Mythopoetisches Sprechen in Celans \"Tenebrae\"

August 24, 2017 | Author: Vajda Károly (Karl) | Category: German Literature, Jewish Studies, Hermeneutics, Paul Celan
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Description

Spielarten der Sprache Transgressionen des Medialen in der Literatur Herausgegeben von Erno Kulcsar-Szabo - C songor Lorincz - G ab o r Tamas M o ln a r

FSZEK Kozponti Konyvtai

OSIRIS VERLAG ■ BUDAPEST, 2 0 0 4

Mit freundlicher Unterstiitzung des ungarischen Bildungsministeriums und der Ungarischen Akademie der Wissenschaften

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© Herausgeber und Verfasser, 2004 © Osiris Kiado, 2004

Inhaltsverzeichnis

Versuch einer medialen Akzentsetzung in der Forschung zur literarischen Moderne (Geleitwort)

9

I. KULTURTECHNIKEN U N D M EDIALITAT DER (LITERARISCHEN) SPRACHE

17

Istvan M. Feher

Wort und Zeichen. Die strukturalistisch-semiotische Sprachauffassung aus hermeneutischer Sicht

19

Erno Kulcsar-Szabo

Dichtungsgeschichte und mediale Kulturtechniken

43

II. BILDER U N D SPRACHLICHE TRANSGRESSIONEN

65

Istvan M . Feher

Bild und Sprache. Uber den Zusammenhang zwischen Kunst- und Sprachauffassung in der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers

67

Zoltan Kekesi

„Materialempfinden“ und „Lichtschreiben“. Zur Auseinandersetzung zwischen Kallai und Moholy-Nagy

86

Csongor Lorincz

Mnemotechniken des lyrischen Bildes in der Spatmoderne (Attila Jozsef, Benn, Celan)

101

Zoltan Kulcsar-Szabo

Textspiegel (John Ashbery: Self-Portrait in A Convex Mirror)

121

III. THEORIE DER LYRIK IN MEDIALER HINSICHT

147

Gabor Bednanics

From Countryside to City. Budapest in 19th-century Hungarian Poetry

149

Zoltan Kulcsar-Szabo

Spleen und Ideal. Ubersetzung als Figuration der Lektfire(n) von Baudelaires Spleen II

164

Jochen Thermann

Das Gesprach fiber Schwarze Locher

183

Csongor Lorincz

Poetik der Medialisierung: Asthetizismus und Spatmoderne (Hofmannsthal, Babits, Attila Jozsef)

192

Zoltan Kulcsar-Szabo

Zur Problematik des „Rollengedichts“

277

Karl Vajda

Hermeneutische Glossen zu Georg Trakls De profundis

289

Tamas Molnar Gabor

Poetry in Motion?

303

Erno Kulcsar Szabo

„Das Netz des ausgebreiteten Taktes". Poetologie von Stimme und Text: die spatmoderne Epochenschwelle in der Dichtung von Attila Jozsef

321

Karl Vajda

Mythoepisches Sprechen in Celans Tenebrae

342

Monika Danel

Zwischen den Sprachen Versuch einer historischen Kontextualisierung der ungarischen Neoavantgarde

6

369

IV.

ERZAHLEN UND TECHNIKEN DER VERMITTLUNG

393

Agnes Hansagi

Identitat und Identitatsprasentation in Marais Die Glut

395

Peter Szirak

Lesen und (Selbst)verstandnis (Bemerkungen zur Rezeption der Essays von Laszlo Nemeth)

418

Pal Kelemen

Tiefenangst. Fremde Raume in Miklos Meszolys Saul

430

Karl Vajda

Mythoepisches Sprechen in Celans Tenebrae In m e m o ria m Peter Szondi e t Peter Balassa

Das Interesse am Werkzeug und am Werkzeuggebrauch der Wissenschaften riihrt von der offensichtlichen Universalitat des methodologischen Denkens her. Dieses ist ein Erbe der klassischen griechischen Philosophie, die bis in unsere Tage alle wissenschaftlichen Disziplinen in Denken, Ahnen und Tun bestimmt und ihnen in unterschiedlichem Ausmaft altehrwurdige Denkkategorien an die Hand gibt. Die von der philosophischen Tradition bedingte medial-instrumentale Durchdringung der Wissenschaften erfolgt indessen aus einer inneren metaphysischen Notwendigkeit. Metaphysisch ist jedes Seiende (nur) morphoiogisch fassbar, da das wandlungsreiche, denn wandelbare hyle sich in die vollendete, entwandelte morphe, in die Form wandelt. Kunst, d. w. s. das handwerkliche Konnen (techne) heifit in diesem Zusammenhang eine folgenreiche Tatigkeit menschlicher, folglich natiirlicher Wesen, die etwas Entstehendes, denn erst allmahlich als es selbst Seiendes durch geschickte Bearbeitung in eine Form entlassen, die von der Natur nicht hatte bewirkt werden konnen und somit zu Recht als kiinstlich gilt. Der qualitative Sprung ins Kiinstlerische nimmt dem Kunstding dieses Kiinstliche keineswegs. Die Kunst ist kiinstlichkiinstlerisches Schopfertum. Die auf der Poetik des Aristoteles beruhende Literaturwissenschaft hat daher - wie dies die russischen Formalisten so deutlich sahen - diese Entstehung zu ihrem Gegenstand. Sie hat historisch, morphoiogisch, asthetisch, soziologisch und medialwissenschaftlich zu ergriinden, wie das komplexe und dynamische Wechselverhaltnis von schopferischer Intention, wirkungspragmatischer Rezeption und individuellem Verstandnis entsteht und im fiktiv-illusionar-asthetischen Gebilde des Kunstwerks am Werk ist. Diese Aufgabenstellung allein schon hat eine Instrumentalisierung des wissenschaftlichen Denkens zur Folge. Im Sinne und 342

Interesse der jeweiligen literaturwissenschaftlichen Schule lasst sich diese Instrumentalisiertheit als Methodologie sogar lehren. Wenn nun in der nachstehenden Abhandlung versucht wird, der Deutungstradition der gangigen Celan-Forschung entgegen eine hermeneutisch konsequente Interpretation von Celans Tenebrae vorzulcgen, so konnte dieser Ansatz als eine Kritik der Instrumente der Celan-Philologie verstanden werden. Dies ware jedoch ein Missverstandnis. Nicht den Instrumenten, sondern den poetologischen Postulaten der vermeintlichen Instrumentiertheit, Instrumentalisierbarkeit von Literatur und Literaturwissenschaft gilt unsere Kritik. Der Bruch mit der Deutungstradition der Celan-Forschung und die Entfaltung einer Interpretationsalternative ist somit nicht schon auch das Anliegen unserer Abhandlung. Vielmehr soli in diesem Bruch zum einen das Gewicht, ja die folgenschwere Art einer theoretischen Fragestellung der Philosophic des klassischen Griechentums ins hermeneutische Bewusstsein gehoben werden. Zum anderen soil die zu erarbeitende Interpreta­ tionsalternative ein nicht poetologisches Literaturverstandnis vage umreifien. Im ersteren tragen wir eine alte Schuld ab und versuchen dem Geist Celanscher Dichtung gerecht zu werden, im anderen werden wir gleichwohl versagen. Allein, im Sagen dieses Versagens wird eine Stimme vernehmbar, in der das Versagte leise schon anklingt. Die nachstehenden Erorterungen zu Celans Tenebrae sind somit, so deutlich sie auch immer eine Krisis der poetologischen Literaturtheorie machen mogen, nicht kritisch, vielmehr fundamental. Das in Frage stehende Gedicht hat folgenden Wortlaut: Tenebrae Nahe sind wir, Herr, Nahe und greifbar. Gegriffen schon, Herr, ineinander verkrallt, als war 5 der Leib eines jeden von uns dein Leib, Herr.

343

Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah. 10

Windschief gingen wir hin, gingen wir hin, uns zu bucken nach Mulde und Maar. Zur Tranke gingen wir, Herr.

15

Es war Blut, es war, was du vergossen, Herr. Es glanzte. Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr. Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.

20

Wir haben getrunken, Herr. Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr. Bete, Herr. Wir sind nah.

