Thomas Gartmann Musik und Interaktivität – ein Paradox? Ueberlegungen zu einem Paradigmenwechsel1 Wenn wir über Musik sprechen – und ich meine hier die klassische, westliche Musik -, dann gehen wir traditionellerweise unbewusst von einem Kommunikationsmodell Komponist -> Partitur -> Interpret -> Hörer aus, wobei diese Reihenfolge auch klar die Hierarchie bestimmt. Klar, bis zu einem gewissen Grad reagiert der Komponist auch auf den Interpreten, hört auf seine Ratschläge, schreibt für neue Interpreten vielleicht auch eine neue Fassung. Und auch die Rückmeldungen des Publikums werden registriert, der Interpret reagiert spontan, fühlt sich getragen oder abgelehnt, und auch der Komponist kann Reaktionen aufnehmen, etwas verdeutlichen, oder etwas kürzen. Aber die Hierarchie ist so stark ausgeprägt, dass das Werk immer dasselbe bleibt, die Neunte von Beethoven bleibt die Neunte, ob sie nun aus der Perspektive von Giulini oder Abbado dirigiert wird, in einer Sternstunde oder einem etwas verunglückten Konzert – einzig mit dem Starkult verschob sich das Gewicht: zur Neunten von Karajan, dessen Name dann auch entprechend grösser angekündigt wurde – doch diese Tendenz ist heute glücklicherweise wieder weitgehend verschwunden. Musik ist eine transitorische Kunst, ist der letzte Ton verklungen, ist auch sie vorbei, auch wenn sie im Innern und in der Erinnerung des Hörers nachhallt. Seit dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ist die Einzigartigkeit der Aufführung aber wiederholbar. Sie ist auch nicht mehr an einen bestimmten Aufführungsraum gebunden. Mit der damit verbundenen Allverfügbarkeit hat sie laut Walter Benjamin ihre Aura eingebüsst. Verschoben hat sich aber auch das Gleichgewicht unseres Kommunikationsmodells: Die reproduzierbare Interpretation tritt nun neben die Partitur; viele jungen Interpreten lernen ein Stück lieber vom Tonträger als von den Noten. Und die Aufnahmen berühmter Komponsten-Interpreten – ich erinnere nur an die Strawinksy-Dirigate - werden zum Studienobjekt und erhalten fast den gleichen Quellenwert. 1959 schreibt Umberto Eco in Luciano Berios Zeitschrift „Incontri“ über dessen Sequenza per flauto solo: „l’interprete ha di fronte una parte che gli propone un tessuto musicale dove la successione dei suoni e l’intensità sono date, mentre la durata di ciascuna nota dipende dal valore che l’esecutore vorrà conferirle nel contesto delle costanti quantità di spazio, corrispondenti a costanti pulsazioni di metronomo.“ 2 Die offengelassene Fixierung der exakten Tondauern führte Eco dazu, von „opere ‘aperte’, che vengono portate a termine dall’interprete nello stesso momento in cui le fruisce esteticamente“ zu schreiben. Hier handle es sich um die neue Kategorie nicht abgeschlossener Kunstwerke, „opere non finite“, die der Vollendung durch den Interpreten bedürften. Der „Interpret“ trete demnach nicht mehr bloss als Vermittler, sondern als aktiver Mitschöpfer des Kunstwerkes auf: „l’interprete [...] la reinventa in un atto di congenialità con l’autore stesso.“ Eco spricht dabei geradezu von einer „nuova dialettica tra opera ed interprete“. Darauf relativiert er zwar immerhin: „Si ha soltanto Unter dem Titel “Musica e interattività: un paradosso? – Riflessioni su cambi di paradigma“ wurde das Referat am 6.10. 2001 an einem Symposium in Panicale (I) gehalten und in Musica/Realtà 2002 gedruckt. [heute noch im Druck] 1
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Umberto Eco, „l’opera in movimento e la coscienza dell’epoca“, in: Incontri Musicali 3(1959), S. 32-54.
