keine Zeitung, keine Zeitschrift in Bayern gilt. Dieses Gesetzesprivileg ist zugleich auch Pro-‐ grammverpflichtung. Doch wie kann der BR mit seinen vielen Programmen in Hörfunk und Fern-‐ 37
sehen und den begleitenden Online-‐Angeboten diesem Anspruch gerecht werden? Gestatten Sie eine kurze biographische Rück-‐ blende: Denn vor Ihnen steht nicht nur ein Pro-‐ grammdirektor des BR, sondern ein Mensch mit seinen Wurzeln, über die ich gerne Auskunft ge-‐ ben möchte. Mehr durch Zufall bin ich im Norden Deutsch-‐ lands aufgewachsen. Dorthin hatte es meine El-‐ tern verschlagen: Mein Vater stammt aus Schlesi-‐ en. Er hat eine polnischen Mutter und einen deut-‐ schen Vater. Meine Mutter stammt aus dem klei-‐ nen Dorf Kordel an der Kyll im Moselgebiet, kaum 12 Kilometer von Luxemburg entfernt, woher Teile der Familie ihrer Mutter stammten. Meine Frau wiederum ist Amerikanerin und unsere Kinder, mehrheitlich in München geboren, sind die ersten elf Lebensjahre in Moskau und in Wien aufge-‐ wachsen, bevor sie nach Bayern kamen. Und den-‐ noch ist für uns trotz der Vielfalt der Abstam-‐ mung, trotz der vielfältigen kulturellen und sprachlichen Sozialisation Bayern zur Heimat ge-‐ worden. Und auch diese Identität ist mit meiner Ge-‐ schichte gewachsen. Denn als Schülersprecher meines Gymnasiums organisierte ich in der Ober-‐ stufe eine Klassenfahrt nach Würzburg. Wir lern-‐ ten zuvor alles über Kilian, Kolonat und Totnan, die irischen Frankenapostel. Wir informierten uns über den fränkischen Barock. Und wir lernten, dass in meiner Heimatstadt Hildesheim und in 38
Würzburg Ende des 12. und Anfang des 13. Jahr-‐ hunderts nacheinander derselbe Bischof Konrad I. regiert hatte. Uns allen war klar: Wir besuchen Franken. Von Bayern war dabei nicht die Rede. Als ich jedoch nach dem Abitur zum Studium nach München ging, stellten meine Freunde fest: Du gehst ja nach Bayern. Da meine Kindheit und Jugend sehr stark von langen Aufenthalten in der Schweiz geprägt waren, hatte ich vor allem die schweizerdeutsche Mundart aus Zürich und St. Gallen im Ohr. Als ich von München aus Nessel-‐ wang im Allgäu besuchte, freute ich mich, dass die vertrauten „schweizerischen“ Laute auch dort auftauchten. Die Dialektologen mögen mir man-‐ che Ungenauigkeit verzeihen, aber die klangliche Nähe des Alemannischen assoziierte ich eher mit der mir vertrauten Schweiz als mit dem Bairi-‐ schen. Später beschäftige ich mich in zahlreichen Sendungen mit mundartlichen Entwicklungen entlang der bayerisch-‐böhmischen Grenze. Dort verbindet Egerländisch (auch: Egerländirisch) his-‐ torisch westliche Teile Tschechiens mit Bereichen der Oberpfalz und Oberfrankens. Die Unterschie-‐ de zwischen all diesen Mundarten und ihren Spre-‐ chern, zwischen deren Kulturgeschichte und geo-‐ graphischer Orientierung, ihrer Besiedlung-‐ und Missionierungsgeschichte sind sehr groß. Und dennoch ist all dies Bayern. Ja mehr noch, das Kerngebiet des Bairischen mit seiner jahrhun-‐ dertealten Kultursprache weist in seiner südbairi-‐ schen Variante weit bis über Wien hinaus. Deshalb 39
war vielleicht der Wechsel von Wien nach Mün-‐ chen für unsere Kinder gewissermaßen ein Heim-‐ spiel. In diesem Bereich also setzt die Aufgabe des Bayerischen Rundfunks ein: Vielfalt zu zeigen, zu pflegen und gleichzeitig für den Zusammenhalt in dieser Vielfalt Sorge zu tragen. Das verstehe ich unter dem gesetzlichen Auftrag an den öffentlich-‐ rechtlichen Programmanbieter, wenn es heißt, er solle „der Eigenart Bayerns“ gerecht werden. Mit Bayern verhält es sich wie mit einem Mosaik: Je weiter ich entfernt bin, desto eher erkenne ich das Gesamtbild des Freistaates und seiner Gesell-‐ schaft; je näher ich dem Mosaik komme, desto mehr treten die Strukturen, Schattierungen und Oberflächen der einzelnen Mosaiksteine in den Vordergrund: Vom Nordbairischen, dem Mittel-‐ bairischen und Südbairischen Sprachraum bis zum Ostfränkischen, Ostschwäbischen und Nieder-‐ Alemannischen. Sie spüren vielleicht, dass ich als gelernter Dialektologe -‐ wenn auch im Rahmen der Balkansprachen -‐ sehr viel eigene Feldfor-‐ schung betrieben und dem Thema Sprache und Identität recht viel Aufmerksamkeit gewidmet habe. Dabei spielte in meiner Forschung vor allem die oberdeutsche Wortwanderung in den Südos-‐ ten Europas eine große Rolle. Wenn Sie so wollen, war die südbairisch-‐oberdeutsche Sprache eine der wichtigsten Faktoren bei der Vermittlung von Kulturtransfer in diese Region. 40
Doch zurück zur Erschließung unseres Gesamt-‐ bildes: Aus dem Schulunterricht wissen wir, dass ich einem Kunstwerk erst dann gerecht werde, wenn ich es in seiner Gesamtheit aus der Entfer-‐ nung genau so intensiv betrachte, wie aus der unmittelbaren Nähe, die mir neben dem künstleri-‐ schen Gesamteindruck auch den materiell-‐ künstlerischen Aufbau vermittelt. In diesem Sinne sollen wir auch mit Bayern umgehen, um das Land, seine Menschen, seine Geschichte zu ver-‐ stehen und dadurch seine Bedeutung zu würdi-‐ gen. Das Eindringen bis auf die Ebene des kulturel-‐ len Mikrokosmos bedeutet nichts anderes, als Verständnis und Verstehen zu entwickeln für die Traditionen und Gebräuche jedes Einzelnen. Spra-‐ che und Sprachmelodik sind dabei der erste Aus-‐ druck von kultureller Identität. Hören kommt vor dem Sehen. Eine Tatsache, die sich mit der Schwangerschaft beweist, in der die Kinder noch vor der Geburt sehr wohl Stimme, Sprache, Ge-‐ sang und Geräusch wahrnehmen, noch bevor sie das Licht der Welt erblicken. Deshalb ist es gewissermaßen von Kinderbei-‐ nen an prägend, wie die Laute meiner Umgebung sind, also auch, welche Laute aus dem Radio, aus dem Fernsehen kommen. Die visuelle Prägung kommt dann selbstverständlich und später sogar dominierend hinzu. Dieses Erleben und Erziehen wird als Volkskultur geprägt, ausgeformt und tra-‐ diert. Und -‐ seien wir ganz ehrlich -‐ viele tradierte volkskulturelle Formen vom Volkslied, von der 41
Volkserzählung bis zum Volkstanz müssen heute bewusst gepflegt werden, da wir einer sprachli-‐ chen und soziokulturellen Globalisierung ausge-‐ setzt sind. Beides aufzuzeigen, die globale Welt mit ihren Herausforderungen und ihren Reizen, wie die heimatliche Nähe mit ihrer Geborgenheit und Identitäts-‐Stiftung -‐ darum bemüht sich der Bayerische Rundfunk. Ich kann Sie mit Zahlen überschütten, die ein-‐ drucksvoll sind, aber nur eines belegen sollen: Regionalität ist eine der Hauptsäulen in allen Pro-‐ grammen, Hörfunk wie Fernsehen. Zwanzig Büros mit Landeskorrespondenten und drei Regional-‐ studios zeugen davon. Neben zahlreichen Pro-‐ grammaufteilungen für Nord-‐ und Südbayern bie-‐ tet allein im Hörfunk das Programm Bayern 1 täglich 72 regionale Programmfenster an. Hier gilt es, in eben diesen Fenster regionale Identität zu schaffen. Ich habe eine Liste mit Programmangeboten dabei, die in fast fünfzig Sendeplätzen auch auf die Volkskultur in Bayern eingehen. -‐ Dazu gehören natürlich die zahlreichen Volksmu-‐ siksendungen in Hörfunk und Fernsehen -‐ allein 49 Stunden davon wöchentlich im Hörfunk, in der Regel von Mundartsprechern begleitet ebenso wie das Rucksackradio (B 1). -‐ Dazu gehören der „Heimatspiegel“, die „Bayern-‐ chronik“, die „Zeit für Bayern“ und die neu einge-‐ führte „regionalZeit“ (Bayern 2). 42
-‐ Dazu gehören die „Heimatbilder“ auf BR alpha ebenso wie „Menschen in Bayern“, „Unter unse-‐ rem Himmel“, das „Chiemgauer Volkstheater“, der „Komödien-‐Stadl“ oder „Bayern, Burgen, Blasmu-‐ sik“ -‐ dies alles im Bayerischen Fernsehen. Wir haben die Berichterstattung aus der Regi-‐ on gerade in den letzten Jahren erheblich ausge-‐ weitet, weil wir überzeugt sind, dass von einem Bayerischen Rundfunk, der diesen Namen ver-‐ dient, erwartet werden darf, dass er auch umfas-‐ send über Bayern in seinen vielfältigen Formen berichtet. Eng mit dem Stichwort Erwartung ist das Stichwort Akzeptanz verknüpft. Nur wenn wir die Erwartungen unseres Publikums erfüllen, sichern wir eine breite gesellschaftliche Akzeptanz. Und da wir über die Rundfunkgebühren von der Ge-‐ sellschaft finanziert werden, ist diese Akzeptanz für uns lebenswichtig. Nun heißt Akzeptanz für uns nicht gleich Quo-‐ te. Das ist bei den Privatsendern so. Ihnen geht es darum, möglichst hohe Einschaltquoten zu erzie-‐ len, um möglichst hohe Werbeeinnahmen zu be-‐ kommen. Uns muss es dagegen darum gehen, Programme anzubieten, die der Gesellschaft einen Mehrwert bringen. Und das heißt, Mehrheiten-‐ und Minderheitenprogramme anzubieten, also alle gesellschaftlich relevanten Themen anzuspre-‐ chen. Und dazu gehört -‐ neben dem Blick über den bayerischen Tellerrand -‐ auch die Berichter-‐ stattung aus und über Bayern. 43
Das bedeutet, dass wir auch Programme anbie-‐ ten, die nicht dem Geschmack der Masse entspre-‐ chen. Gleichwohl müssen wir uns schon danach richten, was die Menschen -‐ in der jeweiligen Ziel-‐ gruppe -‐ wollen. Wenn Menschen von einem un-‐ serer Angebote abwandern, wenn sie also nicht mehr einschalten, dann müssen wir darauf reagie-‐ ren. Dies ist auch Grundlage mancher Programm-‐ Entscheidungen, die sich nicht auf den ersten Blick für alle einleuchtend vermitteln lassen. Doch kommen wir zurück zur Volkskultur. Die Bedeutung der Volkskultur für den Bayerischen Rundfunk als Ausdruck von Heimat ist keine Ein-‐ bahnstraße. Sie ist nicht nur wichtig für den Baye-‐ rischen Rundfunk, der Bayerische Rundfunk ist auch wichtig für sie. Viele vom Vergessen bedroh-‐ te Traditionen wurden in der Vergangenheit von unseren Hörfunk-‐ und Fernsehleuten für die Nachwelt bewahrt. Wie viele Bilder von Dörfern, Städten, Landschaften, Arbeitsweisen und Lebens-‐ formen hat unser Fernseharchiv, die es heute so nicht mehr gibt! Wie viele Melodien, Texte und Mundartformen sind seit Anbeginn in den Hör-‐ funkarchiven des Bayerischen Rundfunks gesam-‐ melt worden. Unsere Autoren sind auch Doku-‐ mentare des Wandels, unsere Archive sind Be-‐ wahrungsstätten von vergangenem Brauchtum, von verlorenen Landschaften und von verschwin-‐ denden Berufen. 44
Wir verstehen uns aber nicht nur als Dokumen-‐ tare von verlorenen Traditionen, sondern wollen in unseren Sendungen auch und vor allem zeigen, wie lebendig Traditionen in Bayern sein können. Wir machen dies erstens über gezielte Forma-‐ te, zweitens versuchen wir aber auch in anderen Sendungen, das Thema scheinbar ganz nebenbei zu transportieren. Es gibt den sogenannten Mitnahme-‐Effekt, den wir nicht abschätzig beiseite schieben dürfen. Denken Sie an „Gernstl unterwegs“ oder „Dahoam is Dahoam“. Der unterhaltende Charakter dieser Fernsehsendungen ist verbunden mit der Vermitt-‐ lung von Brauchtum, das auf diese Weise in ein anderes Umfeld transportiert wird. In der Begleit-‐ ausstellung unserer Veranstaltung wird festge-‐ stellt, dass in München heute die Mundart immer mehr verschwindet. Hier kann der Einsatz der Mundart oder wenigstens des oberdeutschen Sprachklanges helfen, Identität zu wahren und zu fördern. Erlauben Sie mir aber auch einen Hinweis auf die Lage in den bayerischen Schulen. Hier wird mit dem Argument der Chancengleichheit auf die ak-‐ tive Verwendung der Mundart verzichtet. Viel-‐ leicht könnte man als Ersatz im Deutschunterricht -‐ soweit es sogar schon geschieht -‐ dem Mundart-‐ unterricht eigenen Raum schaffen. Der BR jeden-‐ falls schließt die Mundart nicht aus, sondern ver-‐ sucht vielmehr ein sehr differenziertes Bild von Bayern zu zeigen. Natürlich zeigen wir das ver-‐ 45
meintlich typisch Bayerische: die Alpen ebenso wie die Fränkische Schweiz, Trachten aus allen Landesteilen und die damit verbundenen Traditi-‐ onen. Unser Ziel ist zu zeigen: Bayern ist vielfältig! Bayerisches Brauchtum hat viele Heimaten! Wir wollen allen Menschen aus Bayern zeigen, wo sie daheim sind, den Menschen aus Franken und Schwaben genauso wie denen aus Altbayern. Und wir wollen auch den vielen Menschen im Frei-‐ staat, die zugewandert sind, Lust darauf machen, Bayern kennen zu lernen. Dazu gehört einerseits der Blick auf die Ge-‐ schichte, dazu gehört aber auch der Blick auf heu-‐ tiges Brauchtum. Denn wer genauer hinschaut erkennt: Viele Bräuche in Bayern sind lebendig und keineswegs zu Ritualen verkommen oder zu Hobbys zerronnen. Brauchtum ist nichts Stati-‐ sches. Es verändert sich. Auch neue Formen wol-‐ len wir zeigen und fördern. Denn wir sehen unsere Rolle einerseits als „Bewahrer“, wollen uns aber andererseits Neuem auch nicht verschließen. Ich weiß, dass die Entwicklung im Pro-‐ grammangebot der Volksmusik hin zum Tradimix nicht nur Begeisterung ausgelöst hat. Aber es do-‐ kumentiert auch die lebendige Weiterentwicklung der Volksmusik, die immer neue Formen an-‐ nimmt, aber dennoch Volksmusik bleibt. Abschließend gestatten Sie bitte noch einen Gedanken, der mir persönlich am Herzen liegt:
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Unsere Aufgabe ist es, Heimat abzubilden, nicht sie zu verklären und nur von ihrer Schokola-‐ denseite zu zeigen. Heimat ist Realität und muss von uns auch so behandelt werden. Deshalb gehört auch manche historisch ungeschminkte Wahrheit über die so genannte gute alte Zeit auf den Tisch. Auch hier können wir der Begleitausstellungen zu unserer heutigen Veranstaltung wichtige Anregungen ent-‐ nehmen. Daher: keine nostalgische Verklärung, sondern wirklichkeitsnahe Aufklärung -‐ das sind die Fundamente für die Pflege von Heimat, Brauchtum und Volkskultur. Um zu zeigen, was in meiner Verantwortung zumindest in der Hörfunk-‐ direktion auch unter dem Stichwort „Zweitverwer-‐ tung“ entsteht, um die Nachhaltigkeit unserer Arbeit zu dokumentieren, habe ich für den Veran-‐ stalter einige ausgewählte Exemplare mitge-‐ bracht: -‐ ein Radiobuch zum Thema „Bayerisches Feuille-‐ ton“, -‐ eine CD-‐Edition des Schriftstellers Joseph Berlin-‐ ger, in der er u.a. unter dem Titel „Rettet den Schafkopf“ eine Liebeserklärung an ein bayeri-‐ sches Kulturgut formuliert, -‐ eine dreiteilige CD-‐Reihe „Bayern Minis“ mit „Gschichtn aus der bayerischen Gschicht“, -‐ die schönsten Berg-‐Kolumnen von Stefan Früh-‐ beis, einem Juwel unseres Programms, -‐ die jüngste Volksmusik-‐CD aus dem Rosenheimer Land, 47
-‐ eine preisgekrönte Sendung über Bayerns bauli-‐ ches Erbe, das wir vor dem Zerfall retten müssen, -‐ und nicht zuletzt unseren bayerischen Papst, dessen Schätze wir in unserem Hörfunkarchiv gehoben haben. Der allerletzte Satz ist nun mein Dank an Sie, die Sie Ihre Heimat lieben und pflegen. Durch Ihr Bekenntnis zur Heimat haben Sie vielen anderen Menschen, vor allem den Millionen, die nach dem Krieg ihre Heimat verloren haben, eine neue Heimstatt geboten. Das große Verdienst bayeri-‐ scher Identität besteht in der ungeheuren Integra-‐ tionskraft dieses Landes, das auch dem Fremden offen gegenüber tritt und ihn an den Vorzügen der bayerischen Heimat teilhaben lässt. Dies soll auch uns Verpflichtung im Bayerischen Rundfunk sein. So kann ich mich abschließend nur in Hochach-‐ tung vor dieser Libertas Bavariae verneigen. Vortrag anlässlich der Veranstaltungsreihe „Tradition und Brauchtum“ des Chiemgau-‐Alpen-‐ verbandes für Tracht und Sitte e.V. am 7. Mai 2010 in Grassau.