Die Deutungstradition der Celan-Philologie folgt bei der Erschlieftung des im Gedicht literarisch Gesagten trotz der Vielfalt der in ihr konkurrierenden literaturtheoretischen Konzepte recht einheitlich derselben Richtschnur. Ausgegangen wird dabei von Otto Poggelers einschlagigen Erinnerungen1 an einen personlichen Austausch mit dem Dichter, aus denen zu erfahren ist, dass Celan dank seiner katholischen Ehefrau am Vorabend eines Karfreitags das Officium tenebrarum, mithin jene Gleichnishandlung der romisch-katholischen Liturgie personlich erlebt hatte, in der nach dem Vorsingen einzelner Psalmen eines nach dem anderen das Licht je einer Kerze erlischt, bis sich der Kirchenraum ganz in die Undurchdringlichkeit der hereingebrochenen Finsternis gehiillt hat, was die Glaubigen an jene Dunkelheit erinnert, die sich laut der Evangelien zur Stunde von Jesu Tod iiber die Welt ausgebreitet hat. Dies scheint das Blutmotiv in Zeile 14 344

und 20 zu bekraftigen. Es wird somit einerseits von der Autoritat und Authentizitat des Autors eine Interpretationsstrategie beglaubigt, die fur natiirlich, denn der Natur der Dichtung fur ganzlich entsprechend halt, dass ein priigendes Erlebnis des Poeten bei den Schopfungsakten dichterischer Kunst ins stoffliche Gewebe des Poems als textueller und intertextueller Gestalt unmittelbar ein- und in dem Entstandenen ganz aufgegangen sein muss, so dass es im nachhinein extrahiert und als materielle Komponente zur Deutung nutzbar gemacht werden kann. Diese produktionsasthetisch durchaus sinnvolle Nutzung eiaer biographischen Sicht, die in manchem Bezug nicht ohne Grund an sonnigere Tage des literaturwissenschaftlichen Positivismus erinnert, konnte sich indessen in den letzten vier Jahrzehnten bei weitem nicht nur deshalb als produktiv erweisen, weil sie textuelle Ubereinstimmungen zwischen dem Celanschen Gedicht und den herstellungsasthetischen Implikationen der selbstredend nur teilweise rekonstruierten, denn nur zum Teil rekonstruierbaren Entstehungsgeschichte zu erarbeiten wusste. Den Erfolg des biographisch-entstehungsgeschichtlichen Deutungsansatzes lediglich aus etwaigen textuellen Stimmigkeiten ableiten wollen, hiebe die Kausalitat mit der Finalitat verwechseln. Die zentrale Rolle der biographischen Sicht, die wegen der lextimmanenz der strukturalen Literaturtheorien, die zur Entstehungszeit der Celan-Philologie den literaturwissen­ schaftlichen Diskurs schon durchaus beherrscht haben, recht anachronistisch anmutet, ist ein wissenschaftsgeschichtlich relevanter Beleg fur die Kraft, m it der hier eine bestimmte Wissenschaftstradition zutage bricht. Die interpretatorische Potenz der Celan-Philologie erwachst aus dieser poetisch-philologischen Tradition mithin nicht in der Modalitat einer Moglichkeit, als ware die exegetische Heranziehung der dichterischen Lebensgeschichte die Folge einer bewussten Uberlegung, wobei der Philologe seine Mittel kritisch eines gegen das andere abwagen wiirde, denn abwagen und das geeignetste auswahlen konnte, so dass es in seiner Macht stiinde, bei irgend einer »theoretischen« Notwendigkeit auf die Hinweise von Poggeler zu verzichten und sie aus seiner Interpretation ganzlich zu tilgen. Vielmehr erfolgt die biographische Durchdringung der Interpretation von Celans Tenebrae in der Modalitat einer Notwendigkeit, ja eines Zwangs. 345

1 Dieser Zwang ergibt sich indessen aus der Aristotelischen Grundlegung des heute herrschenden literaturwissenschaftlichen Denkens als solcher. Aristoteles tut auf einem langen Entwicklungsweg des griechischen Denkens einen der letzten Schritte, wenn er die Phanomene der Literatur der poiesis, d. h. einer hervorbringenden (poietike), aber zugleich auch spielenden, oder vielmehr spielerischen (mimetike) Runst (techne) kategorisch zuordnet. Diesen Weg selbst nur Meilenstein fiir Meilenstein nachzuschreiten, ist uns an dieser Stelle verwehrt. Daher muss eine Zusammenfassung jener Zusammenhange des Aristotelischen Dichtungskonzepts geniigen, die in der Deutungstradition von Celans Tenebrae besonders ins Gewicht fallen. Der seit Aristoteles vorherrschende Begriff der Dichtkunst (poietike) meint das gekonnte Handwerk, die techne der Dichter, die sich mit anderen Handwerken durchaus vergleichen lasst2 und die sich bei entsprechender Veranlagung gleich ande­ ren Handwerken erlernt werden kann. Ein Gedanke, der aufier der Platonischen Provokation3 der Dichter auch in manchen eher praskriptiven als deskriptiven Passagen der Aristotelischen Poetik offen zu Tage tritt und ihr nicht von ungefahr den Anschein eines Gradus ad Pamassum verlieben hat. (Praskriptive Teile scheinen die urspriinglich deskriptiven Grundton der Poe­ tik vor allem in den letzten Kapiteln zu iiberwiegen: 1458b 6-15; 1459a 4-9; 16-30; 1460a 5-9; 1460b). Als viel wichtiger jedoch denn die stille, aber umso konsequentere Abstandnahme von der alten griechischen Dichtungslehre, die eine gottliche Gnadenlehre war, erweisen sich hier die metaphysischen Implikationen der Aristotelischen Handwerksanalogie. Schon der erste Satz der Poetik, der Literatur als eine der tech­ ne bestimmt, steht in einem deutlichen metaphysischen Zusammenhang. Im Buch Z der Metaphysik handelt Aristoteles von dem Entstehen. Er expliziert dort4 zwei Arten der Entstehung. Entweder entsteht das Entstehende von Natur aus (physei) oder durch Kunst [techne), d. w. s. durch das handwerkliche Konnen des Menschen. Denn techne meint nicht etwa je nach Kontext bald das Handwerk, bald die Kunst, techne bedeutet stets ein und dasselbe: kunstvolles (gekonntes, kenntnisreiches) Hand­ werk. Da Dichtungen von Natur aus nicht entstehen, bleibt Aris346

toteles - und in seinen Fufistapfen die Literaturwissenschaft kein anderer Weg zu betreten, denn Dichtungen als kiinstlich-kiinstlerisch hervorgebrachte Dinge, als Kunstdinge zu denken. Aristoteles gelangt zu seiner Dichtungslehre somit weder iiber eine (im Sinne der Staatskunst) politischen oder epistemologischen Wertschatzung der techne, sondern kraft eines ontisch-ontologischen Syllogismus. Da das Werden im metaphysi­ schen Denken als Bewegtheit, als Hervorgehen aus etwas bereits Hervorgegangenem vorgestellt wird, jenes jedoch, woraus das Hervorgehende hervorgeht, in Bezug auf diese Art von Entstehung nur insofern von Belang ist, als es die Grundlage des Hervorgehens abgibt und somit als Rohstoff des Entstandenen gilt, wird die Stofflichkeit der Dinge, d. w. s. das Spannungsverhaltnis ihrer Beschaffenheit als in der Entstehung hinter sich zu lassender fruherer Erschaffenheit und zugleich als zu erreichender neuer Erschaffenheit entsprechend aufgewertet. Deshalb kann Aristoteles der Stoff als allgemeiner Charakterzug von jedwedem Seienden erscheinen.5 Wenn wiederum der Stoff der rote Faden ist, der den ganzen Bereich irgend nur seiender Dinge durchzieht, dann liegt auf der Hand, dass auch die Kunstdinge der Dichtkunst ihren Stoff (hyle) haben. Allein, dieses Haben ist kein unbegrenztes Verfugen iiber das Gehabte. Der Begriff der hyle erweist sich bei Aristoteles gerade deswegen als ein besonders gliicklich gewahlter Terminus, weil er schon etymologisch einen Grundzug des metaphysischen Materiebegriffs deutlich macht: Die jeweilige stoffliche Beschaffenheit eines Dinges kann erst an dessen fertigem oder eben unfertigem Zustand abgenommen werden. Das Entstehende ist nur ein solches, inso­ fern es sich in einem Vorgang von Verwandlungen befindet, mithin in einem Vorgang begriffen ist und in keinem Zustand verharrt. Jedem Wandlungsmoment dieses Entstehungsprozesses eignet also eine gewissen Vorlaufigkeit: Das gegenwartig Entste­ hende ist mit dem kiinftig erst Entstandenen nicht identisch, es ist ja noch unvollendet, vorerst noch nicht ausgepragt, nicht an seine Eigentlichkeit und Endgultigkeit freigegeben. Die Stoff­ lichkeit soli somit metaphysisch von der vollendeten Gestalt unterschieden und abgehoben werden. Die Aufgabe dieser Distinktion fallt u. a. dem Begriff der hyle zu. Hyle bedeutet urspriinglich Holz im Sinne von Wald oder im Sinne von holzer347