una rosa di esiti fruitivi rigidamente prefissati e condizionati, in controllo dell’autore.“ Dennoch schreibt er, Pousseur zitierend, von einem „campo di possibilità“ und vom „mondo multipolare di una composizione seriale“. Für die Interpretation der Sequenza kommt er zum Schluss: „La Sequenza di Berio eseguita da due flautisti diversi [...] (o eseguita due volte dagli stessi esecutori) non appariranno mai uguali, ma non saranno mai qualcosa di assolutamente gratuito. Andranno intese come realizzazione di fatto di una formatività fortemente individualizzata i cui presupposti erano nei dati originali offerti dall’artista.“ Eco hat hier die Bedeutung des Interpreten offensichtlich überschätzt, und Luciano Berio hat ein fruchtbares Missverständnis provoziert, an dem auch die Interpreten so extensiv partizipierten, dass er sich gezwungen sah, eine neue, klar determinierte Fassung des Werkes zu schreiben.3 Auch wenn Umberto Eco bei Berio unrecht hatte, stellte er hier wie bei „Scambi“ von Henri Pousseur und „Klavierstück XI“ von Karlheinz Stockhausen einen Paradigmenwechsel fest, der ihn zur grundlegenden Poetologie von Opera aperta (Mailand 1962) führte. Mit den neuen Freiheitsgraden hatte der Interpret nun eine Bedeutung in der Mitgestaltung des Werkes erlangt, die nur von den Improvisatoren eines Jazz-Standards übertroffen wird. Und die Emanzipation des Zuhörers? werden Sie sich nun fragen. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich die Wandelkonzerte, die im Kielwasser von 1968 veranstaltet wurden, auf die musique d’ameublements von Erik Satie von 1920 zurückverfolgen. Jeder Zuhörer kann sich sein Programm selbst zusammenstellen und seine Favoriten aufsuchen. Im grossen Stil nimmt dies auch das Internet auf: Unter anderem ist das Internet ein riesiges musikalisches Warenhaus, ein Museum musikalischer Verfügbarkeiten im Format MP3. Noch nie war gleichzeitig soviel Musik zugänglich wie am Ende unseres Jahrhunderts: Im CD-Laden, im Rundfunk, im Internet wird die Allverfügbarkeit zelebriert; Musiken verschiedenster Zeiten, Schichten und Völker versammeln sich zu einem virtuellen Warenlager für musikalische Abenteurer, Touristen und Voyeure. Im Zeitalter der Postmoderne kann sich jedermann ohne grösseren Aufwand als akustischer Schmetterlingsfänger betätigen und aufspiessen, wonach es gelüstet. In der Musik hat die Globalisierung schon weitgehend stattgefunden; Grenzen und Wertmassstäbe verschwinden, Länder, Sparten, Schichten werden durchlässig. Über die Musik setzen früher ungeahnte Emanzipationsbewegungen ein, aber auch neue Diktaturen der Massenkulturindustrie, die Adornos Analysen und Befürchtungen weit überholen. Die Begriffe Werk, Komposition und Improvisation, geistiges Eigentum, künstlerische Integrität usw. werden ständig neu relativiert. Sicher, etwa die Technik der Collage ist nichts neues; Bracque und Picasso, Satie und Strawinsky haben den kreativen Umgang mit bestehenden Werken und akustischem Alltagsmaterial entkrampft und damit das Jahrhundert entscheidend mitgeprägt. Neu ist heute der Stellenwert. Kulturelles Erbe wird ständig vereinnahmt, domestiziert, instrumentalisert, vergewaltigt - oder zu Neuschöpfungen synthetisiert. Eine Genfer Rockband mit dem eher ironisch als 3
Hierzu siehe Th. Gartmann: "'...dass nichts an sich jemals vollendet ist.' Untersuchungen
zum Instrumentalschaffen von Luciano Berio", Bern: Paul Haupt, 2. Auflage 1997, S. 44- 46 und ders.: "Das offene Kunstwerk - neu erschlossen. Zu Luciano Berios Überarbeitung der Sequenza“, in: Musik denken. Fs. Ernst Lichtenhahn, hg. von Antonio Baldassarre etc. , Bern 2000, S. 219-234, sowie ders.: Das neu erschlossene Kunstwerk: Luciano Berios Überarbeitungen der ‘Sequenza’, in: Kgr.Bericht Halle 1998, Kassel 2000, Band II, S. 611-617.