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Deutschsprachige Musik im Radio Sichert eine Quote für deutschsprachige Musik im Radio die „musikalische Artenvielfalt” oder ist sie vielmehr ein Eingriff in die Programmfreiheit, um die Umsätze der deutschen Phonoindustrie zu steigern? Wie sieht die „Förderung“ deutscher Nachwuchskünstler ohne gesetzliche Vorgaben aus? Seit Frankreich 1996 eine Quote für fran-‐ zösischsprachige Musik im Radio eingeführt hat, flammt die Diskussion auch in Deutschland immer wieder auf, ob nicht gerade die öffentlich-‐ rechtlichen Programmveranstalter verpflichtet werden sollten, ein bestimmtes Kontingent deut-‐ scher Lieder zu spielen. Johannes Grotzky, Hörfunkdirektor des BR und Vorsitzender der ARD-‐ Hörfunkkommission, setzt sich kritisch mit den Forderungen aus der Musikindustrie und von eini-‐ gen deutschen Musikschaffenden auseinander.
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Deutschtümelei, nationale Rückbesinnung gar oder nur eine skurrile Idee -‐ die Reaktionen waren jedenfalls eindeutig kritisch, als der Liedermacher Heinz Rudolf Kunze im Juni 1996 im „SPIEGEL” eine Quote für deutsche Rockmusik in Radio und Fernsehen forderte. Kunze hatte zur Begründung unter anderem angeführt, dass „gerade in Deutschland und Japan, den Verlierernationen des Zweiten Weltkrieges, die Flut von ausländischer Musik und eben auch ausländischem Schund be-‐ sonders widerstandslos geschluckt wird”. Ein Ver-‐ treter des Deutschen Rockmusikerverbandes, Ole Seelenmeyer, setzte noch eins drauf und sprach von einem „Genozid an der deutschen Rockmu-‐ sik”. Entschuldigend hieß es später, dies sei nur „verbaler Punk” gewesen. Aber der Schaden war angerichtet: Die Debatte um eine deutsche Mu-‐ sikquote war schon längst zu einer Debatte um deutschtümelnde Parolen geworden. Damit aber wollten weder Popstars noch Politik oder Industrie etwas zu tun haben. Die Debatte um die Mu-‐ sikquote in Deutschland schlief zunächst wieder ein. Kunze und Seelenmeyer hatten zu unglück-‐ lichen Vergleichen gegriffen -‐ doch ihnen ging es nicht einfach nur um reine Provokation: Ihre For-‐ derung nach einer Musikquote schien keineswegs völlig aus der Luft gegriffen. Die deutschen Künstler hatten ein Vorbild: das Nachbarland Frankreich. Dort war wenige Monate zuvor, An-‐ fang 1996, das Gesetz zur Einführung einer Radio-‐ quote in Kraft getreten: Mindestens 40 Prozent 50
der gesendeten Musik müssen seitdem fran-‐ zösischsprachig sein. Und von diesen 40 Prozent muss die Hälfte Neuerscheinungen oder dem Nachwuchs vorbehalten sein. Den Radiostationen droht eine breite Palette von Strafen, wenn zu wenig Französisch aus dem Radio klingt: Bußgelder, erzwungene Sendepausen oder gar der Entzug der Sendelizenz. Verhängt werden können diese Sanktionen von der Auf-‐ sichtsbehörde für Hörfunk und Fernsehen. Einige Monate nach Einführung der Radioquote in Frank-‐ reich zeichnete sich ab: Das System funktioniert -‐ und Platten mit französischsprachiger Musik wur-‐ den tatsächlich zunächst häufiger gekauft, bis es auch in Frankreich zu einem Einbruch auf dem CD-‐ Markt kam. Was in Deutschland gerne übersehen wird: Diese französische Regelung war an ein Gesetz zur Förderung der französischen Sprache gekoppelt und wurde nicht als Förderung der heimischen Phonoindustrie verstanden, denn eine solche wirtschaftliche Standortförderung widerspräche den EU-‐Wettbewerbsrichtlinien. Überdies wurde das Gesetz im Jahr 2000 modifiziert und die Quote wurde nach drei Radioformaten gestaffelt: Während die Formate für ältere Zielgruppen einen französischsprachigen Musikanteil von 60 Prozent aufweisen müssen, haben die Jugendformate nur noch einen Anteil von 35 Prozent zu erfüllen. Dies entspricht tendenziell auch den deutschen Musi-‐ kanteilen bei den öffentlich-‐rechtlichen Hörfunk-‐ 51
programmen in Deutschland. So sind 45 Prozent der gespielten Lieder im Programm Bayern 1 deutschsprachig 3 , in Bayern 3 kommt über ein Drittel aus deutscher Produktion. Bei WDR 4 stammen sogar mehr als 90 Prozent der Titel aus Deutschland. Die Phonoindustrie in Deutschland, die zuneh-‐ mend mit Absatzproblemen zu kämpfen hatte, sah in der französischen Regelung ein mögliches Vor-‐ bild, ohne dabei die besonderen Umstände des Begleitgesetzes zur Förderung der französischen Sprache zu thematisieren. Warum, so die Argu-‐ mentation, sollte nicht auch hier funktionieren, was der französischen Industrie geholfen hat? Man lobte die Genesung, die die Plattenindustrie in Frankreich durch die Einführung der Radioquote erlebe. Auch die deutsche Musikindustrie forderte nun eine Quote für deutsche Songs im Radio. Die Politik entdeckte ebenfalls dieses Thema: In Bayern brachte man eine Gesetzesinitiative zur Quotierung deutscher Musik im Hörfunk auf den Weg. Flankiert wurden solche Forderungen vom Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, der im Sommer 2003 eine Quote für einheimische Musik forderte mit dem Argument, es gehe dabei „um die Verteidigung der kulturellen Vielfalt Europas und nicht um nationales Pathos”. Zeitgleich er-‐ 3
Mit der Einführung des überwiegend deutschsprachigen Schlager-‐ und Volksmusikprogramms Bayern plus hat sich Bayern 1 internationaler positioniert. 52
klärten die Ministerpräsidenten von zehn Bun-‐ desländern in einer nicht bindenden Protokollno-‐ tiz zum siebten Rundfunkänderungsstaatsvertrag: „Die Länder erwarten von den Hörfunk-‐ veranstaltern, insbesondere von den in der ARD zusammengeschlossenen Rundfunkanstalten und dem DeutschlandRadio, eine stärkere Berück-‐ sichtigung von deutschsprachiger Musik und des-‐ halb eine Förderung auch neuerer deutschspra-‐ chiger Musik durch ausreichende Sendeplätze in den Programmen.” In der Folgezeit organisierten deutsche „Musi-‐ ker in eigener Sache” einen Aufruf, die „skanda-‐ löse Unterrepräsentation der Musik deutschspra-‐ chiger Künstler in deutschen Rundfunk-‐ und Fern-‐ sehprogrammen zu beheben”. Über 500 Musiker und Künstler unterzeichneten diesen Aufruf. Doch Frankreich, auf das sich die Kritiker wiederholt beriefen, eignet sich nicht als Vorbild: Heimische Musik hat dort eine grundlegend andere Tradition als in Deutschland. Stichwort: Chanson. Zudem reagieren die Franzosen sehr viel sensibler als die Deutschen auf äußere Einflüsse auf ihre Sprache: Anglizismen sind verpönt, und deshalb werden selbst die Namen von Bands und Interpreten nicht so ausgesprochen, wie sie im Original klingen: Die irische Band U2 (die auch in Deutschland englisch ausgesprochen wird) wird in Frankreich zu „Ü Deux”. Und die -‐ ebenfalls englischsprachige -‐ Reggaeband UB 40 ist bei unseren Nachbarn „Ü Be Quarante”.Viel wichtiger jedoch ist die Frage, wo 53
die französischsprachige Musik komponiert und produziert wird: Sie kommt nur zu einem Teil aus Frankreich selbst. Ein großer Teil ist Weltmusik, die in den ehemaligen französisch-‐sprachigen Kolonien, so etwa in der Karibik oder Nordafrika, eingespielt worden ist. Ein anderer Teil fran-‐ zösischsprachiger Musik stammt aus Kanada, etwa von Sängern, die auch englischsprachige Hits plat-‐ zieren, wie Céline Dion. Im Übrigen haben die französischen Radiosender längst Wege gefunden, um die Quote zu umgehen, oder besser gesagt: mit der Quote geschickt umzugehen. So lässt man englischsprachige Stars einfach einige Zeilen Fran-‐ zösisch singen -‐ und schon hat man einen weite-‐ ren Song im Programm, der die Quote erfüllt. Die ARD hat eine gesetzliche Radioquote stets abgelehnt -‐ nicht nur, weil der Vergleich mit Frankreich hinkt. Eine Quote wäre ein Eingriff in die Programmautonomie der Sender. Hinzu kommt, dass die Kritiker den Sendern gar nicht klar machen konnten, wie eine Radioquote über-‐ haupt genau aussehen soll, denn die Forderungen von Politik und Industrie sind nicht deckungs-‐ gleich: Die Politik wollte mehrheitlich eine Quote für deutschsprachige Musik, es ging ihr darum, die deutsche Sprache zu pflegen. Wer an Popmusik denkt, sollte nicht automatisch an Englisch den-‐ ken. Der Phonoindustrie aber ist es eher unwich-‐ tig, in welcher Sprache gesungen wird: Wichtig ist für sie, dass die Platten in Deutschland produziert worden sind. 54
Dieses Interesse ist durchaus nachvollziehbar: Denn die meisten Mutterkonzerne der deutschen Labels kommen vor allem aus den USA. Diese Fir-‐ men interessiert nicht die deutsche Sprache, son-‐ dern der deutsche Markt. Personalintensive Filia-‐ len in der Bundesrepublik rentieren sich für die US-‐Firmen nur, wenn diese Tochterunternehmen Gewinne mit nationalen Produkten -‐ sprich: in Deutschland produzierten Platten -‐ machen. In dieser Hinsicht interessante Bands sind etwa „Reamonn”, eine Gruppe mit einem irischen Sänger, die aber in Freiburg gegründet wurde. Oder eine Band wie „Slut” aus Ingolstadt, die eng-‐ lisch singt. Andere Beispiele sind Sarah Connor oder DJ Bobo, die ebenfalls nicht ihre Mutterspra-‐ che Deutsch bzw. Schweizerdeutsch benutzen, sondern sehr erfolgreich und ausschließlich auf Englisch singen. Derartige Gruppen sind für die deutschen Filialen der Plattenverbände wichtig, um unabhängiger vom mächtigen Mutterkonzern in den USA agieren zu können. Den öffentlich-‐ rechtlichen Hörfunksendern aber kann es nicht darum gehen, im Sinne der Phonoindustrie Stand-‐ ortförderung zu betreiben. Der ARD ging und geht es vielmehr darum, talentierte Nachwuchskünstler und gute Musik zu fördern, unabhängig davon, ob diese Musiker bereits bei einem CD-‐Label einen Vertrag unterzeichnet haben oder nicht. Musik, die in deutscher Sprache geschrieben und gesungen wird, ist nicht automatisch gut. Manche Liedtexte sind politisch angreifbar oder 55
gehen weit unter die Gürtellinie. Ein öffentlich-‐ rechtlicher Sender darf solche Songs keinesfalls spielen. Deutsche Hip-‐Hop-‐Texte sind inzwischen sogar auf dem Index für jugendgefährdende Me-‐ dien gelandet. Die SPD-‐Politikerin Monika Grie-‐ fahn hat als Vorsitzende des Medienausschusses im Deutschen Bundestag die Radio-‐Sender gar aufgefordert, deutschsprachige Rap-‐Songs aus dem Programm zu nehmen. Denn Lieder von deutschen Rappern wie Fler, Sido oder King Or-‐ gasmus One haben einen immer stärker pornogra-‐ fischen, Gewalt verherrlichenden und rassisti-‐ schen Inhalt. Die Bundesprüfstelle für jugendge-‐ fährdende Medien hat den Verkauf einiger Platten an Minderjährige verboten und warnt, in deut-‐ schen Rap-‐Texten werde vermehrt dazu aufgefor-‐ dert, Frauen zu diskriminieren, zu vergewaltigen oder Gewalt in anderer Form anzuwenden. Das Hauptaugenmerk der öffentlich-‐rechtlichen Sen-‐ der muss zudem immer auf dem Publikum liegen: Die Hörerinnen und Hörer haben eher eine gerin-‐ ge Affinität zu deutschsprachigen Pop-‐ und Rockti-‐ teln. Laut Medienforschung stoßen deutsche Songs anfangs immer auf ein höheres Maß an Ablehnung als englische oder italienische. Es ist in der Tat nicht einfach, einen deutschen Popsong zu schreiben, der nicht kitschig oder zu sehr nach Schlager klingt. Trotzdem schaffen dies immer wieder Künstler und Gruppen -‐ und diese werden von den öffentlich-‐rechtlichen Hörfunkprogram-‐ men gezielt gesucht und gefördert. 56
Beim BR gibt es schon seit über 30 Jahren den „Zündfunk”, ein Szenemagazin, bei dem Nach-‐ wuchsförderung ganz oben in der Programmge-‐ staltung steht. Die Wochenzeitung „Die Zeit” be-‐ scheinigte dem „Zündfunk”: Er zähle heute „zum Besten, was der Musikjournalismus in Deutsch-‐ land zu bieten hat”. So kurvt etwa der „Zündfunk”-‐Bus durch das bayerische Land, um regionale Bands zu Wort und Sound kommen zu lassen. Der BR hat ein Festival gegründet, die „Bavarian Open”, das im Jahr 2004 über 50 Bands und Künstlern, überwiegend aus dem deutschen Nachwuchsbereich, ein Forum gab. Die erste Aus-‐ gabe der „Bavarian Open” im Jahr 2003 war so erfolgreich, dass sie gleich mit dem „Bayerischen Rockpreis” ausgezeichnet worden ist. Das Festival wird fortgesetzt und erweitert: 2005 gibt es zusätzlich die „Bavarian Open Air”, eine Sommer-‐ ausgabe des Festivals in Ostbayern. Die Pop-‐ und Servicewelle Bayern 3 engagiert sich in ähnlicher Weise, etwa mit dem Sommer-‐ Festival „Shooting Star -‐ Stars und Newcomer”. Bayern 1 hat als Heimatsender ohnehin traditio-‐ nell einen sehr hohen Anteil deutschsprachiger Musik. Dies zeigt sich auch schon in Sendungen wie der „Deutschen Schlagerparade”. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in den anderen ARD-‐ Anstalten: WDR 4 hat beispielsweise den Claim „Deutsche Hits und Schlager”. Der Name ist Pro-‐ gramm: Mehr als 90 Prozent der Titel kommen aus Deutschland. Eins Live, das junge Programm 57
des WDR, widmet sich besonders der Förderung junger Künstlerinnen und Künstler aus Deutsch-‐ land. In der sonntäglichen Sendung „Heimatkult” wird ausschließlich deutsche Musik gespielt. Pro Sendung stellt die Redaktion zwei Bands aus Nord-‐ rhein-‐Westfalen vor, die noch keinen Plattenver-‐ trag haben. Unter dem Titel „das erste mal” rich-‐ tet auch Eins Live ein Newcomer-‐Festival aus. Die Welle vergibt zudem mit der „Eins Live Krone” einen Radio-‐Award für nationale Musiker und Komiker, darunter eine Auszeichnung für den „Besten Newcomer”. Die MDR Jugendwelle SPUTNIK lädt einmal im Jahr unter dem Motto „Ihr seid die Stars von morgen” Nachwuchsbands zum SPUTNIK SOUNDCHECK”-‐Contest ein. Der Sieger-‐ band winkt nach den Vorentscheidungen ein Auf-‐ tritt bei einem der größten Open-‐Air-‐Konzerte in Europa, dem Sziget Festival in Budapest. Junge Bands aus Berlin und Brandenburg stellt Fritz, das Jugendradio des RBB, in der Sendung „Die Pop-‐ agenten” einer breiteren Öffentlichkeit vor. Im Norden der Republik, beim NDR, fördert die junge Welle N-‐JOY deutsche Newcomer, neben regel-‐ mäßigen Sendungen und exklusiven Hörerkon-‐ zerten stand ein ganzes Wochenende im Zeichen deutscher Musik. Unter dem Motto „Die neue Neue Deutsche Welle” spielte N-‐JOY zwei Tage lang nur das, was in Deutschland getextet, ge-‐ schrieben und produziert worden ist. Ab Herbst 2005 kommt eine feste Sondersendung hinzu, in der einmal wöchentlich Künstlern ohne Platten-‐ 58
vertrag ein Forum gegeben wird. Die Welle NDR 2 hat ebenfalls eine eigene Spezial-‐Sendung für deutsche bzw. norddeutsche Bands und Musiker. Beim SWR sendet die Popwelle SWR3 werktäglich abends eine zweistündige Show, „SWR Intensiv”, in der Newcomer einen besonde-‐ ren Stellenwert haben. Dies gilt auch für das SWR3 New Pop Festival, mit dem der SWR interessanten Bands oder Solisten zum Durchbruch verhelfen will. Musik aus Deutschland steht beim Jugendan-‐ gebot DASDING ebenfalls hoch im Kurs: Die wöchentliche Sendung „Netzparade” stellt Musik und Interpreten vor, die noch keinen Platten-‐ Vertrag haben. Und in der „Heimatmelodie” geht es ausschließlich um Musik aus Deutschland. Die-‐ se Sendung ist im Jahr 2005 mit dem „Kulturpreis Deutsche Sprache” ausgezeichnet worden. „DAS-‐ DING macht seit zwei Jahren vor, dass es auch ohne gesetzliche Quotenregelung möglich ist, mit deutschsprachiger Musik ein Radioprogramm für junge Leute zu machen”, so die Begründung der Jury. Deutschsprachige Schlager und volks-‐ tümliche Musik prägen das Programm von hr4, für die jüngeren Hörerinnen und Hörer bietet die Jugendwelle YOU FM deutsche Newcomer-‐Bands. Der Sender kann sich zudem rühmen, zu den Ent-‐ deckern der inzwischen populären Band „Juli” zu gehören. Auch der HR hat schon Aktionstage ver-‐ anstaltet, an denen im Programm ausschließlich Rock und Pop aus Deutschland zu hören war. Die Musikredakteure der ARD-‐Hörfunkprogramme 59
stöbern gezielt im Untergrund der Musikszene, entdecken, hegen und pflegen die guten Funde. Leitlinie ist für sie stets der Programmauftrag der öffentlich-‐rechtlichen Sender. „Es ist eines unserer Ziele”, so formulierte der damalige Vorsitzende der ARD-‐Hörfunkkommis-‐ sion, NDR-‐Programmdirektor Gernot Romann, „den Erwartungen unserer Hörerinnen und Hörer gerecht zu werden, nicht jedoch denen eines Wirtschaftszweiges.” Die öffentlich-‐rechtlichen Programme hätten Nachwuchskünstler von An-‐ fang an vorgestellt, so Romann weiter, im Gegen-‐ satz dazu habe sich der private Rundfunk erst auf den fahrenden Zug gesetzt. In einer gemeinsamen Anhörung des Bundestags-‐Ausschusses für Kultur und Medien sowie der Enquete-‐Kommission „Kul-‐ tur in Deutschland” am 29.9.2004 betonte Ro-‐ mann, es könne nicht angehen, dass die Musik-‐ wirtschaft oder die Parteien bestimmten, was die Hörer hören müssten. Den öffentlich-‐rechtlichen Hörfunkprogrammen geht es also darum, gute Musik aus Deutschland zu fördern -‐ egal ob sie auf Deutsch, Englisch, Türkisch oder Russisch gesun-‐ gen wird. Denn auch die Musikszene der Migran-‐ ten wird in den ARD-‐Programmen abgebildet. So laufen im Programm von „Zündfunk” in Bayern 2 regelmäßig Bands wie die afrodeutsche HipHop-‐ Crew „Brothers Keepers” oder die türkisch-‐ deutsche Rap-‐Gruppe „Cartel”. Prominente Befürworter einer Quote wie die Bundestagsvizepräsidentin und kulturpolitische 60
Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Antje Vollmer, sahen im Herbst 2004 nur zwei Möglichkeiten: „Entweder macht man eine Bun-‐ desinitiative, oder einige Länder preschen vor und ändern ihre Rundfunkgesetze. Ich glaube, dass es bald einen regelrechten Wettbewerb unter den Ländern diesbezüglich geben wird. Überlegungen gibt es ja, in Ostdeutschland wie in Bayern oder dem Saarland. Letztlich ist es egal, wer damit an-‐ fängt -‐ es wird daraus ein Druck auf die anderen Länder und die jeweiligen öffentlich-‐rechtlichen Anstalten erwachsen”4 Im Gegensatz dazu hatte der Kulturausschuss des Bayerischen Landtages bereits am 4.6.2003 einen Antrag der Staatsregierung in München abgelehnt, eine Radioquote für den BR einzu-‐ führen. In Bayern setzt man inzwischen, wie auch in anderen Bundesländern, auf eine Verstän-‐ digung von Radio und Plattenindustrie: An einem Runden Tisch zu deutschen und deutschsprachi-‐ gen Produktionen sitzen inzwischen regelmäßig Vertreter der öffentlich-‐rechtlichen und privaten Hörfunksender, der Plattenindustrie, Musiker und Politiker zusammen. Im Bundestag ist der Vorstoß für eine gesetz-‐ lich verankerte Quote ebenfalls ins Leere gelau-‐ fen: Am 17.12.2004 war eine Debatte über die Musikquote angesetzt, eine gesetzliche Quote 4
Süddeutsche Zeitung, 10. September 2004
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allerdings beschloss das Parlament nicht. Die Mehrheit der Abgeordneten forderte die öffent-‐ lich-‐rechtlichen und privaten Sender vielmehr auf, selbst tätig zu werden: So solle laut diesem Be-‐ schluss in den Musikprogrammen ein Anteil von annähernd 35 Prozent deutschsprachiger oder in Deutschland produzierter Pop-‐ und Rockmusik gesendet werden, wobei zur Hälfte Neuerschei-‐ nungen von Nachwuchsmusikern zu berücksich-‐ tigen seien. Zu Recht wies jedoch die Vorsitzende des Kul-‐ turausschusses des Deutschen Bundestages, Mo-‐ nika Griefahn, darauf hin, dass der Bund keine Quoten machen könne, sondern dass eine staatli-‐ che Regelung in den 16 Länderparlamenten ent-‐ schieden werden müsse. Damit wird das Problem dorthin verwiesen, wo es hingehört: In die Kultur-‐ hoheit der Bundesländer. Hier jedoch hat sich gezeigt, dass gesetzliche Eingriffe in die Pro-‐ grammautonomie der Sender unnötig sind. Quali-‐ tät wird im Bereich der neuen deutschen Rock-‐ und Popmusik weiter gefördert, muss aber letzt-‐ lich vom Hörer angenommen werden. Beitrag für das ARD-‐Jahrbuch 2005, S. 83-‐88, Mitarbeit: Eva Kötting, Birgit van Eimeren.