nem (verwandlungsweichem), vor der Hand noch unbearbeitetem Arbeitsmaterial.6 Der Aristotelische Schliisselbegriff der hyle driickt also zugleich die vorlaufige Unbestimmtheit und gleichzeitig die Verwirklichungsmoglichkeit des in der techne schlummernden Gestaltungspotentials aus. Mithin ist der Begriff der hyle jener Terminus technicus, mit dessen Hilfe einerseits die wandlungsreiche Identitat des Entstehenden durch alle seinen Entstehungsphasen durchgehalten und andererseits die Analogic zwischen natiirlicher und kiinstlicher Entstehung aufrechterhalten werden kann. Wegen der inneren Dynamik dieser doppelten Analogic (Handwerks- und Naturanalogie7) kann es fur Aristoteles neben konkret fassbarem Stoff (hyle aisthete) auch einen »immateriellen« Stoff [hyle noete] geben.8 Die hyle ist, sosehr sie auch den Stoff des Entstehenden bezeichnen kann, nur der Moglichkeit nach (dynamei) auch der Stoff des Entstandenen. Auf die Dichtung bezogen: Die zu verwirklichende, als Ab-Sicht (eidos, idea) dem Kunstler vorschwebende Form verwandelt sich erst nach der Uberwindung jener zwingenden und irgend doch noch zu bezwingenden Widerstande, die der Stoff seiner Bearbeitung entgegenstellt, in die vollendete Form, in die morphe. Das als finaler Entwurf gedachte kunstlerische Schopfungsvorhaben lasst sich im Sinne der Aristotelischen Entstehungsund Wesenslehre gerade deshalb als Intention (im doppelten Sinne von Absicht und Anstrengung) fassen, weil sich dem obigen Schopfungsschema nach in Kenntnis zweier Komponenten die dritte jederzeit errechnen lasst. Kennt man z. B. die Schopfungsabsicht und den Stoff, so kann man sich daraus das Kunstding erdenken, wobei das Erstellte, das Hergestellte um so mehr der Schopfungsabsicht entsprechen wird, je mehr sich der Herstellende mit dem »Stoff« und dem diesen bearbeitenden Handwerk auskennt. (Die Stoffkenntnis ist ja mit der technischen Fertigkeit gerade proportional.) Sind hingegen der Stoff und die vollendete Form bekannt, dann kann daraus die schopferische Idee abgeleitet werden. Kennt man wiederum den Stoff und die schopferische Absicht, ist die Form in ihrer vollendeten Endgiiltigkeit gleichwohl nicht richtig zuganglich, so lassen sich diese Zugangsschwierigkeiten durch die Kenntnis des Stoffes und der schopferischen Intention (en) teilweise oder gar ganzlich beseiti!

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gen, gesetzt, dass die Aristotelische Dichtungslehre ihre Giiltigkeit hat. Auf Celans Tenebrae angewandt: Lassen Uberschrift, Apostrophe und das Bild des vergossenen Blutes an Erschliefibarkeit zu wunschen iibrig, kennt man aber den Stoff im Sinne der griechischen hyle (gattungsspezifisch und thematisch) und findet sich ein Hinweis auf die Schopfungsidee des Autors, auch nur mittelbar und formal, so lasst sich die vollendet-unvoll(ver)standige Form durch die entsprechende Betonung gewisser Details feststellen: Eine poetologische Deutungstradition entsteht. Die auf der biographischen Korrektion der endgiiltigen Form beruhende exegetische Konvention der Celan-Forschung lasst sich in drei Grundthesen zusammenfassen: 1) Die Uberschrift von Celans Tenebrae beschwort (als intertextueller Paratext) die durch die Evangelien bezeugte Dunkelheit wahrend des Opfertodes Christi in symbolischer Verkehrung als ein emblematisches Phanomen, das - im Gedicht entsprechend verwandelt auf das Verhangnis des europaischen Judentums im 20. Jahrhundert bezogen gedeutet wird. 2.) Aus der biographisch belegten Schliisselstellung der Rolle der romisch-katholischen Osterliturgie bei den ersten Entwiirfen zu dem Gedicht folgt zwingend, dass die haufige Apostrophe Herr substitute fur Christi Namen steht. 3.) Das Blut, von dem in den Zeilen 14, 15 und 20 die Re­ de ist, ist ein weiteres Indiz fur die Parallele zwischen der christlichen Heilsgeschichte und dem historischen Leidensweg der von den Nazis verfolgten Juden,9 die wiederum fur die zweite Grundthese einen weiteren Beleg liefert. Exegetisches Einvernehmen herrscht auch noch daruber, dass die Aufforderung des »Plerrn«, zu der ersten Person Plural des Gedichts zu beten, ein beispielloses Novum ist, das in der christlich-judischen Uberlieferung keine Entsprechung hat. Risse bekommt die Einheitlichkeit der Interpretationskonvention der Celan-Forschung erst bei Fragen, die sich aus dem biographisch abgeleiteten Konzept der mythopoetischen Umkehrung von Christi Opfertod nicht unmittelbar ergeben. So scheiden sich die Geister daruber, ob sich die wiederkehrende Aufforderung des Herrn, zu »uns« zu beten, noch in jenem religiosen Einvernehmen mit G ott, als das der Glaube im dynamischen Spannungsfeld von Zusammengehorigkeit und Alteritat 349

erlebt wird, deuten lasst, oder aber schon ein Sakrileg ist, kurzum: inwiefern die »mythopoetische Umkehrung« als inhaltliche Komponente aufzufassen und somit eine urspriinglich-referentielle Inversion ist, oder aber lediglich ein formales (im engstem Sinne mythopoetisches) Mittel, so dass sie sich in der Polaritat von Sakrament und Sakrileg gar nicht mehr interpretieren liisst. Das Register der Tone dieser sekundaren, d. h. nebensachlichen Divergenz reicht von einer biblisch geschulten Relativierung des Sakrilegs10 iiber dessen Betonung11 hin bis zur Annahme einer haretischen Anklage gegen G ott.12 Die Kraft der poetologischen Infiltrierung der bisherigen Tenefcrae-Interpretationen wird an jenen Versuchen besonders deutlich, die sich - aus welchem konkreten philologischen Grand auch immer - von der oben umrissenen Deutungskonvention zu entfernen bemuhen. Gotz Wienold, der sich zuerst mit den Beziigen von Celans Tenebrae zu Holderlins Patmos und den biblischen Psalmen befasst hat, deckt zwar auf, dass das Blutmotiv nur durch eine hermeneutisch unangebrachte Assoziation mit der Eucharistie in Zusammenhang gebracht werden kann,13 an einer spateren Stelle gibt er der Deutungskonvention dennoch nach, wenn er glaubt, dass das Auschwitz-Erlebnis des Gedichtes in eine Passionssymbolik verwoben sei.14 Wie sehr er sich dabei von einer biographisch durchdrungenen produktions;isthetischen Sicht der Aristotelischen Poetik leiten lasst, zeigt sich daran, mit welcher unbeschwerten Selbstverstandlichkcit er von der endgiiltigen »Form« unter Kenntnis des Stoffes ruf die Chronologie einzelner Schritte der poetischen Ideefassu 1 folgert.15 Ahnliches lasst sich im Fall von John Felstiner beobachten, der an Hand zahlreicher Stellen der Bibel die aus der Eventualitat des Titels folgende Vieldetitigkeit des Dunk 1heitsmotivs und somit die Entfernung zur katholischen Liturg e zwar aufdeckt,16 sich spa ter in unverstandlicher Inkonsequenz dennoch des christologisierenden Interpretationsschemas bedient.17 Es war Jean Bollack, der jiingst die Problematik der drei obigen Grundthesen der Celan-Philologie ins offentliche Bewusstsein zu heben versucht hat.18 Er beanstandet vor allem aus ct, scher Sicht, dass die nicht selten einer theologischen Alleg-' re;e gleichkommende exegetische Heranziehung, stellenweise scgar 350

Auspliinderung christlicher Theologeme auf einen moralisch zweifelhaften Schritt zuriickzufuhren ist. Die Gezwungenheit der von Bollack mit Recht scharf kriti: sierten Passionsanalogie springt vielleicht dann am deutlichsten j in die Augen, wenn angesichts der Zeilen »Augen und Mund ste! hen so/offen und leer, Herr« Gadamer annimmt, dass hier das Motiv der PietB anklange.19 Er erkennt selbst im Anblick eines vor Entsetzen verstellten, im Rahmen einer sinnlosen Massenj vernichtung halbtot geschundenen Menschengesichts nicht, wie ; weit er sich in seiner ganzen Interpretation irrt. Auch an der : Abendmahlanalogie kann man angesichts der Tatsache, dass I nicht symbolisch andachtig Wein aus einem Kelch getrunken, I sondern wirkliches Blut aus einer Tranke geschliirft wird, nur : mit im wortlichen Sinne blinder Gewalt festhalten. In Celans Tenebrae fehlt ja das zur Eucharistieanalogie liturgisch unerlasslif che Motiv des Essens ganzlich. Als besonders symptomatisch erh weist sich in dieser Hinsicht der Interpretationsvorschlag von | Magdolna Orosz. In ihr straubt sich zwar etwas gegen die Un| stimmigkeit der Abendmahlanalogie, sie bricht dennoch nicht I mit der Deutungstradition, sondern versucht deren Ehre dadurch zu retten, dass sie die offensichtliche Unstimmigkeit zwis >schen dem schliirfenden Trinken des Blutes im Gedicht und I dem andachtigen Trinken des Wei ns bei der Eucharistie durch den Priester in der Messe an Hand von 1. Kor. 11:25-27 mit der als Sakrileg verstandenen Aufforderung Gottes zum Gebet zu verbinden versucht und annimmt, es werde durch das Schliirfen des Blutes, das sie als vorschriftswidrige Einnahme des christlichen Sakraments verstanden haben will, die Unwurdigkeit der dargestellten Judenverfolgung betont.20 Von besonderem Belang ist dieser Ansatz deshalb, weil er dadurch, dass er in einer betont textimmanent verfahrenden strukturalen Analyse begegnet, von der Starke des metaphysischen Zwangs der Autorenbiographie f zeugt. Orosz sieht sich gezwungen, exegetisch an etwas festzuf halten, wogegen sie theoretisch durchaus Bedenken hat. Dieser Versuch der Ehrenrettung der an den Haaren herbeigezerrten Eucharistieanalogie erfolgt um den Preis des Verlassens der inneren Dimensionen des Gedichts: Die Unwurdigkeit des darge­ stellten Gewaltmarsches als eines der konkreten Vorfalle der kontinentweiten Ausrottung von Millionen jiidischer Menschen 351

