Unfallchirurg 2003 · 106:419–423 DOI 10.1007/s00113-003-0585-x
Kasuistik C. Neumann1 · P. Asbach1 · B. Fuechtmeier1 · M. Maghsudi2 · M. Nerlich1 1 Abteilung für Unfallchirurgie,Klinikum der Universität,Regensburg 2 Abteilung für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Ostholstein-Kliniken,Eutin
Operative Versorgung einer Acetabulumfraktur in der Schwangerschaft Fallbericht und Literaturübersicht
Zusammenfassung Wir berichten über eine Patientin, die sich, in der 23.Woche schwanger, im Rahmen eines Verkehrsunfalls eine Acetabulumfraktur zuzog, die 6 Tage nach Trauma operativ versorgt wurde; 1 1/2Jahre nach dem Unfall ist die Mutter klinisch beschwerdefrei, das Kind entwickelte sich unauffällig und es besteht keinerlei Anhalt für eine Schädigung.Aufgrund dieses Falls sowie der entsprechenden Literatur sehen wir die operative Versorgung einer Acetabulumfraktur in der Schwangerschaft bei bestehender Indikation als die Methode der Wahl an, da sie für die Mutter zweifellos die beste Behandlung darstellt und gleichzeitig für Mutter und Kind mit nur minimalem Risiko einhergeht. Schlüsselwörter Acetabulumfraktur · Interne Fixation · Beckenfraktur · Schwangerschaft
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cetabulumfrakturen sind komplexe Verletzungen,die einer Versorgung durch einen erfahrenen Unfallchirurgen bedürfen. Sie entstehen meist durch hohe Aufprallenergien im Rahmen von Verkehrsunfällen oder Stürzen aus größerer Höhe [7]. Dennoch sind Acetabulumfrakturen relativ selten. In einer Studie der Arbeitsgemeinschaft Becken der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie und der Deutschen Sektion der AO-International wurden in 10 Kliniken im Zeitraum von 1991–1993 im Durchschnitt 17,9 Frakturen pro Klinik und Jahr behandelt [2]. Besteht gleichzeitig eine Schwangerschaft, komplizieren sich Diagnostik und Therapie erheblich. Sind die Verletzungen der Mutter akut lebensbedrohlich, muss, sofern eine Sectio caesarea nicht möglich ist, die Behandlung auf das Überleben der Mutter ausgerichtet werden, wodurch indirekt auch das beste Outcome für das Kind erreicht wird [10]. Handelt es sich jedoch um eine nicht akut lebensbedrohliche Verletzung, wie im vorliegenden Fall um eine isolierte Acetabulumfraktur, muss die Indikationstellung zur operativen Versorgung den Interessen von Mutter und Kind in vernünftigem Maße gerecht werden. Bislang wurden in der deutschen und englischen Literatur lediglich 3 Fälle einer operativ versorgten Acetabulumfraktur in der Schwangerschaft berichtet [4, 13, 24]. Der Prozess der Indikationsstellung im Hinblick auf größt-
mögliche Sicherheit für das Kind und gleichzeitig bestes Outcome für die Mutter soll anhand dieses Falls jedoch ausführlicher dargestellt werden.
Kasuistik Die Patientin [Alter 25 Jahre, 23. Schwangerschaftswoche (SSW),Gravida 1,Para 0] verunglückte als angeschnallte Beifahrerin in einem Pkw-Unfall, wobei ihr Fahrzeug frontal mit der rechten Seite des entgegenkommenden Fahrzeuges kollidierte. Die Patientin war im Fahrzeug eingeklemmt, es bestand jedoch keine Bewusstlosigkeit (Glasgow-Coma-Scale=13). Sie konnte unter Schmerzen alle Extremitäten bewegen. Der Notarzt äußerte bereits am Unfallort den Verdacht auf eine Fraktur im Bereich der linken Hüfte. Die Patientin konnte den Notarzt über das Vorliegen der Schwangerschaft unterrichten. Bei Aufnahme in die Klinik wurden eine Luxation des linken Femurkopfes und eine dislozierte Acetabulumfraktur links als Querfraktur mit Beteiligung der Hinterwand (AO-Klassifikation Typ B1.2a2) diagnostiziert (Abb. 1). Es bestand keine neurologische Symptomatik. © Springer-Verlag 2003 Dr. C. Neumann Abteilung für Unfallchirurgie, Klinikum der Universität, Franz-Josef-Strauß-Allee 11,93053 Regensburg E-Mail:
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Unfallchirurg 2003 · 106:419–423 DOI 10.1007/s00113-003-0585-x
Kasuistik
C. Neumann · P. Asbach · B. Fuechtmeier M. Maghsudi · M. Nerlich Surgical treatment of an acetabular fracture during pregnancy Abstract We report about a case of a pregnant women in the 23rd gestation week who sustained an isolated acetabular fracture in a car accident. The fracture was treated surgically by open reduction and internal fixation 6 days after trauma.The outcome for the mother and the baby was excellent; both could be followed up for 1.5 years.The baby did not suffer from any disease related to the diagnostic or surgical procedures.We conclude from this case and from reviewing the literature that the operative fixation of an acetabular fracture during pregnancy is the appropriate treatment with minimal risk for the unborn child and best outcome for the mother. Keywords Acetabular fracture · Internal fixation · Pregnancy
Abb. 2 䉴 Alaaufnahme nach Reposition
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Abb. 1 䉳 Becken a.-p. vom Unfalltag vor Reposition
Nebenbefundlich ergaben sich eine Fraktur der 7. Rippe links sowie multiple Schürfwunden an Thorax und Extremitäten. Die ebenfalls durchgeführte Ultraschalluntersuchung des Fötus und der Plazenta ergab keinen Hinweis auf eine Schädigung, sodass von gynäkologischer Seite primär kein Handlungsbedarf bestand. Der dislozierte Femurkopf mit deutlicher Beinlängenverkürzung links wurde sofort in Intubationsnarkose reponiert. Nach Reposition wurden eine weitere Beckenübersichtsaufnahme sowie Ala- (Abb. 2) und Obturatoraufnahmen (Abb. 3) angefertigt. Es bestand keine erneute Luxationstendenz.