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Der Hörfunk auf dem Weg ins digitale Zeitalter „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsappa-‐ rat in einen Kommunikationsapparat zu verwan-‐ deln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, [ . . .] wenn er es verstünde, nicht nur auszusen-‐ den, sondern auch zu empfangen, also den Zu-‐ hörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen [ . . .] “. Diese Radio-‐Utopie entwarf Bertolt Brecht im Jahre 1932. Mit den neuen digitalen Möglichkeiten des Mediums scheint sie Wirklichkeit zu werden. Angesichts von MP3-‐Playern, Podcasting, NetRa-‐ dio und interaktiven Diensten kommen auf Pro-‐ gramm-‐Macher völlig neue Herausforderungen zu. Die aktuellen, nicht nur technischen Entwicklungen des Radios und das veränderte Nutzungsverhalten 63
seiner Hörer beschreibt Johannes Grotzky, Hörfunkdirektor des BR und Vorsitzender der ARD-‐ Hörfunk-‐Kommission. „Hörfunk -‐ quo vadis?” -‐ hinter diesem Motto des „Radio Day 2006„ verbirgt sich die Frage, wel-‐ che Chancen und Risiken das älteste elektronische Medium im Zeitalter der Digitalisierung hat. Zwei-‐ fel an der Zukunftsfähigkeit des Hörfunks befallen Radiomacher besonders dann, wenn ihnen junge Menschen mit Ohrstöpseln in Fußgängerzonen oder in der Straßenbahn begegnen, die aus ihren MP3-‐Playern Programme hören, die sie selbst -‐ meist im Internet -‐ zusammengestellt haben. Zusätzlich geschürt werden die Zweifel der Ra-‐ diomacher durch den Umstand, dass das Medium Hörfunk seit 2001 vor allem bei den Jüngeren rückläufige Reichweiten aufweist, obwohl der Medienkonsum der Bundesbürger insgesamt seit Jahren kontinuierlich ansteigt. Angesichts von Digitalisierung und Individualisierung scheint es manchem Medienpropheten nur schwer vorstell-‐ bar, dass ein linear verbreitetes Medium wie das traditionelle Radio seine Stellung als reichweitens-‐ tärkstes Tagesbegleitangebot zukünftig behaupten kann. Jetzt wird ein Weg gesucht, der für den Hörfunk den erfolgreichen Übergang vom analo-‐ gen ins digitale Zeitalter sichert. Grundsätzlich stellt die Digitalisierung neue Herausforderungen an die Rundfunkanstalten in den Bereichen Archi-‐ vierung, Verschlagwortung von Metadaten und Verbreitung der Hörfunkinhalte. 64
Radioinhalte müssen künftig dem jeweiligen Medium und der Nutzungssituation angepasst werden. Archivmaterial kann in Zukunft leichter für Zweitverwertung und Download zur Verfügung gestellt werden. Es wird bereits darüber nachge-‐ dacht, digitalisierte Archive für den Zugriff von außen zu öffnen. Damit verändert sich die Rolle der Hörfunkarchive, die bei der digitalen Nutzung dann aktiver einbezogen werden. Die Digitalisierung ist zweifelsohne die Zukunft des Hörfunks, denn der Hörfunk darf nicht eine analoge Insel in einem digitalen Umfeld sein. Nur wer die technische Entwicklung der Medienwelt komplett ignoriert, spricht von einem „digitalen Abseits”, wie dies eine bayerische Tageszeitung Anfang des Jahres 2006 noch getan hat. Die Digi-‐ talisierung ist zudem notwendig, um das Medium Hörfunk fit für die Zukunft zu machen. Die Digitali-‐ sierung wird dazu führen, dass sich langfristig die klassischen Verbreitungswege des Rundfunks grundlegend verändern. Auch die Märkte und Wettbewerbssituationen werden nicht mehr wie heute aussehen. In dieser Entwicklung können Gefahren für das ganze Medium liegen. Gleichzei-‐ tig eröffnen die technischen Umwälzungen auch Chancen für einen engagierten, publikumsnahen öffentlich-‐rechtlichen Hörfunk. Die Digitalisierung erlaubt dem Hörfunk erst-‐ mals in seiner nunmehr über 80-‐jährigen Ge-‐ schichte, seine Hörer mit -‐ ganz auf ihre Be-‐ dürfnisse zugeschnittenen -‐ „personalisierten„ 65
Programmangeboten individuell zu bedienen. Natürlich werden personalisierte Angebote die linear verbreiteten Programme nicht verdrängen. Die bisherigen Programme werden ihren Platz behaupten, weil sich nicht alle Menschen aus ei-‐ nem reichen Medienangebot ihre Tagespalette an Musik und Information selbst zusammenstellen wollen. Die heutigen traditionellen Massenpro-‐ gramme, die vor allem auf regionale Identität ausgerichtet sind und als Tagesbegleiter dienen, werden weiter attraktiv bleiben, denn der Hörfunk hat einen starken Verbündeten, nämlich das Ge-‐ wohnheitsprinzip: Der Hörfunk ist das noch immer meistgenutzte tagesbegleitende Medium und hat seinen festen Platz im Leben der Menschen. Der Hörfunk ist die Verbindung zur Außenwelt, indem er nahezu in Echtzeit informiert, die Stille belebt und seine Hörer ohne größere Barriere in der Wohnung, im Auto oder am Arbeitsplatz erreicht. Das weiß und schätzt der Hörer auch angesichts vielfacher (digitaler) Alternativen. Der Hörfunk begleitet sein Publikum selbstver-‐ ständlich durch den Tag, erhält aber weniger Auf-‐ merksamkeit als beispielsweise das Internet. Ra-‐ dioinhalte sind seltener als Fernsehereignisse das Gesprächsthema des Tages. Auch scheinen vor allem bei jungen Menschen Radioprogramme weniger attraktiv und modern zu sein als der selbst bestückte MP3-‐Player. Aber gerade in der Selbstverständlichkeit, mit der Hörfunkprogram-‐ me die Menschen in allen Lebenssituationen, egal 66
ob zu Hause oder unterwegs, begleiten, liegt die große Chance des Hörfunks. Die Digitalisierung ist nicht der erste technische Quantensprung in der Entwicklung der Medien -‐ der Abgesang auf das älteste elektronische Medium, das Radio, wird nicht zum ersten Mal angestimmt. Die Geschichte des Hörfunks war immer von technischen Um-‐ wälzungen begleitet, aber das Radio blieb reich-‐ weitenstärkstes Tagesbegleit-‐ und Informations-‐ medium. Gerade die rasante Entwicklung auf dem Mediensektor in den vergangenen fünf Jahrzehn-‐ ten stellte für den Hörfunk die Herausforderung dar, sich den dynamischen Rahmenbedingungen mit innovativen Programmformaten anzupassen. Ein kurzer Blick zurück: In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhun-‐ derts war der Hörfunk als Massenmedium konkur-‐ renzlos. Die Reputation war groß, auch weil die meisten Kulturschaffenden für den Hörfunk arbei-‐ teten. Für Gesprächsstoff sorgten Radioklassiker wie der „Internationale Frühschoppen” mit Wer-‐ ner Höfer, Krimiserien, die zu „Straßenfegern” wurden, wie „Gestatten, mein Name ist Cox” oder „Dickie Dick Dickens” und auch Unterhaltungs-‐ formate, etwa „Wer fragt, gewinnt” mit Hans Ro-‐ senthal. In den 60er Jahren bekam der Hörfunk Kon-‐ kurrenz durch das Fernsehen. Dabei drängte sich das Fernsehen in die abendliche Prime Time und machte aus ehemaligen Hörern Zuschauer. Das Radio verlegte seine Prime Time vom Abend zum 67
Morgen und zum Mittag, indem lange Magazin-‐ strecken mit Wort und Musik entwickelt wurden. Ein erster Schritt in Richtung „Nebenbei-‐Medium” war getan. In den 70er Jahren entstanden die Musik-‐ und Servicewellen. 1971 startete Bayern 3 als erste Servicewelle mit Verkehrsnachrichten. Es folgten in den Jahren darauf hr3, NDR2 und SWF 3 mit einem einheitlichen, durchhörbaren Pop-‐Pro-‐ gramm. Mit dem Aufkommen der privaten Radio-‐ veranstalter in den 80er Jahren verschärfte sich der Wettbewerb. Privatradios orientierten sich mit Erfolg an den ARD-‐Pop-‐Wellen. Zudem ver-‐ stärkte sich die Konkurrenz durch das Fernsehen. Die Fernsehprogramme schlossen ihre vormals durch das Testbild markierten Sendelücken und boten ein 24-‐ Stunden-‐Programm an. Damit zielte das Fernsehen auch auf die morgendliche und vormittägliche Prime Time des Hörfunks. Dies war ein weiterer Anlass für den ARD-‐Hörfunk, über Behauptungsstrategien nachzudenken. In den 90er Jahren hielt das Formatradio Ein-‐ zug. Formatradios verfolgen das Ziel, ein unver-‐ wechselbares Radioprogramm als Marktprodukt zu etablieren, das exakt auf die Bedürfnisse einer klar definierten Zielgruppe abgestimmt ist. Im Gegensatz zu den kommerziellen Anbietern kon-‐ zentrierte sich die ARD mit ihren Formatradios nicht auf den Unterhaltungssektor, sondern schuf innovative Programme im Informations-‐ und Klas-‐ sikbereich. 68
Im Jahr 1991 startete mit B5 aktuell der erste deutsche Nachrichtenkanal. B5 aktuell setzte kon-‐ sequent auf die Vorzüge des Hörfunks als schnell-‐ stes Medium, das nahezu jederzeit und überall abrufbar ist. Der Nachrichtenkanal des BR wurde damit zum Vorbild für alle nachfolgenden Infowel-‐ len. Außerdem nutzen die ARD-‐Hörfunkprogramme seit Mitte der 90er Jahre die Vorzüge des Inter-‐ nets. Auf eigenen Homepages bieten sie pro-‐ grammbegleitende Services an, machen das vor-‐ her nur akustisch vernehmbare Programm durch Hintergrundinformationen, Newsletter und Webcams aus dem Studio sichtbar. Zudem er-‐ möglichten das Internet und die Satellitenaus-‐ strahlung den Hörfunkprogrammen, die Grenzen der eigenen Sendegebiete zu sprengen; mehr noch: Seither sind die Live-‐Streams der Hörfunk-‐ programme überall auf der Welt abrufbar. Heute zählt die Standarduntersuchung der Medienforscher, die Media-‐Analyse (ma), 56 ARD-‐Programme (ohne DLR/DLF und DW) rund 200 kommerzielle Sender in Deutschland. Zum Angebots-‐Portfolio der ARD zählen 18 Informa-‐ tions-‐ und Kulturprogramme, deren Hörerzahl von Jahr zu Jahr ansteigt. Wandten sich noch Mitte der 90er Jahre rund 2,3 Millionen erwachsene Bun-‐ desdeutsche jeden Tag einem Informations-‐ oder Kulturprogramm zu, liegt die Reichweite dieser „Einschaltprogramme” heute bei 4,7 Millionen Hörern täglich. 69
Insgesamt erreichen die ARD-‐Hörfunkpro-‐ gramme täglich 33,2 Millionen Menschen, dies entspricht rund 51 Prozent der bundesdeutschen Erwachsenen. Die Privatanbieter fielen nach ei-‐ nem Höhenflug um die Jahrtausendwende auf 42,8 Prozent Reichweite zurück, dies sind hochge-‐ rechnet 27,8 Millionen Hörer pro Tag. Trotz dieser Erfolgsstory gibt die jüngste Ent-‐ wicklung des Mediums Hörfunk generell Anlass zur Sorge. Das Radio muss -‐ wie auch bereits in den vergangenen fünf Jahrzehnten -‐ konsequent weiterentwickelt und in Teilen strategisch neu positioniert werden. Bis zum Jahr 2000 stieg der Hörfunkkonsum kontinuierlich an. Seit 2001 zeigt die Reichweitenentwicklung jedoch tendenziell nach unten. Laut Media Analyse 2006 Radio I schalten 78 Prozent der Erwachsenen in Deutsch-‐ land an jedem Werktag ihr Radio ein. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht dies einem Minus von fast zwei Prozentpunkten. Parallel dazu wächst der Medienkonsum der Menschen in Deutschland insgesamt von Jahr zu Jahr. Besonders rückläufig ist die Hörfunknutzung unter Jugendlichen. Bei den 14-‐ bis 19-‐Jährigen sank die Tagesreichweite um zweieinhalb Prozentpunkte auf 72,3 Prozent, bei den 20-‐ bis 29-‐Jährigen fiel der Radiokonsum von 74,2 auf 71,2 Prozent zurück. 5 Auch in den 5
Die Ergebnisse der Mediaanalyse für das Radio weisen im ersten Halbjahr 2012 für Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren eine Tagesreichweite von 69,9 Prozent aus (MA 2011 70
Hörergruppen der 30-‐ bis 49-‐Jährigen wird das Radio tendenziell weniger nachgefragt. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahrzehnten machen heute mehr die neuen digitalen Medien und weniger das Fernsehen dem Hörfunk Konkur-‐ renz. Von Jahr zu Jahr verbringen die Deutschen mehr Zeit mit PC und Internet. Inzwischen liegt die Internetverbreitung in Deutschland bei rund 60 Prozent (2012 bereits 75%). Unter Jugendlichen ist der Umgang mit Laptop und Maus fast geläufiger als der mit Bleistift und Papier. Zudem ist in jüngeren Zielgruppen in den vergangenen Jahren die „Tonträgernutzung” überproportional ange-‐ stiegen. Tonband, Kassette und CD sind für Ju-‐ gendliche zwar schon immer besonders attraktiv gewesen, aber noch nie hat ein neu entwickeltes Speichermedium einen derartigen Umbruch im Umgang mit medialen Inhalten ausgelöst und eine ganze Generation so stark geprägt wie der MP3-‐Player. Die Möglichkeit, Musikdateien auf den PC herunterzuladen, sie zu speichern und zu bearbeiten, um sie anschließend im Kleinstformat beliebig und jederzeit verfügbar zu haben, schafft -‐ nicht nur -‐ bei dieser Generation ganz neue Er-‐ wartungen an die zukünftige Aufbereitung und Verbreitung von auditiven und visuellen Inhalten. II: 69,4%): Dies zeigt nach einem mehrjährigen Rückgang eine Zunahme der Radionutzung bei Jugendlichen (MA 2010 I: 67,4%). 71