blasphemisch verstandenen Namen „The Young Gods“ schafft so neue Bezüge, indem sie Ausschnitte aus Schostakowitschs „Leningrader Sinfonie“ mit Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ konfrontiert, Strawinsky und Beethoven mit der Stimme eines Schamanen. Das Werk ist zum Sample geworden. Längst lässt sich Pop und Rock, vorab Techno, Hiphop oder Triphop ohne Sampling nicht mehr denken, der Sampler ist ein eigenes Instrument geworden, der Schrei eines James Brown zu einem allgemein verfügbaren musikalischen Element. Nach einer Schätzung eines PopProduzenten basiert heute mehr als die Hälfte der Musik auf Sampling. 4 Auch der einstige Zuhörer kann hier nach Herzenslust, Geschmack und technischen Fertigkeiten zugreifen, auf musikalische Erkundigungstour gehen, oder sich im MP3Verfahren seine eigenen CDs zusammenstellen – um wieder bei der Fixierung einer Interpretation – nunmehr seiner eigenen – stehen zu bleiben. Doch ergibt sich auch dem Hörer die Möglichkeit, sich aktiv einem Werk zu nähern, vergleichbar dem Interpreten von Ecos opera aperta? Aus der Masse von Angeboten auf dem Netz picke ich vier Beispiele von Künstlern aus der Schweiz hervor, die – und das ist typisch für das Internet, aber auch für die Situation dieses Landes – mit ihrer Heimat eher lose verbunden sind. Gut versteckt auf dem Netz findet sich unter einer persönlichen Homepage ein „webpiece“ mit der folgenden Erläuterung: “mein erstes projekt für das internet. es handelt sich hierbei um ein "work in progress", das sich ständig verändern wird. es wird davon keine aufnahme geben; das stück kann immer nur in der aktuellen version heruntergeladen werden. ich möchte andere komponisten dazu auffordern, am "webpiece" mitzuarbeiten! komponisten, die das "webpiece" weiterentwickeln wollen, möchte ich nur wie folgt einschränken: jede fortsetzung muss das bestehende material zur grundlage haben. es können beliebige transformationen damit durchgeführt werden. die jeweilige klangdatei (wav.) bitte ich dann an mich zu senden. ich hänge sie dann an mein vorhandenes "webpiece" an (oder bette sie ein), damit das ganze stück dann im internet angehört werden kann. wichtig: keine änderung der samplerate. maximale grösse für eine neue datei: 300kb (also: in der kürze liegt die würze!!). ich erhebe den urheber-anspruch auf dieses stück. wenn andere komponisten aber mitarbeiten, werde ich ihre namen an dieser stelle anfügen. es dürfen keine gewerblich genutzten aufnahmen von "webpiece" gemacht werden.“ Der 1973 geborene Nils Günther ruft hier zu einer Art kompositorischer Stafette auf, an der sich gleich einem Kettengedicht verschiedene Autoren beteiligen, wobei der kompositorische Prozess nicht nur Reihungsformen vorsieht, sondern auch Transformationen zulässt. Der Komponist zieht sich zum Impulsgeber zurück. In der Folge ist jeder weitere Komponist zunächst Hörer. Unser Kommunikationsparadigma verkürzt sich durch die Ausschaltung des Interpreten auf die beiden nun austauschbaren Pole: Der Komponist wendet sich direkt an die Hörer, die potentiell wieder zu Komponisten werden. Man kann das Modell auch anderes sehen: Jeder Komponist ist zugleich Interpret und Publikum, für sich selbst, in der Weise, wie er die kompositorische Vorgabe für sich selbst interpretiert. Das musikalische Resultat wechselt zwischen transitorisch und fixiert, d.h. mit jeder kompositorischen Intervention erklingt das Stück neu. Die individuelle Lesart wird ad absurdum geführt: Das Internet generiert eine extreme Individualisierung - jedem sein eigenes Stück.
