Stadt, Öffentlichkeit, Raum, Ort Öffentlicher Raum als Gegenstand der Analyse: Öffentlichkeit und Kommunikation Typologien von Öffentlichkeiten Kommunikationsmodelle Lebenswelten: Die Menschen in ihren Verhältnissen Gruppen und „historische Generationen“ als Rahmen für Kommunikation, symbolisches Handeln und kollektives Gedächtnis Der Einzelne in seiner Beziehung zu System, Gesellschaft und Gruppe
18 21 22 23 24
Moskauer Orte: Platzbiographien
33
Verortung der Fallstudien in der Stadtstruktur Städtebauliche Leitbilder und die Moskauer Stadtstruktur Moskaus Subsysteme Die Sozialtopografie: Wechselspiel zwischen der realen und der mentalen Landkarte
37 37 44 48
Visuelle Kultur – Bilder schaffen, Bilder deuten, die Welt als Bild
53
Was ist Visuelle Kultur? Der erweiterte Bildbegriff Zum Umgang mit Bildern in Bezug auf die Fallstudien: Planung, Bau, Nutzung und Bedeutung öffentlicher Räume Sowjetische Geschichte als Geschichte ihrer visuellen Kultur Revolution der Sehgewohnheiten? Ein Beispiel: Die Zeitschrift „Stroitel’stvo Moskvy“ als Quelle Sowjetische Bildwelten nach Stalin
53 53
Von der Tverskaja Ulica zur Ulica Gor’kogo: Eine Ikone des „Neuen Moskau“
75
Öffentlicher Raum als Raum für Machtrepräsentationen nach 1917 Die Tverskaja in den Zwanzigerjahren: Flaniermeile und Strassenstrich Von der Tverskaja zur Gor’kogo: Die dreissiger Jahre Hunger, „Ankunft im Überfluss“ und Metrobau Das Hotel Ljuks Der Generalplan von 1935: Die Gor’kijstrasse wird zur wichtigsten Zeremonialachse Stadterneuerung als Diskursereignis: Fotodokumentation und Publikation als doppelte Inszenierung Krieg und Nachkriegszeit Tauwetter auf der Gor’kogo Konsumkultur in der Mangelwirtschaft Das Jahr 1953: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Spätstalinismus „Schon von ferne hört man Schreie, Misstöne und Freudengeheul und Gestöhn“: Die „Koktejl’ choll“, Treffpunkt der stiljagi
77 80 84 84 87 88
25 30
55 59 59 63 68
91 95 98 98 102 103
Inhalt Hintergründe und Interpretationen des sowjetischen Generationenkonfliktes Čuvaki und štatniki als gegenkulturelle Codierungen Die russische Beat Generation: Tunejadcy und Bohémiens Dichtertreffen auf dem Majakovskij-Platz Gezielte Formen der Kommunikation von unten um 1960 Waren die stiljagi die ersten Dissidenten? Orte sozialer Konflikte und verdichteter Kommunikation Schaufenster als Medien inszenierter Kommunikation „Rekonstruktion“ und Schauprozesse: Kaganovič, das Jahr 1937 und Gewalt als Kommunikationsmittel Die neue Gor’kijstrasse bedeutet das „Neue Moskau“ Soziale Räume und ihre Reichweiten Gegensätze Potemkin lebt! Der Gegensatz von vorne und hinten, Stadt und Land Visuelle Kultur: Wie ein neues „Bild von Stadt“ in einem kommunikativen Prozess erzeugt wurde Ergebnisse Planung und Bau, chronologischer Überblick Das Jahr 1937 als grosser Bruch: Räume durch Gewalt von oben Gegensätze und der Umgang damit: Das Bild als Medium Lebensweltliche Gegensätze als Konstanten frontoviki, stiljagi, novaja volna, inakomyslie (Andersdenkende) – Eigensinn produziert Räume von unten Neue und alte Codes Räume der Kommunikation Raumbilder, Raumvorstellungen, Verinselung
110 113 114
Die Lubjanka, von 1926 bis 1991 Ploščad’ Dzeržinskogo
153
Zwischen Schrecken, Konsumkultur und Lyrikkult Planungs- und Baugeschichte der Lubjanka Bedeutungen „Weltanschauung am Kuzneckij Most“ Ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt Hochhauspläne der Nachkriegszeit Bauten von Bedeutung Im Innern des KGB-Gebäudes Detskij mir „Der Eiserne Feliks” Das Polytechnische Museum Bedeutungsräume Macht, Kommunikation und Lebenswelt
Zur Planungsgeschichte: Der Abriss des Turmes als Diskursereignis Teil des Systems der sternförmigen Magistralen Bedeutungen Der Markt als Gegenwelt und Reagenzglas Kommunikation Verkehrte Welt: Das Land herrscht über die Stadt Tod den Bauern – Es lebe die Kolchose Machtverhältnisse Razzia als Ritual Ausmerzen: Aus dem Auge, aus dem Sinn?
179 180 182 182 182 183 184 184 184 185
Mythos Arbat
187
Arbat – Der alte und der neue Arbat Eine Geschäftsstrasse, Plätze und Märkte Sozialtopographie Stalins Privatmetro Pläne zur Umgestaltung der Arbatskaja und Smolenskaja Ploščad’ nach dem Krieg Interieurs Der alte und der Neue Arbat Das Hundeplätzchen als Sinnbild des „alten Moskau“ Der Arbat-Kult Der Neue Arbat als Vorbote der Zukunft Der Kalinin-Prospekt als Garten des Sozialismus Moskaus erste Fussgängerzone Bedeutungen Macht, Kommunikation, Lebenswelten
Der Südwesten als Entwicklungsgebiet Umsiedlungen Nach Stalins Tod: Wohnungsbau als Waffe im Machtkampf um seine Nachfolge Novye Čeremuški Nr 9 Die typisierten Wohnungsgrundrisse Propaganda im Bild: Die Neubauwohnung Zu den latenten Sinnstrukturen der Bilder: Geschlecht, Normalität und Herrschaft Der Küchentisch, ein sowjetischer Erinnerungsort Die Anti-Kitsch-Kampagne Der Mikrorayon Propaganda im Dreivierteltakt: Šostakovič komponiert für den „Mikrorayon“ Das Dom Novogo Byta in Novye Čeremuški Nr. 10 Neue Lebensweisen: Zurück zu den 20ern! Dom-kommuna und dom-kompleks Das Dom Sotrudnikov Narkomfina von M. Ginzburg und I. Milinis Die Neuauflage des Kommunehauses im Vergleich
Inhalt Bilder des „Neuen Lebens“ Alltag im Mikrorayon: Individuum, Kollektiv, soziale Hierarchien Öffentliche Räume und gesellschaftliche Utopien Stadt und Land, alt und neu
Höfe und Heterotopien. Wie gesellschaftliche Utopien im öffentlichen Raum verhandelt wurden
281
Räume von unten: Strassen, Plätze, Märkte, Höfe Moskauer Höfe: Durchlässigkeit und Lebensraum: Novye Čeremuški, Arbatviertel, Tverskaja Räume von oben: Repräsentative Räume Die Orte im Bild. Wie neue Raumbilder entstehen Inseln des Sozialismus: Heterotopien als Botschaften Raumvorstellungen und Orientierungssysteme Die Inseln des Sozialismus als imperiale Strategie
281 282 285 285 289 293 295
Räume, Bilder, Lebenswelten: Schnittstellen der Kommunikation zwischen Individuum, Gesellschaft und Parteistaat
301
Räume Bilder Lebenswelten Der richtige Geschmack Kommunikation: Rituale und Verlautbarungen
301 304 305 308 311
Die Quadratur des Kreises – Schlusswort und Ausblick
315
Öffentlichkeiten Möglichkeiten und Grenzen der analytischen Kategorie Raum für das Verständnis der sowjetischen Geschichte Widersprüche und Gegensätze Gruppen und Kollektive Die „große Dichotomie“ privat und öffentlich
315 317 318 322 323
Lebenswelten, Sozialismus und Ambivalenz Hybride Moderne
324 326
Verzeichnisse
329
Abbildungen Literatur Quellen
329 332 349
Index
353
Vorwort Weit und zugig – an Stelle eines Vorwortes
Weit und zugig – an Stelle eines Vorwortes Als Kind lebte ich zwischen 1968 und 1972 im westlichen Teil Berlins. Wir besuchten regelmässig Freunde im Osten der Stadt. In „Berlin, Hauptstadt der DDR“ sah alles sehr anders aus als in „Westberlin“. Es roch anders und die Farbigkeit war speziell: beinahe schwarz-weiss, nur in Brauntönen gehalten. Es gab kaum Autos, und die wenigen sahen seltsam aus. Es gab mehr Trümmerfelder als im Westteil der Stadt, und die Häuser hatten Einschusslöcher in den braungrauen Fassaden. Es waren „andere“ Räume, manchmal ohne Beleuchtung, immer ohne Werbung, ohne lange Schaufensterfronten. Die Wege in diesen Räumen schienen lang, unter den Linden war auf meiner geistigen Landkarte viel länger als der Ku’damm. Abends musste man darauf achten, in der Dunkelheit nicht über den unebenen Belag zu stolpern, während weiter vorn, hinter der Mauer, der Himmel einer Kuppel gleich hell erleuchtet war. Die Plätze waren weit und zugig, die Schlange am neuen Fernsehturm war lang. Trotzdem gab es keinen Platz: Die Garderobefrau liess uns erst ins Restaurant, nachdem unser Gastgeber sie lange genug unterwürfig gebeten hatte. Gesichtsverlust war der Eintrittspreis. Auch die Innenräume waren fremdartig. Es war eng und muffig. Der Freund meiner Eltern, dem die Besuche galten, wohnte in einer Gemeinschaftswohnung mit einer alten Frau zusammen, von der er nicht wusste, ob sie ihn bespitzelte. Er lebte, ass und schlief im selben Raum, in dem sich auch seine Bücher stapelten. Die Menschen sahen anders aus, kleideten sich anders, hielten sich anders. Es schien mir, als seien sie mit verbissenem Ernst sozialistisch: Alle, die wir nicht persönlich kannten, waren unfreundlich. In Moskau, viele Jahre später, schon postsowjetisch, schien mir einiges ähnlich wie früher in Berlin: Die Weite der Anlagen, die zufälligen Zwischenräume, die jenseits der Festtage verwais ten Zeremonialachsen, deren Strassenseiten meilenweit auseinander lagen. Ein Unglück von einer halben Stunde Dauer, wenn ich den falschen Metroausgang genommen hatte! Dagegen drängten sich die Menschen in der Metro und den Geschäften. Eindrücklich war der Stolz der Moskauerinnen und Moskauer auf die Errungenschaften, von denen die in Stein gehauenen die Wende überdauert haben: „So muss eine Universität aussehen!“ angesichts der Moskauer Staatsuniversität, die auf den Sperlingsbergen einem Gebirge des Wissens gleich aufragt. Dabei hatte ich immer gedacht, die Bauten dienten der Einschüchterung und die Weite der Plätze und Magistralen sollte den Einzelnen in die schützenden Arme des Kollektivs treiben. Jedenfalls hatte ich immer das Gefühl, die Gebäude und Räume seien Botschaften der Herrschenden, übrigens genauso wie die westlichen Konsummeilen, aber stärker ideologisch aufgeladen, politischer. Mit dieser Arbeit versuche ich, diese Wahrnehmungen analytisch zu fassen. Sie untersucht die sowjetischen öffentlichen Räume zwischen 1917 und 1964 am Beispiel der Hauptstadt Moskaus. Hier reiften die Ideen und Pläne der neuen Machthaber, diese Stadt bauten sie zur Hauptstadt des Sozialismus um und redeten darüber, dokumentierten ihr Tun in Wort und Bild und verbreiteten die Muster. Dabei interessierte mich vor allem das sowjetische Verhältnis von Staatsgewalt und ihrer Erfahrung durch die Menschen im Alltag vermittelt durch das Kommunikationsgeschehen im öffentlichen Raum. Vorab möchte ich allen Beteiligten danken: Dem Schweizer Nationalfonds, der durch seine grosszügige Finanzierung die Studie ermöglicht hat. Meinen Eltern und meiner Familie für die
Zu diesem seltsamen Gegensatz von Weite und Enge vgl. auch Richard Stites: Crowded on the Edge of Vastness: Observations on Russian Space and Place. In: Beyond the Limits: The Concept of Space in Russian History and Culture. Hg. von Jeremy Smith. Helsinki 1999, S. 259–269; Mikhail Epstein: Russo-Soviet Topoi. In: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space. Hg. Von Evgeny Dobrenko und Eric Naiman. Seattle usw. 2003, S. 277–306, hier S. 277–282.
13
Unterstützung in allen Bereichen, Jean Claude Mahler darüber hinaus für die Ausbildung meiner Raumwahrnehmung und die Gestaltung aller visuellen Aspekte meiner Arbeiten. Heiko Haumann, der mich in meinen bisherigen Projekten gefördert hat. Carmen Scheide für Vorwort ihre Lektüre des Manuskriptes und weiterführende Anregungen. Julia Richers für die Gespräche über Raum. Den Gutachtern der Habilitationsschrift, neben Heiko Haumann, Manfred Altrichter, Andreas Guski und ganz besonders Carsten Goehrke für die kritischen Anregungen. Ich danke den Angehörigen der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Basel, die diese Studie als Habilitationsschrift anerkannt haben. Die Quellen für diese Arbeit stammen aus Archiven in Moskau und der Schweiz, danken möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bildarchive des Moskauer Stadtmuseums und des Architekturmuseums, des Stadtarchivs, des wissenschaftlich-technischen Archivs und des Bildarchivs sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive, Bibliotheken und Franziska Geisser, Leiterin der Sammlung alte Drucke an der ETH-Bibliothek in Zürich, die geradezu märchenhafte Schätze an zeitgenössischer sowjetischer Literatur hütet.