Mobile „All-‐in-‐one-‐Geräte” (Smartphones) ent-‐ sprechen heute den Vorstellungen vieler Medien-‐ konsumenten. Bislang bleibt der Durchbruch der „Live-‐Radionutzung” über das Internet aus. Laut den Ergebnissen der jüngsten ARD/ZDF-‐Online-‐ Studie haben sich in den vergangenen Jahren we-‐ niger als 2,5 Prozent der Erwachsenen Radiopro-‐ gramme per Live-‐Stream angehört. Allerdings verzeichnen die Online-‐Angebote der Sender bei dem individuellen Abruf einzelner Sendungen Downloads in Millionenhöhe. Überdies stellt kostenlose Software wie Phono-‐Star im In-‐ ternet inzwischen den Zugriff auf 4000 Radiostati-‐ onen weltweit zur Verfügung (2012 bereits 6000). Andere Programme ermöglichen den Zugriff auf die doppelte Anzahl von Sendern. Wer seine Laut-‐ sprecherboxen an den Computer anschließt, kann Sendungen teilweise in hervorragender Qualität abrufen, individuell geordnet nach Genres, Ländern und Sprachen. Zusätzlich ist der problem-‐ lose und unbegrenzte Mitschnitt all dieser Pro-‐ gramme im Computer möglich. Der zweite Schritt sind nun die so genannten WLAN-‐Radios, die als eigene Internet-‐Radios den Zwischenschritt über den Computer überflüssig machen und direkt auf die weltweite Programm-‐ vielfalt im Internet zugreifen. Voraussetzung für diesen zeitlich unbegrenzten Zugriff ist allerdings eine Flatrate und einem WLAN-‐Router. So wird künftig unter anderem der WDR mit seinem Pro-‐ gramm Eins Live diesen Weg gehen. Die 72
öffentlich-‐rechtlichen Rundfunksender müssen dafür die Beschränkung der Zugriffe auf den Li-‐ ve-‐Stream aufheben und die Datenrate erhöhen. Über diesen Weg kann die „Generation @” auf das schier unbegrenzte Angebot im Internet zu-‐ greifen, ausgewählte Stücke herunterladen, zu-‐ sammenstellen und ein selbst komponiertes Pro-‐ gramm auf den MP3-‐Player überspielen. Für diese besonders innovativen Publi-‐ kumssegmente ist die Zukunft jedes Mediums davon abhängig, wie gut und komfortabel das Angebot die Bedürfnisse seiner Nutzer befriedigt. So ist Radio für die meisten Hörer, und damit auch für die Jüngeren unter ihnen, primär das Hinter-‐ grundmedium, das ohne größeren individuellen Aufwand, gewissermaßen auf „Knopfdruck”, eine angenehme Stimmung verbreitet, Musik bietet, über das Neueste informiert und überall verfügbar ist. Diese Erkenntnis mag insbesondere für die Macher von Tagesbegleitprogrammen, die über-‐ wiegend am Morgen, am Arbeitsplatz oder im Auto gehört werden, beruhigend sein. Dennoch profitieren auch sie von den neuen digitalen Ver-‐ breitungswegen. Die bisherigen Grenzen, die durch die Beschränkung der technischen Übertragungskapazitäten bedingt waren, werden aufgehoben. Theoretisch gilt heute für alle Hörfunkprogramme: „alles, überall, zu jeder Zeit”. Inhalte versenden sich so nicht mehr zwangsläufig im Äther, sondern sind -‐ angereichert mit Hinter-‐ 73
grundinformation, Text und Bild -‐ jederzeit im Internet abrufbar. Von dieser Entwicklung werden im besonderen Maße die Kultur-‐ und Informationsprogramme profitieren. Gerade für diese Programme, die da-‐ runter leiden, dass ihre potenziellen Hörer nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt die Muße haben, sich dem Zuhören zu widmen, wird das zeitver-‐ setzte, orts-‐ und geräteunabhängige Hören zu-‐ nehmend wichtiger. Einzelne Programmangebote können gezielt an Hörer übermittelt oder als Download bereitgestellt werden. So erhalten Bil-‐ dungsangebote, die häufig im linearen Programm-‐ ablauf ein Schattendasein gefristet haben, neue Chancen. Sie sind durch die Möglichkeit des Downloads plötzlich nicht nur wieder attraktiv, sondern erreichen Nutzergruppen, die für Bil-‐ dungsangebote im Hörfunk bereits als abge-‐ schrieben galten. Die Podcast-‐Angebote kommen dem zuneh-‐ menden Bedürfnis nach Zeit-‐ und Ortsunab-‐ hängigkeit der Hörer entgegen. Das „Radio zum Mitnehmen” macht nicht nur vom Sendeablauf unabhängig, sondern erschließt gleichzeitig Hörer-‐ gruppen, die nicht zum traditionellen Publikum der Informations-‐ und Kulturprogramme zählen. Ob aus eifrigen „Podcastern” dann treue Ra-‐ diohörer werden, ist noch ungewiss. Allerdings bietet das Podcasting die Chance, Menschen für Inhalte zu interessieren, die sie im starren Zeitkor-‐ sett der Radioprogramme nicht nutzen würden. 74
Damit bedeutet die Digitalisierung für Programm-‐ verantwortliche eine doppelte Herausforderung: Da die passive Haltung, „zurückgelehnt” ein ferti-‐ ges Programm zu nutzen, nicht aussterben wird, müssen Radiomacher weiter auf den herkömm-‐ lichen, linearen Verbreitungswegen ihr Publikum an sich binden. Gleichzeitig stehen ihnen Möglichkeiten der Individualisierung ihrer Pro-‐ grammangebote zur Verfügung, mit denen sie auf mehreren technischen Plattformen in einen über-‐ greifenden Wettstreit um die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer eintreten. Bei diesem Wettstreit geht es dann nicht nur darum, mehr Hörer zu gewinnen als das Konkurrenzprogramm, sondern die Inhalte für unterschiedliche Plattformen optimal aufzube-‐ reiten. Inzwischen gibt es eine Vielzahl unter-‐ schiedlicher digitaler Verbreitungswege. Noch ist nicht klar, welche Wege sich dauerhaft durchset-‐ zen werden oder aber ob sie langfristig parallel existieren werden. DAB, DMB, DRM, DVB-‐T, DVB-‐S sind einige Kürzel aus der heutigen digitalen Welt. Der Regelbetrieb von DAB (Digital Audio Broadcasting) begann in Deutschland im Jahr 1999, das Projekt war von der EU initiiert worden. Die DAB-‐Sendeabdeckung in der Bundesrepublik beträgt derzeit rund 85 Prozent, allerdings ist der Empfang in den Häusern zum Teil schlecht, da die Sendestärke noch schwach ist. 6 Die Europäische 6
Inzwischen ist die Sendeleistung angehoben und der verbes-‐ serte Standard DAB+ eingeführt worden. 75
Kommission fordert von ihren Mitgliedstaaten, den analogen Rundfunk bis spätestens 2012 abzu-‐ schalten.7 Deutschland hat sich verpflichtet, dieses Ziel schon zwei Jahre früher zu erreichen. Manche Länder treiben den DAB-‐Ausbau konsequent vo-‐ ran, so etwa Großbritannien. Dort hat das „Digital Radio Development Bureau” die Markteinführung von DAB gefördert. Das DRDB ist eine gemeinsa-‐ me Plattform der British Broadcasting Corporation (BBC) und von privaten Anbietern. Dieser Zusam-‐ menschluss war unter anderem der Schlüssel zum Erfolg. Andere Länder wie etwa Schweden haben dagegen den DAB-‐Ausbau vorerst gestoppt. Einige Landesrundfunkanstalten gehen inzwi-‐ schen neue Weg und bauen konsequent die Digi-‐ talangebote aus, so etwa der BR mit seinen Plänen für eine Junge Welle8 oder der SR mit dem an-‐ spruchsvollen deutsch-‐französischen Informati-‐ onsprogramm antenne saar. Bei der Einführung der DVB-‐T-‐Technik (Digital Video Broadcasting -‐ Terrestrial) im Fernsehen hat sich gezeigt, dass sich neue Techniken auf dem Markt innerhalb weniger Monate durchsetzen können. Bei DAB deutet sich in Deutschland ein Umdenken an. So riet die auflagenstarke Zeit-‐ schrift „ADAC-‐Motorwelt” ihren Lesern im Juni 7
Dieser Termin war wegen der mangelnden Marktdurchdrin-‐ gung von DAB nicht einzuhalten 8 Dazu kommen beim BR noch Bayern plus sowie die Pluspro-‐ gramme von B5 aktuell und Bayern 2 76
2006: „Entscheiden Sie sich schon heute beim Radiokauf für ein DAB-‐Gerät.” In das Angebot der Fahrzeughersteller, so hieß es in dem Artikel wei-‐ ter, komme Bewegung, Opel, Audi und bald auch VW und voraussichtlich BMW böten DAB-‐Radios für ihre Autos an. Auch die Kaufhäuser und Elekt-‐ roketten haben neuerdings DAB entdeckt: „Anpfiff für das Digitalradio” war etwa in der Werbung einer großen Kaufhaus-‐Kette zu lesen. Das Gerät war von 229 Euro auf 79 Euro herabgesetzt wor-‐ den -‐ dies könnte ein erster Hinweis auf einen bevorstehenden Preissturz bei den DAB-‐ Geräten sein. In Großbritannien sind zahlreiche Modelle auf dem Markt, die etwa 60 bis 75 Euro kosten. DMB (Digital Multimedia Broadcasting) nutzt das bestehende DAB-‐Sendernetz und kann oben-‐ drein audiovisuelle Inhalte transportieren. DMB könnte dazu führen, dass DAB sich stärker durch-‐ setzt. Die Investitionen in die DAB-‐Technik werden durch DMB zusätzlich gerechtfertigt. Korea ist hier bereits einen Schritt weiter als Europa: Die Tech-‐ nologie ist dort eingeführt und entwickelt sich rasant. Ein Erfolgsgeheimnis ist dabei der mobile Empfang von Video-‐ und Fernsehangeboten. In Deutschland wird DMB zunächst noch getestet, so gibt es DMB-‐Versuche in Regensburg und Mün-‐ chen, an denen sich der öffentlich-‐rechtliche und der private Rundfunk mit insgesamt 18 Hörfunk-‐ programmen beteiligen. Die Lang-‐, Mittel-‐ und Kurzwellen sind inzwischen ebenfalls digitalisiert 77
worden: DRM (Digital Radio Mondiale) heißt hier der Standard. Die DW sendet für Europa in DRM. DVB-‐T ist in vielen Regionen Deutschlands be-‐ reits für die Übertragung von digitalem Fernsehen eingeführt worden. Technisch ist es ohne Proble-‐ me möglich, auf diesem Weg auch Hörfunk zu übertragen. DVB-‐T-‐Empfänger haben jetzt schon die Möglichkeit vorgesehen, Hörfunkpro-‐gramme zu empfangen und abzuspeichern. Digital Video Broadcasting ist nicht nur terrest-‐ risch, sondern auch über Satellit (DVB-‐S) möglich. Auf diesem Weg werden bereits Hörfunkpro-‐ gramme übertragen: Die ARD hat im Jahr 2005 einen eigenen DVB-‐S-‐Transponder für die Radi-‐ oprogramme der Landesrundfunkanstalten in Betrieb genommen. Ein Spartenprogramm wie Bayern 4 Klassik wird von 17 Prozent seiner Hörer über Satellit empfangen, von denen bereits 80 Prozent auf digitalen Satellitenempfang umgestie-‐ gen sind. Digitaler Radioempfang auf Basis des DVB-‐Verfahrens ist auch über kleine oder mobile Geräte (PDA, Mobiltelefon) möglich, dann spricht man von DVB-‐H (Handheld). Auf diesem Weg können ebenfalls Multimediadienste verbreitet werden. Die Landesrundfunkanstalten der ARD nutzen zunehmend die hier aufgeführten digitalen Ver-‐ breitungswege, um das traditionelle Radiokonzept zu erweitern: So können zusätzlich multimediale Angebote gemacht werden wie etwa Audio-‐ oder 78
Videoblogs oder die Verbreitung von Metadaten. Der Hörfunk wird in Zukunft mehr sein als nur ein lineares Angebot: Hörfunk wird sich als interakti-‐ ver Dienst verstehen. Bislang gibt es unter Exper-‐ ten keine konsensfähige Antwort auf die Frage, wo der Hörfunk in zehn Jahren stehen wird. Bei allen Veränderungen und Herausforderun-‐ gen, die die Digitalisierung für das Medium Hörfunk bedeutet, bleibt das Ziel der Pro-‐ gramm-‐Macher das gleiche: Menschen mit Infor-‐ mationen, Bildungsangeboten und Unterhaltung zu bedienen und dabei Qualitätsjournalismus an-‐ zubieten. Dem Publikum ermöglicht die Digitalisie-‐ rung, die hochwertigen Inhalte der öffent-‐ lich-‐rechtlichen Programme, die es zuvor mangels Zeit oder Kenntnis nicht auffinden konnte, auf unterschiedlichen Verbreitungswegen neu zu ent-‐ decken. Den Programm-‐Machern ermöglicht die Digitalisierung, ihre Inhalte in vielfältiger Weise aufzubereiten und mit dem Publikum in Kontakt zu treten. Ein Traum von Programm-‐Machern wird wahr: Ihre Kreativität wird von den räumlichen und zeitlichen Grenzen des linearen Programms befreit. Die BBC ist in Großbritannien bereits beispiel-‐ haft den Weg gegangen, im digitalen Angebot Spartenkanäle anzubieten: So gibt es das Asian Network für die asiatischstämmige Bevölkerung im Königreich oder einen Kanal, der hochwertige Produktionen wie Comedys und Hörspiele sendet. Doch selbst wenn DAB in Deutschland eine 79
ähnliche Akzeptanz hätte wie in Großbritannien -‐ bis Ende 2005 wurden dort 2,7 Mio DAB-‐Geräte verkauft 9 -‐, könnte die ARD solche Spartenpro-‐ gramme nicht ebenso leicht auflegen wie die Bri-‐ ten: Das deutsche Urheberrecht lässt nur wenige Wiederholungen zu bzw. macht diese sehr teuer. Die BBC sieht die digitalen Programme jedoch nicht nur auf der Plattform DAB. Das Motto des Senders lautet: Jedes Programm muss auf jeder Plattform empfangen werden können. So kann etwa über jedes Fernsehgerät, das digitale Pro-‐ gramme empfangen kann, auch Radio gehört werden. Mit Erfolg: Viele Briten hören ihr Radi-‐ oprogramm inzwischen über den Fernseher. Der Bildschirm muss dabei übrigens nicht schwarz bleiben: Über Metadaten können Zusatzinforma-‐ tionen wie Musiktitel, Charts, Wetterinformatio-‐ nen etc. angeboten werden. Den Wettbewerb um die Gunst des Publikums wird derjenige gewinnen, der in einer ausdifferen-‐ zierten Medienlandschaft Qualitätsmaßstäbe setzt. Gerade in Zeiten sozialer Unsicherheit sehnt sich der Hörer ebenso wie der Zuschauer nach Verlässlichkeit, nach authentischer Vermittlung von Realität und vor allem danach, als Mensch und Empfänger von medialen Inhalten ernst ge-‐ 9
Einen großen Erfolg weist auch die Schweiz auf, wo bis Mitte 2012 eine Million DAB-‐Radios verkauft wurden, und dies bei einer Bevölkerungszahl von knapp acht Millionen Einwoh-‐ nern. 80
nommen zu werden. Deshalb sollten die anste-‐ henden Veränderungen durch die Digitalisierung nicht als Bedrohung, sondern als neue Chance auch für den Hörfunk wahrgenommen werden. Beitrag für das ARD-‐Jahrbuch 2006, S. 41-‐49, Mitarbeit: Eva Kötting, Birgit van Eimeren.
