Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

July 21, 2017 | Author: Felicitas Schmieder | Category: World History
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Im Rahmen einer Weltgeschichte, die sich ganz besonders auf die vernetzenden Faktoren konzentrieren will und auf diejenigen Elemente, die das, was wir heute gerne Globalisierung nennen, schon in vormodernen Zeiten befördert haben, nehmen die zentralasiatischen Steppennomaden eine wichtige Stellung ein: mit ihren anscheinend ephemeren, im Einzelnen kaum greifbaren und normalerweise nur von außen, seitens von ihnen berührter sesshafter Schriftkulturen beschriebenen Reichsbildungen. Sie nämlich bildeten in ihrer Eigenschaft als besondere, „weiche“ und zugleich expansive politische Gebilde zwischen abgegrenzteren Einheiten immer wieder Brücken zwischen den Kulturregionen Ost-, West- und Südasiens sowie des Mittelmeerraumes, sie stellten die Schnittstellen zur Verfügung, über die Wissen in einem weiten Sinne zwischen Kulturen vermittelt werden konnte bis hin zur Ausbildung überkultureller Phänomene. Vermittelt wurden Waren ebenso wie Menschen, Technologien ebenso wie Religionen, kulturelles ebenso wie politisches Wissen, Informationen und Institute gesellschaftlichen wie ökonomischen oder militärischen Inhalts, gewandert sind Pflanzen und Tiere, Kaufleute, Missionare, Boten, Soldaten und Sklaven ebenso wie Ideen und Kenntnisse. Denn durch die Steppenregionen verliefen Fernhandelsrouten, auf denen wertvolle und Massengüter des transasiatischen Handels von einem Ende des Kontinents zum anderen transportiert wurden. Nur die berühmteste davon ist seit frühen Zeiten die Seidenstraße, ein Geflecht von transkontinentalen Wegen mit Anschluss an die wichtigsten Handelsregionen, das sich zwischen dem Schwarzen Meer, der Levante und dem Persischen Golf, sodann nördlich des Himalaya bis nach China und dem Pazifik erstreckte, im engere Sinne aber in den Steppengebieten zwischen Transoxanien (jenseits des Flusses Oxus, heute Amudarja, von Persien aus betrachtet, in etwa das heutige Usbekistan) und Xinjiang (Sinkiang, der heutigen chinesischen Provinz) verlief. Auf ihren Trassen wanderte nicht nur die Seide sowie das Wissen, Fernhandelsrouten wie man sie verarbeiten und sogar züchten konnte, sondern in West-Ost oder Ost-West-Richtung verschiedenste reale wie virtuelle Wissensschätze, von Religionen wie Buddhismus, Manichäertum, Christentum und Islam, bis hin zu Krankheiten wie der Großen Pest, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts alles Land von China bis Westeuropa mehr oder weniger intensiv erfasste. Die Wege wurden begleitet, bewacht, manchmal bedroht von nomadischen Völkern – man könnte sie und 179

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ihre Reichsbildungen als Wächter dieser Wege bezeichnen, die ihnen für die Zeit ihrer eigenen Existenz eine gewisse Stabilität und damit Sicherheit vermittelten. Umgekehrt galt aber aus der Sicht der Nomaden und ihrer Reichsbildungen: „One of the major sources of conflict in Eurasia was the question of control of the Silk Route“ (Peter Golden). Konkurrenz um die Wege – auch wenn man meist um die sesshaften Gebiete an den Enden der Trasse rang – konnte Unsicherheit bedeuten, die den Verkehrsfluss gegen das Interesse der Nomaden abschwächen oder unterbrechen konnte – ein schwankendes Gleichgewicht über die Jahrhunderte und wohl Jahrtausende, das die Geschichte Eurasiens maßgeblich mitbestimmte. Bei alledem ist es nicht immer leicht zu definieren, was ein solches nomadisches Reich ausmachte. Als weiches Gebilde wird es von den Loyalitäten zusammengehalten, die aus Clanstrukturen oder vasallitischen Verhältnissen fließen – man findet in der Literatur auch den Begriff des Stamms anstatt des Clans. Solche Clans waren normalerweise agnatisch konstituiert und militäraristokratisch organisiert. Unter charismatischen Anführern konnten sich die Loyalitäten weit über die normalen Maße und Zusammenhänge der mit ihren Herden ziehenden (manchmal auch eher halbnomadisch in Transhumanz wirtschaftenden) Clans ausdehnen, indem sich um einen Kernclan andere gruppierten, also relativ lockere Großclan-Loyalitäten, Konföderationen von Clans oder Stämmen, entstanden. Wie diese Gebilde zu Clanstrukturen benennen seien, ist oft eine Frage der Sprachkultur der beteiligten historisch-sozialen Wissenschaften: Spricht die englische Literatur von state formation, würde man im Deutschen wohl von dem verfestigte, transpersonale Institutionen suggerierenden Begriff des „Staates“ oder der „Staatsbildung“ absehen und eher von Herrschaftsbildung, Reichsbildung oder ähnlichem sprechen. Ein so einmal gebildetes Reich konnte – allerdings selten in sich stabil strukturiert – über mehrere Generationen verdauern, wenn und solange meist blutsverwandte Erben des Reichsgründers Erfolge besonders im Bereich von Beute vorzuweisen hatten. Diese Beute bestand unter anderem im Abschöpfen des durch die Steppenregionen abgewickelten Handels – je geregelter dieses Abschöpfen erfolgte, als desto sicherer wurden die Handelswege von ihren Benutzern wahrgenommen. In erster Linie aber wurde Beute auf sehr unterschiedliche Weise bei den benachbarten sesshaften Kulturen gemacht. Grundsätzlich konnte nomadisches Beutemachen sich in einem Spektrum zwischen gelegentlichen Überfällen (in der Forschung gerne als Razzien oder engl. raids bezeichnet) und vertraglich geregelten, nomadische Hilfeleistungen belohnenden Beziehungen abspielen. Dabei dürfte die Stabilität eines Nomadenreiches an der Regelmäßigkeit dieser Beziehungen ablesbar sein, seine Macht daran, ob die Belohnung seitens des sesshaften Nachbarn eher einem Sold für militärische Unterstützung oder Grenzwächterdienste, einem Schutzgeld gegen Überfälle oder aber einer Tributleistung an einen überlegenen und existentiell bedrohlichen Gegner entsprach – wenn nicht sogar die Gebiete des sesshaften Nachbarn herrschaftlich übernommen wurden. Innerhalb dieses Spektrums bewegte sich auch die Wahrnehmung in unseren Quellen: Wenn die sesshaften Reiche an die aufstrebenden 180

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nomadischen Großverbände Tribute leisteten, um die eigenen Grenzen zu schützen, wenn also die nomadischen Herrschaftsstrukturen zu einer Organisationsform gewachsen waren, die über gelegentliche Plündereien einzelner Trupps hiSesshafte Nachbarn nausgingen, erschienen diese Reiche beziehungsweise Völkerschaften regelhaft in den Quellen der angrenzenden Sesshaften. Die meisten der Steppe benachbarten sesshaften Kulturen wählten daneben auch andere Methoden der regulären (und in den Quellen daher meist registrierten) Einbeziehung von nomadischen Herren, darunter besonders die der Verheiratung von weiblichen Verwandten der Herrscherfamilie an die Steppenherren. Damit und mit stärker im symbolischen Bereich anzusiedelnden Gesten – wie den Verleihungen von prestigeträchtigen Titeln oder Tributleistungen von Gegenständen oder Gütern, die die Empfänger als exklusiv den sesshaften Herrschern vorbehalten wussten – ließ sich im Bereich der Repräsentation ein von allen Beteiligten verstandenes, stets aufs Neue sorgfältig auszutarierendes Verhältnis zwischen zivilisatorischer Überlegenheit auf der einen und militärischer Überlegenheit auf der anderen Seite herstellen. Aus der Perspektive der Nomadenreiche, die ihrerseits stets wohlinformiert die sesshaften Nachbarn gegeneinander auszuspielen imstande waren, zählten Beute ebenso wie symbolische Prestigegewinne zu den Möglichkeiten, sich selbst als Steppenvormacht gegenüber anderen Nomadenclans und -reichen zu etablieren. Wie bereits deutlich wurde, bemisst sich unsere Einschätzung der nomadischen Reiche an deren Verhältnis zu ihren Nachbarn. Die Historiker neigen überhaupt dazu, von einer Reichsbildung erst dann zu sprechen, wenn diese von schreibenden Nachbarn wahrgenommen wurde. Denn das ist symptomatisch für alle Völker und Reiche, von denen wir hier reden: Generell kann man sagen, dass diese nomadischen Kulturen zwar nicht unbedingt schriftlos waren, denn Runeninschriften oder eine relativ frühe Übernahme von Schrift in einem funktional begrenzten Rahmen sind hie und da überliefert. Doch waren sie ohne eine Schriftkultur, die uns Problem der eigene Nachrichten über die Entstehungsphasen der im Laufe der JahrtauSchriftlosigkeit sende immer wieder stattfindenden Reichsbildungen hinterlassen hätte. Mit ganz wenigen Ausnahmen wissen wir aus dieser Phase (wenn überhaupt) nichts aus der eigenen Sicht der Völker, sondern wir kennen sie nur aus Berichten über sie seitens der angrenzenden, von ihnen berührten sesshaften, schreibenden Kulturen. Wir können sie also erst dann greifen, wenn sie von diesen Nachbarn regelmäßig wahrgenommen wurden: Das geschah erst bei hinreichender Dauerhaftigkeit und Intensität der Kontakte – sie blieben erst dann nicht mehr unbemerkt, wenn sie in irgendeiner, meist (aber nicht nur) bedrohlichen Weise wirksam wurden. Je nach Intensität und Exaktheit der Wahrnehmung gestalten sich unser Wissen und die Möglichkeit des Historikers, die Reiche und ihre Geschichte nachzuvollziehen. Damit verbunden sind vor allem zwei grundsätzliche Probleme: Zum ersten stehen wir gerade bei den großen Reichen, die uns als Vermittler zwischen verschiedenen sesshaften Nachbarkulturen besonders interessieren, nicht selten vor der Schwierigkeit, die Nachrichten dieser verschiedenen benachbarten Schriftkulturen 181