15
Methoden
Begriffe, Kategorien, Methoden Öffentlicher Raum ist ein Ort der Kommunikation. Für Sphären der Öffentlichkeit gibt es keine allgemein gültigen Modelle oder Massstäbe. Fünf Fallstudien nähern sich den Beziehungen von Individuum und Struktur durch eine „dichte Beschreibung” des Kommunikationsgeschehens im öffentlichen Raum anhand historischer Quellen. Sie untersuchen das Geschehen an konkreten städtischen Orten im zeitlichen Längsschnitt. Die Fallstudien gelten nicht nur der Topographie der Machtinszenierungen, sondern auch ihrer Wahrnehmung und Deutung in der alltäglichen Praxis. Sie fragen nach der Oberflächenveränderung und dem Geschehen auf öffentlichen Strassen und Plätzen in Zusammenhang mit Bedingungen des täglichen Lebens wie Wohnraumknappheit und Mangel an Konsumgütern in ihrem zeitlichen Wandel. Die Stadt war materieller Teil sich wandelnder sozialer Raumgebilde. Die Untersuchung fragt jenseits von Mikro- oder Makroebene und Periodisierungen nach Charakter, Funktionen und Intentionen öffentlicher Räume, nach „auf der Strasse“ sichtbaren Brüchen und Kontinuitäten. Dabei interessieren die lebensweltlichen Verknüpfungen, die Erfahrungen und Handlungen der Akteure, deren Wahrnehmungs- und Deutungsmuster ebenso wie ihr „Eigensinn“, der sich in spontanen Praktiken des Alltags äussert. Eigensinn umfasst damit auch widersprüchliche Handlungen, das Lavieren zwischen Hinnehmen und Widerstehen. Der Zusammenhang von Raumordnung und Gesellschaftsordnung war in der Sowjetunion besonders augenfällig: Raum, Raumfahrt, das Konzept der Verbannung waren Werte langer Dauer. Der städtische Raum Moskaus hierarchisierte sich zunehmend. In der Soziologie werden solche Hierarchien als „Regionalisierung“ bezeichnet. Sie kamen durch Zutrittsregulierungen, ein ausgeklügeltes Zeremonialsystem und Privilegien bei der Zuteilung von knappem Wohnraum oder begehrten dačas zustande. Diese Privilegien und Hierarchien widersprachen schon bald nach der Revolution dem Grundsatz der Gleichheit und der Bezeichnung der „Paläste des Volkes”. Das hierarchische System etablierte sich vollends mit den ersten Fünfjahrplänen zwischen 1929 und 1935. Nur die Kathedralen unter der Erde, prachtvoll ausgestattete Metrostationen, lösten die Versprechen einer lichten Zukunft ein, während die Arbeiter, angeblich die herrschende Klasse, in Baracken hausten. Die Herrschenden liessen sich gerne als Gebieter über den Raum abbilden: Stalin vor der Weite der russischen Landschaft, bei der Begutachtung von Kanal-Plänen oder – während des Krieges – mit Landkarten und später vor der Silhouette der Hochhäuser. Chruščev zeigte sich als spontaner Mann des Volkes, als oberster Bauherr bei der Begutachtung von Modellen des Neuen Moskau.
Zu dieser Problematik bei aktuellen Einschätzungen vgl. Christian Boulanger: „Politische Kultur” und „Zivilgesellschaft” in der Transformationsforschung: Versuch einer Annäherung und Kritik, in: Berliner Osteuropa Info 13 (1999), S. 14–18. Zur Diskussion um Zivilgesellschaft als möglicher gemeinsamer Nenner, die hier ausgeklammert bleiben soll, vgl. den Sammelband Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen. Hg. von Manfred Hildermeier, Jürgen Kocka und Christoph Conrad. Frankfurt usw. 2000, darin vor allem der einleitende Beitrag von Kocka zum Begriff der Zivilgesellschaft sowie der Beitrag von Hildermeier zu Russland. Zur Begriffsgeschichte und zum Konzept der „Lebenswelten“ vgl. Heiko Haumann: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel. In: Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes. Hg. von Klaus Hödl. Innsbruck 2003 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien Band 4), S. 105–122. Zum Konzept des „Eigensinns“ vgl. Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte: zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 139–153.
17
Stadt, Öffentlichkeit, Raum, Ort Die Vorstellungen von Stadt und Gesellschaft sind eng verknüpft. Die Stadt ist der Ort, wo verdichtete Kommunikation stattfindet, in Städten konzentrieren sich die Akteure, hier gibt es verschiedene Formen von Öffentlichkeit, hier werden die wichtigen gesellschaftlichen Entscheide getroffen. Dies sind Geschichten aus dem Zentrum des Zentrums, Geschichten Methoden zentraler hauptstädtischer Orte. Die Forderung nach Dezentralisierung und Beachtung von Differenzen innerhalb des sowjetischen, auch nichtrussischen Herrschaftsbereiches macht eine solche Studie nicht überflüssig. Denn hier wird das Zentrum als Zentrum von Macht und Herrschaft gerade im Hinblick auf seine Machtrelationen zur Provinz und zur Peripherie untersucht. Die „sowjetische Zivilisation“ war eine in hohem Masse zentrumslastige Kultur, deshalb verdienen die Alltags- und Kommunikationspraktiken im Zentrum einige Aufmerksamkeit. Raumordnung und Gesellschaftsordnung hängen ab von der Macht und ihrer Verteilung; Asymmetrien entstehen erst durch Zuschreibung und Übernahme von Macht. Geht man von der Kategorie der Lebenswelt aus, vom „Menschen in seinen Verhältnissen“, bietet sich im sowjetischen Moskau ein komplexes Untersuchungsfeld. Hier nahm 1918 die Regierung ihren Sitz im Kreml. Der neue Status als Hauptstadt der Sowjetunion und Hauptstadt des Weltkommunismus krempelte die Moskauer Verhältnisse gründlich um. Moskau war der Sitz zentraler Macht, der legitimen Herrschaft von Partei und Staat und ihrer Organe. Aus dem „grossen Dorf“, der „Stadt der goldenen Kuppeln“, dem „kaufmännischen Moskau“ sollte die Hauptstadt des Kommunismus als Metapher und Symbol mit repräsentativem Charakter werden. Das „System Stadt“ entwickelte eine starke Dynamik. Das hatte vielfältige Auswirkungen auf das alltägliche Leben, Erleben und Handeln der Menschen, auf ihre Lebenswelten. Man kann annehmen, dass ihr Leben mehr Regeln unterlag, die Hauptstadt andererseits aber auch mehr individuelle Möglichkeiten und Handlungsspielräume bot. Die Menschen in der Hauptstadt lebten in der Nähe der Macht und kamen auf vielfältige Weise mit ihr in Berührung. Sie sahen regelmässig die Funktionsträger von Staat und Partei, nicht wenige arbeiteten in einer der zentralen Bürokratien. Einige von ihnen prägten selbst die gesellschaftlichen Systeme mit. Hier wurde der
Vgl. den Überblick bei Mark von Hagen: Empires, Borderlands, and Diasporas: Eurasia as Anti-Paradigm for the PostSoviet Era. In: The American Historical Review 109 (2004) Nr. 2, S. 445–468. Zur Differenzierung von Peripherie und Provinz vgl. Mikhail Epstein: Russo-Soviet Topoi. In: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space. Hg. Von Evgeny Dobrenko und Eric Naiman. Seattle usw. 2003, S. 277–306, hier S. 288–294. Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures. Selected essays. London 1993, S. 333 ff. Ders.: Centers, Kings, and Charisma. Reflections on the Symbolics of Power. In: Culture and its creators. Hg. von Joseph Ben-David und T. N. Clark. Chicago, Ill. 1977, S. 150–17. Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Berlin 1990. Wichtiges Instrument für die Analyse der gesellschaftlichen Vernetzung, der Beziehungen innerhalb der Bevölkerung und ihrer Gruppierungen sowie zwischen Regierung und Bevölkerung ist ein erweiterter Kulturbegriff. Dieser umfasst die Praxis der Lebenswelt, den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern der Menschen in ihren sozialen Beziehungen und Kultur als symbolische Ordnung einer bestimmten Gruppierung. Das können Geschlechterkulturen, Jugendkulturen, bürgerliche und Arbeiterkulturen sein. Innerhalb dieser gibt es gemeinsame Codes, Einstellungen und Werte und deren symbolische Repräsentationen. Zusammen mit der Lebenswelt ergibt sich ein Kulturbegriff, der diese Ordnungen, aber auch die Vielfalt individueller Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweisen umfasst, „zugleich die unmittelbare Umwelt der Menschen, ihre wirtschaftliche und soziale Lage, ihre Lebensverhältnisse, schliesslich die gesellschaftliche und politische Ordnung überhaupt.” Vgl. Heiko Haumann, Martin Schaffner: Überlegungen zur Arbeit mit dem Kulturbegriff in den Geschichtswissenschaften, in: uni nova. Mitteilungen aus der Universität Basel 70 (1994) S. 18–21, hier S. 19.
zentrale gesellschaftliche Konflikt um die Teilhabe oder das Ausgeschlossensein von Macht direkt erfahrbar. Marginalisierte Teil- und Gegenöffentlichkeiten artikulierten sich an hauptstädtischen Schauplätzen, machten diese zu Orten der Kommunikation und der Konfliktaustragung. Öffentlichkeit möchte ich als sozialen Raum definieren, als Raum der Kommunikation. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf spezifische Konstitutionen solcher Räume in Moskau. Der Öffentlichkeitsbegriff wird also dem Begriff „Raum” zugeordnet. Der vorliegende Ansatz begreift Raum als performativ inszenierte Bedeutung, als kulturelle Sinnstruktur. Der verwendete Raumbegriff ist relational: Raum ist eine soziale Konstruktion, die Anordnung des Nebeneinander von Menschen, Dingen und Handlungen.10 Raum erscheint so als Prozess, als dynamisches Gebilde, das sich aus sozialen und materiellen Komponenten zusammensetzt und in Handlungsverläufe integriert ist. Raum ist primär sozialer Raum. Ökonomische, politische, kulturelle oder andere soziale Räume sind nicht immer territorial fassbar, sondern konstituieren sich aus symbolischen Verknüpfungen. Raum erscheint als ein komplexes Gefüge von vielen Räumen, als Prozess ohne Anfang und ohne Ende. Dieses Raumkonzept trennt nicht zwischen den so genannten „abstrakten“ Sphären und „konkreten“ physischen Räumen. Raum hat nicht wie im euklidischen Modell drei, sondern unendlich viele Dimensionen. Der Prozess des Anordnens von Menschen, Dingen und Handlungen, den Martina Löw in ihrer „Raumsoziologie” Spacing nennt, bezeichnet das Bauen, Planen oder Vermessen, das Positionieren symbolischer Marken, um Ensembles von Menschen und Gütern als solche kenntlich zu machen. Man könnte es als kulturell weiterentwickelte Form des „Territorialverhaltens“ bezeichnen. Die Verknüpfung von Elementen in der Wahrnehmung zu einem Raum heisst Synthese. Die Syntheseleistung fasst soziale Güter und Lebewesen über Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse zusammen. Sie ist gesellschaftlich vorstrukturiert durch Raumvorstellungen, institutionalisierte Raumkonstruktionen (etwa Paraden, Rituale) sowie den jeweiligen klassengeschlechts- und kulturspezifischen Habitus. Es gibt institutionalisierte Räume wie Gerichtssäle oder Schulzimmer. In solchen Räumen reproduzieren Handlungsroutinen oder „Skripte“ die Regeln der Anordnung. Sie werden in der Wahrnehmung als einem bekannten Schema zugehörig erkannt und steuern das Rollenverhalten beispielsweise von Lehrerinnen ebenso wie von Schülern. Es gibt gegenkulturelles Spacing, etwa in Jugendkulturen, die den Konventionen entgegenhandeln und Gegen-Räume konstituieren: Das Schaffen eigener Räume und Rituale ist zur Dominanzkultur gegenläufig und eröffnet Handlungsoptionen. Zentral ist der Punkt, dass die Zugangschancen zu sozialen Gütern asymmetrisch verteilt sind und damit auch die Möglichkeiten, Räume zu gestalten und zu verändern. Hier lässt sich die Raumtheorie mit den Erkenntnissen der Wahrnehmungsforschung verbinden. Bei der Wahrnehmung von Räumen aktivieren vorgefundene Merkmale vorhandene Schemata und werden diesen zugeordnet. Schemata sind „Wissensstrukturen, die der Repräsentation generischer (allgemeiner) Konzepte im Gedächtnis dienen“ und die miteinander interagieren.11 Nicht alles Wissen ist schematisch organisiert. Eine Alternative Organisationsform von
1 Zu Stadt und Öffentlichkeit vgl. auch: Stadt und Öffentlichkeit: Auf der Suche nach einem neuen Konzept in der Geschichte Ostmitteleuropas. Eine Einführung. In: Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest. Hg. von Anna Veronika Wendland und Andreas R. Hofmann. Stuttgart 2002, S. 9–26. 1 Zu Definitionen von Öffentlichkeit vgl. auch Wendland, Hofmann: Stadt und Öffentlichkeit, S.11 ff. 10 Die Überlegungen zum relationalen Raumbegriff folgen im Wesentlichen Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001. 11 Volkhard Fischer: Ausländerstereotype und Gedächtnis. Hamburg 1992, S. 82. Verwandte Bezeichnungen im englischen Sprachraum sind frames, beta structures, scripts odermops.