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Eine Welt ohne Archive -‐ eine Welt ohne Gedächtnis Verehrtes Publikum, nachdem Sie sich sach-‐ kundig mit der Gegenwart der Medienarchive im digitalen Zeitalter beschäftigt haben, mute ich Ihnen einen scheinbaren Rückschritt zu. Doch bei genauem Hinhören werden sie feststellen, dass der Content die Konstante, Speicherung und Dis-‐ tribution hingegen die Variablen in der Geschichte der Archive sind. Eines meiner ersten großen Radiofeature beim Bayerischen Rundfunk handelte von Archiven in Deutschland. Das war 1979, als ich selbst noch hauptberuflich im Zeitungsarchiv des Senders arbeitete. Für diese Sendung besuchte ich neben den Münchner Archiven das Bundesarchiv in Koblenz und das Bundesfilmarchiv Ehrenbreitstein, das 82
Thurn-‐ und Taxis-‐Archiv in Regensburg, aber auch die SPIEGEL-‐Dokumentation und die damals neue Pressedatenbank von Gruner & Jahr in Hamburg. In der analogen Welt wurden Archiven in Län-‐ genmaßen bewertet: Das Bundesarchiv wies damals 70 Regalkilome-‐ ter Schriftgut und 52-‐tausend Kilometer Filmstrei-‐ fen auf. Maßangaben, die heute von Giga-‐ und Terrabyte abgelöst worden sind. Natürlich haben mich zunächst alte Urkunden fasziniert. So liegt im größten deutschen Adelsar-‐ chiv Regensburg die Urkunde von 1867, mit der Preußen das Postmonopol von Thurn und Taxis übernahm, unterschrieben vom späteren Kaiser Wilhelm I. und Bismarck. Oder im Hauptstaatsar-‐ chiv in München liegt die älteste Urkunde vom 7. Januar 777, mit der Karl der Große dem Kloster Fulda die Hammelburg übereignet hat. Doch die-‐ se Urkunden und Archivalien waren jahrhunderte-‐ lang das Gedächtnis der Herrschenden, nicht der Allgemeinheit zugänglich. Erst als Leopold von Ranke die eher philoso-‐ phisch ausgerichtet Geschichtsschreibung mit quellenkritischem Material systematisierte, öffne-‐ ten sich auch die Archive: Als erstes erlaubte 1868 das Wiener Haus-‐ Hof-‐ und Staatsarchiv Forschern den Zutritt. Dann folgte Preußen, und schließlich gab 1881 Papst Leo XIII. Zugang zu den Vatikanischen Archi-‐ ven frei. 83
Seither sind Archive für Historiker, Publizisten, Politiker als anerkanntes Gedächtnis unserer Ge-‐ schichte nicht mehr fortzudenken. Die Bedeutung der Archive kann man unschwer daran erkennen, dass -‐ etwa nach dem Zweiten Weltkrieg -‐ alle Siegermächte bemüht waren, soviel Archivmateri-‐ al aus der Nazizeit wie möglich sicherzustellen. Das passierte in den Nachkriegswirren nicht im-‐ mer systematisch. So konnte die NSDAP Zentral-‐ kartei mit gut zehn Millionen Einträgen nur durch Zufall von der 7. US-‐Armee in München aus einer Papiermühle gerettet werden. Diese Kartei mach-‐ te später als Document Center Berlin Schlagzei-‐ len. Immerhin baute die Rechtsprechung in Nürn-‐ berg gegen die Naziverbrecher ebenso wie die geschichtliche Aufarbeitung der Nazizeit auf sol-‐ chen Dokumenten auf. Der Begriff des Archivs, des Archivars und der Archivarin trifft allerdings in der Öffentlichkeit nicht die wirkliche Bedeutung. Es gibt sogar litera-‐ risch belegte Vorurteile. Ein schöner Beleg ist die Novelle „Der Goldenen Topf“ von E.T.A Hoff-‐ mann. Ein Salamander, der in mythischer Vorzeit eine Untat beging, wurde zur Strafe in einen Men-‐ schen verwandelt. In seinem neuen Leben musste er sich den kleinlichsten Bedrängnissen des ge-‐ meinen Lebens unterwerfen: Er wurde Archivar. In Wirklichkeit sind die Archivare, die ich lieber Dokumentarinnen und Dokumentare nennen möchte, die herrschenden Figuren über unser 84
zeitgeschichtliches wie historisches Gedächtnis. Dies gilt um so mehr, weil im digitalen Zeitalter Umfang und Methodik der Dokumentation ein Ausmaß angenommen haben, das zur Zeit der ersten Mikroverfilmung noch nicht abzusehen war. Vor 35 Jahren waren wir stolz auf die Mikro-‐ filme, die wir in unhandlichen Lesegeräten auf riesigen Bildschirmen solange durchgedreht ha-‐ ben, bis zuweilen ein Film riss. Oder Mikrofiche, hochauflösliche Negative, auf denen man viele Blatt Papier verkleinert, aber noch lesbar unter-‐ bringen konnte. Die erste Cross-‐Recherche mit einem eigenen Thesaurus, gewissermaßen die erste elektronische Pressedatenbank in Verbindung mit Microfiches, habe ich vor mehr als 30 Jahren bei Gruner & Jahr kennengelernt, als die berühmte SPIEGEL-‐ Dokumentation noch darauf beharrte, dass nur der Original-‐Zeitungsartikel von Beweiskraft sein könne. In jenen Jahren mussten die SPIEGEL-‐ Dokumentare zur Verifizierung einer einzigen Wo-‐ chenausgabe sage und schreibe nahezu zehntau-‐ send Blatt Papier überprüfen. Kein Wunder, dass DER SPIEGEL zur Zeit immer noch gut 70 Doku-‐ mentarinnen und Dokumentare hat. Das heißt: Auf knapp drei Redakteursstellen entfällt eine Stelle in der Dokumentation. Das ist natürlich ein Traumverhältnis für alle Mediendokumentare und -‐dokumentarinnen. Seitdem Urkunden nicht mehr mit der Hand geschrieben und besiegelt wurden, seit der Ein-‐ 85
führung der beweglichen Buchstaben und dem Beginn der Flugschriften, seit dem Zeitungsdruck, der Ton-‐, Bild-‐ und Filmdokumentation hat sich das materialisierte historische Gedächtnis ständig vervielfacht. Mit der Digitalisierung und dem In-‐ ternet hat eine neue Zeitrechnung für das Welt-‐ gedächtnis begonnen, die aus meiner Sicht von zwei Strömungen gekennzeichnet ist : Erstens wird unter dem Anspruch der Demo-‐ kratisierung versucht, allen Nutzern möglichst umfangreichen und barrierefreien Zugang zu na-‐ hezu allen Inhalten zu gewähren. Zweitens beanspruchen zahlreiche Nutzer al-‐ lein auf der Basis von Suchmaschinen, deren Ge-‐ neratoren sie gar nicht selbst bestimmen können, über inhaltliche Ergebnisse zu verfügen, die sie in die Lage versetzen, weitreichende, oft meinungs-‐ bildende Urteile zu fällen. Doch nichts ist im digitalen Zeitalter leichter, als durch Manipulationen Fälschungen in die Welt zu setzen. Natürlich ließ Stalin seinen Gegenspie-‐ ler Trotzkij aus Leninfotos retuschieren, sichtbar für jedermann. Und natürlich wurden auch früher schon Ur-‐ kunden gefälscht, indem der Text raffiniert ge-‐ löscht und neu geschrieben wurde, während die Unterschrift und das Siegel erhalten blieben. Doch nur wenige hatten Zugang zu den Original-‐ quellen und nur wenige hatten die Fähigkeit zu solchen Fälschungen. Das ist heute völlig anders. 86
Wir stehen also vor der Frage, wie können in einem digitalen Zeitalter die Dokumentarinnen und Dokumentare für dieselbe Glaubwürdigkeit einstehen wie die Archivare aus der Papierzeit, um das Gedächtnis der Menschheit nicht nachhaltig zu beschädigen oder gar zu betrügen? Hier komme ich auf das Ethos zu sprechen, das letztlich jeden in seinem beruflichen wie privaten Handeln bestimmen sollte. Damit habe ich zwar eine Leitlinie, die für mich als Hörfunkdirektor immer in der Forderung mündet: Wir belügen unser Publikum nicht, auch wenn wir immer wie-‐ der Fehler machen, zu denen wir uns bekennen. So sollte auch der Dokumentar, die Dokumen-‐ tarin sagen können: Wir belügen uns selbst und damit auch unsere Kunden nicht, weil wir nach bestem Wissen und Gewissen Material sichten, gewichten, ordnen und bewerten. Der Wider-‐ spruch jedoch liegt auf der Hand: Sind wir über-‐ haupt noch in der Lage, aus der Fülle von Trillio-‐ nen Informationen das Notwendige herauszufin-‐ den? Ich glaube, ja. Wir werden immer spezifi-‐ schere Datenbanken haben, wir werden immer zielgenauer bei der Cross-‐Recherche Überein-‐ stimmungen wie Widersprüche identifizieren. Und wir werden zunehmend alte Archivbestände digi-‐ tal erschließen. Eines der faszinierendsten Vorbil-‐ der ist dabei für mich das Vatikanische Archiv im Internet. Um abschließend noch einmal klarzustellen: Google, Yahoo, Lycos und wie sie alle heißen -‐ sind 87
Suchmaschinen, aber keine Archive. Es fehlen den Ergebnissen die Systematik der Erschließung, er-‐ kennbare Priorisierung der Auswahl und die ein-‐ ordnenden Metadaten. Gerade das digitale Zeital-‐ ter also verlangt nach noch mehr fachkundiger Dokumentation, damit die gewaltigen digitalen Archivbestände ein funktionierendes Gedächtnis unserer Welt bleiben können. Vortrag anlässlich der Tagung des Vereins für Medieninformation und Mediendokumentation am 18. April 2012 in München.
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An der Schwelle zur Praxis Liebe Absolventinnen und Absolventen des Vo-‐ lontärjahrganges V 21, Ihre Vergangenheit ist un-‐ sere Zukunft. In den letzten zwei Jahren habe Sie bereits erlernt, was wir als Bayerischer Rundfunk in den nächsten zehn Jahren verwirklichen wollen: nämlich ein öffentlich-‐rechtliches Medienhaus mit trimedialer Ausrichtung zu sein. Dazu gehören Handwerk, Engagement, Über-‐ zeugung. Dazu gehört aber -‐ und jetzt hole ich ganz tief aus -‐ journalistische Ethik. Nach dem Motto: „Opa erzählt vom Krieg“ komme ich auf meine Zeit als Korrespondent zu sprechen. Ich war in Moskau stationiert. Es tobte damals der Kalte Krieg zwischen Ost und West. Dazu die Anekdote von damals: Der sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow wollte einen friedli-‐ chen Wettkampf der Systeme. Er lud den ameri-‐ kanischen Präsidenten zu einem Wettlauf auf der Aschenbahn ein. Der Sieger sollte auch politisch 89
mit seinem System als Gewinner anerkannt wer-‐ den. Die beiden starteten -‐ und der amerikanische Präsident gewann. Was stand am nächsten Tag in der kommuni-‐ stischen Parteizeitung Prawda: „Bei einem gigantischen Wettlauf der Systeme belegte der sowjetische Generalsekretär einen hervorragenden zweiten Platz. Der Amerikaner wurde Vorletzter.“ Die Lehre für die journalistische Ethik daraus? Mache Dich nie zum Sprachrohr von Interes-‐ sen, die dich verführen, unter Umgehung der Wahrheit die Unwahrheit zu suggerieren. Auch wer nachweislich nicht lügt, kann durch Unterlas-‐ sung der Unwahrheit dienen. Viele von Ihnen haben schon von der Harvard-‐ Universität gehört, in Cambridge bei Boston. Ein Großtempel der reinen Wissenschaft. Dort habe ich bei einer Willkommensfeier für Erstsemester -‐ auf Englisch freshmen -‐ Studenten mit ihren Eltern begleitet. Der Unipräsident Larry Summers hielt eine eindrucksvolle Rede und zitierte dann einen naturwissenschaftlichen Text aus dem Aufsatz eines Harvard-‐Professors. „Diesen Text“, so Sum-‐ mers, „werden Sie jetzt nicht verstehen“. Und weiter: „Selbst wenn Sie ein naturwissenschaftli-‐ che Studium bei uns absolviert haben, werden Sie mit dem Text nichts anfangen. Denn er ist reiner Nonsense, Unsinn.“ 90
„Wir haben“, so klärte Summers die Erstsemes-‐ ter auf, „einen Test gemacht. Welche wissen-‐ schaftliche Zeitschrift druckt ungeprüft das Skript eines Professors, nur weil er von Harvard stammt, auch wenn Unsinn darin steht. Und in der Tat: Einige Zeitschriften sind darauf reingefallen.“ Die Lehre für die Erstsemester lautete: hinter-‐ fragen Sie, was man Ihnen erzählt, überprüfen Sie die Dinge auf Plausibilität und Richtigkeit, bleiben Sie kritisch, nicht nur gegenüber ihren Professo-‐ ren, sondern ihr Leben lang. „Das ist es, was Sie in Harvard lernen können“, meinte der Unipräsident abschließend. Und dies scheint mir -‐ neben der journalisti-‐ schen Ethik -‐ auch für uns die zweite Faustregel, die ich Ihnen heute für ihre berufliche Karriere gerne mit auf den Weg geben möchte. Der oder die Ranghöhere, Dienstältere müssen nicht auto-‐ matisch wegen des hierarchischen Status Recht haben, wenn ein gut begründeter Themenvor-‐ schlag oder einer gut recherchierte Geschichte abgelehnt wird. Ich habe aus Gesprächen mit Ihnen, liebe Ex-‐ Volos, etwas über Ihre Erfahrungen während der letzten zwei Jahre gelernt. Deshalb möchte ich Ihnen gerade in dieser Hinsicht Mut machen. Ich kenne die Charakteristik vom Redaktionsbiotop und der hohen Volontärskunst: „Anpassen und gleichzeitig auffallen; selbstbewusst sein, aber im richtigen Moment zuzustimmen.“ Das hat bei manch einem zur Einschätzung geführt, so ein 91
Volontärskurs sei individuell sehr stark, im Team aber schwach. Nun löst das Team sich auf und in der Tat hält der freie Markt auch manche konkurrierende Her-‐ ausforderung für Sie bereit. Doch alle von Ihnen sind trimedial aufgestellt und bestens vorbereitet. Bereit, gefordert zu werden oder -‐ wie mir jemand sagte: „Ich fühle mich wie eine reife Frucht am Baum. Sehr reif. Fertig zum Pflücken.“ Der ge-‐ schützte Raum des Volontariats, das „kleine, jour-‐ nalistische Labor“ öffnet nun die Türen. Und Sie werden bestätigt finden, was mancher mir gegen-‐ über beklagt hat: „Das Reden über Themen als Verkaufsmasche verstellt oft den Blick auf die wirklichen Fähigkeiten.“ Aber Sie haben auch erfahren, dass Journalis-‐ mus kein Hexenwerk ist. Man kann Journalismus erlernen, selbst wenn sich einige von Ihnen in seinem solchen Labyrinth wie dem BR anfangs geradezu bedroht fühlten, verschlungen zu wer-‐ den. Begriffe wie Digas, Merlin, Open Media, Sphinx sind für das Leben in der normalen Welt unerheblich, im Bayerische Rundfunk sind sie überlebensnotwendig. Technische Fertigkeiten sind Teil des journalistischen Handwerks. Ob Sie nun von der Veranlagung Lang-‐ oder Kurzstrecken-‐ läufer sind, ist eigentlich egal. Sie müssen lernen, aller Formate zu bedienen, mit der VJ-‐Kamera durch Unterwelten robben, sich in Redaktionen zusammenraufen, nahe an die Menschen gehen. 92
Eine wichtige Erkenntnis habe ich bei Ihnen wiedergefunden: Information und Unterhaltung müssen sich nicht ausschließen. Diese These schockt mich nicht, sondern macht mir Hoffnung. Meine amerikanische Frau hat unsere Kinder im-‐ mer wieder angespornt: „Isn’t it fun to understand this or that?“ Macht es nicht Spaß, das Eine oder Andere zu verstehen? Damit öffnen Sie dem Publi-‐ kum neue Welten. Öffnen wir diese Welten zum Abschluss nun Ihren Träumen, von denen ich in-‐ zwischen etwas weiß: Große Dokumentationen drehen, Korrespon-‐ dent oder Korrespondentin im Hauptstadtstudio, im Ausland, Kriegsreporter oder Kriegsreporterin, die regionaler Vielfalt im Programm fördern, viel-‐ leicht auch die Tagesthemen moderieren, Fern-‐ sehformate für jüngeres Publikum entwickeln, Trimedialität voranbringen. Doch dies alles sind nur auf den ersten Blick die Wunschträume, in Wirklichkeit sind dies sehr rea-‐ listische Ziele. Denn alles davon ist erreichbar. Nicht für jeden und zu jedem Zeitpunkt. Chancen dafür werden sich aber immer wieder bieten. Wir, der BR, haben Ihnen die Tür zu diesen Chancen eröffnet. Gehen Sie hindurch: selbstbewusst und kenntnisreich, aber auch selbstkritisch und mit jenem journalistischen Ethos ausgestattet, dass Sie davor bewahrt, als Journalist und Journalistin instrumentalisiert zu werden. Zu guter Letzt gibt es noch ein kleines Ge-‐ schenk von mir: 93
Ich habe für Sie ein kleines Buch zusammenge-‐ stellt nach dem Motto: Opa erzählt vom Krieg. Es handelt sich um Beiträge zur Rolle der Medien in Kriegs-‐ und Krisenzeiten. Darin finden Sie auch einiges zur journalistischen Ethik und zum Um-‐ gang mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Sicher kein Buch zum Durchlesen. Aber schnüffeln Sie mal rein. Und sollten Sie soweit sein, dass Sie selbst Journalistinnen und Journalisten ausbilden, dann können Sie vielleicht auf die eine oder ande-‐ re Erfahrung aus diesem Buch zurückgreifen, na-‐ türlich mit der kritischen Distanz eines Journalis-‐ ten oder einer Journalistin. Abschlussrede für die Volontärinnen und Volon-‐ täre des Kurses V 21 des Bayerischen Rundfunks am 30. September 2011 in München.