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miteinander in Übereinstimmung bringen zu müssen: Sprechen unsere Quellen so unterschiedlicher Provenienz tatsächlich von ein und demselben, großen Reich, gibt es also eine stabile festmachbare herrschaftliche Verbindung möglicherweise über ganz Innerasien? Oder haben wir es mit unterschiedlichen Reichen nebeneinander zu tun? Das eklatanteste Beispiel ist das der Hunnen im 4. Jahrhundert (also noch vor unserem Betrachtungszeitraum), die in Europa sicher noch vor den Schwierige QuellenMongolen bekanntesten, weil außerordentlich mächtigen und weitgreifend auswertung reichsbildenden Nomaden, denen es gelang, bis in den Westen des geschwächten Römischen Reiches vorzudringen. Auf der anderen Seite des Kontinents sprechen im gleichen Zeitraum chinesische Quellen von dem Reich der Xiongnu (Hsiung-nu) als einem mächtigen Steppenreich, doch trotz aller Identifizierungsversuche sieht sich heute kein ernsthafter Forscher in der Lage, beide Namen tatsächlich zusammenzubringen. Nicht immer gelingt es also – vor allem dann, wenn die angrenzenden sesshaften Kulturen entweder selbst noch nicht sehr umfangreiche Schriftkultur besitzen oder aber nicht über Abwehrmaßnahmen hinaus an den Geschehnissen jenseits ihrer eigenen Grenzen interessiert sind –, die Berichte von jenseits der verschiedenen Steppengrenzen dahingehend zu harmonisieren, dass wir sicher sein können, dass die unterschiedlichen Bezeichnungen ein und dasselbe Volk meinen – dass wir also wissen, wie weit sich das Herrschafts- oder vielleicht besser Dominanzgebiet eines Steppenvolkes ausdehnte, und inwieweit hier also Brückenfunktionen erwartbar sein können. Zum zweiten ist es nur bis zu einem gewissen Grade berechtigt anzunehmen, dass erst im Moment regelmäßiger Wahrnehmung von außen auch tatsächlich die Brückenfunktion und kulturelle Überträgerschaft seitens des beschriebenen Nomadenreiches einsetzte. Immerhin war es die Expansivität der Reiche, die ihre charakteristische Befähigung, Überträgerkultur zu sein und die sesshaften Kulturen an ihren Rändern miteinander in Verbindung zu bringen, aktivierte und intensivierte. Wahrscheinlich ist allerdings eher ein steter Fluss von Nachrichten auf den einmal gefundenen Wegen und höchstens eine (allmähliche und von der Stärke und Größe der Reichsbildung abhängige) Intensivierung der Austauschprozesse, wenn ein Reich mächtiger und damit wahrnehmbarer wurde. Damit in engem Zusammenhang steht, dass es beim Austausch, seiner Art und seinen Inhalten nicht nur auf die Kulturen ankam, die vernetzt wurden. Denn nicht nur die Expansivität der Nomaden, sondern auch deren eigenes kulturelles Wissen floss in ihre Vermittlung ein – und Frage der dies ist besonders deshalb zu betonen, weil unsere fast nur aus FremdwahrÜberträgerschaft nehmung gewonnenen Informationen leicht das Bild verzerren könnten und dazu führen, dass wir die Nomaden als schlichte Katalysatoren sehen, gar als austauschbare infrastrukturell notwendige Brückenbausteine auf dem Weg von einer Schrift- oder „Hochkultur“ zur anderen. Nicht nur das Wissen der Kulturen an den Enden der Straßen voneinander – und auch über noch weiter dahinterliegende Völker, Reiche, Kulturen – konnte sich nämlich über riesige Bereiche der Kontinentalmasse ausbreiten, sondern auch die spezifische Lebensform der Nomaden und spezi182

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fisch nomadisches kulturelles Wissen wurde eingebracht, das, wie wir sehen werden, essentiell sein konnte, um die Übertragung zu ermöglichen, aber auch die Inhalte der Übertragung zu gestalten. Die Nomaden waren sich – nicht zuletzt im Vergleich und in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zu den sesshaften Nachbarn – ihrer Eigenheit durchaus stolz bewusst und hielten sie nicht selten explizit und selbstbewusst hoch, mühten sich, sie zu bewahren. Man könnte eine ganze Anzahl von Völkern (in unserer Betrachtungszeit vor allem offenbar von Turkvölkern) nennen, die in den Quellen der umliegenden sesshaften Völker auftauchen, weil sie eine gewisse zeitweilige und regionale Dominanz erwarben und damit als Herrschaftsträger hinter Plünderungszügen und Handelskontakten gesehen wurden. Es hat allerdings wenig Sinn, in unserem Kontext all die größeren und kleineren Reichsbildungen und Stammesnamen aufzuzählen, die teilweise von mehreren, teilweise wenigstens scheinbar nur von einer benachbarten Schriftkultur benannt wurden – zumal es nur einigen wenigen gelang, über längere Zeit und überregional so zu dominieren, dass sie eine nachvollziehbare Wirkung auf Verbindungen der Kulturen über die Steppen hinweg beziehungsweise durch sie hindurch gewannen. Die Geschichte der Nomadenreiche der innerasiatischen Steppe steckt voller „möglicherweise“ und „anscheinend“, deshalb sollen im Folgenden nur einige der wichtigeren Beispiele aus dem Betrachtungszeitraum dieses Bandes herausgegriffen werden, weil sie die bisher in allgemeiner Weise charakterisierten Verhältnisse und insbesondere die spezifisch nomadische kulturvernetzende Kapazität näher beleuchten können: Das Reich oder die Reiche der Göktürken um 600 (Blaue Türken, auch Kök-Türk(en) geschrieben, von anderen Nomaden schlicht als Türken bezeichnet), die Steppenreiche der Uiguren und Chasaren um 800 und schließlich – besonders ausführlich, weil qualitativ anders und in den Quellen deutlich besser greifbar – die mongolische Reichsbildung im 13. Jahrhundert. Die Reiche sollen dabei betrachtet werden von ihrer für uns greifbaren Entstehung bis zu ihrem Untergang, das heißt ihrem Zerfall und oft Aufgehen in neuen Reichsbildungen, oder aber bis zu ihrer Etablierung als sesshafte Reiche mit der umfassenden Nutzung von Schrift, also der Übernahme von Schriftkultur, oder dem Übergang zu einer Hochreligion – wobei diese Grenzen des Betrachtungszeitraumes grundsätzlich weit ausgelegt werden, weil die drei Faktoren selten alle gleichzeitig eintraten und teilweise genetisch sehr frühzeitig auftreten konnten.

Früh- und hochmittelalterliche Steppenreiche

Schon früher haben nomadisch begründete Großreiche Vernetzungen wenigstens von Teilen der Alten Welt erzeugt – Reiche mit unterschiedlichen geographischen Schwerpunkten und Ausdehnungen und verschiedenartigen konkreten Auswirkungen, aber vergleichbar in ihren Wirkungen. „The Steppe Highway“ (Nicola Di Cosmo) führte seit lange vor der Zeitenwende immer wieder viehhaltende Hirtenvölker 183

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auseinander und zusammen. Ihre Kerngebiete unterschieden sich, organisiert waren sie meist als Kernclan, dem andere Clans zugeordnet waren. Nicht selten stiegen die neuen Herren innerhalb solcher älterer und zerfallender Konföderationen auf. Wenn wir im Folgenden einen Blick auf solche Reiche und ihre vernetzenden Wirkungen seit etwa dem Jahr 600 werfen, dann ist dieser zeitliche Einschnitt wieder einmal vor allem den Entwicklungen der die Steppe umgebenden sesshaften Kulturen geschuldet, nicht so sehr der originären Entwicklung der Steppe selbst. Es lässt sich schwer just um diese Zeit eine grundsätzliche Veränderung im Auf und Ab von nomadischen Reichsbildungen, umfassenderen gemessen an der Anzahl der sesshaften Kulturen, die von ihnen berührt wurden, oder engeren feststellen – doch außerhalb der Steppe lebten in dieser Zeit Mohammed und Papst Gregor der Große, ging das mittelmeerische Zeitalter des byzantinischen Kaisers Justinian († 565) zu Ende, blühte gerade noch das Reich der Sasaniden im Iran und Transoxanien und begann nach der chinesischen Geschichtsschreibung die Tang-Dynastie (618–906). In der Um das Jahr 600 Steppe erlebte just um 600 das vereinigte Großkhanat der Göktürken den Höhepunkt seiner Macht und sorgte für transkontinentale Verbindungen: „The Türks were important middlemen in international trade. Their empire served as a commercial bridge across Eurasia, a means by which China and to a lesser extent India were brought into contact with the Eastern Mediterranean (Sâsânid Iran and Byzantium).“ (Peter Golden) Das Reich der Göktürken war mit einiger Wahrscheinlichkeit ursprünglich im Gebiet der Mongolei entstanden – um 552, denn wir kennen es aus seiner Aufstiegszeit nur aus chinesischen Quellen. In einem zweiten Schritt haben die Göktürken dann wohl die Steppengebiete weiter im Westen in Richtung Transoxanien und weiter über den südlichen Wolgaraum hinaus in die Gebiete nördlich des Schwarzen Meeres erobert oder wenigstens dominiert. Die Forschung spricht normalerweise von den beiden Göktürkischen Reichen, Ost und West, machtvoll in Erscheinung getreten in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts, in denen sich der West-Khagan (Großkhan) Tardu kurzzeitig (ca. 590–603) zum Herrn des Ganzen aufschwingen konnte, sowie von einem zweiten Reich (um 700) nach einer Phase des Niederganges. Weniger stark aus der gewohnten (und zudem von modernen Staatsvorstellungen beeinflussten) „sesshaften Sichtweise“ betrachtet, haben wir vor uns eine riesige Konföderation von Stämmen im Gebiet zwischen der Wolga, Transoxanien und der Mongolei, von einem charismatischen Clan zusammengebracht und -gehalten, deren direkter Einflussbereich sich so weiträumig gestaltete, dass verschiedene Clanangehörige in unterschiedlichen HimmelsrichDie Göktürken tungen dominierten. Innerhalb von Konföderation und vor allem Clan herrschte stete Konkurrenz um Führungspositionen, und innerhalb dieser Atmosphäre steter Machtschwankungen wurde zeitweise ein besonders erfolgreiches Clanoberhaupt als Khagan des Ganzen anerkannt oder eben nicht. Wichtig für die Einschätzung durch die Forschung sind die Außensicht der sesshaften Nachbarn, aber ebenso die Selbststilisierung der Türk – von denen sehr früh Inschriften (in sog. Runenschrift vom Orchon) zu Ehren ihrer Khagane erhalten sind – und dann, nicht 184

