OTHERING UND ANTI-MUSLIMISCHER RASSISMUS IN DER SCHULE IMPLIKATIONEN FÜR ENTWICKLUNGSPROZESSE UND PÄDAGOGISCHE PRAXIS
PROF. DR. JULIA EKSNER FRANKFURT UNIVERSITY OF APPLIED SCIENCES
Ein ‘anderer’ Blick
auf Entwicklung und Bildungsverläufe
Forschung zu minorisierten Jugendlichen v.a. durch Konzepte der Migrationsforschung
Migrationshintergrund, sozioökonomisches Kapital, Bildungsstand der Eltern, Sprachkompetenz
‘Othering’ (‘Andern’,’Fremd-Machung’) als kaum beachteter Prozess in der Entwicklungs- und Bildungsforschung
Aufwachsen als ‘Muslim’ in Deutschland soziostrukturelle Marginalisierung (Disintegration) von Jugendlichen mit MH
‘neu’ hinzu kommen stereotypisierende und stigmatisierende Diskurse über ‘Muslime’
‘Muslim’: von religiöser Zugehörigkeit zu ethnisierter Zuschreibung
“Wer ist Muslim und wenn ja wie viele?” Zuschreibung der Kategorie anstatt SelbstIdentifizierung
35 % Kinder (unter 12) in Deutschland mit MH (2016)
hieraus Zuschreibung als ‘Muslim’ für spezifische Gruppen
Pan-ethnische Kategorie ‘Muslim’ umfasst diverse ethnische und religiöse Zugehörigkeiten und Orientierung Haug 2010; Spielhaus 2013
Gesellschaftlicher Kontext Mediale und populäre Diskurse zeichnen Muslime als
nicht integriert
Kultur und Werte als nicht-kompatibel
Geschlechtspraktiken nicht emanzipatorisch
fundamentalistisch und politisch radikalisiert
‘muslimische Jugendliche’ werden als einheitliche und scheinbar erkennbare Problemgruppe markiert Vertovec & Rogers 1998; Brettfeld & Wetzels 2007; Ewing 2008; Zick 2011; Inowlocki & Bernstein 2015
47/2004
Okt. 2006
Aug. 2014
Feb. 2015
Wahrnehmung von ‘Muslimen’ durch Mehrheit Islam als Bedrohung (57%)
Islam passt nicht in eine westliche Gesellschaft (61 %)
fühlen sich als Fremde im eigenen Land (40%)
Migration von Muslimen sollte gestoppt werden (24%)
Religionsmonitor Dez 2015
Anti-muslimischer Rassismus AmR als gesellschaftlich akzeptierte und “evidente” Vorurteilsstruktur
Ethnisierung (‘racialization’) von Religion (Islam) und religiöser Zugehörigkeit (Muslim)
‘Neuer Rassismus’ (Barker, 1981) / ‘kultureller Rassismus’ (Balibar, 1991)
Physische Charakteristika (Aussehen, Abstammung, Kleidung) werden als Marker einer Gruppenzugehörigkeit gesehen (‘Muslim’)
Der Gruppenzugehörigkeit werden essentialisierte Eigenschaften (‘anti-modern’, ‘fundamentalistisch’) zugeschrieben Hafez 2014; Klug 2013, 2014: Meer 2014; Modood 1997; Shooman 2014
Othering
(‘Fremd-Machung')
Die Differenzierung und Distanzierung der Gruppe, zu der man sich zugehörig fühlt, von anderen Gruppen
Anti-muslimisches Othering in der Wahrnehmung der Betroffenen
SchülerInnen, die sich als muslimisch identifizierten, finden:
Die Deutschen lehnen Muslime ab (35,9%)
Es macht mich wütend, dass nach jedem Terroranschlag als Erstes die Muslime verdächtigt werden (84,9%) Brettfeld & Wetzels 2007
Othering in der Schule Phänomenologischer Ansatz:
Wie wird Othering in der Schule durch betroffene Jugendliche erfahren?
Wie wirkt diese Erfahrung auf die Entwicklung von Jugendlichen?
“Eure Werte sind anders” Religiosität als Problem
(Nominell) säkulare Bildungsinstitutionen
Zivilisatorisches Narrativ
Der ‘Westen’ als rational, säkular, humanistisch, fortschrittsorientiert
Der ‘Orient’ als irrational, religiös, undemokratisch, und reaktionär /traditionalistisch
vs. christliche Praktiken in Gesellschaft und Institutionen fest verankert (Kalender, Wochentage, Feiertage, Symbole, Zugehörigkeit als Vorteil, keine klare Trennung von Kirche und Staat)
Salvatore 2006; Asad 2003; Habermas 2006: 2008; Mignolo 1995;2003
“Wer ist hier ein richtiger Deutscher?”