19
Wissen ist die Kategoriale. Kategoriale Organisationsstrukturen sind hierarchisch und formen über- und untergeordnete Klassen. Schematische Organisationen beruhen hingegen nicht auf Ähnlichkeiten und Klassenzugehörigkeit, sondern sind raumzeitlich und gründen auf früheren Erfahrungen. Erfahrungsräume12 als Summe gemachter Erfahrungen bestehen aus geordneten Wissensstrukturen, komplexen, interagierenden Netzwerken von Schemata. Man weiss heute, dass Handlungsfolgen (Skripte) und Meinungen schematisch organisiert sind.13 Methoden Darüber hinaus wird angenommen, dass soziales Wissen überhaupt schematisch organisiert ist. Das gilt somit auch für das Wissen um Raum, wenn Raum als „sozialer Raum“ begriffen wird. Bei der Wahrnehmung werden typische von atypischen Elementen unterschieden, je nachdem, wie sie in vorhandene Schemata einzuordnen sind. Schemata ermöglichen es auch, Fehlendes zu ergänzen und dadurch Räume in der Wahrnehmung mit zu konstituieren. Neue Elemente modifizieren bestehende Schemata oder bilden zuweilen neue. Abweichungen von Routinen können Raumstrukturen verändern oder bestätigen. Synthese und Spacing hängen von konkreten Handlungssituationen ab. Der Prozess der Raumkonstitution ist zugleich Struktur bildend und –reproduzierend. Wie der oder die Sprechende im Befolgen sprachlicher Regeln Sprache zugleich reproduziert und neu erschafft, folgen die Menschen im Raum erzeugenden Handeln gegebenen Handlungsrahmen und erschaffen diese zugleich neu.14 An konkreten Orten konstituieren sich Räume aus der Anordnung von Menschen und Dingen und werden von den Akteuren mit Bedeutungen aufgeladen.15 Symbolisch bedeutsame Anordnungen verdichten sich zu Raumbildern mit Wiedererkennungswert, beispielsweise dem Bild von „Stadt” oder dem „deutschen Wohnzimmer”. Zu unterscheiden sind drei Begriffe: Einmal „Raumbegriff“ als wissenschaftlich definierter Begriff von Raum, als Fachterminus. Ferner „Raumbild“ als verdichtete, konventionalisierte Anordnung. Raumbilder sind kulturspezifische, diskursiv erzeugte, wieder erkennbare Konfigurationen von Dingen. Schliesslich die „Raumvorstellung“: Dies ist die im Alltagsdenken dominierende Vorstellung von der Beschaffenheit von Raum, das „Wissen um Raum”. Zum Verhältnis von Ort und Raum gilt, dass sich ein einem Ort mehrere Räume befinden können. Ein Raum kann aber auch aus der Verknüpfung mehrerer Orte entstehen. Am selben Ort können sich unterschiedliche Räume konstituieren. Ein Ort bezeichnet eine konkret benennbare Stelle. „Ort und platziertes Element werden nicht getrennt. Ähnlich verläuft die Erinnerung. In ihr verschmelzen Objekte und Menschen mit ihren Lokalisierungen an konkreten Orten zu einzelnen Elementen, die dann im Gedächtnis bewahrt werden und auf diese Weise die alltägliche Konstitution von Raum beeinflussen.”16 Bestimmte Orte haben auf 12 Reinhart Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2000, S. 349–375. Dieses Konzept ist verwandt mit dem Bild der Aufschichtung des Erlebniswissens bei Karl Mannheim: Wissenssoziologie: Auswahl aus dem Werk. Berlin usw. 1964, S. 535 folgende, das Alfred Schütz: Der Sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einführung in die verstehende Soziologie. Frankfurt a.M. 1974, weiter ausarbeitete und das sich in der Psychologie als Aufschichtung von Erfahrungswissen und in Schemata-Modellen findet. 13 Fischer: Ausländerstereotype, S. 87. Skripte sind Sonderfälle von Schemata (S. 103). Ein Skript wird „aktiviert“, wenn eine Person etwa beim Lesen auf einen „Skriptheader“ trifft, etwa „im Restaurant“, oder „Arztbesuch“. 14 Löw: Raumsoziologie, S. 212, 224–227. 15 Analog zu den „sozialistischen Helden“ als Kommunikationsmedien, vgl. Silke Satjukov, Rainer Gries: Zur Konstruktion des „sozialistischen Helden“. Geschichte und Bedeutung. In: Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Hg. von Rainer Gries und Silke Satjukow. Berlin 2002, S. 15–34. 16 Löw: Raumsoziologie, S. 199.
der geistigen Landkarte der Sowjetbürger ihre festen Plätze: Wie im mythischen Denken sind Ereignisse und die Orte, wo sie stattfinden, untrennbar verbunden. Die Bedeutungen des Geschehens übertragen sich auf die Orte, und ihre Beschreibungen mischen sich mit menschlichen Hoffnungen, Werten und Absichten.17 Solche Orte verschwinden nicht einfach, sondern hinterlassen Spuren.18 Ein Raum kann verschiedene Orte umfassen. So setzte sich beispielsweise der Raum der sowjetischen Nomenklatura unter anderem aus Amtswohnungen, dačas in umzäunten Feriensiedlungen, einem System „geschlossener” Läden sowie Ferienheimen zusammen. Die blatNetzwerke der Schattenökonomie bildeten ökonomische Räume, die knappe Waren und Dienstleistungen über ein Netz informeller Beziehungen vermittelten.19 Raum ist nicht homogen und einheitlich oder ein einziges Ganzes. Raum existiert vielmehr in einer Vielzahl von Räumen, so, wie auch Geschichte aus einer Vielzahl von oft widersprüchlichen Geschichten besteht. Im Alltagswissen gehen jedoch die meisten Menschen von der Vorstellung eines einheitlichen, ganzen Raumes aus, dessen „Fragmentierung” folglich als problematisch empfunden wird.20 Der hier verwendete Raumbegriff nimmt ein Gefüge von Räumen an, die zueinander in Beziehungen stehen. Eine wichtige Hypothese lautet: Das Alltagswissen um den einheitlichen Raum prägt als „latente Sinnstruktur“ verschiedene Diskurse21 und wird auch in der individuellen oder kulturellen Syntheseleistung relevant. Stadterfahrung ist wie jede Raumerfahrung kulturell, durch Zugehörigkeit zu Gruppen mit bestimmten Zugangsmöglichkeiten, durch Bildung und Sozialisation vorstrukturiert. Raumbilder, Raumvorstellungen, die Wahrnehmung und die Konstitution von Raum sind kulturell bedingte Prozesse. Wir nehmen räumliche Atmosphären wahr, Stimmungen, Gerüche, Geräusche, Oberflächen, Gebäude, Strassen und Plätze und deren binär strukturierte Qualitäten wie gross, klein, alt, neu, weit, eng, voll, leer, laut, leise, kalt, warm. Wir entziffern dabei so gut wir können die sozialen Räume, deren materieller Ausdruck die gebauten Räume sind, die ökonomischen, kommerziellen, kommunikatorischen Räume, ihre ein- und ausschliessenden Eigenschaften. Wir entziffern die Sinnstrukturen der Anordnungen und konstituieren so laufend die Räume, in denen wir uns befinden.
Öffentlicher Raum als Gegenstand der Analyse: Öffentlichkeit und Kommunikation Der städtische öffentliche Raum im Zentrum Moskaus war ein Kommunikationsfeld mit verschiedenen Akteuren. Die Verteilung der Macht zwischen diesen Akteuren war asymmetrisch. Die 17 Nicholas J. Entrikin: The betweenness of place. Towards a Geography of Modernity. Basingstoke 1991, S. 11. 18 Zum Verhältnis von Raum, Ort und Bild vgl. auch Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001, S. 61–62. 19 Blat bedeutet „Beziehungen“. In einer Ökonomie des Mangels sichert Geld allein nicht den Zugang zu Konsumgütern, das Verb „auftreiben“ rangiert höher als „kaufen“. Unter solchen Bedingungen entwickelt sich eine Schattenökonomie, die aus verschiedenen mehr oder weniger komplexen Netzwerken zur Güterverteilung besteht. Diese informellen Netzwerke wurden durch Geschenke und Dienstleistungen zusammengehalten. Blat war untrennbar verwoben mit allen zwischenmenschlichen Beziehungen von Familie und Freunden über Bekannte zu Arbeitskollegen und Vorgesetzten. Alena V. Ledeneva: Russia’s Economy of Favours. Blat, networking and Informal Exchange. Cambridge UK 1998 (Cambridge Russian, Soviet and Post-Soviet Studies 102). 20 So beispielsweise bei Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. München 1994, besonders S. 93 und 121. 21 Unter Diskurs verstehe ich eine Gesamtheit von Aussagen, die untereinander in Beziehung stehen und sich auf ein gemeinsames Objekt beziehen. (Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981, S. 49). Zu untersuchen ist der Wandel der Elemente dieser Diskurse.
21
Herrschenden bestimmten über die Gestaltung der gebauten Räume, erstellten ein Regelwerk für deren Nutzung, hatten Macht über Zugangsbefugnisse, verteilten knappen Wohnraum. Der öffentliche Raum in der Sowjetunion war aber nicht nur Kommunikationsraum, sondern beispielsweise im Umfeld städtebaulicher Planung auch Gegenstand von Debatten. Seine Definition beruhte auf sich wandelnden Konventionen. Diese Untersuchung unterscheidet die „sowjetisch“ definierten öffentlichen Räume von Öffentlichkeiten als KommunikatiMethoden onsräumen. Sowjetischer „öffentlicher Raum“ meinte den physischen Raum als Träger von Botschaften. Er unterlag der Kontrolle der Herrschenden. Sie erstellten die Regeln zulässiger Raumproduktionen. Zur Produktion von Räumen innerhalb dieser öffentlichen Räume „von oben“ kam die Produktion von Räumen „von unten“, durch die Menschen im Raum. Sie schufen Räume durch Syntheseleistungen und eigene Anordnungen, durch ihre lebensweltlichen Verknüpfungen von Orten und Bedeutungen. Solche „von oben“ und „von unten“ produzierten Räume konnten ökonomisch, rituell, „kulinarisch“ oder politisch sein.
Typologien von Öffentlichkeiten22 Ein möglicher Ansatz zur Bestimmung des Öffentlichkeitsgrades ist die Frage nach der Anzahl der Teilnehmer an einer Kommunikation: In der kleinsten Runde finden face to face Kommunikationen statt, etwa in Form von Nachbarschaftsklatsch, im Freundeskreis, am „Küchentisch“. Mittlere Versammlungsöffentlichkeiten sind Klubs, Betriebe oder lokale Parteikomitees. Die oberste Ebene bildet die „grosse“, komplexe, mediale Öffentlichkeit. Ein anderer Ansatz stellt soziale Milieus wie Arbeiter, Intellektuelle oder Angestellte mit ihren Lebensstilen auf eine horizontale Ebene mit Spezialöffentlichkeiten bestimmter Gruppen wie Wissenschaftler oder Lyriker. Vertikal dazu verlaufen die Herrschaftsstrukturen von Partei und Regierung. Die Unterscheidung von Verlautbarungsöffentlichkeit, diskursiver Öffentlichkeit und Agitations-Öffentlichkeit fragt nach der Verständigungsabsicht kommunikativen Handelns. Systemtheoretische Ansätze verstehen Öffentlichkeit als System mit speziellen Funktionen, Gesetzen, Codes und „Rollen“, etwa „Experten“ oder „Journalisten“. Handlungstheoretische, lebensweltliche und alltagsgeschichtliche Ansätze dagegen rücken die Akteure als Subjekte in den Vordergrund. Systemgesetze werden dabei zu Rahmenbedingungen möglichen Handelns. Solche Ansätze fragen etwa nach Gegennutzungen, Manifestationen von Eigensinn und nach Prozessen des Verhandelns von Machtverhältnissen. Ein weiterer Ansatz geht von Öffentlichkeitstypologien städtischer Orte aus. Dieser Ansatz unterscheidet erstens Orte repräsentativer Öffentlichkeit wie zentrale Plätze, Landsgemeinden und Parlamente. Diese Orte sind mit der Ästhetik der Macht in Form ihrer städtebaulichen Anordnung, des architektonischen Ausdrucks, der verwendeten Insignien, Denkmäler und Symbole ausgestattet. Sie weisen den Akteuren feste Rollen und Handlungsroutinen zu. Die zweite Kategorie sind Orte zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit, etwa Vereine oder Klubs, als Foren der Meinungsbildung. Die dritte Kategorie bilden Orte kommerziell-kulinarischer Öffentlichkeit wie Einkaufsstrassen und Vergnügungsviertel.23
22 Die knappe Übersicht ist bereits von „westlichen“ auf die angenommenen sowjetischen Verhältnisse umgedacht, folgt aber im Wesentlichen: Wendland, Hofmann: Stadt und Öffentlichkeit. 23 Hartmut Häussermann: Topografien der Macht: Der öffentliche Raum im Wandel der Gesellschaftssysteme im Zentrum
Dieser letztgenannte Ansatz muss im sowjetischen Kontext um weitere Kategorien von Orten erweitert werden, so um die Zwischenräume, Eckpunkte und Brachen gemeinschaftlich genutzter Zonen der allgemeinen Verantwortungslosigkeit, etwa Treppenhäuser, Innenhöfe, Grünzonen und ähnliche Freiräume. Wichtiger als die intendierte „Bestimmung“ der Orte und ihr Regelwerk sind die Akteure, die sich hier einfinden, ihre Deutungen und Handlungen, das konkrete Kommunikationsgeschehen, das den Raum erst erschafft.