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& Karte folgt & Zentralasien

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zu vernachlässigen, die Stilisierung durch die Erben eines solchen großen Reiches, die sich in seiner Tradition verstanden und die die Erinnerung an die Vergangenheit mehr oder weniger absichtsvoll entsprechend konstruierten. Dieses stark fluktuierende Gebilde trat in typischer und mit den Machtschwankungen wechselnder Weise mit den sesshaften (und auch den nomadischen) Nachbarreichen in Beziehung, indem es sie angriff, ihre Feinde gegen sie zu nutzen strebte, sie tributabhängig machte oder gar eroberte, oder aber umgekehrt von ihnen eingesetzt und abhängig gemacht wurde. So expandierten die Türk früh gegenüber dem im Niedergang befindlichen Reich der Hephthaliten (mit Kerngebiet im heutigen Afghanistan), wobei es zu einer der beschriebenen, ebenfalls typischen Kontaktsituationen zwischen Steppen- und sesshafter Kultur kam. Denn Verbündete der Türken gegen die Hephthaliten waren die persischen Sasanidenherrscher, die zur Befestigung des Bündnisses eine Prinzessin an den Herrn der Göktürken verheirateten. Interesse der Sasaniden war die Rückeroberung des von den Hephthaliten beherrschten, Beziehungen zu aber von den Sasaniden beanspruchten Gebietes: Es ging hierbei wie imden Nachbarn mer wieder an dieser besonderen Schnittstelle zwischen Steppe und sesshaftem Bereich um Transoxanien mit den reichen Handelsstädten Buchara, Samarkand und Taschkent und damit nicht zuletzt um das Westende der Steppentrassen 185

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der Seidenstraße. Zugleich stärkten die Sasaniden mit ihrer Politik allerdings die neue Steppenmacht, derer sie sich anschließend erwehren mussten. In Reaktion darauf wandten sich die Türk, wohlinformiert, an die Gegner ihrer Gegner und damit an Byzanz. Doch auch mit Byzanz, so weit dieses Reich auch scheinbar von den türkischen Gebieten entfernt war, gab es Konfliktlinien, die in einer Herrschaftsanschauung begründet lagen, die wiederum typisch für die nomadischen Reiche war: Die Awaren in den Steppengebieten nördlich von Kaspischem und Schwarzem Meer (und weiter nach Europa hinein) waren vermutlich von den Türk nach Westen verdrängt worden und wurden von ihnen als abgefallene Untertanen betrachtet, weshalb die Byzantiner, von den Awaren bedrängt, nicht mit diesen hätten Frieden schließen dürfen, ohne die Türk zu fragen. Letztendlich führten wechselnde Konstellationen zu einer Schwächung der Sasaniden, die daher den muslimischen Arabern 642 wenig entgegenzusetzen hatten – eine Entwicklung, die für alle Beteiligten nicht absehbar oder gar planbar gewesen war. Zu dieser Zeit allerdings war das Göktürkenreich in beiden Teilen bereits untergegangen oder (je nach Sichtweise) vorübergehend unter die Herrschaft einer benachbarten sesshaften Kultur geraten. Hilfreich nämlich für den ursprünglichen Aufstieg der Göktürkenmacht war sicher das Fehlen einer starken, ganz China einigenden Macht im Osten gewesen. Doch seit 618 begann sich dort die Tang-Dynastie durchzusetzen. Während in der chinesischen Geschichte oftmals Desinteresse an Vorgängen jenseits der Grenze zu verzeichnen ist, gelten die Tang in der Geschichtsschreibung als steppennah, was vor allem bedeutet, dass sie sich um die Die Tang-Dynastie verschiedenen Kräfte in der Steppe bemühten, um sie gegeneinander einin China zusetzen. Den Tang gelang es nicht nur, weite Bereiche des östlichen Verlaufes der Seidenstraße (im Bereich des heutigen Xinjiang und nach Westen bis in den Bereich des Balchaschsees) ihrem Herrschaftsgebiet einzuverleiben, sondern sie konnten offenbar auch die östlichen Türk durch Elimination des Khagan ihrer direkten Herrschaft unterstellen (630/634). Fast gleichzeitig zerbrach auch das westliche Türkreich an den – in Steppenreichen mit Herrschaft über sesshafte Gebiete immer wieder zu verzeichnenden – Differenzen zwischen nomadischem und sesshaftem Lebensstil: Nomadische Revolten im Verein mit claninternen Machtkämpfen ließen auch dieses Reich in die Abhängigkeit der weit nach Westen ausgreifenden Tang fallen. Ein erneutes Erstarken östlicher Göktürken führte zwischen 682 und 745 zu einem Zurückdrängen der Tang-Oberhoheit – eine Phase, die als zweites Göktürkenreich in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Was immer es mit einer solchen zweiten Reichsbildung auf sich gehabt haben mag, sicher wurde Tang-China maßgeblich durch den Aufstieg des Tibetischen Reiches an seinen südöstlichen Grenzen um 670 geschwächt, was die Aufmerksamkeit von der Steppe abziehen musste und den dortigen Kräften deutlich mehr Spielraum als zuvor ließ. Die Göktürken fanden nicht zur alten dominierenden Stellung zurück (so sehr das Reich auch bei seinen Erben als die Großreichsvergangenheit schlechthin gesehen wurde), und zugleich sind aus dieser Zeit die bedeutendsten Ehreninschriften für Khagane in Orchon-Runen erhalten ge186

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blieben – möglicherweise geradezu ein Zeichen für eine nicht mehr ganz so Schwächung der souveräne Stellung, die durch größere Pracht und verstärkte Propaganda Tang-Oberhoheit kompensiert wurde. Neben den Göktürken lassen sich jetzt konkurrierende Konföderationen feststellen, darunter besonders die Karluken (Qarluq, nördlich von Transoxanien), die Kimek (Kimak, nordöstlich davon), und die Kirgisen (Kyrgyz, weit im Norden des Steppengebietes). Symptomatisch für die Schwäche des TangReiches durch Expansion seiner Nachbarn sowie die Rolle der Nomaden dabei und zugleich berühmteste Konsequenz aus den daraus resultierenden politischen Möglichkeiten ist gewiss die Schlacht am Fluss Talas (heute in Nordwestkirgisistan nahe der kasachischen Grenze) 751 zwischen Chinesen und Arabern letztendlich wieder um Beherrschung der Seidenstraße, die sich auf dem Höhepunkt der zudem religiös bestimmten arabischen Expansion dieses eine Mal in der Weltgeschichte in Zentralasien begegneten. Die Araber siegten wohl vor allem, weil die Karluken gegen die chinesische Macht zu ihnen übergingen. Zu dieser Zeit gab es aber im Göktürkenreich selbst bereits neue Herren, die ebenfalls nomadische Gruppe der wohl wenigstens größtenteils turksprachigen Uiguren, die innerhalb des Verbandes aufgestiegen waren und um 745 die Führer der Göktürken eliminierten. Auch dies ist typisch für das Ende und den Aufstieg von Nomadenreichen, dass sich bislang angebundene Clans und Stämme selbständig machten oder eher, dass sie versuchten, die bisherigen Herren im Zentrum zu beerben. Die Kerngebiete dieser aufeinander folgenden Reiche konnten daher innerhalb der asiatischen Steppe variieren, neue Reichsbildungen bedeuteten meist Schwerpunktverschiebungen, doch zugleich sind auch die Kontinuitäten zwischen den Reichen festzuhalten, die strukturellen ebenso wie die möglichen personellen Übergänge, die nicht wenig zur kontinuierlichen Fähigkeit der Steppe, Brücken zu bilden, beitrug. Mit dem endgültigen Untergang der göktürkischen Herrschaft und dem Aufstieg der Uiguren setzt die Zeit des zweiten Beispiels ein, das für unsere Fragestellung herangezogen werden soll. Hierbei haben wir es nicht mit einem einzigen Steppenreich zu tun, sondern mit einem System von deren mehreren. Sie fügten sich in der Zeit um 800, die jetzt im Zentrum stehen soll, ein in ein Weltsystem von wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Kontakten, das sich um das mächtige Kalifat in Bagdad gruppierte, das in der populären Überlieferung oft mit dem Namen Harun arRaschids in Verbindung gebracht wird. Wirtschaftliche Kontakte lassen sich damals nicht nur innerhalb des gesamten, noch weitgehend einigen islamischen Herrschaftsbereich feststellen, der von der Iberischen Halbinsel und Marokko über Wirtschaftliche Kontakte einen breiten Streifen des Nordens Afrikas und den gesamten Vorderen Orient bis zum Indus und nach Transoxanien reichte (womit einer der wichtigsten Knotenpunkte der Seidenstraße fest in der Hand des Kalifats war), sondern sie erfassten den gesamten Mittelmeerraum, besonders das Byzantinische Reich, und auf der anderen Seite zu Wasser, aber eben auch auf dem Steppenlandweg, Indonesien und den Osten Asiens mit den indischen Fürstentümern, den Großreichen der Khmer in Indochina und der Tibeter im Himalayagebiet sowie dem China der Tang-Dynastie, 187