4 Michel Masserey, „On peut tout sampler. L’important est de créer ensuite son propre univers musical“, Interview mit Franz Treichler, in: „Le Temps“ vom 16.9.1999.
Nun, in seiner Radikalität besticht der Ansatz; die technischen Beschränkungen mit dem minimalen Speicher-Volumen und der ästhetisch bescheidene künstlerische Input lassen „Web-piece“ allerdings eher als privates Spiel denn als Kunstwerk erscheinen – privat, weil es kaum durch Links erschlossen wird. Ein zweites Beispiel: Die mehrfach preisgekrönte Internet-Oper Uluru (1991-1995) des in Deutschland lebenden Schweizer Dirigenten und Komponisten Robert C. Bachmann5 ist ein interaktives Multimediaprojekt mit fraktalen Strukturen, die traditionelle Formen des Musiktheaters mit der virtueller Realität digitaler Welten kombiniert. Der Titel Uluru stammt von der Aboriginal-Bezeichnung der Ayers Rock, einem Sandsteinmonolith im geografischen Mittelpunkt Australiens. Auf einen „Plot“ wird verzichtet. Den Inhalt bildet die Darstellung der Mehrdeutigkeit menschlicher Wahrnehmung und Interpretation am Beispiel des Berges Uluru (Traumzeit-Symbol, Landschaftserlebnis, sportliche oder geologische Herausforderung, Ausdruck für das fraktale Wesen der Welt). Die Oper basiert auf einer Raum-Klang-Rotation der 96-Kanal-Digital-Aufnahmen und ist in verschiedenen Versionen aufführbar, live, ab Konserve, gemischt, auch als Teleoper. Auf Internet sind verschiedene Samples, Partitur- und Stimmenausschnitte abrufbar. Die Internet-Präsentation dient so als Grundlage für Inszenierungen an traditionellen Spielstätten, wo durch ein Raster von grossformatigen Lichtprojektionen und sphärischen Raumklangdarbietungen die Dimensionslosigkeit und Immaterialität des Datenraums physische Präsenz erhalten. Die Komposition steht für interaktive und simultane Aufführungen in variablen Darstellungsformen und Instrumentationen zur Verfügung. Zusätzlich zu den Soundtracks der Einspielungen sind Videoaufnahmen und ein umfangreiches Bildarchiv Bestandteil des Shopping-Angebots. Bei diesem Netzkunstwerk kann das Publikum - als Summe von Individuen - interaktiv am Klang- und Spielgeschehen teilnehmen und den Ablauf der Darstellung beeinflussen. Auch hier überzeugt die utopische Idee: Uluru als Paradigma für die Mehrdeutigkeit menschlicher Wahrnehmung wird mit den genuinen Mitteln von Multimedia interaktiv in virtuelle Räume projiziert, wo die Klänge um den Hörer im Zentrum dreidimensional rotieren können. Auch hier ergibt sich aber eine Diskrepanz zum ästhetischen Gehalt: Der Komponist beschränkt sich als Impulsgeber auf die Auswahl der Fraktalen, die den Werkverlauf bestimmen – und die Auswahl der Perspektiven in der Vermarktung der Fixierungen auf konventionellen Trägern. Beispiel 3. „Transmitter“ von Patricia Jünger, Basel, 5. September 1996, mit folgender Versuchsanordnung: „Vier Ebenen des Rheinabschnitts Mittlere Brücke / Wettsteinbrücke werden akustisch prozessual transformiert: Ebene 1: Ein Floss mit 2 Flössern und einer Sprecherin als Klangquelle von Wasseroberfläche und Umgebung mit 5 Mikrofonen befährt während ca. 60 Minuten stromauf und stromabwärts den am Altstadtzentrum Basels verlaufenden Rheinabschnitt zwischen Mittlerer Brücke und Wettsteinbrücke als gleitende Verbindung beider Brücken. Ebene 2: Zwei Taucher mit Mikrofon bewegen sich zwischen beiden Brücken gegenlaeufig entlang des befestigten Flussbettes - & Grund.