23 Kommunikationsmodelle Kommunikationsmodelle sind lediglich Arbeitshilfen, denn sie können in ihrer Erstarrung immer nur Momentaufnahmen erfassen und vermitteln. Die sowjetischen Rahmenbedingungen boten als wesentliches Merkmal jeweils aufeinander bezogene informelle und formelle Kommunikationsnetzwerke.24 Medienzentrierte Modelle sind angesichts der Durchherrschung der Medien und der Foren der Meinungsbildung im sowjetischen Kontext nicht besonders aussagekräftig, was die Lebenswelten der Menschen anbetrifft. Ein Modell, das Rainer Gries und Silke Satjukow zur Analyse der Konstruktion des „sozialistischen Helden“ entwickelt haben, geht von einem Feld aus, innerhalb dessen Partei und Regierung mit der Bevölkerung kommunizieren. Es handelt sich um ein kreisförmiges Feld mit zwei Hälften, der Sphäre der Botschaften und der Sphäre der Bedeutungen. Der sozialistische Held ist das Medium im Zentrum, das von beiden Seiten mit Bedeutungen befrachtet wird.25 Ein Teil der Kommunikatoren befindet sich in der Sphäre der Botschaften. Dies ist die Sphäre derer, die die Macht haben und entsprechend Inhalte und Form ihrer Kommunikation vereinheitlicht, monologisch (Verlautbarung, Losung) und zielorientiert gestalten. Das sind die Beauftragten von Partei und Staat sowie deren Kommunikations-„Räume“: Medien, aber auch Institutionen wie Bildungsund Freizeitorganisationen oder Gewerkschaften mit ihren Funktionsträgern. In der anderen Hälfte des Kommunikationsfeldes, der Sphäre der Bedeutungen, gibt es ganz unterschiedliche Rollen von Kommunikatoren: Schüler, Studenten, Arbeiter, Menschen in ihren sozialen Vernetzungen und individuellen Lebenswelten. Die Kommunikation hier ist dialogisch und äusserst variabel. Alle nehmen mehrere unterschiedliche Kommunikationsrollen gleichzeitig wahr. Da sie auch mit dem „Medium“, den sozialistischen Helden, durch Briefe, Hymnen und Gedichte interagierten, lässt sich etwas über die Aneignung der obrigkeitlichen Botschaften „von unten“ erfahren. Gries und Satjukow gehen von Helden als Kommunikationsmedien aus. Diese Helden können gemäss dem hier entwickelten Raumbegriff ihrerseits als Projektions- oder Kommunikations„Räume“ gedeutet werden. Das Modell lässt sich auf öffentliche Räume übertragen. Auch diese werden „von oben“ als Medium vereinnahmt und mit Botschaften und Eigenschaften bestückt. Zugleich werden sie „von unten“ belebt, genutzt, wahrgenommen und ebenfalls mit Bedeutungen aufgeladen. Lieder und Gedichte über sowjetische Strassen haben Tradition.26 Die Rollen-
Berlins. In: Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa, S. 81–96, S. 82–83, unterscheidet repräsentative, zivilgesellschaftliche und kommerziell-kulinarische öffentliche Räume. 24 Monica Rüthers: Öffentlicher Raum und gesellschaftliche Utopie. Stadtplanung, Kommunikation und Inszenierung von Macht in der Sowjetunion am Beispiel Moskaus zwischen 1917 und 1964. In: Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten: Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs / Between the Great Show of the Party-State and Religious Counter-Cultures: Public Spheres in Soviet-Type Societies. Hg. von Gábor T. Rittersporn, Malte Rolf und Jan C. Behrends. Frankfurt a. Main: Peter Lang 2003, S. 65–96. 25 Satjukov, Gries: Zur Konstruktion des „sozialistischen Helden“. 26 Vgl. das Kapitel zum Arbat.
verteilung der Kommunikatoren ist ganz ähnlich. Das übergeordnete Narrativ, die sozialistische Utopie, ist dasselbe. Problematisch bleibt die Dichotomie, das polare Gegenüber von Regierung und Bevölkerung sowie der Sphäre der Botschaften und der Sphäre der Bedeutungen. Dies ist mit dem Problem der zweidimensionalen Visualisierung des Modells verbunden und damit, dass jedem Akteur nur ein Ort zugewiesen wird. Die meisten Akteure partizipieren innerhalb ihrer Methoden Lebenswelten an verschiedenen Netzwerken und Systemen und können deshalb als Funktionsträger manchmal auch beiden Sphären angehören. Gerade das sowjetische System funktionierte aufgrund einer Mischung von Teilhabe und Repression. Diese enge Verbindung erschwert bis heute den Umgang mit der Vergangenheit. Unter Stalin etwa gab es in den meisten Familien sowohl Verfolgte wie Verfolger. Unter Chruščev wurde die Teilhabe bewusst verbreitert, mit Nachbarschaftsgerichten, „Vigilanz“ und den Ordnungspatrouillen des Komsomol, den druženniki. Das genannte Modell reduziert zwangsläufig diese Komplexität, wenn es die Akteure jeweils nur einer der beiden Sphären und damit auch begrenzten Rollen zuordnet.
Lebenswelten: Die Menschen in ihren Verhältnissen Der lebensweltliche Ansatz konzentriert sich auf Beziehungen zwischen Individuum und Umgebung und zwischen gesellschaftlichen Gruppen mit dem Ziel, gesellschaftliche Vernetzungen sichtbar zu machen und zu analysieren. Er sieht die Interaktion zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, Strukturen und Systemen als strukturiert-strukturierende Wechselbeziehung: Der Mensch als soziales Wesen verarbeitet Wahrnehmungen und Erfahrungen mit Hilfe von kulturell bedingten symbolischen Ordnungen, die Deutungs- und Handlungsmuster vorstrukturieren. Durch sein Handeln und die Kommunikation mit seiner Umwelt wirkt der Einzelne wiederum auf die Strukturen ein. Innere Einstellungen und Gefühle stehen in Wechselwirkung zur Aussenwelt. „Mit der Analyse der individuellen Lebenswelt werden somit zugleich exemplarisch Strukturen und Systeme – materielle, symbolische, mentale, emotionale – analysiert. Da das Individuum nicht isoliert lebt, sondern im Kontakt mit anderen Individuen und deren Lebenswelten steht, bleibt die Analyse nicht im Punktuell-beliebigen stecken, sondern kann das Netz interkultureller gesellschaftlicher Beziehungen sichtbar machen. Zusammenhänge und Mechanismen in ihren wechselseitigen Bedingungen geraten ins Blickfeld, die Geschichte zerfällt nicht in lauter Einzelteile. Zugleich wird es möglich, eine vorzeitige Blickverengung auf eine reine Strukturgeschichte, auf nur subjektive ‚Geschichten‘ oder auf symbolische Systeme zu vermeiden. Die Lebenswelt der Akteure steht jeweils in ihrem historischen Kontext. Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die gesellschaftlichen – kulturellen, geschlechtsbezogenen und sozialen – Unterschiede, die Herrschaftsorganisation und Machtverteilung werden mit untersucht.“27 Die Berührungspunkte der Bürger im sowjetischen Alltag mit der offiziellen Sphäre, mit dem Staat und seinen Systemen, müssen weitaus vielfältiger als im Singular gedacht werden: Dazu gehörten im Planungsstaat alle übergeordneten Bürokraten, die Vorgesetzten im Betrieb, die Damen hinter dem Schalter an der Metrostation, in der Bibliothek oder an der Fleischtheke. Sie 27 Haumann: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung, S. 116–117.
alle übten gewissermassen stellvertretend Macht aus, die sich dem Bittsteller schon beim Hinunterbeugen zum Schalter mitteilte, der häufig auf Kniehöhe angebracht war. Die Menschen hinter den Schaltern waren gespalten in eine private (freundliche) und eine offizielle (unfreundliche) Persönlichkeit. Die Repräsentation einer offiziellen „Rolle“ stattete sie in ihrer Ausübung mit der uneingeschränkten Macht des Parteistaates aus. Gespalten waren aber auch die Familien. In praktisch jeder Familie gab es Repressierte und Angehörige der Erzwingungsstäbe, Lagerinsassen und Gefängnisaufseher. Die Verschränkungen von Staat und Alltag waren allgegenwärtig, umfassten die ganze Gesellschaftsordnung und die Lebenswelt. Sichtbarkeit und soziale Kontrolle reichten in Zeiten der Gemeinschaftswohnungen am weitesten in die familiäre und individuelle Privatsphäre hinein. Unter diesen Bedingungen spielten sich die meisten Lebensbereiche in Räumen mit einem Öffentlichkeitsgrad ab. Der „westliche“ Gegensatz von „privat“ und „öffentlich“ übersetzte sich in sowjetische Verhältnisse als derjenige zwischen „Individuum“ und „Kollektiv“. Alle waren Teile des Kollektivs, „Partikularinteressen“ waren unerwünscht.
Gruppen und „historische Generationen“ als Rahmen für Kommunikation, symbolisches Handeln und kollektives Gedächtnis Öffentlichkeiten als Gefüge von Räumen mit spezifischen Eigenschaften zu verstehen, die an bestimmten Orten konstituiert werden, öffnet den Begriff auch für Verhältnisse ausserhalb des westlichen Kulturkreises. Solche Räume haben Kommunikationscharakter, in ihnen findet gegenseitige Vergewisserung etwa durch Rollenzuschreibungen und Rollenübernahme statt, und die gesellschaftliche Relevanz der hier verhandelten Themen ist ein Faktor, der entscheidet, wie weit reichend ein solcher Kommunikationsraum, eine Öffentlichkeit ist.28 Kommunikation bedingt Erfahrungsgemeinschaft. Diese Gemeinschaften bilden Gruppen innerhalb einer Gesellschaft. So formen etwa soziale Schichten, Berufsgruppen oder auch Menschen mit Kindern jeweils spezifische Erfahrungsgemeinschaften und damit mehr oder weniger abgeschlossene Kommunikationsräume. Im zeitlichen Längsschnitt bietet sich das soziologische Modell der „historischen Generationen“29 als Kategorie an. Die zeitdiagnostische Anpassung der Begriffsbedeutung „Generation“ geht auf Wilhelm Dilthey und Karl Mannheims Konzept der Generationslagerung zurück.30 Generationen unterscheiden sich von Altersgruppen und Kohorten. Altersgruppe meint die entsprechenden Gruppen von Jungen oder Alten zu einem bestimmten Zeitpunkt. Kohorte, eigentlich Geburtsjahrgangskohorte, bezieht sich als naturalistisches Konzept auf die Angehörigen eines oder mehrerer Jahrgänge, etwa die zwischen 1930 und 1940 Geborenen. Eine „historische Generation“ bildet die soziokulturelle Erweiterung der ganzen oder eines Teils der Kohorte, die „Sozialisationskohorte“. Das soziologische Konzept der Gesellschafts- oder Geschichtsgeneration meint somit eine Gruppe von Menschen mit ganz be-
28 Vgl. auch die Definition von Guido Hausmann in: Studienhandbuch Östliches Europa. Band 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion. Hg. von Thomas M. Bohn und Dietmar Neutatz. Köln usw. 2002, S. 260–266 : „Während ‚Öffentlichkeit’ stärker die Vorstellung von einem kollektiven Akteur ausdrückt, und zumal im Deutschen normativmoralisch konnotiert ist, liegt dem deskriptiven Begriff ‚öffentlicher Raum’ eher die Vorstellung eines kommunikativ strukturierten Raumes zugrunde, der aus Teilräumen bzw. Teilöffentlichkeiten besteht.“ 29 Diese werden auch, je nach Blickwinkel, „gesellschaftliche“ oder „politische Generationen“ genannt. 30 Wilhelm Dilthey: Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat. In: Ders: Gesammelte Schriften. Bd. V. Stuttgart 1957, S. 36–41; Karl Mannheim: Wissenssoziologie: Auswahl aus dem Werk. Berlin usw. 1964.