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für dessen Markt – ein wahres Globalisierungsphänomen – offenbar gezielt produziert wurde. Zumindest der Hof des Kalifen trat auch in Kontakt mit jenem Karls des Großen († 814) – ökonomisch wesentlich wichtiger aber waren der nicht-christliche Norden und Osten des europäischen Kontinents, der wiederum über die zentralasiatische Steppenregion angebunden war. Eines der beiden für diese Situation bestimmenden Steppenreiche war das gerade genannte der Uiguren, das um 800 seine Hochzeit erlebte, in der es vom Gebiet des Balchaschsees bis fast an den Pazifischen Ozean reichte. Ausgegangen war die Herrschaft der Uiguren vom Gebiet der heutigen Mongolei, einen ihrer wichtigsten und den für ihre bemerkenswerte politische Macht bedeutsamsten Schwerpunkt fand sie ebendort, am oberen Orchon mit dem Zentrum Qarabağasun („Schwarzstadt“). Der Niedergang Tang-Chinas führte dazu, dass es mehrfach das Uigurenreich bei Revolten im Inneren zu Hilfe rufen musste und sich seine dauerhafte Unterstützung nicht zuletzt auch gegen das Tibetische Reiche durch mehrfache HeiratsverDas Uigurenreich bündnisse zu sichern suchte: Tang-China war damals eher der Vasall des Erben des Göktürkenreiches als umgekehrt. Die enge Verbindung nach China brachte 762 den Khagan in Verbindung mit Manichäern, deren Glaubengemeinschaft er sich anschloss – doch gab es auch Christen, Muslime und vor allem starke buddhistische Gruppen unter den Uiguren. Folge war unter anderem, dass sein Hof zu einem Fluchtpunkt von Manichäern wurde, aus denen eine antichinesische Partei und damit das Reich schwächende politische Richtungsstreitigkeiten zwischen den uigurischen Anführern hervorgingen. Im Jahre 840 war auch für dieses Reich sein Ende mit einer Revolte mit Hilfe der Kirgisen gekommen. Was sich von den Uiguren erhalten hat, entstammt vor allem ihrer Spätzeit, in der sie sich an die vorher im Herrschaftsbereich Tang-Chinas gelegenen Ränder der Taklamakan-Wüste im Tarimbecken (einem wichtigen Nadelöhr der Seidenstraße) zurückzogen. In Oasenstädten wie Turpan (Turfan) ist eine reichhaltige Produktion uigurischer Schriftkultur ebenso erhalten geblieben wie reiche Freskenmalerei (darunter wahrscheinlich eine Darstellung Manis, des Stifters der manichäischen Religion), die vor allem von deutschen Expeditionen zu Beginn des 20. Jahrhun„Nachlass“ der Uiguren derts entdeckt, großenteils abgenommen und nach Berlin verbracht wurde, wo sie bis heute ausgestellt wird. Die uigurische Schrift selbst lebte vor allem deshalb weiter, weil späte Uiguren sie dereinst den Mongolen des Clans Dschingis Khans beibringen sollten. Aus solchen Gründen, aus der über die Existenz ihres Reiches weit hinausgehenden Langlebigkeit der kulturellen Wirkung der Uiguren, leitete sich, so Peter Golden, die um 900 überlieferte arabische Redensart ab, wonach die Uiguren die Araber der Türken seien. Die anscheinend ganz besondere Konstellation transkontinentaler Brückenschläge aber, die das 8. und 9. Jahrhundert auszeichnete, verdankte sich der Tatsache, dass weiter im Westen ein weiterer nomadischer Erbe früherer Reiche seinerseits ein machtvolles Herrschaftsgebilde zu errichten imstande war. Das Turkvolk der Chasaren taucht in unseren Quellen sehr viel früher auf als die Uiguren, dürfte bereits Teil 188

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des Hephthalitenreiches gewesen sein und war dann – im Einvernehmen mit den Sasaniden nach Westen, vor allem in den Nordkaukasus verschoben – abhängig vom westlichen Bereich der Göktürken. Die Chasaren traten im 7. Jahrhundert deren Erbe westlich der Wolga an; ihre Khagane waren möglicherweise sogar mit denen der Göktürken verwandt. Dort konnten sie im Ringen mit Byzanz (mehrfach sind Heiratsverbindungen belegt) und in Abwehr der arabischen Expansionsbemühungen in den Kaukasus (vor allem der ersten Hälfte des 8. Jh.s) auf der Krim, um die WolgaZentrale Itil (Adil, von türk. edil, Fluss, dem nomadischen Namen für die Wolga) und später um Sarkel am Don ein Großreich errichten. Im Laufe des 9. und besonders des 10. Jahrhunderts wurde dies immer schwächer, vor allem gegen die im Die Chasaren Westen aufstrebende Rus (nach 965). Auch die Chasaren scheinen eine religiöse Besonderheit dargestellt zu haben: Stärker als andere Nomadenreiche den Missionsbemühungen seitens byzantinischer Christen und der Muslime des Kalifats ausgesetzt, scheint sich die Oberschicht um 800 dem auf der Krim und im Kaukasus ansässigen Judentum zugewandt zu haben – man hat dies als bewusste Entscheidung und demonstrativen Akt des dritten Großreiches der Region interpretiert. Diese Konstellation führte nicht nur dazu, dass die Rhadaniten, jüdische Fernhändler, die in der fraglichen Zeit offenbar buchstäblich die ganze wirtschaftlich interessante Welt von Westafrika bis China und Indien bereisten, die Steppengebiete nördlich des Schwarzen Meeres in ihren Welthandel mit einbezogen, sondern das Chasarenreich bildete zugleich den entscheidenden Brückenstein zwischen dem (noch „heidnischen“) weiteren Ostseeraum der wikingischen oder warägischen Händler, die unter anderen das Reich der Rus begründeten, und der damaligen Zentrale des Welthandels in Bagdad sowie zugleich der Seidenstraße. Die Hochblüte dieser transkontinentalen Handelsroute ging dementsprechend auch zu Ende, als das Chasarenreich im 10. Jahrhundert unterging. Zugleich ist allerdings gerade diese wichtige Episode weiträumigster ökonomischer Vernetzung beispielhaft dafür, dass auch ein bereits stark geschwächtes Steppenreich, wie es dasjenige der Chasaren schon seit dem beginnenden 9. Jahrhundert immer mehr war, noch lange stark genug sein konnte, um die Wegesicherheit der Handelsstraßen zu garantieren. Im beschriebenen Weltsystem des 9. Jahrhunderts waren die Lateineuropäer und war Europa überhaupt reine Peripherie gewesen – und dasselbe galt für den Osten mit Japan). Das änderte sich in den folgenden Jahrhunderten maßgeblich, was auch an den Europäern, zu einem erheblichen Teil aber an dem besonderen Steppenreich lag, das sich im 13. Jahrhundert von Zentralasien aus ausbreiten sollte.

Die Reichsbildung der Mongolen (ca. 1200 bis Mitte 14. Jahrhundert) Dschingis Khan ist ein Name, mit dem in Europa und weit darüber hinaus noch heute sehr viele Menschen etwas anzufangen wissen, nicht zuletzt dank der in Filmen und 189

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populären Schlagern gepflegten Erinnerungskultur. Der historische Dschingis Khan war, soweit wir ihn als Person tatsächlich greifen können, der welthistorisch wohl wichtigste unter den nomadischen Reichsgründern. Denn das riesige Reich, das er und seine Erben seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts über weite Teile Asiens ausbreiteten, ist in der langen Geschichte zentralasiatischer Steppenreiche und ihrer Fähigkeit zur Brückenbildung zwischen den sesshaften (Schrift-)Kulturen etwas Besonderes und von neuer Qualität gewesen: Niemals war ein Reich, seit es Schriftkulturen an seinen Rändern gab, die uns über seine Existenz Zeugnis hinterlassen konnten, so ausgedehnt. Es umfasste nicht nur den gesamten Steppenraum von Ost nach West – das können wir bei den Vorgänger-Reichsbildungen entweder ausschlieBedeutung des ßen oder wegen der geschilderten uneinheitlichen Quellenlage oft nicht „Mongolenreichs“ sicher sagen. Zusätzlich gelang es, mehrere der angrenzenden Schriftkulturen – die sich samt und sonders in einer schwachen Phase ihrer eigenen Entwicklung befanden – über die Tributabhängigkeit hinaus zu unterwerfen und andere in weiterem Maße als frühere derartige Reiche zu berühren. Dass unter den betroffenen Schriftkulturen zum ersten Mal auch das lateinische Europa gewesen ist, das sich gerade an der Schwelle zum Beginn der „europäischen Expansion“ befand, die mehr als nur die eurasisch-nordafrikanische Welt vernetzen sollte, macht das „Mongolenreich“ zusätzlich zu einem außergewöhnlich interessanten Faktor in einer unter dem Eindruck der neuzeitlichen europäischen Weltdominanz und von Europa aus konzipierten Weltgeschichte. Wie andere reiternomadische, viehzüchtende Völker lebten die altaisprachigen Mongolen in den Steppen Zentralasiens – genauer in ihrem Kerngebiet (dem der Uiguren vergleichbar) in der heutigen Republik Mongolei zwischen den Flüssen Kerulen und Onon – in für sesshafte Lebensführung wenig geeigneten ökologischen und klimatischen Bedingungen. Sozial organisiert waren sie in jenen Clans, in denen sich eine charismatische Persönlichkeit durch militärische Leistungen zum Anführer aufschwingen konnte. Nach Anfängen, die sich in legendenhaftem Dämmerlicht verlieren, von denen aber immerhin in mehreren Weltsprachen fast zeitgenössisch erzählt worden ist, begann um 1200 der Mongole Temüdschin, sich als erfolgreicher Anführer zu etablieren, die Clans der heutigen Mongolei und der angrenzenden Steppengebiete zu einigen oder zu unterwerfen und sie durch erfolgreiche BeuteDschingis Khan züge nicht zuletzt in benachbarte Gebiete sesshafter Völker auf sich einzuschwören, so wie das die Anführer von Nomadenhorden zu allen Zeiten immer wieder getan haben. Die nicht allzu viel spätere Geschichtsschreibung von außen, die etwa um die Mitte des 13. Jahrhunderts und damit mehr als eine Generation später einsetzte, gibt das Jahr 1206 als Datum des großen Kurultai (Quriltai), auf dem Temüdschin zum Khagan oder Großkhan unter dem Namen Dschingis Khan erhoben wurde. Einen solchen Kurultai, die Versammlung zahlloser mongolischer Anführer und Tribut sowie Geschenke bringender Abgesandter zahlloser Völker in einer weiten Ebene mit Erhebung eines Großkhans schildert uns der Franziskaner Johannes de Plano Carpini, der als Bote des Papstes 1245/1247 zu den Mongolen reiste und dessen 190