vom Neugeborenen an iiber schwangere M utter bis hin zu den gebrechlichsten Greisen ist gerade theologisch ein Skandal ohnegleichen: eine nie zu verwindende Einmaligkeit, die vor Analogien geradezu scheu machen sollte. Der Vergleich dieses beispiellosen Skandals mit dem »intertextuell« forcierten und vor dem Hintergrund der Massenvernichtung der Juden vollig banalen Skandal der vorschriftswidrigen Einnahme eines Sakraments macht deutlich, wie weit die hylomorphologisch-biographische Betrachtungsweise das kritische Urteilsvermogen zu beeintrachtigen vermag. Aber schon die Bollacksche Kritik macht die nirgends reflektierte Grundthese der landliiufigen Celan-Philologie deutlich. Die Annahme, dass judische Opfer der europaischen Juclenverfolgung iiber ihre eigene Vernichtung in der ihnen fremden Symbolik einer Religion denken, fuhlen und sprechen wiirden, die mit ihrem theologischen Antijudaismus dem politischen Antisemitismus so manche Stereotypen an die Hand gegeben und sich zudem an der institutionell gefSrderten Gleichgultigkeit der christlichen Mehrheit schuldig gemacht hat, kann den Abgrund zwischen den Verfolgten bzw. Vernichteten und den Nachkommen der ihnen gegeniiber ehedem Gleichgiiltigen und daher schuldig Gewordenen zwar aufheben, aber eben nur um einen sehr bedenklichen Preis: um die Aberkennung der Alteritat des Anderen, mithin um seine erneute Verkennung, um nicht zu sagen, um seine Ver-Achtung. Der im Neuen Testament theolo­ gisch manifestierte Antijudaismus der Kirche (und das heifit notgedrungen: der abendlandischen Kultur) wird durch die biographisch forcierte poetische Ubernahme christlich-theologischer Emblematik auf der Ebene wissenschaftlicher Analyse sublimiert. Ein aufierst bedenklicher Schritt, ethisch nicht min­ der als wissenschaftlich. So scharf und in seiner Scharfe treffsicher die ethisch motivierte Bollacksche Kritik auch immer ist, ihr bleiben die wissenschaftlichen Griinde der Gezwungenheit pseudochristlicher Analogien verborgen. Mehr noch: Indem er seine Kritik in vieler Hinsicht auf die Kenntnis der Lebenserfahrung und der Denkweise des Autors griindet, spricht er der landlaufigen, poetologischen Hermeneutik das Wort. Er kann der Celan-Philologie nur deswegen eine Iniquitas interpretationis bescheinigen, weil es 352

ihm vergonnt ist, die Schopfungsabsichten des Dichters aus der vorliegenden vollendeten Form subtiler herauszulesen. Mithin weifi er die Unbilligkeit der exegetischen Folgen des biographischen Ansatzes nur deshalb festzustellen, weil er sich als ein konsequenterer Schuler des Aristoteles erweist als die von ihm kritisierten Philologen. Soil der Bruch mit der Deutungstradition der Celan-Philo­ logie nicht lediglich kritisch mit Berufung auf eine bessere Kenntnis entweder der auktorialen Intention, des Stoffes oder der vollendeten Form als textueller und/oder intertextueller Struktur vorgenommen werden, wollen wir uns also bei dem Bruch mit der Aristotelisch inspirierten Deutungstradition nicht ganzlich in die Aristotelische Dichtungslehre fugen, sondern in der Tat fundamental verfahren, dann muss ein bewusster Verzicht auf die hylomorphische Literaturwissenschaft gewagt wer­ den. Ein Schritt, der nur zu deutliche Gefahren in sich birgt. Die landlaufige Literaturwissenschaft beruht durch und durch auf der hylomorphologischen Deutung literarischer Phanomene. Ein Verzicht auf die Hylomorphologie geht deshalb notwendigerweise mit einer Aufkiindigung von Grundsatzlichem, unter anderem mehr mit der Aufgabe der literaturwissenschaftlicher Terminologie einher. Begriffe wie Text, Werk, Teil, Struktur, Komposition, Analyse etc. sind ja allesamt m it hylomorphologi­ schen Konnotationen behaftet, mehr noch, sie haben iiberhaupt nur in einem hylomorhologischen Verstandnishorizont Sinn. In der nachstehenden Auseinandersetzung m it Celans Tenebrae muss daher von diesen Begriffen und den ihnen innewohnenden hylomorphologischen Zwangen Abstand genommen werden. Die abkiinftige Literaturwissenschaft versteht die Literatur als Poesie, auf Griechisch als poiesis, auf gut Deutsch als menschliche Herstellung, als die bewerkstelligende Betatigung schopferischer Vorstellungen, mithin als Willen zur Erzeugung. Die Literatur im einzelnen ist ein textuelles Gewirk einander mit der Absicht literarischer Wirkung in bewusster Komposition zugeordneter Komponenten. Die Literatur im ganzen ist die virtuelle Ganzheit aller nach diesem Schema wirklich entstandenen oder potentiell noch entstehenden Erzeugnisse [poiemata). Eine ontologische Literaturtheorie muss mit diesen Grundansichten brechen. Fur sie ist die Literatur einer der Seinsmodi des 353

Menschen. Sie befasst sich nicht mehr damit, was und weshalb literarisch ist: Sie setzt sich nicht mit dem literarischen Sein literarischer Seiender (Texte und Werke) als feststellbarer Literarizitat auseinander, sondern hat mit dem literarisch21 Sein litera­ risch Seiender zu tun. Sie beschaftigt sich also mit einer menschlichen Seinsweise, in der der Mensch nicht der Herstellende, nicht der tiber das eigene Sein oder iiber das Sein Fremder Verftigende ist, sondern ein sich auf das literarische Spiel Entwerfender. Kein Verfugender, sondern ein sich im doppelten Sinne von Akkusativ und Dativ Fiigender. Ein Geworfener, der erst in seiner Geworfenheit selbst entwirft, sich also dem anfanglichen W urf in der Art eines Wurfes stellt und ihm erst so begegnet. Kurzum: spielt. D. h. mit sich spielen lasst. In Celans Tenebrae ist diese Geworfenheit deswegen eine besonders offensichtliche, weil hier der Beginn unseres literarisch Seins mit einer Verwandlung einhergeht. Wir finden uns im Auftakt der Celanschen Tenebrae in einer Gemeinschaft wieder. Das Gedicht ertont ja nicht in der Stimme eines im Namen eines Kollektivs sprechenden lyrischen Ichs, iiber das der Lesende oder Horende zu einem spateren Zeitpunkt entscheiden konnte, wie weit er sich mit ihm oder seiner Horerschaft als angesprochener Gemeinschaft identifiziert oder sich womoglich aus einer solchen Identifikation heraushalt. In der ersten Zeile schon ist iiber unseren Status eine endgiiltige Entscheidung getroffen, ich und du, wir sind alle schon in das Wir eines Kollektivs einbezogen, iiber dessen Integrationsmerkmale wir nicht nur nicht entschieden haben, sondern vorerst noch nicht das Geringste wissen. Folglich ist eine Abstandnahme von der Aussage der Gemeinschaft des lyri­ schen Wir ebenso unmoglich, wie eine Identifikation damit. Zur ersteren fehlt uns in unserer Geworfenheit jenes Vorwissen eines Vorverstandnisses der eigenen Daseinslage, zur zweiten fehlt uns die notwendige Bewusstheit: Unsere Zugehorigkeit zum Kollektiv des Gedichtes ist eine Gegebenheit, die nicht hinterfragt werden kann: Der Sprecher des Gedichts redet den »Herrn« im Namen unser aller an, was nur bei entsprechender Authentizitat und Akzeptanz unserer Gemeinschaft moglich ist. Unsere Angehorigkeit zu dieser Gemeinschaft ist somit eine fraglose Gegebenheit und als solche eine der Grundbestimmungen des Spielraums des Ge­ dichtes. Unbedingte Vorbedingung.