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http://www.orbitex.ch/uluru
Ebene 3: Zwei Taucher mit Mikrofon bewegen sich zwischen beiden Brücken gegenläufig in einer Wassertiefe von ca. 2 Metern. Ebene 4: Eine Schauspielerin liest auf einem Boot den Text Text Indoor / Outdoor von Katharina Faber Ein Underscoring ( Verlaufsmischplan) bestimmt den kompositorischen Verlauf sowie die Klangcharaktere & Transformationscharaktere der eingehenden akustischen Events. Die eingehenden akustischen Signale werden organisiert in Bezug auf Eingangszeitpunkt, Dauer, Frequenzbereich, Intensität, räumliche Positionierung, Dynamikumfang - & Verlauf, cross - overs, Ereignisspreizungen - und Zusammenführungen und zum Teil mit digitalen Signalprozessoren transformiert. Die verschiedenen Klangebenen werden zusammengeführt, addiert und miteinander in Rotation versetzt. Parallel zum Live - Broadcasting wird entlang der Uferpromenaden zwischen den beiden Brücken eine Hör - Promenade mit 30 Lautsprechern pro Uferseite installiert. Es werden also gleichzeitig 2 unterschiedliche Mischungen erstellt: eine für das Live Broadcasting, die andere für die Hör - Promenade. Mit 8 zusätzlichen Mikrofonen wird die Hör - Promenade abgenommen und in einer 3. Mischung dem Live - Broadcasting hinzugefügt. Die Mischung für die Hör - Promenade schickt die Klang - Events in unterschiedlichen Bewegungsverläufen, Rhythmen, Intensitäten, Transformationen und Geschwindigkeiten in die Lautsprecher - die Klangereignisse in den Lautsprechern begegnen somit dem promenierenden Publikum als VIRTUELLE REALITÄT DER ANALOGEN UMGEBUNG.“ Nicht von ungefähr heisst der Titel „Transmitter“, rückt das Sendegerät, die Uebermittlung ins Zentrum - das Medium als Message. Unser Kommunikationsmodell erlebt hier eine neue Komplexität. Die Komponistin bestimmt die Versuchsanlage und Transformationsprozesse, ist also zugleich Animatorin, Klangregisseurin, Hörerin und Interpretin, indem sie bestimmt, was via Lautsprecher das Publikum erreicht, was via Internet und Radio ebenfalls transitorisch den Hörern vor den technischen Empfängern vorgesetzt wird und schliesslich, was vom Event auf CD festgehalten wird – in zwei Versionen als zwei möglichen Perspektiven. Komponieren wird hier auf den ursprünglichen Wortsinn zurückgeführt, auf com-ponere. Das Live-Publikum wird durch die Anordnung der Hörpromenade wie bei einem Wandelkonzert zum Interpreten, der sich seine eigenen Perspektiven wählt. Eigentlich handelt es sich hier um einen Spezialfall von musique concrète, bei dem die Natur, der Rhein, eine zentrale Rolle spielt. Der Fluss ist zum Instrument geworden und zum Paradigma des Transitorischen und der Selbstidentität – das Wasser fliesst vorüber, aber der Fluss bleibt stets derselbe. Virtuelle Klänge - wir können das Flussbett üblicherweise ja nicht hören – werden in diesem virtuellen Spiel akustische Momentaufnahmen eines Kontinuums. Die Komponistin ist so auch Vermittlerin und Gestalterin von Natur. Beispiel 4: Klangspielhaus von Andres Bosshard, für die Schweizer Landesausstellung 2002. Der Prospekt auf Internet lautete: „Klangspielhaus Das begehbare Hörerlebnis