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Sprache und politischer Wandel Vor fast genau 30 Jahren trat ich vor ein Gre-‐ mium von zehn ARD-‐Chefredakteuren. Sie suchten einen Korrespondenten für Südosteuropa. Es gab mehrere Bewerber. Und ich gab mein Bestes, glaubte ich doch, hinreichend Studienkenntnisse vom Balkan zu haben. Außerdem hatte ich vorher in dem zuständigen Auslandsstudio eine Vertre-‐ tung übernehmen dürfen. Kurzum: ich fühlte mich fit und qualifiziert. Da richtete in der Diskussion einer der Herren -‐ Frauen gab es damals noch nicht in diesem Kreis -‐ eine Frage an mich: „Sprechen Sie überhaupt Jugoslawisch?“ Was sollte ich antworten, um die Unwissen-‐ heit, die sich in dieser Frage ausdrückte, nicht bloß zustellen? Ich sucht nach einer Antwort und fing dann sinngemäß an: Mit dieser vermutlich bewusst gestellten Frage, verehrter Herr Chefredakteur, wollen Sie sicher 95
auf den Kern eines Problems von Jugoslawien hinweisen: nämlich auf die Diskrepanz zwischen gesamtstaatlicher Identität einerseits und multi-‐ nationaler Identität der Ethnien andererseits. Es gibt ja in diesem Vielvölkerstaat keine sprachliche Identität, die den ganzen jugoslawischen Staat umfasst und somit auch keine jugoslawische Spra-‐ che.“ Dann referierte ich meine Erfahrungen, die ich als Student zur Zeit des Hrvatsko proljeće, also im so genannten Kroatischen Frühling 1971/72 ge-‐ macht hatte. Im Ringen um größere Freiheiten innerhalb Jugoslawiens forderte die damals Sozia-‐ listische Republik Kroatien mehr wirtschaftliche Freiheiten und einen größeren Anteil an den Devi-‐ seneinkommen Jugoslawiens. Denn das meiste Geld brachten westliche Touristen ins Land, die an die Kroatische Adria reisten. Im Zuge dieser Bewe-‐ gung meldeten sich Sprach-‐ und Literaturwissen-‐ schaftler, um auch für die kroatische Sprachvari-‐ ante mehr Freiheiten zu erreichen. Es ging bis zur Aufkündigung eines gemeinsamen Sprachenver-‐ trages, dem Vertrag von Novi Sad, dem No-‐ vosadski dogovor von 1954, mit dem im Tito-‐ Jugoslawien eine Normierung des Serbischen und Kroatischen zu einer gemeinsamen Sprache fest-‐ gelegt worden war. Dann kam ich noch auf ähnli-‐ che Tendenzen der serbischen Sprachwissen-‐ schaftler zu sprechen, erwähnte überdies Slowe-‐ nisch, Makedonisch und Albanisch. 96
Ich fühlte mich in meinem Element, als ich die ARD-‐Chefredakteuren mit diesem Studentenwis-‐ sen überschüttete. Natürlich glaubte ich, mit diesem Eindruck sei mir die Korrespondentenstelle sicher. Das Gegen-‐ teil passierte. Ich wurde nicht gewählt. Ein Jahr später allerdings wurde ich in das Stu-‐ dio Moskau entsandt -‐ und niemand hat mich zuvor gefragt, ob ich etwa auch „Sowjetisch“ sprä-‐ che. Heute wissen unsere Medien schon besser zu unterscheiden, was sprachliche und was staatliche Identität in Ost-‐ und Südosteuropa bedeuten. Und in der Europäischen Union sind nun schon fünf slawische Sprachen als Amtssprachen vertreten (Bulgarisch, Polnisch, Slowakisch, Slowenisch und Tschechisch). Bald kommt Kroatisch hinzu. Einzel-‐ ne dieser slawischen Sprachen werden wiederum von der EU offiziell in insgesamt sieben weiteren nicht-‐slawischen EU-‐Nachbarstaaten als Minder-‐ heitssprache geführt, nämlich in Griechenland (Bulgarisch), Rumänien (Bulgarisch, Polnisch, Slo-‐ wakisch, Tschechisch), Ungarn (Bulgarisch, Pol-‐ nisch, Slowakisch, Slowenisch), Lettland (Polnisch), Litauen (Polnisch), Österreich (Slowenisch) und Italien (Slowenisch). In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich also gewaltige politische Veränderungen in Osteuropa und Südosteuropa vollzogen, die nicht ohne Einfluss auf slawische Sprachen, auf sprach-‐ liche Identitäten, auf sprachliche Rezeption und 97
auf die Welt der Medien in Ost-‐ und Südosteuropa waren. Gewissermaßen ein Feuerwerk an wissen-‐ schaftlichen Herausforderungen hat sich in diesem Zeitraum über die Slawistik wie auch über die ost-‐ und südosteuropäischen Regionalstudien generell ausgebreitet. Einige dieser Herausforderungen möchte ich heute hier aufzeigen. Deren Entste-‐ hungsgeschichten liefen oft parallel zu meiner eigenen journalistischen Arbeit in und über Ost-‐ und Südosteuropa. Ich weiß, dass man sich Zahlen bei einem Vor-‐ trag schlecht merken kann. Dennoch sei mir fol-‐ gender Hinweis erlaubt: Aus drei Staaten, die für die Slawistik nicht un-‐ erheblich sind, nämlich der Sowjetunion, Jugosla-‐ wien und der Tschechoslowakei entstanden bis heute 24 Einzelstaaten. Die Wiedergeburt des Weißrussischen, die Re-‐ vitalisierung des Ukrainischen, die sprachliche Trennung des Kroatischen und Serbischen, aber auch das neue Selbstbewusstsein des Slowaki-‐ schen gegenüber den Tschechischen -‐ um nur einige Beispiele zu nennen -‐ sind die sichtbaren Folgen dieses politischen Umbruchs. Gehen wir noch einmal zurück zum Beginn meiner eigenen Geschichte als Student in Titos Jugoslawien zurück: Ich erinnere mich an einen kroatischen Sprach-‐ wissenschaftler, Stjepan Babić, der in seinen Vorlesungen an der Zagreber Universität gerne 98
mit ironischem Unterton eine Definition dessen anbot, was im jugoslawische Staat als größte Sprache galt. Babić nannte dies: hrvatsko-‐ bosansko-‐hercegovačko-‐srpsko-‐crnogorski jezik. Also die kroatisch-‐bosnisch-‐herzegowinisch-‐ser-‐ bisch-‐montenegrinische Sprache. Parallel dazu hatten wir als Studenten in Jugo-‐ slawien einen Witz auf Lager: Wie sieht Europa im Jahr 2000 aus? Antwort: Es gibt dann die Vereinig-‐ ten Staaten von Westeuropa, die Vereinigten Staaten von Osteuropa sowie Slowenien, Kroatien, Bosnien-‐Herzegowina, Serbien, Montenegro und Makedonien als Einzelstaaten. Dass dieser Witz prophetischen Charakter hat-‐ te, konnte wir damals nicht ahnen. Ebenso mach-‐ ten wir uns im Studentenheim gerne über die regionale Herkunft unserer Kommilitonen lustig, und zwar am Beispiel des Wortes Kaffee. Wir witzelten also über „kava“ (gesprochen: kawa) für die kroatischen Kommilitonen, „kafa“ für die serbischen und „kahva“ (gesprochen: káchwa) für die bosnischen Kommilitonen. Ich erinnere mich allerdings auch an aggressi-‐ vere Formen der Abgrenzung. Mit dem Zug fuhr ich durch Slawonien, um Freunde auf einem Dorf bei Nova Gradiška zu besuchen. Die Ortsnamen am Bahnhof waren damals immer in lateinischer und kyrillischer Schrift verfasst. Dabei erlebte ich radikale Jugendliche, die in nationalistischer Ge-‐ sinnung auf den Bahnhöfen die kyrillische, also serbische Variante übermalten. Umgekehrtes 99
konnte ich später in den östlichen Landesteilen beobachten. Als Reporter an den Frontlinien im Jugoslawienkrieg sollte ich zwanzig Jahre nach diesen Erlebnissen noch bitter erfahren, dass -‐ symbolisch gesprochen -‐ diese sprachlichen Diffe-‐ renzierungen über Leben und Tod entscheiden sollten. Schon in den 1970-‐iger Jahren waren also die Vorläufer einer späteren Desintegration des ehe-‐ mals kroato-‐serbischen oder serbo-‐kroatischen Sprach-‐ und Kulturraumes in Jugoslawien politisch nachweisbar: Ein letztes gemeinsames Wörterbuchprojekt der Matica Hrvatska und der Matica Srpksa, der beiden nationalen Kultureinrichtungen, zerbrach bereits nach dem zweiten Band. Gewissermaßen im staatlichen Auftrag sollten die kyrillische, also serbische, und die lateinische, also kroatische, Variante eines gemeinsamen Wörterbuches ent-‐ stehen. Noch heute besitze ich die Fragmente der lateinischen Ausgabe (bis Band zwei) und die ky-‐ rillische Ausgabe, die freilich zu Ende geführt wor-‐ den ist. Das Buchregal gewissermaßen als An-‐ schauungsmaterial sprachlicher Umbrüche und politischer Verwerfungen. Mit dem Krieg um das zerfallende Jugoslawien ab 1991 wurde sprachliche Identität als Bündnis-‐ fall oder als Gegnerschaft betrachtet, je nach Standpunkt. In meinem Büro habe ich auf einer Tafel das altkirchenslavische Jat gemalt. Und da-‐ runter dessen Weiterentwicklung zu e, ije und i im 100
Sprachgebiet des Serbischen und Kroatischen. Dann überrasche ich meine Besucher mit dem Hinweis, dass Sie hier einen der Schlüssel für die Kriegsführung im zerfallenden Jugoslawien sehen. Denn die Frontlinien verliefen meist entlang der sprachlichen Grenzen. Grob gesagt, wird -‐ bezo-‐ gen auf den štokavischen Hauptdialekt -‐ Serbisch -‐ mit Ausnahme von Montenegro -‐ von der Laut-‐ entwicklung gerne mit dem Ekavischen identifi-‐ ziert und Kroatisch mit dem Ijekavischen. Natür-‐ lich gibt es eine Menge dialektaler Überschnei-‐ dungen einerseits und andererseits eine Menge weiterer distinktiver Merkmale lexikalischer und morphologischer Art. Aber die Lautung ist in Ver-‐ bindung mit bestimmten lexikalischen Elementen am plakativsten, da sie sofort identifizierbar ist. Problematisch blieb -‐ und bleibt bis heute -‐ jedoch das gemischte Sprachgebiet von Bosnien-‐ Herzegowina, wo auch der blutigste Teil des Krie-‐ ges unter der Führung von Radovan Karadžić und General Mladić tobte. In jener Zeit erlebte ich Karadžić als gleichermaßen fanatischen wie ge-‐ bildeten Mann, der gerne auf seine literarische Ader als Lyriker verwies: Mit einer administrati-‐ ven, sprachpolitischen Anordnung wollte er seine Eroberungen gewissermaßen markieren. Denn er verfügte, dass in dem von ihm kontrollierten bos-‐ nischen Gebiet in den Medien und in der Verwal-‐ tung ausschließlich die ekavische, aus seiner Sicht also serbische Sprachvariante zu benutzen sei, unabhängig von den historisch verankerten 101
Sprachformen. Die Ironie dieser Anweisung ist jedoch, dass ausgerechnet in der Geburtsheimat von Radovan Karadžić, in Montenegro, Serbisch in der ijekavischen Variante gesprochen wird. Sprache als Ausdruck der Herrschaft und des Sieges -‐ dies ist ein häufig auftretendes histori-‐ sches Phänomen. So wurden den Deutschen in der Sowjetunion nach dem Großen Vaterländischen Krieg -‐ wie dort der Zweite Weltkrieg heißt -‐ der öffentliche Ge-‐ brauch und die Unterrichtung ihrer Muttersprache bis Mitte der 1950-‐iger Jahre verboten. Deutsch-‐ sprachige Medien wurden verboten. Ähnlich war es in den ehemals deutschen Ostgebieten in Polen oder auch -‐ nach dem Ersten Weltkrieg -‐ im Elsass. Auch die Russifizierung vieler Völker und Völker-‐ schaften in der Sowjetunion gehört in dieses Kapi-‐ tel von Sprache und Herrschaft, nicht unähnlich der Anglisierung der vielen Völker und Völker-‐ schaften im Commonwealth. Eine Anekdote be-‐ sagt, Napoleon habe sogar auf seinen Ägypten-‐ feldzug (1788-‐1801) Druckmaschinen mitschlep-‐ pen lassen, um gegen den britischen Einfluss dort die französische Sprache zu verbreiten. Doch zu-‐ rück zur so genannten jugoslawischen Frage: In der heutigen Nachkriegsgliederung Jugosla-‐ wiens haben wir es nun mit sieben Staaten zu tun. Sie haben sich -‐ mit Ausnahme vom mehrheitlich albanisch-‐sprachigen Kosova -‐ um eine Namensi-‐ dentität von Staat und Nationalsprache bemüht. Entsprechend groß sind auch die Anstrengungen, 102
in Lexik, Morphologie und Syntax wieder mehr Unterscheidendes als Gemeinsames zu entwi-‐ ckeln. So kann man heute bereits in der Wikipedia Artikel nicht nur zum Kroatischen und Serbischen, sondern auch zur neu konstituierten bosnischen oder montenegrinischen Sprache finden, Ergeb-‐ nisse des Zerfalls von Jugoslawien in Einzelstaaten. Natürlich konnte man zu jugoslawischer Zeit in Zagreb problemlos das Wort „telegram“ (Tele-‐ gramm) oder „aerodrom“ (Flughafen) benutzen. Doch mit der Unabhängigkeit wurde unter Präsi-‐ dent Franjo Tudjman eine Sprachnormierung ver-‐ folgt, die zunächst für den Schulunterricht und die Medien galt und solche Ausdrücke als ausschließ-‐ lich serbisch definierte. Meine damaligen Freunde, die bei der kroatischen Presseagentur HINA arbei-‐ teten, also der Hrvatska isvještajna novinska agencija, berichteten mir von den regelmäßigen Sprachreinigungen anhand langer Wortlisten: statt „telegram“ durfte nur noch „brzojav“ (wörtlich: Schnellmeldung) und statt „aerodrom“ nur noch „zračna luka“ (wörtlich: Lufthafen) benutzt wer-‐ den. Dies hat allerdings einen realen Hintergrund, denn Kroatisch hat sich in seiner Lexik nicht den Internationalismen so geöffnet wie andere slawi-‐ sche Sprachen. „Musik“ oder „Komponist“, meist in Varianten in vielen slawische Sprachen wieder-‐ zuerkennen, heißt es im Kroatischen (ähnlich wie im Slowenischen, Slowakischen und Tschechi-‐ schen) „glazba“ und „skladatelj“. Insofern macht auch die kroatische Sprachnormierung nach dem 103
Zerfall von Jugoslawien Sinn. Schwieriger ist es in Bosnien-‐Herzegowina. Nach dem Jugoslawienkrieg war ich vom Rundfunk in Sarajewo für den Medi-‐ enaufbau eingeladen. Als erstes drückten mir die Redakteure ein Buch über den korrekten Ge-‐ brauch der bosnischen Sprache in die Hand. Vor allem ging es darum, alle Ausdrücke der is-‐ lamischen Kultur und Religion in einheitlich nor-‐ mierter, nun bosnisch definierter Fassung zu be-‐ rücksichtigen. Unser berühmtes aspiriertes h in „kahva“ begegnete mir dabei wieder ebenso wie „lahko“ statt „lako“ (leicht) oder „mehko“ statt „meko“ (weich). Was wir als Studenten in unserer Unerfahren-‐ heit dem türkisch-‐arabischen Einfluss zugeschrie-‐ ben hatten, nämlich die aspirierte Lautung, findet sich jedoch auch in anderen slawischen Sprachen wieder. Deutlicher jedoch ist der türkisch-‐ arabische Einfluss in der Lexik, die nun für das Bosnische standardisiert wird. Das Wort für „Brot“ heißt kroatisch „kruh“, serbisch „hleb“ und nun bosnisch „somun“. Oder der „Uhrmacher“ kroa-‐ tisch „urar“, serbisch „časnovičar“ und bosnisch „sahadžija“. Diese Begriffe werden als Standard vor allem über die Medien in der Gesellschaft verankert. Nur nebenbei sei bemerkt, dass Bosnien-‐ Herzegovina mit seinen drei Entitäten als Gesamt-‐ staat nicht funktioniert und daher letztlich alle drei Sprachnormierungen von Kroatisch, Serbisch und Bosnisch dort nebeneinander existieren. 104
Und auch in Podgorica, der Hauptstadt Mon-‐ tenegros, gibt es nun ein sprachwissenschaftliches Institut, um Montenegrinisch -‐ laut Verfassung vom 19. Oktober 2077 offizielle Amtssprache -‐ gegenüber Serbisch abzugrenzen, obwohl trotz dialektaler Unterschiede Montenegro bisher als serbisches Sprachgebiet galt. Die frühere Ver-‐ trautheit mit den jeweils anderen Sprach-‐ und Schriftvarianten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien schwindet also dahin. Bevor ich zu einem anderen sprachpolitischen Brennpunkt der slawischen Welt der letzten drei Jahrzehnte weiterführe, möchte ich Sie kurz noch einmal an meinen Ausgangspunkt erinnern: „Sprechen Sie überhaupt Jugoslawisch?“, frag-‐ te mich damals ein Chefredakteur. Was glauben Sie, wie schwer es war und heute noch ist, in den Medien auch nur annähernd ver-‐ ständlich jene Differenzierungen darzustellen, über die ich Ihnen bis jetzt -‐ nur oberflächlich -‐ berichtet habe. Und dabei muss uns immer klar sein: Diese Differenzierungen wurden und werden politisch genutzt, auch bei Klischeebildungen und Typisierungen im Eigen-‐ und Fremdbild einer Re-‐ gion. Jetzt machen wir einen großen geographischen Sprung und ich nehme Sie auf meiner Reise in die Vergangenheit mit in die Sowjetunion, in die Zeit von Glasnost und Perestrojka. Allein diese Begrif-‐ fe, die heute als symbolische Wegmarken einer politischen Umbruchzeit gelten, waren bis zu Gor-‐ 105
batschow für die meisten Menschen, die Russisch sprachen oder lernten, ohne jeden signifikanten Inhalt. Natürlich fehlen diese Begriffe in der Gro-‐ ßen Sowjetenzyklopädie. Und in den Wörterbü-‐ chern der Vor-‐Gorbatschow-‐Zeit gibt es dafür auch keine politische Konnotation. Der Begriff „glasnost“ (гласность) hat aller-‐ dings eine Geschichte in Russland. Er taucht im 19. Jahrhundert bei Gerichtsverfahren unter Zar Ale-‐ xander II. auf und ist auch als „glasnost´ sudo-‐ proizvodstvo“ (гласность судопроизводство) in der Sowjetunion verwendet worden. Damit wurde der Zugang der Öffentlichkeit zu Gerichtsverfah-‐ ren beschrieben. Fachkundige Rechercheure ha-‐ ben den Begriff überdie im Artikel 9 der Sow-‐ jetverfassung von 1977 gefunden. Auch der Begriff „perestrojka“ (перестройка) wurde angeblich von Leonid Breschnjew auf dem 26. Parteitag der KPdSU schon einmal erwähnt. Doch dies blieb ohne Bedeutung. Erst mit Gor-‐ batschow ist die lexikalische und semantische Prägung erfolgt, die es heute möglich macht, bei-‐ de russischen Begriffe -‐ also Glasnost und Pere-‐ strojka -‐ nahezu weltweit in allen Medien ohne Übersetzung zu identifizieren und mit einer Be-‐ deutung zu hinterlegen. Wer sich gerne mit Semi-‐ otik und Charles Sanders Peirce beschäftigt, könn-‐ te an diesen Begriffen die Zeichentheorie anwen-‐ den, denn beide Begriffe haben den Charakter eines Icons erhalten, ähnlich einem Piktogramm, 106