Das kollektive Sein, in das wir nun geworfen sind, ist durch die im Titel genannte Dunkelheit gekennzeichnet. Durch eine Dunkelheit, der in der Latinisierung des Begriffs, dieser Entriickung aus den Alltagszusammenhangen eine existentielle Singularitat zugesprochen wird. Und noch etwas steigt uns gleich am Anfang ins Bewusstsein unseres literarischen Selbstverstandnisses: die Gewissheit einer durch die umgekehrte Gliedfolge betonten Nahe und eine Zuwendung. Wir sprechen den Herrn unmittelbar an und betonen seine Nahe zu uns. Die Anrede Herr ohne den bestimmten Artikel ist uns aus der Sprache der groften monotheistischen Religionen gelaufig. Das lyrische Wir, das wir im einzelnen alle sind, spricht somit ein Gebet. Gleichsam keines, das in liturgischer Konventionalitat der christlichen Kirche oder der jiidischen Synagoge verharren wiirde. Dieses Gebet ist nicht vorverfasst. Es wird nicht re-zitiert. Viehnehr wird es als selbstauslegende Aufterung von uns alien das erste Mai iiber die Lippen gebracht. Die Anrede des »Herrn« beschwort dennoch eine sprachliche und mythische Oberlieferung herauf, in deren sprachlichen Dimensionen das im Gedicht Geschehende nun mehr geschehen wird. Mit dieser sprachlichen Tradition lassen sich die zweite Person Singular und die Anredeform Herr erklaren. Das Hebraische (und in treuer Gefolgschaft auch das Kirchendeutsch) kennt weder Siez- noch Ihrzformen. Auf Hebraisch muss sich jeder mit jedem duzen, die Ehrfurcht bleibt im Medium der Nahe und lasst keine Flucht ins Mittelbare zu. Die Bezeichnung Herr (Adonaj) dient der Substitution des mittlerweile unausgesprochen gewordenen Tetragramms [haSchem) und meint fur den betenden Juden - und nur fur den betenden Gott, bei den Christen wahlweise G ott oder den Mensch gewor­ denen Gottessohn Jesus Christus. Die Apostrophe Herr lasst furs erste mithin noch zwei Deutungen zu. Man muss sich zwar entscheiden, denn beide Moglichkeiten sind einander gegenseitig ausschlieftende Alternativen. Feststeht vor der Hand nur, dass »wir« eine Gemeinschaft bilden, wir sind nah und wir spre­ chen im Imperativ zu dem Herrn, der entweder G ott ist oder Jesus. Die zweite Zeile macht unsere Nahe in ihrer Art deutlicher. Sie ist nicht etwa abstrakt im Sinne religioser Andacht verstanden, sondern in der absoluten Konkretheit des menschlichen 355

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Kdrpers. Wir sind nahe und greifbar. Der zweite Vers expliziert dann diese Greifbarkeit. Sie ist keine potentielle Wirklichkeit, die eintreten konnte, sie ist bereits geschehen: Wir sind gegriffen. In diesem Gegriffensein klingt einerseits das Aufgegriffensein, die Gefangenschaft an, andererseits verbindet sich die Gegriffenheit mit der Verkralltheit. Es ist eine Steigerung, wie die potentielle Greifbarkeit der zweiten Zeile uber das von aufien erfolgende, erzwungene Gegriffensein zum Ineinander-Verkrallt-sein des lyrischen Kollektivs wird. Die Not der Greifbarkeit intensiviert sich iiber das Leid und das Leiden des Gegriffenseins zum korperlichen Schmerz einer krampfhaften Zuckung blanken Entsetzens. Diese Verkralltheit bringt Felstiner mit einer Formulierung in der deutschen Ubersetzung von Ger­ ard Reitlingers The Final Solution in Verbindung und nimmt an, sie sei eine Anspielung auf die Agonie der Vergasten.22 Ob wir nun die Verkralltheit als Allusion auf den Todeskampf in den Gaskammern verstehen oder sie als eine Weiterfuhrung und Verinnerlichung der Gefangenschaft auslegen und m it der subtilen Schilderung eines Gewaltmarsches der funften Strophe verkniipfen, ist uns iiberlassen, auf jeden Fall eroffnet sich hier eine neue Dimension der Gemeinschaft unserer Geworfenheit. Wir sind als Kollektiv eine Schicksalsgemeinschaft. Aus demselben Grand um Freiheit und Wiirde gebracht. Diese Entwiirdigung ist indessen bei weitem keine Fiktion moralisch notwendiger, asthetisch moglicher Einfiihlung in eine historische Vergangenheit, die nun literarisch aufgearbeitet werden soli, als befanden wir uns in der Sitzung einer psychologischen G ruppentherapie. Es ist auch keine Schongeisterei nach konkret historischem Spuk. In unserer Geworfenheit spiiren wir die Krallen unserer Nachsten. Solange wir literarisch »im Gedicht« sind, gibt es keine Wirklichkeit jenseits des Gedichts, jenseits des jahen Schmerzes, der von unseren Armmuskeln ausgeht und uns alien ins Mark fahrt. Entweder sind wir literarisch und dann geschieht uns Literatur, so dass wir die Krallen unserer Nachsten spiiren, oder wir verweigern soeben, literarisch zu sein. Die fiinfte und die sechste Zeile entfalten das schmerzliche Erlebnis der Schicksalsgemeinschaft in der Relation zum angesprochenen Herrn. Wir sind gegriffen und ineinander verkrallt, 356

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als ware der Leib eines jeden von uns sein Leib. Diesen Zeilen, die sich auch als eine stille Abwandlung der Paulusstelle »Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied«23 lesen lassen, scheint Gewichtiges aufgebiirdet. Zum einen haben sie mit allem Nachdruck zu verdeutlichen, dass unsere Schicksals­ gemeinschaft keine organisch gewachsene Einheit der stimmigen Mehrstimmigkeit einer Vielfalt ist, wie dem Apostel zufolge die christhche Kirche als die Braut des Erlosers eine sein sollte,24 keine Lebensgemeinschaft also, sondern eine zufallsbedingte Schicksalsgemeinschaft von Menschen, die in dem lyrischen Kollektiv ihre aufterste, bestialische Vereinzelung erleben mussen. Doch ist dies nur die eine Seite. Diese Zeilen haben auch ein wichtiges Moment der Beziehung zum Herrn zu beleuchten und in der haufigen Wiederholung der Apostrophe verschiebt sich der Akzent ohnehin immer mehr auf die Beziehung zwischen dem Angesprochenen und den sich ansprechend Aussprechenden. Vernehmlich wird dieses Moment einerseits in der Identifikationsbereitschaft mit den schmerzvoll Leidenden, die dem an­ gesprochenen Herrn zugemutet wird. Die Authentizitat dieser Bereitschaft des Herrn zur Identifikation, zum Mitleiden mit unserer Schicksalsgemeinschaft ruhrt daher, dass sie von uns behauptet wird: In dem Zutrauen klingt bestatigtes Vertrauen an. Andererseits ist auch wichtig, dass diese Identifikation mit dem korperlichen Leiden im schimmernden Moglichkeitsbereich des Konjunktivs einbehalten bleibt. Diese Zeilen bezeugen somit teils die Furcht davor, den Herrn trotz der Anteilnahme an unseren Schmerzen als leibhaftiges, menschenahnliches Wesen darzustellen, andererseits driicken sie dennoch einen engen Bezug zwischen unserem korperlichen Leiden, unserer korperlichen Gegenwart inmitten der angedeuteten Heimsuchungen und dem Herrn als von unserer aufiersten Not aus Ansprechbarem. Dies erweitert den bisherigen Verstandnishorizont unserer Situiertheit und bezieht biblische Vorstellungen in den Spielraum des Gedichts ein. Laut der biblischen Schopfungsgeschichte wird der Mensch von G ott nach seinem Ebenbild erschaffen,.so sagt es allerdings zumindest die deutsche Ubersetzung des hebraischen Satzes Wajiwra Elokim et haAdam bezalmo, bezelem Elokim bara oto.25 Der hebriiische Terminus Zelem, der hier sogar zweimal vorkommt, meint zwar Bild, Bildwerk (sogar Got357