25
stimmten prägenden Erfahrungen, mit lebenslang beibehaltenen Eigenarten, die sie von früheren und späteren Jahrgängen unterscheiden und die als Gruppe häufig auch ein eigenes Generationsbewusstsein entwickelt.31 Diffus bleibt der Zeitpunkt dieser Sozialisation: Mannheim geht implizit von einem prägenden Jugendalter aus, aber die relevanten Phasen können je nach historischer Ereignisdichte und Kultur variieren. Ein Beispiel dafür sind autobiographisch dokumentierte oder konstruierte „Wendepunkte“ in individuellen Lebensläufen wie etwa Methoden eine Migrationserfahrung, ein Unfall oder ein religiöses Erweckungserlebnis. „Generationsstiftend“ können darüber hinaus Ereignisse wie Kriege, Krisen oder Revolutionen sein.32 Versuche, historische Fragestellungen aus der Abfolge von Gesellschaftsgenerationen zu beleuchten, zeigen zunächst einmal eines: Gesellschaftsgenerationen sind Konstrukte, es sind Zuschreibungen, teils Selbststilisierungen, teils rückblickende Kategorisierungen durch andere.33 Für die Durchführung gesellschaftlicher Grossprojekte gilt eine „klassische“ Abfolge von drei Generationen.34 So geht Victoria V. Semenova von drei sowjetischen Generationen aus: Von der vor der Revolution sozialisierten Grosselterngeneration, der die sowjetisch sozialisierte Elterngeneration folgte und schliesslich von der durch die Perestrojka geprägten Generation der Enkel. 35 Nina Nikolaevna Cvetaeva geht ebenfalls von einem drei-Generationen-Modell für die Sowjetzeit aus. Sie beschreibt die Generation der Revolutionszeit als dörflich-bäuerlich geprägt. Diese erste Generation durchlebte die sozialen Kollisionen während der Etablierung der sowjetischen Machtstrukturen in den zwanziger Jahren. Ihre Weltanschauung wurde durch die sowjetische Ideologie verändert. Die Erfahrungen der Menschen dieser Zeit waren geprägt durch Revolution, Bürgerkrieg und Kollektivierung. In ihren biografischen Narrativen wird deutlich, dass ihre Weltanschauung kaum individualisiert war und sich den eigenen Lebenslauf nicht rationalisieren, auch nicht Individuelles von biografischen Mustern unterscheiden können. Sie bleiben in standardisierten Formeln der Sowjetzeit verhaftet. Die nachfolgende Generation der „Kinder“ war diejenige der „Sechziger“. Sie begriffen ihre Zeit ebenfalls als Transformationszeit: Tauwetter, Entstalinisierung und Abschwächung ideologischer Dogmen sind die Schlagworte, die ihre kollektive Erinnerung dominieren.36 Die Abfolge historischer Generationen mit gemeinsamen Erfahrungen, Referenzräumen und Handlungsgrundlagen ist für die sowjetische Geschichte als Forschungsansatz insgesamt frucht-
31 Nach Marc Szydlik: Probleme der „Generationengerechtigkeit. In: Generationengerechtigkeit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen 4 (2004) Nr. 3, S. 1–4; eingehend zum analytischen Konzept der Generation Kurt Lüscher: Ambivalenz – Eine Annäherung an das Problem der Generationen. Die Aktualität der Generationenfrage. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 53–78, hier S. 54–58; Olaf Struck: Generationen als Zeitdynamische Strukturierung. Zum Deutungsverständnis Generation am Beispiel (betriebs-)demographischer Entwicklungen. In: Generation und Ungleichheit. Hg. von Marc Szydlik. Opladen 2004. 32 Lüscher: Ambivalenz, S. 55. 33 Vgl. die Beiträge in: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005. 34 Heinz D. Kittsteiner: Die Generationen der „Heroischen Moderne“. Zur kollektiven Verständigung über eine Grundaufgabe. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 200–219, S. 217. 35 Victoria V. Semenova: Two Cultural Worlds in One Family. The Historical Context in Russian Society. In: History of the Family (2002) Nr. 7, S. 259–280. 36 Nina Nikolaevna Cvetaeva: Biografičeskie narrativy sovetskoj epochy. In Sociologičeskij Žurnal (2000) Nr. 1–2, S. 150– 163, hier S. 151.
bar.37 Grundsätzlich stellt sich die Frage nach Traditionen und Brüchen, nach Generationsfolge als Kontinuität oder Diskontinuität. Die Oktoberrevolution bedeutete einen Bruch mit den „Vätern“, der eine Legitimation, eine Grundlage für den Machtanspruch notwendig machte. Eine Antwort war die Rolle der Ideologie, der Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Eine Parallelmassnahme war der einsetzende Lenin-Kult, der später vom Stalin-Kult abgelöst wurde. Deutlich war in der Folge die Betonung der Tradition: Stalin legitimierte sich als Erben Lenins, des „Vaters der Revolution“. Der Begriff „Vater“ ist bedeutsam. Revolution ist grundsätzlich ein schöpferischer Akt, der eine neue Generation hervorbringt. Revolution bedeutet Anfang, Aufbruch, die Geburt einer neuen Generation, des „Neuen Menschen“, den Beginn einer neuen Zeitordnung. All dies sind Bestandteile des „natürlichen“ Pathos einer Revolution, einer revolutionären Generation.38 Das sowjetische Regime legte besonderen Wert auf die Mobilisierung der Jugend und mass ihr grosse Bedeutung bei, man denke nur an den Ausdruck der „Kinder der Revolution“, der eine Erwartungshaltung, eine Aufgabestellung formulierte. Yuri Levada definiert den „Generationenbruch“ als „Rückweisung der herrschenden Werte durch eine kleine, aber einflussreiche Gruppe von Jungen, die sich gegen die herrschende Tradition, das System, das Regime auflehnen.“39 Levada unterscheidet sechs sowjetische politische Generationen:40 Erstens die um 1890 Geborenen, die die Revolutionszeit zwischen 1905 und 1930 als prägend erfuhren; zweitens die um 1910 Geborenen, die während des Stalinismus der dreissiger Jahre aufwuchsen; drittens die zwischen 1920 und 1928 Geborenen, die Krieg und Nachkriegszeit zwischen 1941 und 1953 erlebten; viertens die zwischen 1929 und 1943 Geborenen, die erste Generation ohne Gewalterfahrungen, die das „Tauwetter“ zwischen 1953–1964 als Handlungsspielraum erfuhr; fünftens die zwischen 1944 und 1960 Geborenen, die während der „Stagnation“ zwischen 1964 und 1985 erwachsen wurden. 41 Diese gingen bei den „Sechzigern“, die sich häufig ihre Nische im Lehrerberuf eingerichtet hatten, zur Schule und „machten“ später die Perestrojka. Die sechste Generation bilden die nach 1968 Geborenen, welche die Perestroika (1985–1999) erlebten. Diese Periodisierung richtet sich nach politisch aktiven, städtischen männlichen Eliten. Das wirft interessante Fragen nach alternativen Periodisierungen und Generationsmodellen für das Dorf, entlegene Regionen des Vielvölkerstaates und Frauen auf. So war für sowjetische Frauen die Erfahrung des Männermangels nach dem Krieg zentral: Die Generation der zwischen 1915 und 1925 geborenen Frauen musste sich auf ein Leben ohne (Ehe-)Mann einrichten. Individuelle sowjetische Lebensläufe waren periodisiert durch die Erfahrungen von Krieg, Hunger und Kollektivierung, durch die Einführung der Inlandpässe, die Massenmigration in die Städte, die Einführung und Aufhebung von Rationierungen, den Umzug in eine Neubauwohnung, die Verbreitung des Automobils und das Ende der Warenknappheit in den Geschäften.42 In Verknüpfung mit den Kategorien Schicht und Geschlecht lassen sich Geschmacks-, Erzählund Erinnerungsgemeinschaften ausmachen. Hier soll der Ansatz der historischen Generationen
37 Yuri Levada: „Rupture de Générations“ en Russie. In: The Tocqueville Review/La Revue Tocqueville 23 (2002) Nr. 2, S. 15–35, differenziert sechs Generationen. Diane Koenker: Fathers against Sons/Sons against Fathers: The Problem of Generations in the Early Soviet Workplace. In: The Journal of Modern History 73 (Dec. 2001) S. 781–810, untersucht das Verhältnis von Generation und Schicht in den Zwanzigerjahren. 38 Michael Wildt: Generation als Anfang und Beschleunigung. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 160–179, hier S. 167. 39 Levada: „Rupture de Générations“ en Russie, S. 15. 40 Levada: „Rupture de Générations“ en Russie, S. 22–24. 41 Levada: „Rupture de Générations“ en Russie, S. 24. 42 Levada: „Rupture de Générations“ en Russie, S. 24.
27
insbesondere in Verbindung mit dem Konzept der Lebenswelten als Hintergrundperspektive für die qualitativen Längsschnitt-Fallstudien dienen. Dabei wird nach möglichen Gruppenzugehörigkeiten gefragt, in denen sich Individuen konkret verorten und die der Identitätsbildung dienen. Generationen überlagern sich zeitlich. Gilt das auch für Erfahrungsräume? Nach der Oktoberrevolution von 1917 kann man für die frühe Sowjetunion davon ausgehen, dass die städtisch und intellektuell geprägten „revolutionären Eliten“, die Führer, wenig ErfahrungsgeMethoden meinschaft besassen mit dem „russischen Volk“, dass einer überwiegend ländlichen Gesellschaft angehörte. Auch später herrschte im Alltag, etwa bezogen auf die Versorgung mit Lebensmitteln, wenig Erfahrungsgemeinschaft zwischen den aufeinander folgenden Generationen, aber auch zwischen der nomenklatura und den Normalsterblichen. Wie stellte man dennoch Kommunikationsgrundlagen her? Eine wesentliche Rolle spielte dabei das Ritual. Bereits früh wurden so genannte „Belebungsrituale“ gepflegt, die den am 2.12.1918 erlassenen neuen sowjetischen Kalender und die Festtage bestimmten.43 Massenspektakel, Demonstrationen und Zusammenkünfte waren kulturelle Formen der Selbstbeschreibung. Die überwiegend bäuerliche Bevölkerung verlangte nach der Einbettung der Festtagsbräuche in einen situativen Kontext. Dazu dienten inscenirovki genannte Spektakel im Rahmen der Festumzüge. Sie folgten Metaphern des revolutionären Narrativs wie dem Marsch in die lichte Zukunft, boten Parodien auf Feinde der Revolution, zeigten allegorische Figuren und verdinglichte Zukunft in Form von Maschinen und Traktoren. Die Formen, zu Beginn offen und spontan, fixierten sich bereits seit der Mitte der zwanziger Jahre.44 Nach Stalins Tod ging die Selbstdarstellung von der „Schau“, der „Behauptung“, über zur „Erzählung“, etwa die wirtschaftlichen Erfolge bei der Industrialisierung betreffend. Losungen blieben jedoch fester Bestandteil der Demonstrationen. Um die Gesellschaft als Ganze zusammenzubinden und Volk und Führung zu einen, gab es Mythen und Helden wie Lenin oder Gagarin. Darüber hinaus mussten gemeinschaftliche Erfahrungen erinnert und bewahrt werden. Neben dem revolutionären Gründungsmythos und dem Leninkult war die gemeinsame Erfahrung des Grossen Vaterländischen Krieges von enormer Bedeutung. Die teilten alle Generationen und Schichten, Stadt und Land: Von Hunger, Entbehrung, Verlust und Sieg war jede Familie betroffen. In ritualisierter Form wurde die Erfahrung jedes Jahr am 9. Mai wiederbelebt: Mit Militärparaden im öffentlichen Raum, wo sich die Veteranen mit ihren Medaillen zeigten und intergenerationelle Beziehungen gepflegt wurden. Es ist bezeichnend, dass der Feiertag im Zuge der Entstalinisierung von Chruščev abgeschafft wurde, bis ihn Brežnev in den siebziger Jahren wieder einführte. Er ermöglichte nicht nur die Erinnerung an die Opfer und die Heldentaten, sondern auch die Identifikation mit der siegreichen Grossmacht Sowjetunion. Die grossen Rituale am 9. Mai und am 7. November sind Beispiele für Kanonisierung und die Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses. Der Begriff bezieht sich auf die Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs sowie Jan und Aleida Assmann. Diese Konzepte sind gruppenorientiert. In einem aufschlussreichen Überblick stellt Clemens Wischermann den kollektiven historischen Zugängen der Nationalgeschichten, der französischen Schule der „Annales“ und der Sozialgeschichte die individualisierenden Zugänge zu Vergangenheit, Geschichte und Erinnerung gegenüber. Dabei ergeben sich spannende Erkenntnisse etwa darüber, dass wir heute von einer 43 V. V. Glebkin: Ritual v sovetskoj kul’ture. Moskau 1998, S. 74, 75. 44 Ich folge der Darstellung bei Glebkin: Ritual, S. 99–105.
hochgradig differenzierten und individualisierten, sich globalisierenden Gesellschaft aus auch als Historiker nach den „Akteuren“ in der Vergangenheit fragen: Die Geschichtswissenschaft entwickelte sich parallel zur gesellschaftlichen „Individualisierung“ von der Nationalgeschichte über die Sozialwissenschaft zur Psychohistorie.45 Die Verbindungen von individuellen und sozialen Formen der Erinnerung stellt Harald Welzer eingehend dar.46 Während bei Halbwachs das „kollektive Gedächtnis“ auch auf kleinere Gruppenformate mit gemeinsamem Referenzrahmen gemünzt war, von der Religionsgemeinschaft bis hin zu Bewohnern eines Stadtviertels, geht es den Assmanns beim „kulturellen Gedächtnis“ um grosse soziale Zusammenschlüsse wie „Volk“ oder „Nation“. Analytisch unterschieden werden in Assmanns Konzept das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Das „kulturelle Gedächtnis“ ist der „jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und –Riten (…) in deren ‚Pflege’ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschliesslich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“47 Fallen die Widerständigkeit und die Gegengedächtnisse kleinerer sozialer Gruppen auf der Ebene des „kulturellen Gedächtnisses“ aus dem Blick, bleiben sie im alltagsnahen „kommunikativen Gedächtnis“ noch sichtbar. Im kommunikativen Gedächtnis wird zwischen Individuen und Gruppen zur Lebzeit von Zeitzeugen ausgehandelt, „was sie für ihre eigene Vergangenheit im Wechselspiel mit der identitätskonkreten Grosserzählung der Wir-Gruppe halten und welche Bedeutung sie dieser beilegen“.48 Durch Verschriftlichung, Kanonisierung und Ritualisierung gehen als bedeutsam markierte Punkte mit dem Aussterben der Zeitzeugen, etwa der Kriegsveteranen, in das kulturelle Gedächtnis über, verfestigen sich etwa als „Erinnerungsorte“ oder „Ikonen“. Erinnerungsorte sind Orte, von denen man annimmt, sie hätten für das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft eine besondere Bedeutung. Das können konkrete topografische Orte oder Gebäude sein, aber auch gedankliche Gemeinplätze, Topoi wie der „deutsche Wald“ oder die „schweizerische Neutralität“. Ein wichtiger Moskauer Erinnerungsort ist beispielsweise das Grab des unbekannten Soldaten an der Kremlmauer. Solche Erinnerungsorte haben eine Funktion als Orte lebendiger, oft ritualisierter Erinnerung für die betreffende Gemeinschaft.49 „Ikonen“ sind Bilder, denen eine vergleichbare Bedeutungsverdichtung zukommt. Ein berühmtes Beispiel einer sowjetischen „Ikone“ ist die Aufnahme der von deutschen Soldaten durch den Schnee geschleiften sowjetischen Partisanin Soja Kosmodemjanskaja. Dieses Bild symbolisiert den Opferstatus der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, die Brutalität der deutschen Eroberer und den Widerstand, die Opferbereitschaft der sowjetischen Bevölkerung.