Ethnisiertes Verständnis der Staatsbürgerschaft
Transitionale ethnische Demokratie
Informelle Unterrichtspraktiken reflektieren ein ethnisiertes Narrativ
ethnische Identität = staatsbürgerliche Identität
Für Jugendliche Widersprüche zwischen Theorie des polit. Unterrichts und gelebter Erfahrung Anyon 1979; van Krieken 2000; Bloemraad et al. 2008: Lemish 2010; Faroutan et al. 2015
Mikroagressionen Im Gespräch auf das ‘anders-sein’ des/r Anderen hinweisen
“unschuldige Fragen”
nicht-hinterfragte Stereotype äußern Huber et al. 2015
Auswirkungen auf Entwicklungsprozesse Wie wirkt anti-muslimisches Othering auf das Selbstbild und Identitätsverläufe der betroffenen Jugendlichen?
Selbst und Identität im Jugendalter
“Wer bin ich?” - Zentrale Aufgabe im Jugendalter
Entwicklung von Ego-Identität und sozialen Identitäten
In heterogenen Gesellschaften: Als Mitglied von spezifischen kulturellen, ethnischen, religiösen oder politischen Gruppen Erikson 1959; Marcia 1991; Spencer et al. 2003
Stigmatisierte Identitäten Othering führt zu
Nichtverfügbarkeit sozialer Identitäten (‘Deutsch’)
Stigmatisierung verfügbarer - und zugeschriebener - sozialer Identitäten (‘Muslim’)
gelebte Erfahrung von Ausschluss und Stigmatisierung (chronischer Stressor)
Selbstwahrnehmung (Stigma/Selbstwert, Double-Consciousness/ Stereotype-Threat)
Folgen von Stigmatisierung für Entwicklungsverläufe
Soziale und institutionelle Disintegration (z.B. Zugang zu Ausbildungsplätzen und Stellen)
Verletzung des ‘sicheren Selbst’ (Ego-Identität)
Brechungen, Widersprüche, Ausschlüsse
Spencer et al. 2004; Heitmeyer & Anhut 2008
Offene Forschungsfragen Wird der Selbstwert durch Othering angegriffen?
Wird die Identitätsentwicklung angegriffen?
Führt dies zu erhöhter Vulnerabilität im weiteren Entwicklungsverlauf?
Bewältigungsstrategien der Jugendlichen
Religion und Spiritualität als stabilisierende Ressourcen (Spencer et al. 2003)
Betonung der ethnischen Identität (Anhut & Heitmeyer 2000)
politische und religiöse Radikalisierung
“Identity Seekers” (Borum 2011)
die extreme Botschaft gibt Lebenssinn und ergibt ein stabiles Selbst (Zick 2015; Kilb 2015)
Pädagogische Ansätze Prävention & Intervention
Betroffenen Jugendlichen zuhören
mediale Bilder dekonstruieren
Erfahrungen untereinander austauschen
Workshop mit SchülerInnen: “Kaum zu glauben Religionen im Gespräch” (2014)
auf Ihre Grund- und Menschenrechte hinweisen
Neue Ideen
für die pädagogische Praxis Selbstwert und Identität der betroffenen Jugendlichen ansprechen
Positive Youth Development (PYD)
Partizipation
Politische Identitäten
Diversitäts-Trainings und Sensibilisierung der LehrerInnen
Fazit AmR als gesellschaftlich akzeptierte und “evidente” Vorurteilsstruktur
anti-muslimisches Othering als Alltagserfahrung der betroffenen Jugendlichen
Offene Fragen: Beeinflusst die Erfahrung des antimuslimischen Othering die Identitätsentwicklung?
Pädagogische Praxis noch in den Anfängen
Danke eMail:
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Fazit ‘Muslimische’ religiöse Zugehörigkeit (via Zuschreibung) als leere Kategorie
Wirkungen religiöser Orientierung bisher weitgehend unerforscht
Othering und Ethnisierung als ‘Muslim’ über phänomenologische Interpretation der Betroffenen vermutlich wirksam
Forschung und Daten nötig
Viktimisierung von Muslimen
Diskriminierung und Übergriffe (60%)
Schwere körperliche Angriffe (22%)
Brettfeld & Wetzels 2007