zenbild) aber weniger im Sinne einer Abbildung, als vielmehr in der Bedeutung der greifbaren Gegenwartigkeit von etwas Plastischem.26 Der Konjunktiv der vierten Zeile in Celans Tenebra; erhalt den angesprochenen Herrn in diesem schimmernden Spielraum von korperlich wirksamer Gegenwart und unvergleichbarer extramaterialer Singularity einbezogen. Es ist eine stille, behutsame Partizipation an unseren Leiden und korperlichen Schmerzen, die den Angesprochenen auszeichnet. In den derart eroffneten Spielraum von kollektivem Wir und singularem Du hinein werden nun die schweren Worte der dritten Strophe gesprochen: Der Herr solle zu uns beten, wir seien nah. Die dritte Strophe hat in der Celan-Philologie schon friih eine Diskussion dariiber entfacht, ob diese Aufforderung etwas Sakrales ist oder im Gegenteil ein Sakrileg darstellt. Poggeler, der auch spaterhin die Moglichkeit des Sakrilegs aus den Deutungsmoglichkeiten ausgeschlossen haben wollte, wusste sogar seine freundschaftliche Verbindung mit dem Autor zu nutzen und erreichte - vorlaufig -, dass das Prapositionalgefuge »zu uns« gestrichen wurde. Die besagte Diskussion ist indessen ganzlich transliterarisch. Die im Namen des lyrischen Kollektivs den Herrn ansprechende Stimme klingt in der wiederholten Ansprache und der Aufforderung zum Gebet weder ironisch noch verlogen. Sie spricht vielmehr aus einem engen Verhaltnis heraus, das von einer nahezu leiblichen, also das ganze Wesen durchwirkenden Anteilnahme an unserem Schmerz, unserer Verachtung und Versklavung gekennzeichnet ist. Um in der SakrilegDebatte die Abweichung von der Konventionalitat einer das Gott-Mensch-Verhaltnis als festes Hierarchie-Gefiige verstehenden Religiosity, die nur in den Kategorien einer Huldbezeugung denken mag, iiberhaupt feststellen zu konnen, muss man die soeben entfaltete Nahe ignorieren. Die Nahe, von der hier die Rede ist, und die so intensiv ist, dass sie dem korperlosen Herrn ermoglicht, an den kbrperlichen Leiden teilzuhaben, die Schmerzen mitzuempfinden, ist eine Relation, in der eine Hierarchie und die Einseitigkeit des Gebets einer G ott lobenden und sich vor ihm huldigend niederwerfenden, also ihn ehrfurchtig scheuenden, von ihm Abstand nehmenden, d. h. die Nahe aufhebenden Kreatur schier undenkbar sind. Nah sind wir, nicht unter-, uber- oder auch nur nebengeordnet. Wir sind die Nachs358

ten Gottes. Und Gott ist unser Nachster. Inwiefern die Erwartung eines hierarchisch teils gedachten, teils denkenden religiosen Konventionalismus an der Uberlieferung von Judentum und Christentum bestatigt werden kann oder aufgegeben werden muss, ist indessen eine Frage, die sich erst nach einem entsprechenden Studium der Heiligen Schriften beantworten lasst. Dass die Nahe der Grand, ja der Beweggrand des Gebets sei, ist ein wiederkehrender Grundgedanke der Psalmendichtung. uWarum stehst du weit entfernt (berachok) [...]?« fiingt mit ei­ nem sinngemafier Antonym der Psalmist, der auf sein Gebet ei­ ne Entgegnung erwartet, mit seinem Gesang an.27 Desgleichen im Aschre-Gebet, das im judischen Gottesdienst dreimal am Tag ertont. Es ist eine Psalmenkompilation, bestehend aus dem 5. Vers von Psalm 84 und dem 16. Vers des Psalms 144 bzw. aus dem gesamten Psalm 145. Im 18. Vers heiik es, dass der Herr al­ ien nahe sei, die ihn wahrlich (beemet) anrufen. Der 5. Vers von Psalm 65 wiederum spricht davon, dass derjenige selig sei, den G ott in seine Nahe lasse. Wir haben indessen nicht von ungefahr erwahnt, dass das Aschre-Gebet in der judischen Liturgie drei­ mal am Tag erklingt, zweimal im Morgengebet und einmal im Nachmittagsgebet, letzteres wird sogar m it ihm begonnen, wahrend es im Abendgebet kein einziges Mai gesprochen wird. Das Morgengebet und das Nachmittagsgebet sind Gottesdienste, die mit dem einstigen Tempeldienst in religionsgeschichtlichem Zusammenhang stehen. Sie werden seit der Zerstorung des Heiligtums an Stelle der Opferdarbringungen gebetet, wahrend das Abendgebet mit dem Opferdienst in keinerlei Beziehung steht. Opfer heifit auf Hebraisch Korban, opfern lehakriw. Nahsein bedeutet in der Sprache der Psalmen karow: Kuf-Resch-Wet, dieselben drei Stammvokale, was im Hebraischen ein eindeutiger Beweis semantischer, etymologischer und sprachgeschichtlicher Verwandtschaft ist. Korban kann das Opfer im Hebraischen also nur deshalb heifien, weil man sich G ott im Heiligtum mit dem Opfer nahert. Das Verbum lehakriw kommt daher nicht nur in der Bedeutung der Opferdarbringung vor, sondern auch in der des schlichten Naherbringens (vgl. Num 5:16: Wehikriw otah haKohen wehemidah lifne haSchem). Siehe hierzu auch Num 16:5 und 16:20). Die Nahe bleibt dabei allerdings stets auf Gott bezogen. Der alte Opferdienst und der »moderne« betende Got359

tesdienst stehen indessen nicht nur wegen der historischen Ka. tastrophe der Tempelzerstorung und der anschliefienden \ 1 treibung Israels aus dem Gelobten Land in genealogist Beziehung. Der verbale Gottesdienst geht schon sehr friih dem nonverbalen Opferdienst hervor, schliefit sich an ihn fiihrt ihn fort, vollendet ihn. Die Darbringung des taglichen () ■ fers und die diese abschlieftende mystische Gleichnishandlun; des Hohenpriesters, wie er mit dem Opferblut den Altar besprengte28 und der Mischna29 zu Folge das iibrig gebliebene Op­ ferblut an der Westseite des aufieren Altars verschiittete, leitete; erst den verbalen Teil des Gottesdienstes ein, wo die Lewiten den Tagespsalm vorgetragen und die Opfernden ihre personlichen Gelegenheitsgebete gesprochen hatten. Das Opferritual erschuf also jene Mahe, die zum Gebet als notwendig empfunden wurde. Es war eine Reihe nonverbaler und rational nicht erfassbarer Gleichnishandlungen, die die Sprachlichkeit des Gebets ermoglicht, eingeleitet, denn angebahnt hatten. Das lyrische Wir des Gedichts betont und bekraftigt nun, dass diese Mahe, die zum verbalen Teil des Gebets notwendig ist, gegeben ist. Es sei an der Zeit, dass G ott sein Gebet spricht, sich mit einem Gebet an uns wendet. Der Sprecher des Gedichts greift damit einen biblischen Gedanken auf und driickt sich vielleicht (iberraschenderweise - ganz in der Tradition der Psalmen aus. »Du hast es gesehen, Herr, schweig nicht! Herr, sei mir nicht fern!« (Raitah haSchem, al-techerasch, adonschem, al-tirchak mimeni: Ps. 35:22) Mehr noch: Es gibt Dutzende von Psalmen, die G ott regelrecht bedrangen (.Ad-mataj), er moge endlich einmal etwas unternehmen, ja iiberhaupt aufstehen [Hairah wehakizah lemischpati Elokaj: Ps. 35:23, Kiimma ha­ Schem.: Ps. 3:8;), als ware er ein betagter Lowe, der im Schatten faulenzt oder gar vor sich hindost (Kumma [...] weurah elaj mischpat ziwita: Ps 7:7; Urah, lamma tischan?: Ps. 44:24). Das Verzagen, der Groll, die Verzweiflung, die Ungeduld sind somit in Wahrheit genauso angebrachte Situiertheiten des Glaubens wie die Freude oder die Danksagung: Sie sind biblisch durchaus belegt und anerkannt. Die Aufforderung Gottes, zu uns zu beten, ist somit - biblisch verstanden - kein Verstofi gegen die Sprechweise des Gebets, sondern selber eine der moglichen Tonlagen des Gebets. 360