45 Clemens Wischermann: Geschichte als Wissen, Gedächtnis oder Erinnerung? Bedeutsamkeit und Sinnlosigkeit in Vergangenheitskonzeptionen der Wissenschaften vom Menschen. In: Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft. Hg. von Clemens Wischermann. Stuttgart 1996 (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 15), S. 55–85. Kollektivbezogene Ansätze wie derjenige der Annales haben in Russland heute Konjunktur. Vgl. O. G. Usenko: k opredeleniju ponjatija „mentalitet“. In: Rossijskaja mental’nost’: Metody i problemy izučenija. Hg. Von A. A. Gorskij, E. Ju. Zubkova, A. I Kuprijanov und L. N. Puškarev. Moskau 1999 (Mirovosprinjatie i samosoznanie russkogo obščestva 3), S. 23–77. 46 Harald Welzer: Gedächtnis und Erinnerung. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Hg. von Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen. Stuttgart usw. 2004, S. 155–174; Hans J. Markowitsch, Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart 2005. 47 Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt a.M. 1988, S. 9–19, hier S. 15. 48 Welzer: Gedächtnis, S. 169. 49 Den Begriff „Gedächtnis” als Gegensatz zu „Geschichte“ legte Pierre Nora seiner Beschreibung französischer „Erinnerungsorte” zugrunde. Pierre Nora: Lieux de Mémoire I-III, Paris 1986–1992.
29
Im sowjetischen Kontext hatten diese Erinnerungsorte wie auch der Heldenkult die wesentliche Funktion, Erfahrungsgemeinschaft zwischen der Führung und der Bevölkerung herzustellen und Kommunikation zu ermöglichen. Der Einzelne in seiner Beziehung zu System, Gesellschaft und Gruppe Im Abschnitt über Kommunikationsmodelle war bereits die Rede davon, dass Einzelne an mehreren Systemen partizipieren und auch Träger mehrerer gesellschaftlicher „Rollen“ sein konnten, von denen aus sie kommunizierten. Einzelne waren auch Teilhabende unterschiedlicher Erfahrungsgemeinschaften. Der lebensweltliche Ansatz fasst das Individuum in seinen Beziehungen zu solchen Gruppen ins Auge. So kommen „Gruppen“ in den Blick, deren Gemeinsamkeiten sich auf einen oder mehrere Faktoren beziehen: Lebensstil, Geschmack, Wahrnehmung, Erfahrung, Erinnerung. Mögliche Gruppen in der Sowjetunion jenseits der institutionalisierten Kollektive in Beruf, Schule und Freizeit waren Erfahrungsgemeinschaften in Schlangen vor dem Laden oder der GPU. Sie wurden zu Schicksals- und Kommunikationsgemeinschaften und manchmal zu Akteuren. Das Publikum von Konzerten und Dichterlesungen bildete Geschmacksgemeinschaften. Nach der Revolution gab es etwa in Leningrad noch relativ geschlossene Gruppen, die sich vom sowjetischen Alltag soweit als möglich abkoppelten und einen vorrevolutionären Lebensstil pflegten.50 Nach dem Krieg bildeten sich vor allem in den grösseren Städten der Sowjetunion altersspezifische peer-groups und Subkulturen von Jugendlichen sowie Gruppen von demobilisierten Kriegsheimkehrern. Ähnlich wie bei den Schnittstellen und Kontaktpunkten zwischen Individuum und Parteistaat im Alltag sowie bei den Mehrfachrollen von Individuen im sozialen und institutionellen Gefüge gehörten Einzelne mehreren Gruppen oder Kollektiven an. Individuelle Wahrnehmungen und Geschmacksausrichtungen, auch Praktiken der Selbstwahrnehmung und des Selbstentwurfs standen in Wechselbeziehung zu den jeweiligen Kommunikationsgemeinschaften, in denen sich die Einzelnen im Laufe der Zeit oder auch gleichzeitig austauschten und sozial verorteten. Die Kommunikationsmuster zwischen Individuen, Interessengruppen und Institutionen wandelten sich in der untersuchten Zeitspanne erheblich. Dennoch gab es gewisse Grundkonstanten, die nur graduell variierten. Grundsätzlich kann man von einer repräsentativen Verlautbarungsöffentlichkeit sprechen, wie sie auch Gries und Satjukow ihrem Modell zugrunde legen. In der Sowjetunion kontrollierten Partei- und Staatsapparate die Foren der Meinungsbildung wie Komsomol, betriebliche Kollektive und lokale Parteiebenen. Dafür wurde der Begriff der „Durchherrschung“ geprägt. Fest installierte Kommunikationsschranken schlossen die Teilöffentlichkeiten nach aussen hin ab: Es war möglich und üblich, sich innerhalb dieser Rahmen oder Foren im Betrieb oder im lokalen Parteikomitee kritisch und selbstkritisch zu äussern. Ein Übertreten der Grenzen aber war riskant. Leserbriefe wurden kollektiv verfasst oder behandelten bestimmte Themen in genau festgelegten Rahmen. Solche Kanäle von unten nach oben waren für die Herrschaftslegitimation immer wichtig. Die Handlungsräume und Spielregeln waren einem unvorhersehbaren Wandel unterworfen. Gerade diese Unsicherheit, die ein Strukturmerkmal der sowjetischen „Öffentlichkeit“ gewesen sein dürfte, ist in ihren Auswirkungen zu untersuchen. Dieser Befund unterstützt die Vorstellung von multiplen Öffentlichkeiten. Die offizielle Öffent-
Methoden
50 Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in Neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 3: Sowjetische Moderne und Umbruch. Zürich 2005, S. 238–242.
lichkeit von Staat und Partei verfügte über ein Zugangsmonopol zu den Massenkommunikationsmitteln: Die Medien hatten keine vermittelnde Funktion, sondern waren Teil des politischen Systems und Herrschaftsinstrument. Die Pressesprache war teils codiert, teils lückenhaft. Neben dem gelenkten Prozess der öffentlichen Meinungsbildung – in Medien, Institutionen wie Betrieben, Ausbildungsstätten oder Freizeitorganisationen, durch Feste und Rituale -, etablierten sich deshalb informelle Netzwerke und informelle Techniken der Informationsgewinnung. Es gab Gerüchte, – die allerdings auch als Herrschaftsmittel zuweilen gezielt in die Welt gesetzt wurden. Offizielle Botschaften wurden auf ihre versteckten Inhalte und Restinformationen hin interpretiert und diese Interpretationen zu Grundlagen der Handlung und der Meinungsbildung. Der Information von Mund zu Ohr wuchs grosse Bedeutung zu. Familie, Freunde, Arbeitsplatz, Sportklub, Schule waren Quellen informeller Information, die ähnliche Funktionen übernahmen wie die bürgerlichen Salons, Kaffeehäuser und Lesegesellschaften des 19. Jahrhunderts. Öffentlichkeit als Informationsaustausch war eng mit dem Markt als Warenaustausch verflochten, sind doch Märkte Umschlagplätze für Waren und Informationen. Zu fragen wäre, ob die informellen ökonomischen blat-Netzwerke auch informelle Informationsmärkte waren.51 Wie bei der Ergänzung der Planwirtschaft durch die Schattenökonomie stellt sich auch bei der Informationsbeschaffung die Frage, ob und wann das informelle System das formelle eher stützte oder eher unterminierte. Die Schilderungen des Alltags auf dem Sucharev-Markt in den zwanziger jahren legen nahe, dass bei der Abschaffung der Märkte auf öffentlichen Plätzen der Stadt in den dreissiger Jahren auch der unerwünschte informelle Informationsaustausch eine Rolle spielte. Öffentlichkeiten haben von sich aus ebenso wenig wie andere Räume homogenen, ganzheitlichen Charakter. Die verinselte Öffentlichkeit stellt die Normalform dar, Öffentlichkeit besteht aus einem komplexen Gefüge von Kommunikationsräumen unterschiedlicher Reichweite. Es ist der Grad des Austausches, der Vernetzung, der den Charakter einer hypothetischen „Gesamtöffentlichkeit Sowjetunion” bestimmt. Diese eher allgemeinen Aussagen sollen in Fallstudien differenziert werden. Die Moskauer Fallstudien erfassen Akteure, Gruppen sozialer Milieus als „kleine Öffentlichkeiten“ an ganz konkreten städtischen Orten und folgen damit dem Ansatz moderner Sozialarchäologie. Ziel ist, neben der „offiziellen Öffentlichkeit“ die jeweils zeitspezifischen Handlungsspielräume und Rahmenbedingungen sowjetischer Öffentlichkeiten „von unten“ zu erfassen und in ihren Wechselbeziehungen zu untersuchen. Dabei interessiert die Kommunikation zwischen Individuum, Gruppen und Staat. Hier greifen Lebenswelten und Öffentlichkeiten ineinander.
51 Vgl. Monica Rüthers: Markt und Mangel. Geschichten der Konsumkultur vom Hoflieferanten bis zur Defizitwirtschaft. In: Moskau. Menschen, Mythen, Orte. Hg. von Monica Rüthers und Carmen Scheide. Köln usw. 2003, S. 58–82, hier S. 63.
Moskauer Orte Für die Frage nach Kommunikation im städtischen Raum wurden fünf konkrete Orte untersucht, die an Knotenpunkten der urbanen Subsysteme liegen. Es sind dies die Ulica Tverskaja /Ulica Gor’kogo als wichtigste Zeremonialachse der Hauptstadt; die Lubjanka/Ploščad’ Dzeržinskogo mit Polytechnischem Museum, KGB-Gebäude und Detskij mir als Schwerpunkten, die Sucharevka mit ihrem alten Turm und dem berühmten Trödelmarkt, das „traditionsreiche“ Arbatviertel mit Arbatskaja und Smolenskaja Ploščad’ sowie dem Kalinin-Prospekt/Neuem Arbat und der alten Arbatstrasse als Schwerpunkten, sowie im Neubauviertel Novye Čeremuški die ersten kvartale 9 und 10, hier vor allem das „Haus Neuen Lebens“. Zu diesen Orten entstanden dichte Beschreibungen im Längsschnitt von 1917 bis 1964 und teilweise zusammenfassend darüber hinaus. Die Beschreibungen folgen den Fragen nach Planung, Bau, Nutzung und Bedeutung: Wie sah der Ort 1917 aus, welche Bedeutung hatte er? Welche „Plangeschichte” hat der Ort aufzuweisen? Was wurde tatsächlich gebaut, nach welchen Prioritäten wurde dabei entschieden? Was taten und tun die Menschen auf dem Platz, wie wurde und wird er genutzt, belebt? Wer agiert wie im öffentlichen Raum? Welche Akteure realisieren welche Handlungsmöglichkeiten? Wie kommunizieren sie? Worum geht es? Welche Gruppen und Interessen treten auf? Was geschah mit der Bedeutung des Ortes auf der „geistigen Landkarte”? Moskau hat eine komplexe historische kognitive Topografie, es gibt zahlreiche, sich überlagernde unsichtbare Stadtpläne der Bedeutungen und Zuschreibungen zu Orten und Räumen. Grundsätzlich laufen diese Fragen auf die Frage nach der Produktion von Räumen „von oben“ und „von unten“ an bestimmten gesellschaftlich bedeutsamen Orten hinaus. Sie dienen dem übergeordneten Erkenntnisinteresse der Forschungsarbeit: Welche Formen nahm Macht an? Welche Formen der Öffentlichkeit, welche Kommunikationsräume konstituierten sich an diesen Orten? Wie sahen die Schnittstellen der Kommunikation zwischen Individuum, Gesellschaft und Parteistaat aus? Auswahlkriterium für die Orte war die Nähe zur Macht, da es um zentrale gesellschaftliche Prozesse gehen sollte und Moskau Mustercharakter hatte. Die Orte sollten Spuren über den Wandel ihres Erscheinungsbildes hinaus hinterlassen haben, etwa in Archivakten, Presseartikeln und literarischen Verarbeitungen. Das konnte eine Rolle in gesellschaftlich relevanten Diskursen sein, als Ort der Erinnerung, als Musterviertel oder Gegenstand städtebaulicher Eingriffe wie dem Umbau zum Repräsentationsraum oder ähnliches. Die Orte sollten aber gleichzeitig eine gewisse Heterogenität aufweisen, eine Mischung zwischen alltäglichen und „offiziellen“ Funktionen. Orte wie der Rote Platz wären „erschlagend“ und sind als Kategorie für sich eine eigene Studie wert. Andere Orte stehen bereits im Fokus des Forschungsinteresses wie etwa der „Park kul’tury i otdycha“, die „Allunions-Landwirtschaftsausstellung“, das „Dom na