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Bericht als einer der ältesten und systematischsten heute der Wissenschaft als gute Quelle für mongolische Lebensverhältnisse zu Beginn der Großreichszeit gilt. Die spätere Geschichtserzählung unterstellt dem Dschingis Khan die weitausgreifende Motivation, dass er den ganzen (eurasischen) Kontinent von einem Meer bis zum anderen erobern wollte. Immerhin scheint die Vorstellung, unbegrenzte Herrschaft anzustreben, ein Motiv zu sein, das von Nomadenreichen immer wieder erzählt wurde. Viele der Episoden und Anekdoten allerdings, die in unseren wiederum der Außensicht verdankten Quellen über die mongolische Frühzeit erzählt werden, sind leicht als Wanderlegenden auszumachen (die in der Literatur der berichtenden Kultur oder sogar in mehreren Kulturen nachweisbar sind), die, selbst wenn sie den überliefernden Autoren von Mongolen erzählt worden sein sollten, denMotivation und Erfolg noch nicht aus deren eigener Vorstellungswelt stammen müssen und noch viel weniger auf das Selbstverständnis der Anfangszeit zurückschließen lassen. Doch könnte jene Anekdote, die uns ein Kenner der Mongolen, der kleinarmenische Prinz Hethum (Haython), um 1300 überliefert, wenigstens recht gut charakterisieren, wie die Mongolen ihre eigenen Erfolge ins Nachhinein interpretierten. Danach habe Dschingis Khan seine Söhne auf Einigkeit eingeschworen, indem er einen Pfeil in die Hand nahm, der sich leicht zerbrechen ließ, während das Bündel Pfeile, das er dann ergriff, sich als unzerbrechlich erwies. Was immer der charismatische Anführer selbst über die Weiten, die sein Reich umfassen sollten, gewusst und welche Vorstellungen er auch mit seinen Eroberungszügen wirklich verbunden haben mag, er ging offenbar tatsächlich äußerst systematisch vor. In diesem Sinne wird er als Gesetzgeber erinnert, denn die große Gesetzessammlung »Jassa« (»Yasa«) ist in der Tradition mit Dschingis Khans Namen verbunden. Vor allem aber organisierte er seine Horden zu schlagkräftigen, gehorsamen und gefährlichen Kampftruppen. Innerhalb kürzester Zeit gelang es dieser Organisation, immer weitere Gebiete zu erobern und vor allem, immer weitere Clans und Nomadentrupps zu integrieren – nicht mehr in nach überkommenen Strukturen lebenden und konföderiert zusammengekommenen Horden, sondern in seine reorganisierten „Mongolen“, aufgeteilt in Zehner- bis hin zu ZehntausenderOrganisation der Krieger gruppen (tümen), gemischt nach Herkunft, aber aufeinander in existentieller Loyalität eingeschworen. Zumindest erzählt wurde, dass eine ganze Zehnerschaft exekutiert worden sei, wenn nur einer aus ihr im Kampf aus der Reihe zu tanzen wagte: „Wenn die Truppen im Kampf liegen und einer oder zwei oder drei oder auch mehrere von den zehn Leuten fliehen, dann werden alle zehn getötet; und wenn alle zehn fliehen, dann werden, auch wenn von den anderen hundert keiner flieht, doch diese alle getötet – mit einem Wort, wenn sie nicht zusammenhalten, werden im Falle der Flucht alle getötet. Genauso töten sie, wenn einer oder zwei oder mehr mutig in die Schlacht voranstürmen und die anderen der Zehnerschaft nicht folgen, diese auch; und wenn einer der Zehnerschaft oder mehrere in Gefangenschaft geraten, werden ihre übrigen Kameraden getötet, falls sie sie nicht befreien.“ (Johannes de Plano Carpini) 191

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Wenn dementsprechend hier von Mongolen die Rede ist – oder auch von Tartaren, wie sie nicht nur in Europa, sondern auch im Vorderen Orient oft genannt wurden – dann ist damit keine ethnisch geschlossene Gruppe gemeint (was es unter Nomaden wahrscheinlich ohnehin nie gegeben hat), sondern ein riesiges, aber wohl durchorganisiertes Gemisch ethnisch und sprachlich ganz unterschiedlicher Gruppen, deren Führungsschicht in ihrem Selbstverständnis mongolisch war, sich mongolisch verhielt und mongolisch sprach. Unter Einsatz der extrem beweglichen Kampfesweise leichtbewaffneter Reitertrupps (deren Scheinflucht besser bewaffnete Truppen zur ungeordneten Verfolgung veranlassen und damit der Vernichtung zuführen konnte, sobald die Mongolen wendeten) und der Adaptation von Belagerungs- und anderen Militärtechniken, wo sie nötig waren, gelang es Dschingis und seinen Nachfolgern innerhalb weniger Jahrzehnte, Gebiete zwischen dem chinesischen Meer und der Oder, dem Persischen Golf und dem Mittelmeer zu erreichen und teilweise dauerhaft zu unterwerfen. Nicht zuletzt kam gezielter Terror zum Einsatz: So sorgten die Mongolen dafür, dass ihnen der Ruf voraneilte, dass Gezielter Terror Verrat oder das Töten von Gesandten sofortige Gegenschläge provoziere, die im Abschlachten ganzer Bevölkerungen gipfelten. Boten, die verletzt wurden, Aufnahme von Völkergruppen, die die Mongolen als bereits unterworfen betrachteten, wurden – das haben wir in der Tendenz schon bei früheren Steppenreichen beobachten können – streng bestraft. So war der ausgesprochene Anlass, Ungarn anzugreifen, die Aufnahme fliehender Angehöriger des westeurasischen Steppenvolkes der Kyptschaken (Kumanen) – ebenfalls einer nomadischen Konföderation – durch den ungarischen König. Und dem päpstlichen Boten Johannes de Plano Carpini wurde im Zuge der Thronerhebung des Güyük Khan (Enkel des Dschingis) ebenso deutlich wie bedrohlich vor Augen geführt, was die Mongolen die ihn Aussendenden wissen lassen wollten: „Dieser […] erwähnte Güyük Khan richtete zusammen mit allen seinen Fürsten das Banner gegen die Kirche Gottes und das Römische Reich, gegen alle christlichen Reiche und die Völker des Westens auf – für den Fall, dass sie nicht doch noch täten, was er dem Herrn Papst, den Mächtigen und allen anderen christlichen Völkern des Westens befiehlt.“ (Johannes de Plano Carpini) Die weitgreifenden Eroberungen der Mongolen fanden zu einem großen Teil noch zu Lebzeiten des Dschingis statt († 1227): Zunächst schloss er seiner Herrschaft kleinere Steppenreiche an, die teilweise die Reste älterer größerer waren oder sich wenigstens als solche verstanden, wie die der Uiguren, Karluken und Tanguten. Dann begannen er selbst oder aber seine Truppenführer um 1215 die Eroberung Nordchinas mit Peking. 1219 wurde Korea tributabhängig gemacht und um 1220 das einst starke muslimische Reich der Choresmier (Chwarezm) in Transoxanien und Persien (grob gesprochen im weiteren Gebiet des heutigen Usbekistan und Iran) zerschlagen: Das heißt, Dschingis hatte wieder auf die uns schon bekannten Endpunkte der Seidenstraße zugegriffen, wie das schon zahllose nomadische Reichsgründer vor ihm getan oder wenigstens versucht hatten. Von Süden über den Kaukasus kommend drangen die Mongolen in die Kyptschaksteppe nördlich von Schwarzem und Kaspi192

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schem Meer vor, und ein erstes mongolisches Expeditionscorps schlug 1223 an der Kalka (nahe dem Nordufer des Asowschen Meeres) ein Heer aus Kyptschaken und Leuten aus der Rus. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatten die Mongolen also Eroberungen der Fühlung mit allen benachbarten Schriftkulturen aufgenommen. NachrichMongolen ten über die Ausbreitung des Reiches waren dementsprechend überall hin gelangt, überall aufgezeichnet worden, denn China ebenso wie die muslimische und die christliche Welt (in der Rus, aber auch in Georgien und Armenien) waren direkt betroffen. Zugleich lässt sich auf der Seite der Verteidiger eine Kooperation zwischen der sesshaften Rus und ihren nomadischen Nachbarn beobachten, die von ersterer als Helfer bei der Grenzwacht eingesetzt waren, eine Konstellation, die wir ebenfalls bereits bei früheren Beispielen beobachten konnten. Ebenso wie die Rus umfassten auch Nordchina und vor allem das Choresmierreich nomadische Steppengebiete, deren Bewohner entweder mit ihnen gegen die Mongolen kämpften oder aber zu diesen abfielen. Jeder einzelne dieser an ihren Rändern betroffenen Kulturräume war allerdings zu dieser Zeit alles andere als in sich geeinigt: China war in zwei große Reiche zerfallen, die Kalifen in Bagdad übten kaum mehr als nominelle Autorität über die verschiedenen muslimischen Herrschaftsgebiete aus, und wenngleich im Vorderen Orient noch einigermaßen gefestigte Verhältnisse unter den Erben des Ayyubidensultans Saladin († 1193) herrschten, so waren hier doch auch unabhängige Kräfte am Werk: So sollten 1250 in Ägypten die Mamluken die Herrschaft übernehmen, und auch an der Mittelmeerküste bestanden noch Reste der christlichen KreuzfahrerGeschwächte Nachbarn herrschaften. Eine einige christliche Welt bestand ohnehin nicht, aber allein schon ihr griechisch-slawischer Osten war geschwächt: Das Byzantinische Reich, seit langem im Niedergang begriffen, war zerfallen und 1204 teilweise vom lateinischen Europa aus erobert worden, die Rus gehorchte nicht mehr der Autorität eines einzigen Großfürsten. Aus der Rus drangen zwar Nachrichten weiter nach Westen, aber in Lateineuropa war man willens, das Schicksal dieser falschen Christen auf die leichte Schulter zu nehmen: Eine Situation insgesamt und rund herum, die das weite Ausgreifen der Mongolen begünstigte. Diese konzentrierten sich allerdings zunächst auf die Feldzüge gegen China und setzten sich 1227 mit dem Tod ihres charismatischen Reichsgründers Dschingis Khan auseinander. Vier Söhne und deren Söhne erbten die Herrschaft des Vaters, einer unter ihnen wurde zum Großkhan mit Autorität über das Ganze – die Herden, die Horden und das ganze weite Reichsgebiet –, und aller vier Namen wurden zu den wichtigsten Clannamen der weiteren mongolischen Geschichte: Jochi Khan (Dschötschi, † 1227) und seinen Söhnen Batu (1229–1255) und Berke (1257–1267) fiel der äußerste Westen zu, das Gebiet der „Goldenen Horde“ – ein Name, der zwar erst später belegt ist, aber in der Literatur meist schon für die Anfänge des Reiches nördlich von Schwarzem und Kaspischem Meer verwendet wird. Batu drang Vordringen von dort seit der Mitte der 1230er Jahre wieder massiv vor, bis 1240 Kiew fiel Dschingis Erben und die für den Westen vernichtenden Schlachten beim schlesischen Lieg193