Auf die Aufforderung zum Gebet folgt eine Begriindung des soeben Gesagten, die als eine nahezu narrative Argumentation jnmutet. Die Gegenwart der bisherigen Aussagen und der Auf­ forderung weicht nun einem Prateritum, das einen Gewaltmarsch schildert. Wir sind laut dieser Zeilen gehetzte Juden und Zigeuner, die wir im zerbombten Hitlerreich zu Fufi dem Ende des Kriegs und vielfach dem Ende unseres Lebens entgegengetrieben werden, und die schon so ausgehungert sind, dass sie gegen den Wind mit dem ganzen Korper ankampfen miissen, um auf den Beinen zu bleiben (»Windschief gingen wir hin«) und die in ihrem endlosen Marsch (»[...] gingen wir hin,/gingen wir hin«) auch noch von der brennendsten aller Entbehrungen, namlich vom Durst geplagt werden. Der ganze Lebensinstinkt, der noch in uns glimmt, bricht im Verlangen nach Wasser zu Tage. Wir sind gefangen, um jede menschliche Wiirde gebracht, wie das Vieh zur Tranke getrieben und in den blofien Uberlebungsinstinkt eingesperrt. Bezeichnend fur die Sprechweise des lyrischen Wir ist, dass sie sich iiber die Wache, die Gewalttater, die Pogromschergen ausschweigt. Sie gehoren nicht in die Zwiesprache mit Gott. In dieser Zwiesprache gibt es nur uns und ihn, Dritte gibt es nicht, die Tater bleiben unwesentlich. Zum Unwesen ihrer Mittaterschaft scheint es notwendig zu gehoren, dass sie wesenlos bleiben und daher sprachlich nur mittelbar besprechbar sind. In dieser Zwiesprache mit G ott fallen in den Zeilen 14 und 15 die Worte: »Es war Blut, es war,/was du vergossen, Herr.« Die Celan-Philologie interpretiert diese Zeilen als offene Bezugnahme auf den Erlosungstod Christi am Kreuz und legt die Ansprache Herr ruckwirkend als die Anrede Jesu aus, was die Poggelersche Annahme bestatigt, das Gedicht sei eine lyrische Aufarbeitung von Celans Officium-tenebrarum-Erlebnis. Wegen der Kraft dieser Deutungstradition gilt es hier nun mit besonderem Nachdruck zu betonen: Hier werden zwar tatsachlich zwei der Stiftungsworte des christlichen Abendmahls wiederholt, namlich das Blut und dessen Vergiefien. Allein, das Verb steht nicht in Prateritum Passiv der Passionsgeschichte, sondern in Aktiv Perfektum: Nicht das Blut des Herrn wurde - etwa fiir uns als Erlos unserer Siinden - vergossen, sondern G ott war es, der Blut vergossen hat. Der Unterschied ist gewaltig. Die Zeile 15 wider361

legt riickwirkend jedwede christliche Deutung der Apostrophe. Der Herr ist definitiv nicht Jesus der Christus, sondern Gott, der mit dem Volk Israel einen Bund geschlossen hat. Denn das kultische Blutvergieflen, von dem das lyrische Wir spricht, ist eine Handlung dieses Bundes. Eine Handlung, die zur Zeitunserer Gottesanrede schon geschehen ist, die also zu unserer unmittelbaren Vergangenheit gehort, wie der Durst und der Gewaltmarsch. Gott hat Blut vergossen, d. h. er hat im Sinne des alten jiidischen Opferrituals ein Opfer dargebracht, er hat den nonverbalen Teil des Tempeldienstes vollendet, so dass es an der Zeit ist, den verbalen Teil zu verrichten, zu beten, mit uns im Medium des Gebets zu sprechen, in die sprachliche Verfassung unseres Seins als eine Stimme einzutreten. Die nachsten fiinf Zeilen handeln von dem Blutvergiefien und dessen Folgen. Das vergossene Blut glanzte (Z. 16). Die Reflexi­ on auf die physikalische Eigenschaft des Bluts verbindet die historische Ebene der geschichtlichen Ereignisse und die Ebene der literarisch geschehenden Zwiesprache mit Gott. Das Glanzen des frischen, aber schnell gerinnenden Bluts ermoglichte fur wenige Augenblicke, dass uns das Blut an der Tranke, zu der wir wie Schlachttiere getrieben wurden, das Bild des Herrn in die Augen warf. Die Gottesebenbildlichkeit, von deren biblischen Zusammenhiingen oben schon die Rede war,30 mithin unsere Menschlichkeit wurde uns angesichts des vergossenen Blutes bewusst. Das Blut ist im Gesichtskreis der Zwiesprache des Gedichts indessen das rituelle Opferblut, im Horizont des historischen Hintergrundes hingegen das Blut unserer verwundeten oder erschossenen Mitgefangenen, deren Blut sich nun mit dem fliefienden Wasser einer Trinkstelle fur das Vieh mischt. Das sich im Blut widerspiegelnde Gesicht tragt unsere Physiognomie, es ist das geschundene Gesicht eines Gehetzten, der, um jede menschliche Wiirde gebracht, nun urns blofie Uberleben kampft, der einem Tier gleich nur mehr in seinen grobsten Instinkten wie Durst und Miidigkeit sein Dasein fristet. Im Anblick dieses Gesichts erwacht in uns die Erinnerung an unsere Gottesebenbild­ lichkeit, d. h. an unsere Menschlichkeit. Das von G ott dargebrachte Opfer, das nonverbale Ritual einer archaischen, fur immer hinter uns gelassenen Zeit versetzt uns nun aus dem tierischen Gehetzt-Sein in jene sprechende, betende Gegenwart

zuriick, der der Gewaltmarsch schon Vergangenheit ist. Das Biutvergieften des nonverbalen Opferrituals macht aus uns wieder Menschen. Es ware gleichwohl ein Missverstandnis sondergleichen, wiirden wir den historischen Hintergrund und den literarischen Vordergrund in eine exegetische Harmonie zu bringen versuchen: Das lyrische Wir redet nicht dem amerikanischen Jedermannsbegriff Holocaust das Wort. Es geht nicht darum, dass die Vernichtung von Millionen auf einer spirituellen Ebene doch vielleicht Sinn hatte und ein Brandopfer, ein Holocaustum war. Diesem exegetischen Kurzschluss widerspricht, dass der Opferdienst als gottliche Antwort erst auf die Entwiirdigung der gehetzten Men­ schen einsetzt, hinter der »Greifbarkeit« und der »Gegriffenheit« von uns steht also nicht Gott. Er ist nicht der erste Beweger historischer Ereignisse, er ist kein aktiver, sondern ein passiver, mit uns leidender Teilnehmer der Geschehnisse (vgl. Z. 3-6), der sich der Nazischergen genauso wenig bedient, wie wenig ihrer das lyrische Wir erwahnt. Die physikalische Eigenschaft des frischen Bluts, bei gewissen Lichtverhaltnissen spiegeln zu konnen, ist ebenfalls aus der his­ torischen Kausalitat herausgelost. Auch die Opferhandlung ist in dieser Hinsicht eine paradoxe. Sie reifit uns, die zu Tieren verkommenen Lebewesen, wieder in unser menschliches Sein zuriick, macht, dass wir keine zur Schlachtbank gefiihrten Tiere mehr sind, sondern wieder gehetzte, entwiirdigte Menschen, die sich nun ihrer Ebenbildlichkeit, ihrer Menschlichkeit von neuem bewusst sind. Diese Bewusstwerdung ist indessen ein durchaus schmerzhaftes Ereignis. Nicht nur, weil sie mit der Einsicht dessen anfangt, dass wir einem tierischen Sein verfallen waren, sondern auch deshalb, weil sie mit der Bewusstwerdung unserer Verluste einhergeht. Mit der Erkenntnis des Skandals, dass wir vom Blut in unserem tierischen Durst getrunken haben. Getrunken, wohlgemerkt, nachdem das Blut gegliinzt, nachdem es uns das Bild des Herrn in die Augen geworfen hatte. Und dieses Trinken ist auch nicht etwa blofi die »symbolische« Verinnerlichung des Bildes. Es ist mehr und etwas Schmerzlicheres. Das Blut ist laut der biblischen Vorstellung vom Lebendigsein der Trager der Seele und darf, worauf Jerry Glenn die Celan-Philologen aufmerksam ge363

macht hat,31 nicht gegessen oder getrunken werden.32 S.zeich* nenderweise schreit zu G ott nicht etwa die Seele des getoteten Abels empor, sondern sein Blut.33 Blut (Dam) und Seele (NteT fesch) sind im Bibelhebraisch Synonyme: Wir sehen nidu nur das Bild, das sich in dem Blut spiegelt, sondern wir trinKr. mit dem Blut auch jenes Bild, jenes Ebenbild Gottes, das in dem Blut war, nicht mehr jenes, das das Blut widerspiegelte, sondern-; schon jenes, das drin war: Die Seele, die unserem getoteten Lsidensgenossen gehorte, die Seele, die er war, denn geworden ist, und auch die Seele, die er in seinem friihen Tod nicht mehr hat werden konnen. (Nefesch ist ein juristisch vieldeutiger Termin der Mosaischen Gesetzgebung. Er meint jemanden in seiner personlichen, schicksalhafter Jeweiligkeit. In ihm klingt also ein konkret gelebter menschlicher Lebensweg an.) Das ist der Hohepunkt des Skandals. Wir gewinnen nicht nur unsere Mensclp lichkeit zuriick, wir mvissen aus Uberlebensnot gegen sie alsbald verstofien. Eine Situation, die in der Sprache der Psalmen tiefste N ot heifit und aus der der Psalmist zu Gott schreit, er moge nicht schweigen. Eine Lage, von der aus das lyrische Wir, das wir nun sind, Gott ein zweites Mai auffordert, zu beten. Dem Beten haften indessen Bedeutungen an, die in den Ubersetzungen, insbesondere in den deutschen, vielleicht weniger bewusst werden konnen, solange man die biblischen Gebetssituationen nicht einzeln nach ihren Umstanden untersucht hat. Be­ ten (hitpalel) ist das Reflexivum von palal, das richten und urteilen bedeutet. Beten ist somit eine Art Sprachlichkeit, der eine Selbstbesinnung vorausgeht, die vermittelt,34 besanftigt, schlichtet und so gebeugtes Recht wieder errichtet.35 G ott bleibt dabei nicht wortlos, er geht auf das Gebet ein, geht in ihm selber als Angesprochener und Sprechender auf.36 Die Vorstellung, dass Gott betet, »zuriickbetet«, ist also auch dem biblischen Denken nicht unbekannt. Der Talmudtraktat iiber die Gebete greift diese biblischen Vorbilder auf und lehrt an einer Stelle,37 dass G ott betet, wie wir es tun. Der Talmud beruft sich dabei auf Jes 56:7: »Ich will sie an meinen heiligen Berg bringen und will sie erfreuen im Haus meines Gebets (Bewet tfilati) [...]«. G ott betet also. Dem Talmud zufolge, damit sein Sinn fur Gerechtigkeit die Billigkeit seiner Urteile erwagt. Das Gebet ist demnach eine universale Art von Sprachlichkeit, an der sich auch G ott be364