Karl Schlögel: Der „Zentrale Gor’kij-Kultur- und Erholungspark“ (CPKiO) in Moskau. Zur Frage des öffentlichen Raums im Stalinismus. In: Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg: Neue Wege der Forschung / Stalinism before the Second World War: New avenues of research. Hg. von Manfred Hildermeier unter Mitarb. Von Elisabeth Müller-Luckner. München 1998, S. 255–274; Katharina Kucher: Freizeitkultur im Stalinismus. Der Moskauer Kultur- und Erholungspark 1928–194. Unveröff. Diss., Frankfurt/Oder 2004; Katharina Kucher: Raum(ge)schichten. Der Gor‘kij-Park im frühen Stalinismus. In: Osteuropa 55 (2005) Nr. 3, S. 154–167. Greg Castillo: Peoples at an Ehibition: Soviet Architecture and the National Question. In: South Atlantic Quarterly 94 (1995) Nr. 3, S. 715–546 (Special issue: Socialist Realism withourt Shores. Hg. von Thomas Lahusen und Evgeny Dobrenko); Michail Ryklin: Ort der Utopie. In: Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz. Frankfurt a.M. 2003,
33
1. Šcusev-Plan von 1923 (Ausschnitt) Der Plan des Moskauer Architekten Aleksej V. Ščusev (1873–1949) aus dem Jahr 1923 zeigt das „Neue Moskau“, einen zwischen 1919 und 1923 von Ivan Žoltovskij (1867–1959) und Ščusev gemeinsam entwickeltes Projekt. Dieser Plan für Moskau berücksichtigte das kleinteilige, alte Moskau mit seiner Ringstruktur und liess auch die zentralen Sakralbauten wie die Erlöser-Kathedrale unangetastet. Ščusev schrieb 1919: „Es ist geplant, Moskau mit einem Ring von Grünflächen zu umgeben, deren Dimensionen fast bis zum Stadtzentrum vordringen. Zwischen diesen werden sich Gartenvorstädte mit Siedlungen für die Arbeiterklasse entwickeln (…) samt allen erforderlichen Einrichtungen wie Schulen, öffentlichen Gebäuden, Banken und Märkten.“ Zitiert nach: Alexej Tarchanow, Sergej Kawtaradse: Stalinistische Architektur. München 1992, S. 80
naberežnoj“, die Metro oder der „Palast der Sowjets“. Darüber hinaus wären dies in ihren Funktionen relativ eingeschränkte Orte, deren Untersuchung ausserdem ihr Schwergewicht in der Stalinzeit hätte. Neben zentraleren sollten auch periphere Orte Teil der Studie sein. Darunter befinden sich einzelne Strassen, Plätze oder auch ganze Stadtviertel, die heterogen und multifunktional waren (Arbatviertel, Lubjanka, Gor’kijstrasse) oder einen funktionalen Schwerpunkt hatten (das Wohnviertel Novye Čeremuški oder der Markt auf dem Sucharev-Platz). Die Fallstudien bilden zeitliche Längsschnitte. Obwohl die Schwerpunkte zwischen 1917 und 1964 liegen, schien es in einigen Fällen sinnvoll, Ausblicke darüber hinaus zu wagen: Vorrevolutionäre Gestalt und Bedeutungen von städtischen Orten verkörperten wie etwa der SucharevTurm in vielen Fällen das „Alte“, von dem sich die neuen Machthaber durch Abbruch, Überformung und Zuschreibung neuer Bedeutungen distanzieren wollten. Manche Projekte, die unter Chruščev geplant und medial inszeniert wurden, waren 1964 erst im Bau, wie etwa der Neue Arbat. Auch die Veränderungen, die die in Novye Čeremuški erprobte industrielle Massenbauweise und der Paradigmenwechsel zur Einzelwohnung mit sich brachten, lassen sich erst aus der Perspektive der Siebzigerjahre einschätzen. Referenzpunkt ist darüber hinaus immer auch der heutige Ort, an dem sich viele Schichten gebauter und sozialer Räume überlagern. Als Quellen dienten neben konventionellen Archivdokumenten wie Verwaltungsakten vor allem Stadtpläne verschiedener Zeiten, Planungsunterlagen, Baupläne, Debatten in ArchitekturS. 134–148; Natalia Olenchenko: The soviet trade show / vystavka prodaža. In: Proekt Rossija / Project Russia 23 (2002), S. 76–79; Galina N. Jakovleva: Massenbewusstsein und „Dritte Realität”. In: Kultur im Stalininsmus: sowjetische Kultur und Kunst der 1930er bis 1950er Jahre. Hg. von Gabriele Gorzka. Bremen 1994, S. 147–152. Vladimir Papernyj: Kul’tura dva. Moskau 1996, S. 196–212. Karl Schlögel: Der Mercedes-Stern auf dem „Haus an der Moskva“. In: FAZ, 25.1.2003, S. 41; Michail Koršunov, Viktoria Terechova: Tajny i legendy Doma na Naberežnoj. Moskau 2002; Sergei Kozyrev: The House on the Embankment. In: Russian Studies in History 38 (2000) Nr. 4, S. 21–27. Dietmar Neutatz: „Schmiede des neuen Menschen“ und Kostprobe des Sozialismus: Utopien des Moskauer Metrobaus. In: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. Hg. von Wolfgang Hartwig. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 56). München 2003, S. 41–56; Andrew Jenks: A Metro on the Mount. The Underground as a Church of Soviet Civilization. In: Technology and Culture 41 (2000) Nr. 4, S. 697–724; Josette Bouvard: Symbolische Architektur in der Stalin-Ära: Die Moskauer Metro. In: Symbole und Rituale des Politischen. Ost- und Westeuropa im Vergleich. Hg. von Andreas Pribersky und Berthold Unfried. Frankfurt a.M. usw. 1999 (Historisch-anthropologische Studien Bd. 4), S. 119–133. Sona Stephan Hoisington: „Ever Higher”: The Evolution of the Project for the Palace of Soviets. In: Slavic Review 62 (2003) Nr. 1, S. 41–68; Natasha Chibireva: Airbrushed Moscow. The Cathedral of Christ the Saviour. In: The Hieroglyphics of Space. Reading and Experiencing the Modern Metropolis. Hg. von Neil Leach. London 2002, S. 70–79; Andrew Gentes: The Life, Death and Resurrection of the Cathedral of Christ the Saviour, Moscow. In: History Workshop Journal 46 (1998), S. 63–95; Karl Schlögel: Die Glut des Goldes. In: NZZ-Folio, April 1998, S. 17–22; Marina Dmitrieva: ChristusErlöser-Kathedrale versus Palast der Sowjets. Zur Semantik zeitgenössischer Architektur in Moskau. In: Kultur und Krise: Russland 1987–1998. Hg. von Elisabeth Cheauré. Berlin 1997 (Osteuropaforschung Bd. 39), S. 121–136. Im CMAM (Central’nyj Municipal’nyj Archiv Moskvy) waren unter anderem die Aktenbestände zum Marktwesen auf den öffentlichen Plätzen aufschlussreich ( F. 46 allgemein, F. 1416 , F. 1240 zu den Märkten auf Arbatskaja und Smolenskaja, F. 1275 zur Sucharevka) sowie F. 262 zum Detskij Mir, F. 1864 zum Stadtbild und zur Reklame (vom festlichen Blumenschmuck in den Anfängen bis hin zur Gestaltung des Kalinin-Prospektes mit Neonreklamen), F. 1008 zur Reinigung der zentralen Plätze und Magistralen. Im CANTDM (Central’nyj Archiv Naučno-Techničeskoj Dokumentacii Moskvy) sind im umfangreichen Fond 41 die Planungsunterlagen der Generalplanung zwischen 1932 und 1979 aufbewahrt, darunter op. 1 d. 825 Projekte für die Neugestaltung zentraler Plätze von 1934, d. 11 eine kurze technisch-ökonomische Beschreibung des Moskauer Südwestens (1935), d. 309 geologische Gutachten über mögliche Standorte für Hochhäuser (1946), d. 285 Standortvarianten für Hochhäuser (1947, dazu auch eine Darstellung in F. 2 op.1 d. 158, ebenfalls von 1947), d. 1085, 1097 und 1175 über weitere Projekte entlang der Gor’kijstrasse, Projekte für Novo-Arbatskaja Pl., Pl. Dzeržinskogo (F. 2 op.1 d.159) und Smolenskaja, aber auch d. 1550, 1301 über den Bau neuer Markthallen 1951–60, sowie Pläne, Projektkommentare
35
2. Generalplan von 1935 (Ausschnitt) Beilage aus: Architektura SSSR (1935) Nr. 10–11. Der Generalplan macht die Massstabsvergrösserung deutlich, die Moskau erfahren sollte. Die neuen Baulinien entlang der Magistralen sind rot eingezeichnet. Die radionkonzentrische Struktur wurde beibehalten. Am unteren Rand des Plans, ausserhalb der Stadt, ist Novye Čeremuški erkennbar.
zeitschriften, Fotos, zeitgenössische Publikationen, Presseberichte und Reiseberichte. Einbezogen wurden auch Malerei, Lyrik sowie „urbane Legenden”. Die Grundannahme bei diesem Vorgehen ist, dass sich in einzelnen Interaktionen oder Kommunikationsakten soziale Beziehungen ausdrücken, dass sich hier auf der untersten Ebene „Gesellschaft vollzieht“ und somit eine Trennung von Mikro- und Makoebenen hinfällig wird. Die Wahl eines Ortes, der über einen längeren Zeitraum beobachtet wird, erlaubt eine Analyse sich wandelnder Kommunikation zwischen Individuen und Strukturen. Zu diesem Zweck werden die Produktionen von Räumen „von oben“ und „von unten“ analysiert. Gefragt wird einerseits handlungsorientiert nach Funktionen von Handlungen und Intentionen der Akteure, andererseits systemorientiert nach den Regeln oder „latenten Sinnstrukturen“ nach manifesten Bedeutungen, Denotaten, kodierten sowie nicht-kodierten Botschaften.
Verortung der Fallstudien in der Stadtstruktur Die Orte der Fallstudien lassen sich vorweg den unten skizzierten urbanen Subsystemen zuordnen. Sie sind – bis auf Novye Čeremuški – am oder innerhalb des Gartenrings gelegen. Die Ulica Tverskaja/Gor’kogo ist Teil des Systems der zentralen Magistralen und Plätze und in deren Hierarchie als Hauptzeremonialachse ganz oben angesiedelt. Die Lubjanka als zentraler Platz ist ebenfalls in diesem System verortet und darüber hinaus zentraler Verkehrsknotenpunkt. Die Sucharevskaja Ploščad’ am Gartenring war mit dem Marktplatz eher eine ökonomische und soziale Schnittstelle zur Umgebung Moskaus und liegt an der Kreuzung einer geplanten Achse mit dem Gartenring, sollte somit in das System der Magistralen integriert werden. Der Arbat war ein ruhiges, zentrales Wohnviertel mit einer belebten Geschäftsstrasse. Das 1952 fertig gestellte Aussenministerium (MID, Ministerstvo innostrannych del) an der Smolenskaja band das Viertel in das System der Hochhäuser ein. Der Bau des Kalinin-Prospekts bedeutete den Anschluss an die Magistralen in den 1960er Jahren. Novye Čeremuški Nr. 9 war als Muster-Wohnviertel und Modell für die Stadterweiterung an der Peripherie geplant. Städtebauliche Leitbilder und die Moskauer Stadtstruktur Architekten übersetzen soziale Zukunftsmodelle in räumliche Entwürfe. Sie schaffen letztlich Akteur-Welten, in denen sie Rollen für soziale Gruppen formulieren. Sie verwirklichen im Plan ihre Vorstellungen von Gesellschaft. Pläne sind somit Teil einer kulturellen Praxis, gesellschaftliche Zukunft zu formulieren. In ihnen verbinden sich allgemeine und spezifische Diskurse.10 Architekturmodelle und Fotos von Plänen und Modellen, bildliche Repräsentationen von städtischen Räumen sind Teil städtebaulicher politischer oder kultureller Diskurse und haben ihrerseits wieder und Entscheide zum Bau der Wohnviertel in Čeremuški seit 1952 (u.a. d. 1253, 1397, 1466, 1471, 1716). Zur Planung der Grünzonen und Erholungsgebiete mit Datschensiedlungen und Pionierlagern rund um Moskau zwischen 1933 und 1938 F. 41 op.1. d. 11 sowie F. 2 (ehem. F. 655) op. 1. d. 52. 1 Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Einfache Sozialsysteme. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 2. Opladen 1975, S. 21–38. 1 Ulrich Oevermann: Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare Grundlage von Subjektivität. In: „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Hg. von Thomas Jung und Stefan Müller-Dohm. Frankfurt a. M. 1993, S. 106–190. 10 Angelus Eisinger: Die Stadt im Plan. Stadtdiskurse und visuelle Darstellungen im Schweizer Städtebau zwischen 1935 und 1948. In: Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Hg. von David Gugerli und Barbara Orland. Zürich 2002, S. 67–84.
37
3. Das Kartenschema von 1969 (Ausschnitt). Plan Moskvy: kartoschemy, ukazatel’ i spravočnye svedenija. Hg. von M. V. Balabanov. Moskau 1968 So sahen die Stadtpläne nach dem Krieg bis zum Ende der Sowjetunion aus. Sie waren nicht mehr, als eine grobe Orientierungshilfe. Gerade deswegen eignet sich das Schema hier, um die Fallstudien in der Stadtstruktur zu verorten.