Die Morphologie der Acetabulumfraktur begründete eine Operationsindikation. Bei unauffälliger Schwangerschaft wurde der Patientin die operative Therapie nach Abwägung der Risiken für Mutter und Kind angeboten. Die Patientin stimmte der geplanten Osteosynthese zu. Bereits vom Unfalltag an wurde eine Thromboseprophylaxe als „High-riskProphylaxe“ mittels Heparinperfusor (1000 IE/h) durchgeführt. Daneben erfolgte durch die mitbetreuenden Gynäkologen eine perioperative Tokolyse. Zur Überwachung des Fötus wurde täglich sowie prä- und postoperativ ein CTG (Kardiotokogramm) angefertigt. Die Operation wurde am 6. Tag nach Trauma in Linksseitenlage durchgeführt. Über einen Kocher-Langenbeck-Zugang ließ sich die Fraktur problemlos reponieren, das abgesprengte dorsokranielle Fragment konnte gefasst werden. Die Osteosynthese erfolgte mit einer 8-LochBeckenrekonstruktionsplatte sowie 7 Kortikalisschrauben. Eine intraoperativ durchgeführte Röntgenkontrolle zeigte die korrekte Implantatlage. Intraoperativ ergaben sich von chirurgischer wie anästhesiologischer Seite keine Komplikationen, der intraoperative Blutverlust betrug ca. 100 ml, der postoperative Hämoglobin-Wert betrug 8,2 g/l, sodass auf eine Fremdbluttransfusion verzichtet werden konnte. Die Patientin konnte noch am selben Tag auf die Normalstation zurückverlegt werden.
Der postoperative Verlauf war komplikationslos, es trat lediglich ein Harnweginfekt auf, der mit kalkulierter Antibiotikagabe therapiert wurde. Die Patientin konnte am 2. postoperativen Tag mobilisiert werden, am selben Tag wurde die Tokolyse abgesetzt. 3 Tage nach Mobilisation wurde die Thromboseprophylaxe auf Calciparin 0,4 ml s.c. umgestellt und bis zum Tag der Entlassung fortgeführt. Die täglich durchgeführten CTG-Untersuchungen ergaben keine Besonderheiten der Herzaktionen des Fötus. Weitere sonographische Kontrollen erbrachten ebenfalls keine Hinweise auf Schäden des Fötus oder der Plazenta.Die postoperative Röntgenkontrolle (Beckenübersicht,Al- und Obturatoraufnahmen) zeigte die anatomische Stellung im Gelenk sowie korrekte Lage des eingebrachten Osteosynthesematerials (Abb. 4). Die Patientin wurde nach 14 Tagen zur stationären Rehabilitation verlegt. In der 38. SSW konnte die Patientin von einem gesunden Kind entbunden werden (komplikationslose Sectio caesarea, 3030 g, Apgar 08/08/09). Auch zum Zeitpunkt der letzten Vorstellung der Patientin 18 Monate nach dem Unfall gibt es bei dem Kind keinen Hinweis auf eine mögliche Schädigung. Die Patientin ist beschwerdefrei, es besteht keine Bewegungseinschränkung der linken Hüfte. Radiologisch war die Fraktur bereits nach 6 Monaten durchbaut (Abb. 5).