teiligt Er gedenkt des Menschen nicht ohne sich zu besinnen, nicht ohne sich in seine Lage zu begeben, ohne Anteilnahme. Das gottliche Gebet vermittelt sonach gerade in schier unentwirrbaren Lagen menschlicher Existenz, wo die An wen dung von Recht der behutsamen Erwiigung der Billigkeit bedarf. (i. Die zweite Aufforderung des Herrn zum Gebet, die auch die erste deutet, wenn nicht gar umpolarisiert, reifit somit jenen Spielraum unermesslicher Dimensionen auf, der von der Bewusstwerdung unserer Menschlichkeit, von der Besinnung auf unsere Zusammengehorigkeit, was die gemeinsame Anrede des Herrn tiberhaupt erst ermoglicht, und von dem darauffolgenden Skandal anberaumt wird, mit dem Wasser doch auch noch menschliches Blut trinken, mithin eine menschliche Seele, ein menschliches Leben, einen fremden Lebensweg aufschlurfen, also vorlaufig selbst noch in unserer soeben zuriickgewonnenen Menschlichkeit Tier sein zu miissen. Das Gebet des Herrn soil in diesen unermesslichen Spielraum der von uns durchlaufenen Extremitaten hinein ertonen. Das Gedicht schliefit mit der Erwartung des gottlichen Gebets, mit der Erwartung dessen, dass der Herr der Sprachlich­ keit unserer menschlichen Existenz und damit ihren Widerspriichen sprechend entspricht, oder m it Begriffen des Rituals formuliert: die nonverbale Opferdarbringung in verbale Selbstaussage iiberfuhrt. Somit steht auch das Ende des Gedichts nicht ohne biblische Vorbilder da. Die prophetischen Schriften sprechen in ahnlicher Erwartung des Herrn von einem Tag, an dem liber die Erde plotzlich Dunkelheit und agyptische Finsternis hereinbricht (jom choschech waafelah).38 Die Vulgata spricht von einem Dies tenebrarum. Das gottliche Sprechen, die Verkiindigung, das Gebet steht unmittelbar bevor. Daftir, dass sich diese drei Begriffe, das Sprechen, die Verkiindigung und das Be­ ten des richtenden Gottes schon sehr friih mit seinem Gebet verbinden und keineswegs erst ein Produkt einer vermeintlichen, nur von uns forcierten Parallele mit Celans Tenebrae ist, liefert der Prophet Zefanja einen sprechenden Beleg. Er kiindet von einem Tag, an dem der Herr herniedersteigt, ein Opfer darbringt,39 wobei er den Altar m it Blut besprengt (zewach), und nach Vollendung dieses nonverbalen Gebets zu richten und zu schlichten beginnt, so dass der schreckliche Tag damit endet, 365

dass die Gefangenen Zions heimgefiihrt werden 40Auch bei ;hm ist von einem Tag plotzlich hereinbrechender Dunkelheit und agyptischer Finsternis {jom choschech waafelah, jom anan waarafel) die Rede,41 von einem Tag sinnloser Verwiistung, einem Tag der Schoah {jom schoah). Die Vulgata spricht hier ein weiteres Mai von einem Dies tenebrarum. In der Uberschrift von Celans Tenebrae fehlt der Tag. Sie konstatiert somit die Dunkel­ heit, die bereits hereingebrochen ist. Die Verwiistung und die Nahe. Biblisch gedacht die Kirwah, die G ott durch seinen Korban (bei Zefanja Zewach) herstellt. Nicht wir nahern uns diesmal ihm, sondern er uns. Nicht er ist nah, sondern wir. Die ge­ fangenen Juden und Zigeuner, die Opfer der sich in uns verkrallenden Todesangst und des endlosen Gewaltmarsches. Denn wir alle sind noch - unabhangig von unserer transliterarischen Herkunft und Identitat - Juden und Zigeuner der Massenvernichtung. Wir alle sind literarisch noch in der ersten Person Plural des Gedichts aufgegangen. Und was wir zu Beginn des Gedichts waren, sind wir alle noch. Das literarisch Sein durch waltet noch das Transliterarische. Wir alle haben gierig aus dem blutigen Wasser geschlurft, uns in der auftersten Entmenschlichung unse­ re Menschlichkeit wiedererlangt und wieder gelernt, um sie in der Spannung gottlicher Ebenbildlichkeit und tierischen Uberlebungsinstinkts zu bangen. Gesetzt den Fall, dass Celans Tene­ brae Literatur ist und damit ein Modus unseres Seins und nicht das Produkt einer herstellenden Kunstfertigkeit. Mithin im Ernst durchgespielt und nicht blofi m it technischer Leichtigkeit einer Fertigkeit (diesmal einer Leichtfertigkeit) nachgestellt.

L ite ra tu r

Bollack, Jean: Paul Celan. Wien 2000. Felstiner, John: Paul Celan. Miinchen 1997. Gadamer, Hans-Georg: Sinn und Sinnverhullung bei Paul Celan (1975). In: Derselbe: Gesammelte Werke. Bd. 9. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1993. Glenn, Jerry: Paul Celan. Boston 1973. Happ, Heinz: Hyle. Berlin 1971. Mayer, Peter: Paul Celan als judischer Dichter. Diss. 1969 366

Orosz, Magdolna: Biblical »Emblems« in Celan's Tenebrae. In: Neoheli­ con 1995/1 Orosz, Magdolna: Intertextualitat in der Textanalyse. Wien 1997. Picht, Georg: Aristoteles »De anima«. Stuttgart 1987. Poggeler, Otto: Der Stein hinterm Aug. Miinchen 2000. Poggeler, Otto: Lyrik als Sprache unserer Zeit? Opladen 1998. Poggeler, Otto: Spur des Worts. Freiburg 1986. Weissenberger, Klaus: Zurischen Stein und Stern. Munchen 1976. Wienold, Gotz: Paul Celans Holderlin-Widerruf. In: Poetica 1968/2

Anmerkungen 1 Poggeler 1986, 132 f; Poggeler 1998; Poggeler 2000, 46 2 1450b 1-4. Vgl. auch Ion, 531e; 532e; 533b; 540d f. 3 Res publica, 2, 376-3, 403 und 10, 595-607; bzw. Ion 533c-535b 4 Met. Z. 1032a 12-25 5 1032a22 6 Vgl. Happ 1971, 276 I Rhys. II 8, 199a 15 ff. 8 Met. Z. 10, 1036a 8-12; Siehe hierzu Picht 1987, 275 9 Mayer 1969, 136 f. 10 Gadamer 1975, 458 II Orosz 1995, 182f. 12 Weissenberger 1976, 92 13 Wienold 1968, 220 14 Wienold 1968, 222 15 Wienold 1968, 223 15 Felstiner 1997, 141 f. 17 Felstiner 1997, 144 18 Bollack 2000, 237 f.; 308 19 Gadamer 1975, 457 20 Orosz 1995, 183; Orosz 1997, 74 21 Modaladverb! 22 Felstiner 1997, 143 23 1 Kor 12:27 24 1 Kor 12:14-20 25 Gen 1:27 26 Vgl. Dan 2:31 27 Ps. 10:1 2S Lev 1:11 29 Vgl. Swachim V 30 Siehe weiter oben S. 11 31 Glenn, 96 ff. 32 Deut 12:23 33 Gen 4:10

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34 Vgl. Gen 20:7; N um 2I:7; 1 Sam 12:19; Jer 11:14; Jer 42:2 35 Vgl. G en20:17;l Sam 1:10 ff.; 1 Sam 2:1; 1 Sam 8:6 f.; 2 Kon 4G3- ? Y-6:17 f.; N e h l:4 -ll. ' °" 36 Vgl. 1 Sam 8:7 ff.; 2 Chr 32:24. 37 Brachot 7a 38 Joel 2:2 39 Zef. 1:7 40 3:20 41 1:15



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