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nitz und in der ungarischen Theiß-Ebene am 9. und 11. April 1241 Lateineuropa in Angst und Schrecken versetzten. Unerklärlich zunächst für die Lateineuropäer, zogen die Mongolen sich wieder weit in die Steppe zurück, wo die Khane – ähnlich wie lange vor ihnen diejenigen der Chasaren – an der unteren Wolga in Sarai einen Hauptsitz errichteten. Von hier aus beherrschten sie weite Teile Zentralasiens – Khan Usbek (Özbek, 1313–1341) wurde namengebend für den heutigen Staat Usbekistan –, hielten allerdings auch im Westen die Rus in Abhängigkeit und fielen vor allem in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts immer wieder einmal in Polen, Litauen oder Ungarn ein. Seit dem 14. Jahrhundert verfiel die Macht aber immer mehr; die letzten Restkhanate unterwarf der russische Zar Iwan IV. im 16. Jahrhundert. Dschingis Khans zweiter Sohn Tschagatai († 1242) erbte die Weiten Zentralasiens, wo sich der Herrschaftsbereich bald wieder in einzelne nomadische Clangebiete abschwächte, bevor er mit dem machtvollen Eroberer Timur um 1400 noch ein großes Nachleben haben sollte. Ögedei (Ögödei, 1229–1241) erhielt China, dessen Nordteil er 1234 endgültig unterwarf, und die Würde des Großkhans, Tolui († 1232) als Jüngster das eigentliche mongolische Kerngebiet mit dem „Herdfeuer“. Güyük, von dessen Erhebung 1246 Johannes de Plano Carpini erzählte, war Sohn Ögedeis, nach Streitigkeiten nach seinem Tod übernahm 1251 mit Möngke († 1259) der Clan Tolui die Großkhanwürde. Möngke sandte nun seine Brüder aus, Kublai (Kubilai, † 1294) nach Südchina und Hülegü (Hülägü, † 1265) in den Vorderen Orient. Kublai (seit 1260 Großkhan – er war der Großkhan, den Marco Polo erlebte) unterwarf bis 1279 den Rest Chinas, wo man seither die Yuan-Dynastie zählte, und versuchte auch zweimal vergeblich, bis nach Japan vorzudringen. Bis 1368 hielt sich die militärisch überlegene mongolische Herrschaft in China, bis die neue Dynastie der Ming den letzten Großkhan in die Steppe zurücktrieb – wo im alten Stammland Khane aus dem Clan Tolui in ständiger Rivalität untereinander den Anspruch auf die Position des Großkhans aufrecht hielten. Hülegü dagegen eroberte 1258 Bagdad, wobei der letzte Kalif den Tod fand, und drang bis nach Syrien vor – Aleppo und Damaskus fielen 1260. Dort zerbrach jedoch der Mythos von der Unbesiegbarkeit, der den Mongolen inzwischen in der ganzen bekannten Welt voraneilte, als sie sich 1260 an der Goliathsquelle bei Ain Djalut (dort, wo einst David den Goliath besiegt hatte) einem Heer der Mamluken aus Ägypten geschlagen geben mussten. Bis zum Ende des Jahrhunderts versuchten mongolische Trupps mehrfach, in teilweise großangelegten Unternehmungen Ende der weiter vorzustoßen, wobei sie wie schon frühere Steppenherrscher poliMogolenexpedition tisch handelten sowie weiträumig und unabhängig von kulturellen Grenzen nach Gegnern der Gegner suchten. Da sich in diesem Fall das lateinische Europa anbot, gelangten Gesandte – nicht zuletzt orienterfahrene Europäer, aber auch Asiaten – im mongolischen Dienst bis nach Frankreich. Doch das Ende der mongolischen Expansion war auch in dieser Weltgegend jetzt erreicht. Hülegü etablierte um das aserbaidschanische Zentrum Täbris das Ilkhanat, das heißt das nach wie vor von

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seinem Bruder Kublai in Khanbaliq (der Mongolenstadt im Bereich des heutigen Peking) als Großkhan abgeleitete Vizekhanat. Noch lange holten sich gerade die Ilkhane – ganz anders als die der „Goldenen Horde“, die schon seit Berke darauf verzichteten – ihre Bestätigung in der Zentrale ab, ein Verhalten oder auch eine Illusion, die sicher die Zähigkeit beeinflusste, mit der die Außensicht der Europäer und der vorderasiatischen Muslime den Eindruck von einer Einigkeit eines großen Reiches aufrechterhalten konnte, die bereits um 1260 wohl weitgehend Fiktion war. Erst Ilkhan Ghazan (1295–1304) ließ eigene Münzen prägen und verzichtete endgültig auf die Bestätigung aus Ostasien. Mit diesen Entwicklungen hängt die analytisch-historische Einschätzung zusammen, inwieweit man (wie schon bei den Göktürken, so auch bei den Mongolen) überhaupt zu irgendeinem Ein einziges Zeitpunkt von einem einzigen großen Reich sprechen darf, was sehr stark großes Reich? von den angelegten Definitionskriterien abhängt. Frühzeitig lassen sich, wenigstens in der historischen Betrachtung ex post, riesige Teilreiche feststellen, und während sich diese in unterschiedlicher Ausdauer noch als Teil eines Ganzen mit einem einzigen Großkhan an der Spitze verstanden, konnten sie doch schon sehr bald auch miteinander erbittert im Krieg liegen: Wenn die Khane der „Goldenen Horde“ gegen die Ilkhane mit deren Erzfeinden (die zugleich das Haupthindernis gegen die weitere Expansion „des“ Großreiches bildeten), den ägyptischen Mamluken nämlich, dauerhaft im Bunde waren, so kann man durchaus von getrennten politischen Mächten und nicht mehr nur von bloßen inneren Kriegen sprechen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Einschätzung der Bedeutung von Großreichen für den Handelsfrieden und damit von wirtschaftlichen Blütezeiten auf der Seidenstraße. Zu den wohl berühmtesten Reisen zwischen Europa und Asien gehört diejenige der venezianischen Kaufleute Niccolò und Maffeo Polo, der Vater und der Onkel des berühmteren Marco, um 1260 bis an den Hof des Großkhans. Sie reisten von Konstantinopel aus in das Gebiet der „Goldenen Horde“ (in die GeDie Reisen der Polos gend von Sarai) und fanden, als sie heimkehren wollten, den Rückweg abgeschnitten, weil Krieg zwischen den mongolischen Teilbereichen nördlich und südlich des Kaukasus ausgebrochen war. Wie sie bereits zu den Mongolen den Hinweisen auf gute Handelsmöglichkeiten gefolgt waren, ließen sie sich auch jetzt weiterschicken – die Frage, ob Marco Polo tatsächlich in China war, wird in regelmäßigen Abständen gestellt. Da jedoch seine Informationen echt sind, muss das hier nicht interessieren. Es war also gerade nicht ein friedliches und stabiles Großreich, in dem sich derartige Fernreisemöglichkeiten eröffneten – ähnlich wie bei den Chasaren. Immer wieder liest man von einer pax Mongolica, die hier geherrscht und die für 100 Jahre die Steppe reisesicher gemacht hätte, und auch von einer auf die Göktürken bezogenen pax Turcica wird gesprochen. Dieser Kunstbegriff ist in sich problematisch, da er mit der pax Romana, dem im römischen Kaiserreich laut Selbstdarstellung der kaiserlichen Spitze herrschenden Frieden, gerade das falsche Modell eines Sicherheit der Wege? sesshaften, für vormoderne Verhältnisse hochinstitutionalisierten Staats195