Das Klangspielhaus ist ein begehbares Instrument, das aussergewöhnliche Hörerlebnisse ermöglicht. Dank einer speziellen, flexiblen Holzarchitektur entstehen immer neue Klangwelten. Das Klangspielhaus ist eine neuartige Synthese von Musik, Medienkunst und Holzarchitektur. Hier sollen sich die Besucher ganz auf das Gehör konzentrieren. Die beweglichen Wandelemente – aus einerseits schallreflektierendem und andrerseits schallisolierendem Material – können geöffnet, ausgeklappt und umgedreht werden, was die Akustik grundlegend verändert und verschiedene Töne erzeugt. Musiker und Medienkünstler aller Erdteile sind eingeladen, das begehbare Instrument während der Expo.02 zusammen mit den Besucherinnen und Besuchern zu bespielen. Sie kreieren in den Resonanzräumen gemeinsam eine eigene Klangwelt. Es entstehen Vibrationen, Töne und Melodien, die durch die Räume schweben, rollen, grollen, zittern, sich laufend verändern und das Gehör in faszinierender Weise öffnen. Auch aktuelle akustische Ereignisse können in diese Räume übertragen werden. Ausgestattet mit der besten Ton-Technologie bietet sich das Klangspielhaus so als vielfältig verwendbares Ereignislabor an. Das Klangspielhaus soll aber auch ein Ort der Entspannung und Meditation sein. Es modelliert Töne; es nimmt die Geräusche der Umgebung auf und führt sie zu Kompositionen zusammen. Und bei geschlossenen Türen lässt es die Herzen der BesucherInnen hörbar höher schlagen.“6 Hier ist der Komponist primär Klangarchitekt, dazu Animator und Klangregisseur. Die zentrale Leistung des Komponisten ist das Medium - die Architektur als Instrument. Der Komponist dient als Relais und schafft Klangbrücken, die zeitlich und örtlich distanzierte Ereignisse verbinden – aber er ist angewiesen auf diese klanglichen Ereignisse und auf ein Publikum, das wiederum wie in einem Wandelkonzert seine Perspektiven selbst wählen, darüber hinaus aber auch aus dem Klangpool einer virtuellen Phonothek musikalische Ingredienzen beisteuern und den Klangverkehr von innen und aussen mitsteuern – und schliesslich auch als Interpret die Akustik und damit das Klangergebnis grundlegend beeinflussen kann. All diese Projekte haben einen etwas anekdotischen Charakter: die Aera des Zappings, jeder sein eigener DJ, Schöpfer eines persönlichen Remix... Andererseits, gibt es etwa am Studio für elektronische Musik an der Musikakademie Basel spannende Experimente: Die Komponisten Hanspeter Kyburz und Wolfgang Heiniger entwickeln eine neue Art von Musiktheater. Diese multimedialen Arbeiten basieren auf einer neuen Abhängigkeit von Kompositon und szenischer Realisierung: Komposition, Choreographie, Interpretation oder Klang, Wort, Bewegung, Bild und Licht werden in Echtzeit miteinander koordiniert. In diesem Gesamtkunstwerk des 21. Jahrhunderts ist alles interaktiv – ausser das Publikum. Musik und Interaktivität – ein Paradox? Die neuen Medien haben unser Hören, haben die Möglichkeiten von Kommunikation überhaupt entscheidend erweitert. Als Medium ist das Internet zugleich Phonothek und Radio mit erweiterter Reichweite. Aber es kann nicht mehr leisten als Momentaufnahmen, Abbilder, Perspektiven. Erst wenn es als interaktives Instrument gebraucht wird, ändert sich die Funktion des Komponisten. Er wird primär Impulsgeber 6
Aus finanziellen Gründen musste das Projekt dann auf einen Klangturm redimensioniert werden. Vgl. Michael Eidenbenz: Hörend sich im Lebensumfeld orientieren. Andres Bosshard, Musiker und Klangarchitekt, in: Dissonanz 75 (2002), S. 30-35.
und Mittler. Kulturpessimismus ist aber nicht angesagt: Mehrdimensionalität, verschiedene Lesarten und Perspektiven – das ist an sich ein Qualitätsmerkmal eines Kunstwerkes. Gerade die besten Kompositionen ziehen die grösste Vielfalt gegensätzlicher Interpretationen und Rezeptionen nach sich, polarisieren ihr Publikum. Schon ein Mozart wurde von seinem Vater aufgerufen, seine Werke mehrschichtig zu gestalten und nicht nur für Kenner und Liebhaber zu schreiben, sondern auch für Leute mit Langen Ohren.
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Report "Musik und Interaktivität – ein Paradox? Ueberlegungen zu einem Paradigmenwechsel, in: MusikTexte 95 (November 2002), S. 24–28. "