Abb. 3 䉴 Obturatoraufnahme nach Reposition
Diskussion Das klinische Routinevorgehen zur Versorgung einer Acetabulumfraktur muss bei einer schwangeren Patientin sehr genau überdacht werden. Wegen der Seltenheit einer derartigen Konstellation gibt es in diesem Fall keine bewährte Behandlungsstrategie, die auf Studienergebnissen oder großer Erfahrung des Operateurs beruht. Daher muss zunächst die Behandlung erwogen werden, die im Standardfall, d. h. ohne Vorliegen einer Schwangerschaft, durchzuführen wäre. Die Indikation zur operativen Versorgung war in unserem Fall aufgrund der Beteiligung der kranialen Gelenkfläche (weight bearing dome) gegeben, da eine konservative Behandlung bei diesen Frakturen ein deutlich schlechteres Outcome zur Folge hat [5]. Zudem sollte eine rasche Versorgung innerhalb von 7 (maximal 14) Tagen angestrebt werden, da eine anatomische Rekonstrukti-
Abb. 4 䉴 Postoperative Kontrolle
on nach dieser Zeit deutlich problematischer wird [17], wobei jedoch in der Literatur Uneinigkeit darüber herrscht, ob die operative Versorgung in der Akutoder der Postakutphase erfolgen soll (s. unten). Eine Versorgung der Fraktur nach der Schwangerschaft wäre jedoch in keinem Fall sinnvoll gewesen. Im 2. Schritt müssen die Risiken der (operativen) Behandlung für Mutter und Kind abgeschätzt werden (s. unten), wodurch letztendlich die Entscheidung zur definitiven Behandlung getroffen wird. Diese Entscheidung fiel auf der Grundlage der im Folgenden beschrieben Datenlage.
Bei Verletzungen außerhalb des Skelettsystems kann trotz Schwangerschaft eine operative Versorgung mit vertretbarem Risiko für Mutter und Kind erfolgen [11, 20]. Zur operativen Versorgung von Beckenverletzungen in der Schwangerschaft liegen keine Studien vor, die ein standardmäßiges Vorgehen rechtfertigen würden, es finden sich lediglich Fallberichte [4, 12, 13, 14, 24]. Gegen eine operative Versorgung von Beckenfrakturen sprechende Fakten sind nicht publiziert. Pearlman et al. [15] konnten in einer prospektiven kontrollierten Studie nachweisen, dass eine direkte Verletzung des Der Unfallchirurg 5•2003
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Kasuistik den und stellt keine Kontraindikation für den operativen Eingriff dar, da auch ohne CT und 3D-Rekonstruktion der Eingriff von einem erfahrenen Beckenchirurgen,wenn auch unter erschwerten Bedingungen, durchgeführt werden kann (mit konventionellen Röntgenaufnahmen ist die grenzwertige Dosis kaum zu erreichen [23]).
Thromboseprophylaxe
Abb. 5 䉳 Kontrolle 6 Monate postoperativ
Fötus durch das Trauma sowie Frühkomplikationen in den ersten Stunden nach Trauma das Outcome des Fötus bestimmen. Danach ist das Outcome der Schwangerschaft mit dem der Normalbevölkerung identisch. Findet eine Operation erst in der Postakutphase statt, so sind negative Auswirkungen im Sinne von Frühkomplikationen durch den operativen Eingriff nicht zu erwarten. Darüber hinaus war auch für unsere Patientin in der Postakutphase ein günstigster Operationszeitpunkt gegeben, da nach sofortiger Reposition der Luxation lagerungsstabile Verhältnisse gegeben waren und eine Extension nicht indiziert war. Im Normalfall (d. h. ohne Vorliegen einer Schwangerschaft) wird die Versorgung einer Acetabulumfraktur innerhalb von 7 (maximal 14) Tagen gefordert [3, 17]. Uneinigkeit besteht jedoch darüber, ob der operativen Versorgung in der Akutphase (einigen Stunden nach Trauma) [16] oder der Postakutphase (wenige Tage nach Trauma) [19] der Vorzug zu geben ist. Da aber wie ober bereits erwähnt im Falle einer Schwangerschaft die Gefahr für den Fötus in der Akutphase liegt, wählten wir 6 Tage nach Trauma als geeigneten Operationszeitpunkt. Es soll nochmals angemerkt werden, dass hier das Vorgehen bei einer nicht akut lebensbedrohlichen Verletzung erörtert wird, bei polytraumatisierten Patientinnen ist auf die Arbeit von Pape et al. [14] zu verweisen.
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Neben der Entscheidung zur operativen Versorgung sind weitere Aspekte zu diskutieren, die bei Patientin und behandelndem Arzt zu großen Bedenken in Bezug auf den operativen Eingriffs führen könnten.
Radiologische Diagnostik Umfangreiche radiologische Diagnostik (Beckenübersicht, Ala- und Obturatoraufnahmen) ist notwendig, um eine Acetabulumfraktur ausreichend diagnostizieren zu können [18] und somit eine optimale Versorgung gewährleisten zu können. Fruchtschädigende Potenz durch radiologische Strahlenexposition wird in der Literatur ab einer Dosis von >10 rad vermutet [23]. Daher wird in der Praxis diese Dosis nochmals halbiert, um mit 5 rad sicher im nicht bedenklichen Bereich zu liegen [1]. In unserem Fall liegt die Dosis deutlich darunter (0,504 rad + intraoperative Durchleuchtung