dessen Bedeutung ebenfalls sprachenunabhängig identifiziert werden kann. Andere signifikante sprachliche Wendungen aus der Zeit der letzten Reformversuche in der Sowjetunion haben sich auf die russische Seman-‐ tik ausgewirkt, ohne als semiotische Zeichen den Weg über die russischen Mediensprache hinaus gefunden zu haben. Dazu gehört zum Beispiel „suchoj zakon“ (сухой закон), das Trockenheits-‐ gesetz, mit dem Gorbatschow den Alkoholmiss-‐ brauch eindämmen wollte oder „uskorenije“ (ускорение), die Beschleunigung, mit der die Pro-‐ duktion ebenso wie der gesellschaftliche Umbau angekurbelt werden sollte. Komposita, meist zusammengesetzte Wortun-‐ getüme wie „chosrasschtschot“ (хосрасщот), die „wirtschaftliche Rechnungsführung“ oder „min-‐ mjasomolprom“ (МИНМЯАСМОЛПРОМ) das „Ministerium für Milch-‐ und Fleischindustrie“, standen paradigmatisch für die Verbürokratisie-‐ rung der russischen Sprache. Wer mit der humorvollen Art der Russen ver-‐ traut ist, wird sich leicht ausmalen können, dass solche Begriffe schnell Gegenstand zahlreicher Witze geworden sind. Dies gilt unter anderem für den Begriff „vorfristig“ (досрочно), der bei den Meldungen über wirtschaftliche Erfolge in den sowjetischen Fernsehnachrichten eine wichtige Rolle spielte. Ununterbrochen wurde auf die vor-‐ fristige Planerfüllung hingewiesen, insbesondere bei der Ernte. „Wenn wir unseren Nachrichten 107
glauben“, so ironisierten meine Freunde das Wort „vorfristig“ (досрочно), „dann fahren wir jetzt schon die Ernte vom kommenden Jahr ein.“ Der ironisch-‐entlarvende Umgang mit der poli-‐ tischen Sprache -‐ auch und gerade in der Zeit der Perestrojka -‐ hat meiner Beobachtung nach unter anderem zu einer Ent-‐Autorisierung der Reform-‐ bemühungen mit beigetragen. Die vielen Auftritte von Michail Gorbatschow und sein Bemühen, mit den Menschen vor laufenden Fernsehkameras landesweit ins Gespräch zu kommen, konnten nicht verbergen, dass es wirtschaftlich in der Zeit von Glasnost und Perestrojka weiter bergab ging. Während der Westen über Gorbatschow jubelte, mussten in unterversorgten Regionen der Sowjet-‐ union wieder Bezugsscheine für Lebensmittel ein-‐ geführt werden. Dies wiederum verschaffte einem andere Ausdruck eine ungeheure Resonanz: Gor-‐ batschow wurde im Volksmund bald als „Schwät-‐ zer“ verunglimpft und boltat’ (болтать „schwat-‐ zen, schwadronieren“) galt als angemessene Be-‐ schreibung seiner politischen Auftritte. Diese Entwicklung hatte mich persönlich sehr überrascht, denn Gorbatschow war bei seinem ersten wirklich wichtigen Auftritt in der sowjeti-‐ schen Öffentlichkeit fast wie eine -‐ auch sprachli-‐ che -‐ Lichtgestalt erschienen. Dies wurde erstmals der breiten sowjetischen Öffentlichkeit im März 1985 bewusst, und zwar bei der Beerdigung von Gorbatschows Vorgänger Konstantin Tschernenko. Die Luft schien gefroren, doch wir Korresponden-‐ 108
ten hielten tapfer mit Kameras und Mikrofonen unterhalb vom Politbüro beim Leninmausoleum aus, um dann eine Sensation zu erleben. Mit nur wenigen Sätzen betrauerte Gor-‐ batschow eher emotionslos seinen Vorgänger. Was dann folgte, waren massive rhetorische Ver-‐ stöße gegen das Protokoll der kommunistischen Rituale, ein Schock für die Nomenklatura. Gor-‐ batschow wetterte in seiner ersten öffentlichen Rede als Generalsekretär plötzlich über die verlo-‐ gene, heuchlerische Gesellschaft im Land. Er schwang die Peitsche weit reichender Drohungen: Lügner müssten bestraft und Nichtstuer zur Arbeit angehalten werden. Die Reaktionen, die ich als Reporter auf der Straße einfing, waren ziemlich einmütig: „Der Mann kann frei sprechen. Er muss nicht jeden Satz ablesen. Er sagt offensichtlich, was er denkt.“ An dieser Stelle muss ich daran erinnern, wel-‐ che sprachlich-‐rhetorischen Quälereien der sowje-‐ tischen Öffentlichkeit in den Jahren vor Gor-‐ batschow zugemutet worden war: Ein Witz aus dem Ende der Breschnew-‐Zeit ist dafür charakteristisch: Olympische Spiele in Moskau 1980. Breschnew schreitet zur Eröffnung und beginnt: „O, O, O“. Dann unterbricht ihn sein Adjutant: „Genosse Breschnew, das ist nicht der Text, das sind die Olympischen Ringe.“ 109
Zwei quälende Jahre später kam der schwer kranke Jurij Andropow, dessen Texte fast immer von Sprechern im Fernsehen verlesen werden mussten, weil Andropow kaum noch öffentlich auftreten konnte. Es folgte der ebenfalls schwer kranke Tschernenko, der nur röchelnd seine kaum verständlichen Sätze formulierte. Über seine Un-‐ fähigkeit im Amt und sein mangelhaftes Sprach-‐ verständnis, deren negative Wirkung durch seine Fernsehauftritte noch verstärkt wurde, witzelte man mit der Doppeldeutigkeit des Wortes „vystuplenie“ (выступление), was „Auftritt“, aber auch „öffentliche Rede“ bedeutet. Im Politbüro wurde also der Generalsekretär aufgefordert: „Genosse Tschernenko, Ihr Auftritt [=Rede] bitte.“ („Товарищ Тчерненко, Ваше вы-‐ ступление, пожалуйтса.“) Tschernenko erhebt sich schwerfällig vom Stuhl, stampft einmal mit dem Fuß kräftig auf und setzt sich wieder hin. Und dann kam Gorbatschow: Und mit ihm Sprache als medialer Befreiungsakt, Sprache als politische Autorität, Sprache als Mittel der Politik. Warum aber wirkte in der Sowjetunion die Perestrojka in erster Linie als sprachlicher Auf-‐ bruch, der von den Medien getragen wurde? Die weißen Flecken der Geschichte wurden kommuni-‐ ziert, verbotene Literatur publiziert. Einige Bei-‐ spiele: die poetische Sprache eines Josef Brodskij kehrte zurück; Nikolaj Gumiljow, einer der begab-‐ testen Lyriker, 1921 als Konterrevolutionär er-‐ schossen, wurde wieder entdeckt; das „Reqiem“ 110
von Anna Achmatowa, „Die Kinder des Arbat“ (Деты Арбата) von Anatoli Rybakow, der Roman über die Schrecken der Stalinzeit „Leben und Schicksal“ (Жизнь и Судьба) von Vasilij Grossman wurden gedruckt, das „Hundeherz“ (Собачье сердце) von Michail Bulgakow durfte endlich auf der Bühne inszeniert werden. Man sprach dabei von der so genannten Schubladenliteratur, die versteckt worden war, aber in eingeweihten Zir-‐ keln als Untergrundausgabe kursierten. Kurz: es erfolgte die Rückkehr zur literarischen und damit zur sprachlich-‐kulturellen Identität der Gesell-‐ schaft. Einer der symbolträchtigsten Schritte war für viele die vollständige Rehabilitierung von Boris Pasternak. Seit seinem Tod 1960 verging kein Jahr, an dem sich seine Verehrer nicht zu Lesungen an seinem Grab in Peredelkino, der Schriftstellersied-‐ lung westlich von Moskau, getroffen hätten. Trotz übelster Hetzkampagnen gegen den Autor, der auf politischen Druck hin den Literaturnobelpreis nicht annehmen durfte, trotz seines Ausschlusses aus dem Schriftstellerverband war sein Ruf in Russland ungebrochen. Ich werde nie vergessen, wie auf dem 8. Schriftstellerkongress 1986, also ein Jahr nach Gorbatschows Amtsantritt, der Schriftsteller Jewgenij Jewtuschenko mit einer überraschenden Initiative auftrat. Er überreichte dem Präsidium einen offenen Brief, den vierzig weitere Schriftsteller unterschrieben hatten, und forderte zum hundertsten Geburtstag von Pas-‐ 111
ternak 1990 ein eigens Museum. Kurz darauf wur-‐ de Pasternak posthum wieder in den Schriftstel-‐ lerverband aufgenommen und sein verfemter Roman „Doktor Schiwago“ (Доктор Живаго) erstmals in der Sowjetunion veröffentlicht -‐ und zwar dreißig Jahre nach seinem Erscheinen im Westen. Dennoch gab es auch Zusammenstöße zwi-‐ schen der literarischen Rückbesinnung und den funktionärshaften Versuchen der Verweigerung. Selten habe ich in meinem Leben so engagiert Fernsehen geschaut wie in dieser Zeit von Glas-‐ nost und Perestrojka. Die Mediensprache streifte alles Formelhafte ab, das Parteirussisch wich all-‐ mählich aus den Nachrichten und immer mehr griffen Diskussionssendungen um sich, die sogar live und somit unzensiert ausgestrahlt wurden. Hierbei prallten die Welten aufeinander. Anschau-‐ lichste Beispiel war für mich eine Diskussion über stalinistische Lager. Ein junges Mädchen fragte dabei eine ehemalige Lagerinsassin, ob alles wirk-‐ lich so schlimm gewesen sei wie bei Alexandr Sol-‐ schenizyn im „Archipel Gulag“ (Архипел ГУЛАГ) beschrieben. Da griff der Moderator ein und meinte: „Wir können auf diese Frage nicht ant-‐ worten, denn wir kennen dieses Buch nicht. Es ist bei uns nicht erschienen.“ Um das künstlerische Werk des verfemten, exi-‐ lierten Nobelpreisträgers wurde während der Perestrojka ideologisch gerungen. Sogar Gor-‐ batschows Chefideologie Vadim Medwedew emp-‐ 112
fahl noch 1988, die Werke von Solschenizyn nicht zu veröffentlichen, da seine Positionen „der herr-‐ schenden Auffassung zu Geschichte und Revoluti-‐ on“ widersprächen. Der Machtkampf um diese Position wurde weiter öffentlich ausgetragen. Denn bald darauf strahlte das Fernsehen eine Aufzeichnung aus Irkutsk in Sibirien aus. Bei dieser Veranstaltung schilderte der russische Schriftstel-‐ ler Viktor Astaf’ev, wie er auf dem russischen Emigrantenfriedhof in Paris vor dem Grab des russischen Literaturnobelpreisträgers Ivan Bunin um Verzeihung gebeten habe für das, was ihm seine Heimat angetan hatte. Und so könne es kommen, fuhr Astaf’ev fort, dass er dereinst auch am Grab von Solschenizyn um Verzeihung bitten müsse. Vor dem Hintergrund solcher Ereignisse erhält die Wiederentdeckung und Bewertung der Rezep-‐ tion russischer Literatur eine weitreichende ge-‐ sellschaftspolitische Bedeutung, an der immer noch weiter geforscht werden kann. Doch damit nicht genug der Herausforderun-‐ gen für die Wissenschaft: Regelrechte Kapriolen musste immer wieder die russische Onomastik schlagen. Denn die politische Entwicklung hatte unmittelbar Auswirkung auf Namensgebung und Namensänderungen. Im Westen dürfte mit der Entstalinisierung die Umbenennung von Stalingrad (Сталинград) in Wolgograd (Волгоград) am be-‐ kanntesten sein, wobei eher weniger bekannt ist, dass diese Stadt ursprünglich Zaryzin (Царицын) 113
geheißen hatte. Mit der Perestrojka erfolgte ein Dammbruch der Um-‐ und Rückbenennungen. Fachleute für Ortsnamenskunde haben auf dem ersten sowjetischen Kongress für Toponomastik 1989 vorgeschlagen, zunächst zwanzig Städten ihre alten Namen wieder zu geben, die nach Per-‐ sonen der sowjetischen Nomenklatura umbe-‐ nannt worden waren. Aus Kalinin wurde wieder Twer, aus Kuibyschew wurde Samara, aus Gorki wieder Nishnij Nowgorod und -‐ nach längerer Diskussion -‐ wurde Leningrad wieder zu Sankt-‐ Peterburg zurückbenannt. Wer heute einen Stadt-‐ plan aus Moskau aus dem Jahr 1990 zur Hand nimmt, wird sich mit den Straßennamen nicht mehr zurecht finden. Denn auch hier haben um-‐ fangreiche Namensrückbenennung stattgefunden, von einzelnen Straßen bis zu ganzen Stadtvierteln. In dieser Zeit waren in der Sowjetunion aber auch andere sprachliche Emanzipationsbewegun-‐ gen zu beobachten. Und zwar unter den nicht-‐ slawischen Völkern ebenso wie unter den nicht-‐ russischen, slawischen Völkern. Den Begriff der Russifizierung habe ich vorhin schon kurz ange-‐ sprochen. Wertneutral kann man darin zunächst eine gemeinschaftliche Kommunikationsbasis für den Vielvölkerstaat sehen. Nicht-‐russische Völker haben damit jedoch auch eine Einschränkung ihrer nationalen Identität verbunden. Dies galt immer für die baltischen Staaten, die vor allem unter der Massenverbannungen ihrer Intelligenz und einer gezielten Russifizierung gelitten hatten; nicht ganz 114
so dramatisch, aber auch einschränkend wurde die Russifizierung in Zentralasien und Teilen der Ukraine und Moldawien empfunden. Ein Sonder-‐ fall blieb Weißrussland. Gerade in den baltischen Staaten, die staats-‐ rechtlich von den USA und ihren Verbündeten nie als Teil der Sowjetunion anerkannt worden waren, kämpfte man immer um die eigene sprachliche Identität, die heute wieder hergestellt worden ist. Schon in den 1980-‐iger Jahren, wenn ich etwa nach Estland fuhr, weigerten sich viele Esten mit mir Russisch als lingua franca zu benutzen. Lieber quälten sie sich mit einem damals noch rudimen-‐ tären Englisch, um gegenüber dem Ausländer zu zeigen, dass sie keine russische Provinz geworden sind. In Zentralasien hingegen war in den gemisch-‐ ten Siedlungsgebieten durchaus geläufig, dass man drei Sprachen nutzte. In der Regel immer eine der Turksprachen (Kasachisch, Usbekisch, Turkmenisch, Karakalpakisch, Kirgisisch) neben dem selteneren Dari/Tadschikisch/Persisch und natürlich immer Russisch. Hier galt Russisch als Sprache zur übrigen Welt und wird -‐ im Gegensatz zum Baltikum -‐ auch heute noch in den zentralasi-‐ atischen Republiken als Verkehrssprache akzep-‐ tiert. Ausgeklammert sei hier die Rolle des Russi-‐ schen bei den kleineren sibirischen Völkern, deren sprachliche Eigenständigkeit vermutlich schon in vorrevolutionärer Zeit weitgehend aufgegeben wurde. Im Transkaukasus hingegen konnten sich 115
immer Armenisch, Georgisch und Aserbeidscha-‐ nisch, letztere als Turksprache der Aseris auch im Iran, behaupten, abgesehen von einem Sprachen-‐ streit in der Chruschtschow-‐Zeit, ob man in Geor-‐ gien doch Russisch als einzige Amtssprache ein-‐ führen solle. Der Streit endete damit, dass meines Wissens Georgien das einzige Land ist, das seiner Sprache in der Hauptstadt Tbilissi (Tiflis) ein gigan-‐ tisches Monument errichtet hat, um sich damit symbolisch weiteren Versuchen der Russifizierung zu widersetzen. Anders zeigte sich die sprachliche Situation in den westlichen Teilen der Sowjetunion. Natürlich war Ukrainisch als Sprache nie verboten, doch man konnte in der Ukraine auf Russisch seine Schule absolvieren, studieren und arbeiten, ohne ein Wort Ukrainisch zu beherrschen. Durch die politischen Zerwürfnisse der letzten Jahre ist auch im Ausland bewusst geworden, dass heute noch die Ukraine geteilt ist in eine östliche, mehr rus-‐ sischsprachig geprägte, und eine westliche, ukrai-‐ nischsprachig geprägte Gesellschaft. Dennoch gab es in der Rada, dem Parlament, in der Regierung, in den Ministerien, den Universitä-‐ ten und den Medien -‐ beginnend mit der Pere-‐ strojka -‐ und dann massiv mit dem Zerfall der Sowjetunion eine ungeheure Renaissance der ukrainischen Sprache, deren Folgen für die Slawis-‐ tik meiner Meinung nach erst allmählich erkannt worden sind. 116
Diese Entwicklung gilt formal praktisch für die Souveränitätserklärungen aller ehemaligen Sow-‐ jetrepubliken und autonomen Republiken, die immer auch mit der Deklaration einer eigenen Amtssprache einher ging. Hier galt, wie später eben auch im zerfallenden Jugoslawien, dass nati-‐ onale und staatrechtliche Emanzipation mit einer nationalsprachlichen Emanzipation verbunden wurde. Dass dies nicht deckungsgleich überall zu gel-‐ ten hat, lehren uns Sprachen wie Englisch, Franzö-‐ sisch oder Deutsch, die weder staatsrechtlich an ein einziges Land noch an eine einzige Ethnie ge-‐ bunden sind. Schwieriger war in der zerfallenden Sowjetuni-‐ on die Lage des Weißrussischen. Leger ausge-‐ drückt, war die Sprache so gut wie tot, als ich in den 1980-‐iger Jahren in Weißrussland unterwegs war. Andererseits haben gerade die Intellektuellen die weißrussische Sprache als Befreiungsakt wie-‐ derbelebt, um Dinge zu veröffentlichen, die nicht dem politischen Kodex der Sowjetunion entspro-‐ chen haben. Ein mir befreundeter Journalist Ale-‐ xander Lukaschuk, Jahrgang 1955, nutzte die da-‐ mals meines Wissens einzige weißrussische Zei-‐ tung „Swjasda“, um Dissidentenliteratur und noch unbekannte Gräueltaten der Stalinzeit zu publizie-‐ ren. Nun muss man sich das wechselvolle Schicksal von Weißrussland vergegenwärtigen, um zu ver-‐ stehen, warum bis heute die eigene Sprache -‐ 117
neben vielen Übergangsdialekten zum Russischen -‐ nur auf einen kleinen Teil der städtischen Intelli-‐ genz beschränkt geblieben ist. An diesem Land zerrten in der Geschichte Polen und Russen; nicht nur die Sprache, sogar der Begriff „weißrussisch“ war im 18. Jahrhundert verboten. Hinzu kommt heute die Herrschaft des letzten Diktators in Eu-‐ ropa, Aleksandr (Aljaksandr) Lukaschenko, der unter russischen Nationalisten hoch populär ist, am liebsten Präsident einer weißrussischen-‐ russländischen Union geworden wäre und auch die russische Sprache in seinem Staat weiter för-‐ dert. Ich möchte Sie nicht damit langweilen, dass es unter Berufung auf das Ruthenische als dem histo-‐ rischen Vorläufer des Weißrussischen eine Bewe-‐ gung gibt, die neben Weißrussisch und Belarus-‐ sisch auch Weißruthenisch als Sprachbezeichnung verwendet. Nur habe ich noch in lebhafter Erinne-‐ rung, wie mich im Rigorosum der Münchner Sla-‐ wist Johannes Holthusen mit einem ruthenischen Text aus dem Großfürstentum Litauen quälte. Nur durch erfolgreiches Raten und Ausschluss-‐ Definition, welche Sprache es nicht sein könne, bin ich zum Ziel gelangt. Ein Blick über die Grenzen dieser Slawinen und deren sprachpolitisches Schicksal während der letzten Jahrzehnte sei mir noch gestattet. Beglei-‐ ten Sie mich auf meiner Reise nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Lettland, in die Hauptstadt Riga. Es dauerte keine fünf Jahre -‐ und Russisch, 118
die bislang beherrschende Sprache der städti-‐ schen Bevölkerung, war aus der Öffentlichkeit verschwunden: Aus den Universitäten, aus den Medien, auf den Märkten. Mein Problem ist: ich spreche kein Lettisch. Also bemühte ich mich, auf dem Markt einen bei unseren Kindern so belieb-‐ ten Waffel-‐Konfekt zu kaufen -‐ und zwar auf Rus-‐ sisch. Die Verkäuferin antwortete beharrlich auf Lettisch, erst bei meinem dritten Anlauf wechselte sie in die russische Sprache. Und dann erfuhr ich, dass bei dem Bemühen um die neue lettische Identität eine öffentliche Sprachenaufsicht unter-‐ wegs war, im Volksmund Sprachenpolizei genannt, die darauf achtete, dass immer erst Lettisch be-‐ nutzt wurde, bevor man auf Russisch wechseln konnte. Die Sprachengesetze haben Lettland auch Probleme gemacht während der Beitrittsverhand-‐ lungen zur Europäischen Union. Dann verabschie-‐ dete das lettische Parlament am 9. Dezember 1999 ein neues Sprachen-‐ und Integrationsgesetz, um der russischsprachigen Bevölkerung gleiche Teilhabe an dem neuen Staat zu ermöglichen. Erst so konnte Lettland 2004 Mitglied der Eu-‐ ropäischen Union werden. Sprachenpolitik kann also durchaus als Integrations-‐, aber auch als Des-‐ integrationspolitik verstanden werden. Dies gilt um so mehr, als mit dem Zerfall der Sowjetunion eine gewaltige Migration eingesetzt hat, und zwar innerhalb der ehemaligen Sowjet-‐ republiken wie Richtung Westen. Davon ist auch Deutschland nicht unberührt geblieben ist. Natür-‐ 119