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wesens heranzieht. Gerade so aber funktionierte der „Frieden“ in der Steppe nicht: Es gab niemals die Art von Reich, die Sicherheit hätte garantieren können – und so ungewöhnlich waren kaufmannsfreundliche Friedensphasen in der eurasischen Steppe, wie wir sahen, auch wieder nicht. Solange nur die schützenden Clans davon ausgehen konnten, dass sie profitierten, solange also hinreichend Interesse an der Sicherheit der Wege gegeben war, scheint sie gewährleistet gewesen zu sein. Die Schwierigkeiten, ein einiges Reich zu erkennen, haben auch mit der Tatsache zu tun, dass das mongolische Reich längst weit über die Steppe und über die üblichen Dimensionen eines Nomadenreiches hinausgewachsen war. Ein großer, vielleicht der größere Teil der beherrschten Gebiete war jetzt altes Kulturland, und immer wieder entzündete sich innerer Widerstand im Nomadenreich gerade daran. Kublai, der den Sitz des Großkhans 1260 aus der Steppe nach Khanbaliq verlegte, fand einen Konkurrenten um die Position des Großkhans in seinem Bruder Arigh Böke († 1266), der das nomadische Leben der Steppe der chinesischen Kultur vorzog – ein Phänomen, das wir grundsätzlich schon im Reich der Göktürken haben beobachten können. Dieser Gegensatz, in diesem Fall innerhalb des gleichen Clans aufgebrochen, trat dauerhaft zu dem älteren innermongolischen Problem hinzu, dem Streit um die Deszendentenlinie, aus der der Herrscher stammen sollte – solcher Konkurrenz innerhalb des führenden Clans sind wir ebenfalls bereits bei früheren NomadenBerührung mit reichen begegnet. Die Linie Ögedeis, aus der ursprünglich der Großkhan Kulturland entstammte, stand für die Steppentradition, die auch immer wieder vom Clan Tschagatai unterstützt wurde; die Ilkhane im Iran und der Großkhan in Peking bevorzugten das Kulturland. Die polemische Formulierung des Gegensatzes bedeutete zwar nicht die sofortige Entnomadisierung der Mongolen in den Kulturländern, doch das langsame Aufgehen in der einheimischen Bevölkerung – in China spricht man von „Sinisierung“ der Mongolen. Noch der letzte selbsterklärte Abkömmling der Dschingisiden oder genauer des Clans Tschagatai, Timur († 1405, den man nicht nur in Europa als Tamerlan – von Timur lenk, Timur der Lahme – kennen lernte), lebte in seinem Stammland Transoxanien demonstrativ als Exponent der Steppe, mit deren Hilfe er zur Macht gekommen war und deren Hilfe er benötigte, um die Macht zu behalten, Teile des Jahres in Zelten vor den Toren seiner Stadt Samarkand – die er gleichwohl prachtvoll ausstattete. Die sehr unterschiedlichen Weltgegenden, Lebensweisen und Gastkulturen sorgten dafür, dass sich die Mongolen auch religiös ausdifferenzierten. Waren sie als Anhänger von Schamanenkulten eher indifferent (und auch hier der nomadischen Tradition verhaftet) gewesen, wenn es um die Absolutheitsansprüche von Hochreligionen ging, so änderte sich das Schritt für Schritt. So wurden die Khane des JochiClans in der „Goldenen Horde“ frühzeitig Muslime, was den Gegensatz zu den Ilkhanen zusätzlich anheizte, weil diese trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer muslimischen Umgebung im Iran und Irak ebenso wie die clanverwandten Religion und Kultur Großkhane lange Zeit zumeist Buddhisten waren, bevor auch sie um 1300 allmählich zum Islam übergingen. Noch Ilkhan Öldscheitü (1304–1316) machte den 196

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Fahrende Städte der Mongolen. Ausschnitt aus der Velletri-Borgia-Karte (15. Jh.).

Quellen zufolge eine für diesen Zweig der Dschingisiden typische religiöse Karriere, denn er gehörte im Laufe seines Lebens zahlreichen Religionen oder Lehren des Vorderen Orients an, war wohl auch einmal getauft worden. Mehr als alles andere schließlich spiegeln die mongolischen Übergänge in die Schriftkultur(en) ihre nomadische Herkunft ebenso wie die kulturelle Weite ihres Reiches wieder; und gerade hieran lässt sich die (kultur)vernetzende Funktion, die solche Reiche in Zentralasien übernehmen konnten, besonders deutlich aufzeigen.

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Das Mongolenreich als kulturvernetzender Faktor der Weltgeschichte

Eine ausgesprochene Befähigung zur Übernahme von sesshaften Technologien verschiedenster Art vereinigt mit nomadischen Verhaltensweisen und Wissen führten dazu, dass die Mongolen in den etwa drei bis vier Generationen, in denen sie tatsächlich ein weitgreifender politischer Faktor waren, ganz eigene Spuren in allen irgendwie betroffenen Kulturen hinterließen – Spuren, die als alles andere als zivilisationsvernichtend anzusehen sind. All diese betroffenen Völker und Kulturen machten ihre „mongolische Erfahrung“ (Thomas Allsen), die manch ein kulturelles Phänomen erst hervorbrachte. Betroffen aber war und eine „mongolische Erfahrung“ machte im 197

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Grunde die gesamte damals zusammenhängend bekannte Welt, das heißt Europa und Asien sowie zumindest die nördliche Hälfte des afrikanischen Kontinents – auch hierin wird die Besonderheit gerade dieses Steppenreiches deutlich. Ein besonders symptomatisches Beispiel hierfür entstammt einem kulturellen Bereich, in dem man gerade Nomaden am wenigstens als produktiv erwarten würde, nämlich in dem der Schriftkultur. Zwar hatten die Mongolen bereits relativ frühzeitig die uigurische Schrift übernommen, um ihre eigene Sprache zu schreiben, doch nutzten sie intensiv die in den eroberten schriftkulturellen Gebieten benutzten Sprachen und Schriften und vor allem die in diesen Kulturen dafür vorhandenen Spezialisten, in erster Linie für das Chinesische und das Persische. Besonders geschätzt zu haben scheinen sie jedoch solche Experten, die mehrere Sprachen (und Schriften) beherrschten. Hier ist Marco Polo der Zeuge: „Und es geschah, dass Marco, der Sohn Messer Nicolaos, so gut die Sitten der Tartaren [= Mongolen] erlernte und ihre Sprachen und ihre Alphabete […] Als er an den Hof des Großkhans kam, Bedeutung der kannte er vier Sprachen und auch vier Alphabete und Schriften“. Selbst Schriftkultur oder gerade wenn dies ein wenig übertrieben sein sollte: Es gibt das Wissen darum wieder, was erstrebenswert erschien, um in China im Dienst des Großkhans erfolgreich zu sein. Denn der nomadischen Lebenserfahrung entsprach es, dass Menschen unterschiedlicher Sprachen oder doch Dialekte immer wieder miteinander in Kontakt kamen. Der Erfahrung nomadischer Reichsbildung und hier vor allem der des weitausgedehnten Mongolenreiches entsprach es, dass man mit Menschen unterschiedlicher Schriftsprachen in den angrenzenden Reichen zu tun hatte. Die Mongolen haben gerne mit den Völkern, die sie als nächste anzugreifen gedachten, Kontakt aufgenommen, um wenn möglich deren friedliche Unterwerfung zu erreichen, und sie haben das immer wieder schriftlich getan. Dabei hielten sie es offenbar für einen Vorteil, dass der Gegenüber den Brief tatsächlich lesen konnte: Im Jahre 1267 entschuldigte sich Ilkhan Abaqa bei Papst Clemens IV., dass er einen Brief nur in Mongolisch und nicht (wie üblich) auch in Latein übersandt habe, doch sei sein lateinischer Schreiber gerade abwesend. Der Papst umgekehrt will ausdrücklich nicht antworten, weil er den Brief nicht verstanden habe. Also bemühte sich der Ilkhan darum, Übersetzer in den (vielen) relevanten Sprachen zur Verfügung zu haben, während der Papst es für selbstverständlich hielt, dass man ihm in seiner eigenen Sprache entgegenkam. Auch in China scheinen die alten Eliten wenig erfreut gewesen zu sein, dass ihnen mehrsprachige Emporkömmlinge vorgezogen wurden, auch hier war es also eher selbstverständlich, dass, wer mit Chinesen in Kontakt treten wollte, das auf Chinesisch tat. Während es in manch einer sesshaften Kultur (so im Europa der Zeit) geradezu zum Ausweis des eigenen höheren Ranges oder aber zum Ausweis der eigenen Macht werden konnte, dass der andere gezwungen war, sich der für ihn selbst fremden Sprache zu bedienen, war es bei diesen Mongolen genau umgekehrt: Sie zogen bi- oder polylingualen Kräfte an sich und haben offenbar als Ausweis ihrer Macht das „Beherrschen“ der Sprache und Schrift des anderen betrachtet. Diese ganze Disposition muss es gewesen sein, die beim Übergang zur Schriftkul198

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tur zu einer sehr spezifischen Lexikonkultur im mongolischen Kulturraum führte – wobei Kulturraum hier zu verstehen ist als der Zusammenhang aller möglichen Kulturen inner-, aber aus außerhalb des Gebietes des oder der Reiche, soweit sie von der mongolischen Reichsbildung berührt worden waren, also soweit sie, um mit Thomas Allsen zu sprechen, „a given society’s ‚Mongol experience‘, an experience that often provided both reason and opportunities to pursue studies of languages of others“ machten. Das beeindruckendste Produkt dieser Lexikonkultur stammt denn auch nicht aus China oder Persien oder einem anderen von den Mongolen unterworfenen Schriftkulturraum oder gar aus dem mongolischen Kerngebiet, sondern aus dem Jemen. Hier entstand um die Mitte des 14. Jahrhunderts das sogenannte »Rasûlid Hexaglot« seitens eines hochgelehrten Herrschers der Rasuliden-Dynastie, ein sechssprachiges Lexikon nämlich, das in sechs Spalten neben dem Arabischen Lexikonkultur auch Persisch, Türkisch und Mongolisch sowie Armenisch und Griechisch nebeneinander stellte: „The Languages of the Rasûlid Hexaglot represent the major political and cultural tongues of the Eastern Mediterranean world of the Mongol era.“ (Peter Golden) Ebenfalls aus dem erweiterten Mittelmeerraum, aber viel enger mit dem mongolischen Kulturraum ebenso wie mit dem Leben in der Steppe verbunden, entstand nur wenig früher der »Codex Cumanicus«. Er besteht aus einem dreisprachigen Lexikon, das wieder das Persische (als lingua franca der westlichen Hälfte des Mongolenreiches) mit einer von der Forschung als Kumanisch bezeichneten, im westlichen Eurasien gesprochenen Turksprache vereinigte sowie schließlich Latein. Weitere Texte in der uns überlieferten Sammelhandschrift enthalten aber auch deutsch-kumanische Passagen, dazu religiöse Texte in kumanischer Übersetzung und mehr. Geschrieben ist all das in lateinischen Buchstaben, und damit ist eine Sprach- und Schriftregion an die mongolische angeschlossen, die aus guten Gründen beim »Rasûlid Hexaglot« unbeachtet blieb, nämlich diejenige „Lateineuropas“. Trotz der Kreuzzüge waren Schrift und Sprache(n) des äußersten Westens Eurasiens für dessen Kulturen bis dahin nie wirklich bedeutsam gewesen, weil beiderseits das Interesse fehlte. Jetzt aber wirkte die „mongolische Erfahrung“ auch hier, und Lateineuropäer nahmen das aus dem Steppenreich kommende lexikalisch-mehrsprachige Kultur- (und zugleich politische) Angebot wahr und setzten es zur eigenen Nutzung, für Kaufleute ebenso wie für Missionare, in ihre eigene Schrift um. Beide, das »Rasûlid Hexaglot« und der »Codex Cumanicus«, sind sprechende Beispiele für die Art, wie die nomadische Reichsbildung der Mongolen Brücken zu bauen imstande war: Kulturprodukte, die in ihrer grundsätzlichen Anlage den ursprünglichen, nomadischen Trägern des Reiches selbst zu verdanken sind und die wegen der großen Reichweite des nomadischen Reiches an sehr entfernten Orten der Welt entstanden, die aber von den berührten Kulturen zu den jeweils eigenen Zwecken adaptiert wurden. Auch auf anderen Feldern lässt sich zeigen, wie aktiv die Mongolen bei der Zusammenführung von kulturellem Wissen aus unterschiedlichen Weltgegenden wurden. Nicht dass dies, so formuliert, in ihrer Absicht gelegen hätte – sie hatten den eigenen Nutzen ihres Reiches im Sinn. Doch sie waren Offenheit ge199