lich gab es schon jahrzehntelang eine eher tröpfenweise Auswanderung von Russland-‐ deutschen. Die größte Welle von mehr als zwei Millionen Emigranten folgte jedoch innerhalb weniger Jahre, begleitet von den so genannten Kontingentflüchtlingem, also der jüdischen Zu-‐ wanderung nach Deutschland. Insgesamt wird die Zahl der russischsprachigen Zuwanderer in Deutschland auf rund drei Millionen geschätzt. Die Linguistik und Soziologie konnte hier ein sehr großes Feld von Themen finden, die heute immer noch weiter zu bearbeiten sind. Zunächst einmal darf man pauschal feststellen, dass weit über die Hälfte der Zuwanderer aus der Sowjetunion die deutsche Sprache so gut wie gar nicht be-‐ herrschten. Eine Faustformel besagt: je jünger die Zuwanderung ist, desto weniger Deutschkenntnis-‐ se sind bei den Zuwanderern nachweisbar. Es enstanden Interferenzen, die mir aus meinen früheren Besuchen in den deutschen Siedlungsge-‐ bieten etwa im Altai-‐Gebirge oder in Kasachstan sehr vertraut waren. “Ich hab genaruschait” (нарyшать/нарушить „verletzten, ein Gesetz übertreten“), sagte mir ein sowjetdeutscher Freund achselzuckend in Barnaul, als die Polizei ihm eine Strafe für zu schnelles Fah-‐ ren aufbrummte. Als Journalist hatte und habe ich die schreckliche Eigenschaft, dass ich immer alles gleich für eine spätere Verwertung notieren muss-‐ te. Auf diese Weise kam eine lustige Sammlung verrückter Ausdrücke zustande. 120
Umgekehrt konnte ich mich immer köstlich darüber amüsieren, dass es im Russischen das deutsche Lehnwort „Butterbrot“ (бутерброд) gibt, das aber nur ein trockenes Stück Brot mit Belag von Käse oder Wurst meint. Will ich dagegen am Buffet (russ. bufet, буфет) ein echtes Butterbrot haben, dann muss ich schon ein „бу-‐ терброд с маслом“, als ein „Butterbrot mit But-‐ ter“ bestellen. Solche Interferenzen zwischen zwei Sprachen sind solang unerheblich, wie sie einzelsprachlich isoliert auftreten und kommu-‐ nikativ eindeutig zu verstehen sind. Schwierig wird es jedoch, wenn ich nun das Land und die Sprache wechsele und aus dem Wissen der einen (also Russisch) und dem Erlernen der anderen Sprache (also Deutsch) Kommunikationsprobleme ent-‐ stehen. Seit vielen Jahren betreue ich im Rahmen der Civis-‐Medienstiftung die Jury für den Europäischen Radiopreis. Mit diesem Preis haben wir einmal ein Feature ausgezeichnet mit dem Titel „Geschichten aus Parallelistan“ von Frederik Kunth. Darin werden u. a. russlanddeutsche Aus-‐ siedler vorgestellt, die in ihrer eigenen Freizeitwelt und Musikszene leben. Deren Texte sind eine Mischung aus Deutsch und Russisch, die weder für einen Russen noch für einen Deutschen, sondern eben nur für diese Mischwelt aus beidem zu verstehen sind. In diesem Feature wird die Rockgruppe „Raster Republic“ aus Nürnberg vorgestellt, die sich eine musikalische und 121
sprachliche Kunstfigur geschaffen hat: Den russlanddeutschen Zuwanderer Tolja, 22 Jahre. Er schreibt russische Texte mit deutschen Wörtern, und er schreibt alles falsch. Beispiel: „у меня ан-‐ мелдовался“ (U menja anmeldowalsja. Wörtlich übersetzt: „Bei mir ist habe ich mich angemeldet“). Es entstehen aber auch echte deutschstämmige Substitute für russische Ausdrücke wie zum Beispiel „я пофарил“ (Ja pofarli, ich bin gefahren) statt „я поехал“ (ja pojechal). Inzwischen gibt es immer mehr Studien, die sich mit solchen sprachlichen Entwicklungen beschäftigen. Einschlägige Bibliografien weisen zahlreiche Titel dafür aus.10 Ein weiterer Themenbereich für soziolinguis-‐ tische Beobachtungen sind die russischen soziale Netzwerke wie „Odnoklassniki“, „V kontakte“ oder „Moj Mir“. Denn Sie haben dank der Migrati-‐ onsbewegung allein in Deutschland über eine Million Nutzer, in Russland und der GUS sind es sogar mehr als einhundert Millionen Nutzer. Hier entstehen für die Medienrezeption herausfor-‐ dernde Kommunikations-‐ und Informationsalter-‐ nativen für junge Zuwanderer. Eine ähnliche sprachliche Zwischenwelt kann man auch in Israel erleben. Die Zuwanderung nach dem Ende der Sowjetunion machen in Israel etwa eine Million der Bevölkerung dort aus. Die Zeitung Ma'ariv berichtete Ende der 1990-‐iger Jahre von 10
dem Versuch einer Knesset-‐Abgeordneten, Russisch -‐ neben Hebräisch und Arabisch -‐ als dritte Amtssprache einzuführen. In der Tat habe ich selbst einen Wahlkampf in Israel erlebt, bei dem alle Wahlspots im Fernsehen mit russischen Untertiteln ausgestrahlt wurden. Nun bin ich kein Fachmann für diese Region, aber ich stelle mir vor, dass auch in Israel die Sprach-‐ wissenschaft reichlich Anschauungsmaterial für Sprachkontakte, Interferenzen und soziolingu-‐ istische Untersuchungen findet. Zu guter Letzt möchte ich auf Auswirkungen hinweisen, die nicht nur durch die Migration, sondern auch durch touristische und wirtschaft-‐ liche Kontakte bedingt sind: Wer heute auf dem türkischen Flughafen in Antalya landet, wird mit russischen Ansagen und russischsprachigen Aufschriften konfrontiert. Wer im Klinikum Rechts der Isar in München zur Verwaltung geht, findet dort einen Hinweis auf das Büro für ausländische Patienten in den drei Weltsprachen Englisch, Arabisch und Russisch. Und jeder Immobilienmakler in Baden-‐Baden wirbt in seinem Schaufenster mit den Hinweis: „Мы говорим по русски“ („Wir sprechen Rus-‐ sisch“), garniert von Verkaufstafeln, die ebenfalls russisch beschriftet sind. Mir scheint jedoch der Kontakt einer anderen Sprache in die slawische Welt hinein von wachsender Bedeutung zu sein: nämlich die englische Sprache. 123
2007 ist in Russland der Roman „Duchless“ (Духлес) von Sergej Minajew erschienen, inwischen unter dem Titel „Seelenkalt“ auch auf Deutsch publiziert. Wenn ich den russischen Titel richtig verstehe, ist er eine russisch-‐englische Kontamination zwischen dem Wort „Geist“ (дух) und dem englischen Suffix -‐less wie „thoughtless“ (gedankenlos). Viel weiter geht natürlich schon die Alltags-‐ entwicklung nicht nur im Russischen, sondern in allen slawischen Sprachen, weil durch das Internet und die Globalisierung Englisch einen nachhalti-‐ gen Einfluss auch auf diese Sprachen ausübt. Vor der Zeit des Internet kannte man im Russischen zwar die „Dschinsi“ (джинсы) und „Metallisti“ (металлисты), also die Jeans und die Anhänger von Heavy Metall-‐Musik. Auch in der Sprache des Fußballs gibt es „goal“ (гол) das Tor oder „dribb-‐ ling“ (дриблинг), das Dribbeln. Nur am Rande sei erwähnt, dass sich die Lexikographie in der Sow-‐ jetzeit vergeblich um den russischsprachigen Er-‐ satz für diese englischen Lehnwörter bemüht hat. Der so genannte Volksmund ist eben stärker als jede Akademie der Wissenschaften. Heute hingegen scheint es kein Ende zu geben für die ständige Adaption neuer englischer Begrif-‐ fe wie „imagemaker“ (имэдж-‐мейкер), oder „looser“ (лузер), ganz zu schweigen von den funk-‐ tionalen Begriffen wie „login“ (логин) oder „brow-‐ ser“ (браузер). 124
Dieselbe Entwicklung lässt sich parallel im Pol-‐ nischen mit dem „Server“ (serwer), „Scanner“ (skaner), „Byte“ (bajt) oder dem „DJ“ (didżej) oder „dealer“ (diler) ebenso belegen wie im Tschechi-‐ schen oder Slowakischen. Nun bin ich leider im Westslawischen so gut wie gar nicht beheimatet. Deshalb stammt mein Wissen dort nicht aus eige-‐ ner Anschauung, sondern aus aktuellen Recher-‐ chen. Für das Polnische wird konstatiert, dass der ehemals starke Einfluss französischer Lehnwörter und deren französische Aussprache unter dem Einfluss des Englischen umformatiert wird: aus „image“ in französischer Aussprache wird nun „image“ in englischer Aussprache. Für das Slowakisch gilt, dass mit der Staatstrennung das Übergewicht des Tschechi-‐ schen im ehemals östlichen Landesteil zurückge-‐ gangen ist. Da ich früher als Korrespondent oft durch die Slowakei nach Ungarn fahren musste, habe ich mir in der Slowakei ein slawisches Espe-‐ ranto angewöhnt, mit dem ich aber gut durchkam. Heute werden Fernsehsendungen zwischen Tschechien und der Slowakei unübersetzt gegen-‐ seitig ausgestrahlt. Aber von tschechischer Seite höre ich, dass sich slowakische Jugendliche mit der tschechischen Sprache deutlich schwerer tun als umgekehrt. Auch hier also wird durch die Staa-‐ tenteilung mehr Trennendes entwickelt statt Ge-‐ meinsamkeiten zu fördern. Die Slawistik hat also -‐ wie wir gesehen haben -‐ in den letzten drei Jahrzehnten durch den politi-‐ 125
schen und gesellschaftlichen Wandel in Ost-‐ und Südosteuropa, durch dessen Reflex in den Medi-‐ en, durch die Migrationsbewegung und durch die noch anhaltende Ausweitung der Europäischen Union erheblich an wissenschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen. Die Aufgabenfelder für die Slawistik sind dadurch nicht kleiner, sondern größer geworden. Der Sla-‐ wistik und den slawistischen Regionalstudien wünsche ich daher viel Freude an diesen neuen Herausforderungen und sage der Bamberger Sla-‐ wistik zu ihrem dreißigjährigen Jubiläum ganz altmodisch „ad multos annos“ oder in der Sprache meiner polnischen Großmutter „sto lat“ -‐ „Hun-‐ dert Jahre“. Festvortrag anlässlich des 31-‐jährigen Beste-‐ hens des Instituts für Slawistik am 19. Juni 2012 in der Universität Bamberg. Eine überarbeitete Fas-‐ sung ist unter dem Titel „30 Jahre Wandel in der Slavia – ein Rückblick aus der Berufspraxis eines Journalisten“, in: Bulletin der Deutschen Slavistik 18/2012, S. 7-‐19 erschienen.
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Eine andere mediale Erfahrung: Mit Mariss Jansons in Russland Als ich 1983 Jahren meinen Dienst in Moskau als Hörfunkkorrespondent antrat, konnten die Pass-‐ und Zollkontrollen bei der Einreise fast ge-‐ nau solange dauern wie der Flug von München in die russische Hauptstadt: nämlich gut dreieinhalb Stunden. Diese Barriere ist nun überwunden. Rou-‐ tiniert scannen die Grenzbeamten in den vertrau-‐ ten Glaskästen Pass und Visum ein, um dann fast im Minutentakt den unendlichen Strom von Rei-‐ senden in das Land zu winken. Wer heute -‐ zu Recht -‐ die noch unausgereiften politischen Struk-‐ turen Russlands kritisiert, der muss verstehen, welchen Weg dieses Land zurückgelegt hat.
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Noch 1989, als ich Russland wieder verließ, war der Privatbesitz an Fotokopierern und Computer-‐ druckern verboten. Die Gerichte kannten nur das Strafmaß von ganzen Jahren und der Anwalt eines Angeklagten hatte erst mit Eröffnung der Haupt-‐ verhandlung Zugang zu den Ermittlungsakten. Von der totalen Staatskontrolle bis zu den heutigen Freiheiten ist ein weiter Weg zurückgelegt wor-‐ den, wenn auch die „gelenkte“ Demokratie weit entfernt ist von unseren politischen Idealen. Aus diesem Land kam Mariss Jansons. Er kam aber auch aus einem Land, in dem die musische Erzie-‐ hung und der Ehrgeiz zur künstlerischen Voll-‐ kommenheit eine Symbiose von strenger und liebevoller Menschenführung einging, die bereits im Kindesalter begann. In dieses Land hat Mariss Jansons sein BR-‐ Symphonieorchester geführt. Hier hat er nun mit seinen Gastspielen in Moskau und St. Petersburg den größten und psychologisch wohl wichtigsten Erfolg seines Musiklebens feiern können: Stehen-‐ de Ovationen, Blumenmeere, von Konzertbesu-‐ chern bereits in der Pause zum Dirigentenpodium gebracht, Verehrung für die Kunst und den Künst-‐ ler wie für die Musiker an den Instrumenten, lan-‐ ge Schlangen nach dem Konzert, um einen Hän-‐ dedruck oder wenigsten eine privaten Blick auf Jansons zu erwischen. Diese Eindrücke sind unver-‐ gesslich und intensiver als in New York, London, Luzern, Rom oder gar München. 128
Ich hätte mir nie träumen lassen, dass mich die Emotionen bei diesen Konzerten so überwältigen würden -‐ war mir doch das Programm vertraut, die Musiker, der Dirigent bekannt, habe ich doch hunderte von Konzerten mit dem Symphonieor-‐ chester erlebt. Aber in Russland war eben alles anders. Es war die Heimkehr eines Weltstars mit einem Orchester von Weltrang. Seit Jahren schon wurde Mariss Jansons sehnsüchtig von seinen Anhängern in Russland erwartet. Und diese Sehn-‐ sucht schlug um in erlösenden Jubel, der beson-‐ ders in St. Petersburg, der künstlerischen Heimat von Mariss Jansons, ein berauschendes Ausmaß annahm. Die Konzerte waren künstlerische Höhepunkte. Doch eine fast euphorische Grundstimmung be-‐ gleitete das Orchester auch die ganzen Tage hin-‐ durch. Wir labten uns im GUM, dem heutigen Konsumtempel am Roten Platz, an (teurem) Kaf-‐ fee und Kuchen, durchstreiften in kleinen Grup-‐ pen den Kreml oder die sagenhaften Moskauer Metrostationen und durchwanderten später stun-‐ denlang in St. Petersburg die Ermitage. Nur einmal bin ich fast in die Falle der alten Zeit getappt. Peter Meisel, Pressechef des Orches-‐ ters, wollte unbedingt die sagenumwobene Lub-‐ janka sehen, also die Zentrale des früheren KGB, heute FSB („Federalnaja Sluschba Besopasnosti“, zu deutsch: Föderaler Sicherheitsdienst) genannt. Für jeden erfahrenen Moskauer -‐ also auch für mich -‐ eine vertraute Adresse. Zurzeit von Glas-‐ 129
nost und Perestrojka hatte sich die KGB-‐Zentrale geöffnet, wurde umbenannt in FSB und ließ sogar Auslandskorrespondenten in die Archive. Im Ver-‐ trauen auf diese Veränderungen führte ich Peter Meisel und unseren Fotografen nicht nur an das Gebäude, sondern ging auf den Haupteingang zu, um durch die Tür zu spähen. In Sekundenschnelle war ein Milizionär zur Stelle mit der alt vertrauten Aufforderung: „Waschy Dokumenty! Ihre Doku-‐ mente.“ Hier bewährt sich, den Originalpass lieber im Hotel zu belassen und ein beliebiges anderes Schriftstück -‐ und sei es auch nur den Hausaus-‐ weis des Bayerischen Rundfunks -‐ vorzuweisen. Denn wenn es dem Herrn Milizionär gefällt, dann konfisziert er kurzerhand das Dokument. Als ich dem strengen Kontrolleur erklärte, dass ich mit den Geheimarchiven schon von früher vertraut war und ich im anschließenden Gespräch die Größe Russlands ausreichend bewundert hat-‐ te, ließ er uns laufen, nicht ohne Peter Meisel zu warnen, er möge seine Kamera sofort in der Ta-‐ sche verschwinden lassen. Aber auch dies gehört -‐ immer noch -‐ zum heutigen Russland. Aber was muss der Hörfunkdirektor des BR auch an den Türen des russischen Geheimdienstes schnüffeln! Irgendwie hat mich der Recherchentrieb des Kor-‐ respondenten wohl noch nicht verlassen. Ein anderes, ebenfalls zutiefst russisches Er-‐ lebnis, war ein spontanes Pressegespräch von Mariss Jansons mit örtlichen Journalisten im Tschaikowskij-‐Konservatorium: 130
Ein Flur neben dem Konzertsaal, in dem laut-‐ stark und voller Hingabe junge Studenten ihre musikalischen Leistungen darboten. Um uns her-‐ um eine Gerenne und Getue. Jansons vor einem kleinen Tischchen, auf dem sich die Mikrophone drängten und fast übereinander gestapelt werden mussten. Alles improvisiert. Doch als die Kollegin-‐ nen und Kollegen ihre Fragen stellten, zeigten sie sich als wahre Kenner der Materie. Sie verwickel-‐ ten Jansons in einen fachlichen Disput, den ich auf keiner westlichen Pressekonferenz mit ihm bislang erlebt habe. Irina Jansons, die neben mir saß, meinte voller Stolz: „Sehen Sie, Johannes, dass ist Russland. Nichts funktioniert. Aber die Menschen sind gebildet. Und sie interessieren sich für Inhal-‐ te.“ Die Grundlagen dieser -‐ vor allem musischen -‐ Bildung konnten wir in St. Petersburg bewundern: Jansons musikalische Spezialschule und sein Kon-‐ servatorium. Wir trafen alte Mitschülerinnen, die von ihm schwärmten, darunter Ljubow Rudowa, die heute eine Klavierklasse unterrichtet. „Der Mariss, der kam aus dem fernen Riga, der war so anders als wir, so viel bürgerlicher. Er war sofort der Schwarm aller Mädchen.“ Später gesteht der gebürtige Lette Mariss Jansons in gemütlicher Runde bei Piroggen und Bliny, dass er in seinem ersten russischen Diktate 47 Fehler hatte. Er er-‐ hielt keine Zensuren mehr, statt dessen Privatun-‐ terricht. „Nach drei Monaten“, so meint er voller Stolz, „habe ich nur noch vier Fehler im Diktat gehabt.“ 131
Der kleine Junge aus dem fernen Riga ist heute einer der Großen im ohnehin schon berühmten Kreis Petersburger Musiker. Die kleinen Zöglinge in seiner Musik-‐Spezialschule sprechen den Na-‐ men Jansons voller Ehrfurcht aus. Es sind sieben-‐ bis vierzehnjährige Jungen und Mädchen, die ne-‐ ben Russische und Geschichte, neben Mathema-‐ tik, Physik und Chemie noch mindestens fünf Stunden am Tag Geige, Klavier, Cello oder Akkor-‐ deon (für die akademische Volksmusik!) üben. Seit dem Gastkonzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in St. Petersburg haben sie ein neues Ziel entdeckt. „Wir möchten später einmal in diesem weltberühmten Orchester von Mariss Jansons in München spielen“, erklären sie mit leuchtenden Augen. Beitrag für das BR Intranet 2009.