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Die Ordnung der Welt

wöhnt – ebenso wenig sprachlich festgelegt wie religiös, weil ihre eigene mobile Lebensweise sie offenbar auch geistig-kulturell in bestimmter Weise beweglich oder auch indifferenter machte. So wenig sie in ihrem zerbrechenden, verschwindenden Reich eine Hochkultur begründet haben, so sehr ein Großteil der Forschung, von sesshaften Zivilisationen aus denkend, stets dazu neigte, nur zu sehen, was die Mongolen an bestimmten Orten von den eroberten Kulturen übernahmen (oder gar zerstörten), so deutlich lässt sich in der Zusammenschau doch zeigen, dass sie nicht bloß Brücken waren, über die andere gingen, bloße Katalysatoren, die nichts von sich selbst gaben oder annahmen, sondern dass sie die kulturellen Errungenschaften der Hochkulturen und diese selbst zusammenführten, dass sie eigene Spuren hinterließen: Der »Codex Cumanicus« und das »Rasûlid Hexaglot« sind wegen der Mongolen außerhalb oder am Rande von deren Reichsgebiet entstanden, unter Verwendung von originär Mongolischem. Wenngleich so direkte Beeinflussungen oder gar Übertragung selten im Einzelnen nachweisbar sind, lassen sich noch andere Beispiele anführen, die den weitreichenden Blick der nomadischen Reichsgründer belegen und Ansätze für Austauschprozesse nahe legen können. Weitergehend als die Übernahme und Nutzung von Schrift und die Parallelisierung von Sprachen ist die Aufzeichnung der eigenen Geschichte und ihre Integration oder gar Deutung im Kontext derjenigen anderer, benachbarter Völker und Kulturen. Hierfür bedienten sich die Mongolen der sesshaften, schon länger schriftkulturell entwickelten eroberten Kulturen. Besonders ein am Hof der Ilkhane entstandenes Werk zeigt hier die angesprochene Weite des Blicks. Um 1300 schrieb hier Raschīd ad-Dīn, möglicherweise ursprünglich ein Jude, der zum Islam konvertiert war, eine Weltgeschichte für die Mongolen. Ihre Teile betreffen neben den Mongolen selbst die Geschichte der für diese und ihr Reich Aufzeichnung der historisch wie politisch wichtigen Völker und Reiche der Oghusen (Ogueigenen Geschichte zen, einem weiteren nomadischen Turkvolk, dessen Reichsbildung zwischen jenen der Uiguren und Chasaren einer- und der Mongolen andererseits anzusetzen ist), Chinas, Indiens, der Franken, das heißt der Lateineuropäer, sowie die Geschichte der Kinder Israels. Zu diesem Zweck wusste sich der Autor Texte der anderen Kulturen zu verschaffen. Aus Europa kam offenbar die Papst-Kaiser-Chronik des Dominikaners Martin von Troppau, vermittelt wohl durch seine Ordensbrüder, deren Mission sich um 1300 in Persien etablierte. Es ist wohl kein Zufall, dass eine großangelegte Chronik aus der Hand eines anderen Bettelmönchs, des Franziskaners Paulinus von Venedig, nur wenig später und erstmals in Europa im Gegenzug ebenfalls auf zahlreiche, wenn nicht alle erreichbaren oder wenigstens für politisch relevant gehaltenen (nämlich bis zu 26) Kulturen der Welt parallel blickte – Kulturen, so kann der Historiker sagen, die von den Mongolen zusammengeführt worden waren. Auf der anderen Seite der riesigen eurasischen Landmasse, in Korea oder in Japan, also wieder am Rand oder außerhalb des mongolischen Reiches, entstand wohl im 14. Jahrhundert eine Weltkarte in ostasiatischer Tradition, aber weit darüber hi-

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„Brückenbauer“

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Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

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nausgreifend („Gesamtkarte der Entfernungen sowie der historischen Hauptstädte“, jap. Kon’itsu kyōri rehidai kokuto no zu). Sie zeigt nicht nur alle mongolischen Herrschaftsgebiete mit ihren Hauptstädten, sondern rezipiert deutlich arabisches kartographisches Wissen von westlichen Bereichen der Welt, das wiederum durch die mongolische Reichsbildung überhaupt erst in Bewegung gesetzt und übertragen wurde: wahrscheinlich wieder zum Zwecke der Aufzeichnung von Wissen über die ganze Welt zum Nutzen des mongolischen Reiches, aber mit Wirksamkeit weit über diese Absicht hinaus – und weit über die Reichsgrenzen hinaus: Weder Japan noch Lateineuropa wurden von den Mongolen erobert oder ernsthaft herrschaftlich erfasst, etwa durch Tributzahlungen. Beide haben aber ihren „Mongolensturm“ gehabt Erinnerung an – in Japan heißt er (oder besser der Sturm, der die mongolische Landung die Mongolen scheitern ließ) Kamikaze, göttlicher Wind –, dessen sie sich bis heute intensiv erinnern. Das Bild ist das der Rettung vor alles zerschlagenden barbarischen Horden; und nicht nur in Europa und Japan erinnert man die Mongolen in erster Linie als barbarische Zerstörer: Russland gedenkt seiner Zeit unter dem Tartarenjoch, im Vorderen Orient weiß man nicht zuletzt von der Zerstörung Bagdads und der Ermordung des letzten Kalifen, und Entsprechendes gilt für die Erinnerungskultur des chinesischen „Reiches der Mitte“ den Nomaden generell und den Mongolen im Besonderen gegenüber. Doch haben wir an den wenigen Beispielen sehen können, dass es sich auch der ganz konkreten zivilisatorischen Einflüsse der Mongolen auf diese ganze Welt zu erinnern lohnt. Sie öffneten auf ihre Weise und mit ihrem spezifisch nomadischen kulturellen Wissen zu einem günstigen Zeitpunkt für kurze Zeit ein Fenster weit, und damit veränderten sie die Welt. Als Kolumbus aufbrach, um Indien zu erreichen, das Marco Polo als von den Mongolen dominiert beschrieben hatte, führte er einen Brief des spanischen Königspaares an den Großkhan mit sich. Das Mongolenreich zerbrach letztendlich in sehr unterschiedliche Teile. In der Steppe entstanden in einer wiederum sehr typischen Weise zahlreiche kleinere, nach den Namen der Clanchefs (die sich zu Recht oder zu Unrecht meist auf Dschingis Khan rückbezogen) benannte Gebiete. Einer dieser Clanchefs war der schon zitierte Timur, der um 1400 noch einmal Teile des ehemaligen Großreiches erobern konnte – allerdings weniger jene Teile, die in der Steppe lagen. Immerhin konnte Ende des Mongolenreichs dank seiner sogar ein ursprünglich nicht von den Mongolen erobertes Reich deren Namen weitertragen: Das Mongolenreich lebte weiter im „Mongol-Mogulreich“ (in Indien). Als weitgreifendes Steppenreich war das Mongolenreich das bislang letzte der eurasischen Geschichte, denn die Steppen gerieten seit der Frühen Neuzeit unter die Herrschaft der sesshaften Rus, nun Russland; die nomadische Kultur fiel weitgehend der modernen Zivilisation zum Opfer. Inwieweit es berechtigt ist, bei den Aufgaben, die die nomadischen Steppenreiche für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vernetzung der Welt übernahmen, von Globalisierungsphänomenen zu sprechen, hängt sehr stark von einer weiten oder engen Definition dieses eigentlich zur Beschreibung von Entwicklungen des 20. Jahrhunderts gefundenen Begriffs ab. Elemente einer Vorgeschichte von Globalisierung 201

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lassen sich aber ganz sicher festhalten: Handel wurde über die Steppenwege und durch die besonderen Reiche, die diese bewachten, in einem für vormoderne Verhältnisse außerordentlich weiten Ausgriff ermöglicht. Informationen im weitesten Sinne wanderten, nicht zuletzt dank kultureller Offenheit der Nomaden als Überträger, aber auch dank deren spezifisch nomadischem kulturellen Wissen, auch wenn die Geschwindigkeit gewiss mit nichts zu vergleichen ist, was wir heute oder auch nur seit etwa 150 Jahren gewöhnt sind. Gerade im Bereich der Geschwindigkeit dürfte zudem die heutzutage nur noch selten oder als exotisches Phänomen in unsere Welt passende Nomadenkultur ein Element der Beschleunigung gegenüber den Übertragungsmöglichkeiten sesshafter Kulturen dargestellt haben, weil die sich ständig mit ihren Herden unterwegs befindlichen Hirten mobiler waren und mit dem Wissen, den Nachrichten, den Gegenständen wanderten, die sie zu vermitteln hatten.

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