Einfluss auf Raumbilder und Raumvorstellungen. Eine Stadt ist aber auch ein „System“, das in enger Wechselwirkung mit den Lebenswelten von Individuen und Gruppen steht. Eine Untersuchung stadtplanerischer und städtebaulicher Prozesse kann deshalb die Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen sichtbar machen. Entscheidungswege bilden die Herrschaftsverhältnisse ebenso ab wie Entscheidungen über Prioritäten wie Wohnungsbau oder Repräsentationsbauten, über Verkehrserschliessungen, Schulen und Einkaufsmöglichkeiten. Pläne und Darstellungen der „idealen Stadt” waren auch in Russland schon vor der Revolution Mittel politischer Propaganda und Neuorientierung gewesen: Die vorrevolutionäre Hauptstadt St. Petersburg ist das prominenteste Beispiel dafür. In Russland rechnete damals niemand wirklich mit deren konsequenter Umsetzung, einmal abgesehen von einigen öffentlichen Gebäuden und zentralen Plätzen.11 Die Revolution bedeutete weniger einen Bruch des städtebaulichen Diskurses, der im internationalen Zusammenhang kontinuierlich geführt wurde, als vielmehr eine konsequentere Haltung bei der Umsetzung solcher Konzepte: Diese war im grösseren Mass als je zuvor möglich. Bereits 1918 wurde ein Planungsbüro für die Gestaltung von Zentrum und Umgebung der Stadt Moskau eingerichtet, 1921 folgte mit Gosplan eine zentrale Institution für die ganze Sowjetunion. Welches waren die gesellschaftlichen Utopien, für die sich die Architekten nach der Revolution zu bauen anschickten? Wie zuvor die Französische Revolution war auch die Oktoberrevolution ein Schritt im Streben nach einer besseren Gesellschaft. Zwischen Oktober und November 1917 und Januar 1918 kristallisierte sich heraus, dass die künftige Gesellschaftsordnung eine „freie sozialistische Gemeinschaft aller Werktätigen Russlands“ sein sollte. Das Ziel war eine herrschaftsfreie, vernunftgesteuerte, klassenlose Gesellschaft ohne politische, soziale, ökonomische oder religiöse Zwänge, eine Gesellschaft, in der soziale Gleichheit und Gerechtigkeit herrschten. Lenin, gestützt auf Marx und Engels, entwickelte das Konzept nach Stufen: Während im Kommunismus, der höchsten Phase, der Staat überflüssig wäre, sollte die erste Phase, der Sozialismus, durch strenge „Kontrolle und Aufsicht durch die organisierte Avantgarde“ gefestigt werden. Der Übergang sollte nach Marx eine Phase der Diktatur des Proletariats sein, während derer gemäss Lenin die kapitalistischen Ausbeuter gewaltsam niedergehalten würden. Eine zentrale Planung lenkte die Wirtschaft und bestimmte, wer wie viel von welchen Produkten produzierte. Der Elektrifizierung und der Industrialisierung mass Lenin grösste Bedeutung zu. Später, wenn der Sozialismus gefestigt wäre, würden sich die Menschen „daran gewöhnen, ihren gesellschaftlichen Pflichten ohne besonderen Zwangsapparat nachzukommen“, der Staat würde sich auflösen. Privateigentum wäre abgeschafft, alle Güter würden nach Bedarf verteilt, Geld würde ebenso überflüssig wie die Teilung der Gesellschaft in Klassen. Reproduktive Funktionen wie Kinderbetreuung, Wäsche, Kochen würden aus der Familie ausgelagert und vergesellschaftet. Alle sollten Anrecht auf ein Auskommen haben, der Gegensatz zwischen Stadt und Land wäre ebenso abgeschafft wie der zwischen Hand- und Kopfarbeitern. Alle gesellschaftlichen Belange wären optimal geregelt und individuelle Interessen überflüssig, da sie im Rahmen der kollektiven Bedürfnisse befriedigt würden. Alle wären Rädchen in einer einzigen Maschinerie. Zukunftsoptimismus verband sich mit grenzenloser Technikgläubigkeit. Offen blieb jedoch mangels Erfahrungswerten, wie lange ein solcher Umwandlungsprozess dauern würde. Das Problem bestand nach der Revolution und während des Bürgerkriegs zunächst einmal darin, die zusammenbrechende Volkswirtschaft aufzufangen und den Übergang zum Sozialismus zu organisieren. Dieser Übergang gestaltete sich komplexer als gedacht: Experimente mit 11 R. Antony French: Plans, Pragmatism and People. The Legacy of Soviet Planning for Today’s Cities. London 1995 (Pitt series in Russian and East European studies), S. 25.
39
einem „Staatskapitalismus“ wurden durch eine Regelung ersetzt, die Eigeninitiative und Mitsprache der Arbeiter und Bauern ebenso berücksichtigte, wie Elemente einer zentralen Planung und Leitung. Das Planungssystem sollte ausgebaut werden, die Geldwirtschaft zurückgedrängt, der private Handel durch einen Verteilungs- und Versorgungsapparat ersetzt werden.12 Der Anteil der Landbevölkerung war riesig, und Umverteilungsprogramme zur Bekämpfung der Dorfarmut und Enteignung der besitzenden Bauern trugen den Klassenkampf aufs Land. Der Bürgerkrieg störte jedoch den Aufbau und förderte Methoden, die im Widerspruch zu den kommunistischen Zielen standen. Auf die Erwägung einer „Militarisierung“ der Arbeit nach dem Ende des Bürgerkriegs folgte ein Kompromiss, der den Gewerkschaften eine Mittlerrolle Moskauer Orte zwischen Arbeiterschaft und Staats- und Parteiorganen zuwies. Auf der Ebene der Planwirtschaft liefen die Entscheide darauf hinaus, die Geldwirtschaft abzulösen, indem der Warenwert in Arbeitseinheiten errechnet und Geldsteuern 1921 abgeschafft wurden. Die Staatliche Kommission zur Elektrifizierung Russlands (GOĖLRO) legte im Dezember 1920 einen Plan vor, der innerhalb von 10 bis 15 Jahren die Voraussetzungen für den Sozialismus schaffen sollte. Die Elektrifizierung wurde als allumfassender wirtschaftlicher und sozialer Prozess begriffen und war mit weit reichenden Zielvorstellungen verbunden. Sie sollte soziale Gegensätze auflösen. „Darüber hinaus stand die Elektrifizierung für eine ‚Aufklärung durch Licht‘ – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne –, vor allem auf dem Land.“13 Der harte Winter 1921, eine Hungersnot in den Städten und Seuchen machten deutlich, dass sofort etwas geschehen musste. Es kam zu Bauernunruhen und Arbeiterprotesten und zum Aufstand der Kronstädter Matrosen, der blutig niedergeschlagen wurde, weil die Bol‘ševiki fürchteten, eine lasche Haltung könnte ins Chaos führen. Eine Naturalsteuer sollte daraufhin den Bauern Anreiz bieten, ihre Überschüsse gegen Waren der staatlichen Industrie einzutauschen. Daraus entwickelte sich ein dermassen schwunghafter Handel, dass aus der begrenzten Massnahme die „Neue Ökonomische Politik“ wurde, ein vom Staat kontrollierter Kapitalismus. Damit scheiterte der Versuch, den Sozialismus direkt aufzubauen. Es kam zu einer Konzentration der Macht in der Zentrale, die auch bereit war, Gewalt einzusetzen, um ihre Politik durchzusetzen. Die NĖP war nur begrenzt erfolgreich. Preisentwicklungen führten zu Störungen des Wirtschaftskreislaufs, insbesondere des Austauschs zwischen Stadt und Land, erhöhten die ökonomische Macht der besitzenden Bauern im Dorf. Sie schwächten die Position der Partei. Teile der ländlichen Überbevölkerung wanderten in die Städte und Industriezentren ab und verschärften die Wohnungsnot und die Versorgungsnotlage. Die Architekten planten also bereits die ideale Stadt, während die Kluft zwischen den realen Verhältnissen und dem Ziel enorm war. In den Zwanzigerjahren wurde auf internationaler Ebene sehr gegensätzlich über städtebauliche Grundformen nachgedacht.14 Die „Ideale Stadt“ war in erster Linie ein Projekt der 12 Heiko Haumann: Geschichte Russlands. 2., überarbeitete Auflage. Zürich 2003, S. 343–344. 13 Haumann: Geschichte Russlands, S. 358. 14 Peter Hall: Cities of Tomorrow. An Intellectual History of Urban Planning and Design in the Twentieth Century. Oxford 1988. Zusammenfassungen der auf die Sowjetunion bezogenen Debatten bei James H. Bater: The Soviet City. Ideal and Reality. London 1980, S. 21–31; French: Plans, pragmatism and people, S. 9–68. Weitere Literatur: The Socialist City. Spatial Structure and Urban Policy. Hg. von R. A. French und F. E. Ian Hamilton. Chichester usw. 1979; Alessandro De Magistris: La costruzione della città totalitaria. Il piano di Mosca e il dibattito sulla città sovietica tra gli anni venti e cinquanta. Milano 1995; Nikolaj A.Miljutin: Sozgorod: die Planung der neuen Stadt [1930] Übertr. von Kyra Stromberg. Basel usw. 1992; Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit. Hg. von Peter Noever. München, New York 1994.
Moderne, nicht allein des Kommunismus. Die Industrialisierung hatte im 19. Jahrhundert das Gesicht vieler Städte radikal verändert. Das Wachstum war vielerorts planlos verlaufen, die Infrastrukturen konnten mit der Ausbreitung der Arbeiterviertel und Slums nicht Schritt halten. Die Suche nach sozialpolitischen, hygienischen und städtebaulichen Lösungen beschäftigten nicht nur die Politik, sondern auch Literatur, Kunst und Architektur. Die Sowjetunion galt als Land des revolutionären Aufbruchs hin zu neuen Lebens- und Wohnformen.15 Neugründungen von Städten und Industriezentren boten die Möglichkeit, die „vollkommene Stadt“ zu planen. Bekannte und weniger bekannte kommunistische und sozialdemokratische Architekten aus aller Welt gingen nach Moskau, weil sie hier am Aufbau einer visionären Zukunft mitarbeiten wollten. 16 Die umfassenden Bestände an Architekturzeitschriften, die eine Institution wie die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich aus der Sowjetunion abonnierte, zeigen beispielhaft das grosse Interesse, mit dem die internationale Fachwelt die sowjetische Entwicklung verfolgte. Die Planer diskutierten die Auflösung und den Neubau vorhandener Städte, selbst Moskaus. Die Stadt wurde dabei als System analysiert und als Funktionsmodell in ihre Bestandteile zerlegt. Anstatt die gewachsene Stadt als Gegebenheit hinzunehmen, entwickelte man völlig neue Modelle mit funktional-räumlicher Trennung von Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr. Dabei spielte zunächst die Diskussion des Gegensatzes von Stadt und Land eine polarisierende Rolle. Die Aufhebung dieses Gegensatzes als Ursprung der Entfremdung war ein bereits von Marx formuliertes zentrales sozialistisches Anliegen. „Stadt“ war mit der kapitalistischen Grossstadt und ihren Übeln negativ besetzt: Sie war Ort der Ausbeutung und Dekadenz, der Krankheit und Nervosität, der Prostitution und aller erdenklichen anderen Plagen der Menschheit. Ein international diskutierter Weg aus dem „Moloch Grossstadt“ war die Anlage von Gartenstädten, ein von Ebenezer Howard (1850–1928) in England entwickeltes Konzept.17 Licht, Luft und Durchgrünung sollten die Städte gesünder machen. In diesem Sinn begannen auch die ersten Arbeiten an der Umgestaltung und Modernisierung Moskaus.18 Gartenstädte entstanden in England und Deutschland, und auch in der Sowjetunion der Zwanzigerjahre. Ein Beispiel dafür ist die Gartenstadt Sokol‘, die 1923 am Stadtrand Moskaus gegründet wurde.19 In dieser genossenschaftlich geführten Siedlung lebten jedoch weniger Arbeiter als Angehörige der Intelligencija, Wissenschaftler und Künstler. Mit dem Beginn der forcierten Industrialisierung im Ersten Fünfjahrplan Ende der Zwanzigerjahre wandelte sich dann aber das Bild der Stadt. Die „sozialistische Stadt“ erschien nun, nach dem Ende der NĖP (Novaja ėkonomičeskaja politika, neue ökonomische Politik), von allen Übeln befreit als die wahre sozialistische Lebensform, denn nur hier war die kollektivierte Lebens-
15 Helmut Altrichter: „Living the Revolution“. Stadt und Stadtplanung in Stalins Russland. In: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. Hg. von Wolfgang Hartwig. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 56). München 2003, S. 57–75; Der Architektenstreit nach der Revolution. Zeitgenössische Texte, Russland 1925–1932. Hg. von Elke Pistorius. Basel usw. 1992. 16 Die bekanntesten Schweizer darunter waren Le Corbusier und Hannes Meyer. Jean-Louis Cohen: Le Corbusier and the Mystique of the USSR: Theories and Projects for Moscow. Princeton 1992. William Richardson: Hannes Meyer and the General Plan for the Reconstruction of Moscow, 1931–1935. In: Planning Perspectives (Great Britain) 6 (1992) Nr. 2, S. 109–124. 17 Ebenezer Howard war Sohn eines Ladenbesitzers, verbrachte einige Jahre in den USA, kehrte aber nach England zurück. Er arbeitete als Parlamentsschreiber in London, als er 1898 sein Buch „To-morrow. A Peaceful Path to Real Reform” veröffentlichte. 1902 wurde es unter dem Titel „Garden Cities of To-morrow“ neu aufgelegt. Howard gilt als Begründer der Gartenstadt-Bewegung. 18 Stephen V. Bittner: Green Cities and Orderly Streets: Space and culture in Moscow, 1928–1933. In: Journal of Urban History 25 (1998) Nr. 1, S. 22–56. 19 Carmen Scheide: Die Gartenstadt Sokol. Eine antiurbanistische Enklave in der Metropole. In: Moskau. Menschen, Mythen, Orte. Hg. von Monica Rüthers und Carmen Scheide. Köln usw. 2003, S. 142–147.
41
weise der „Neuen Menschen“ möglich.20 Letztlich lief die Debatte auf den Gegensatz zwischen der aufgelösten Stadt im Grünen und der kompakten Stadt hinaus. Gartenstädte erschienen aus ideologischen und raumökonomischen Gründen als ungeeignetes Modell. Auch andere Vorschläge der Avantgarde, individuelle Wohneinheiten in der Landschaft zu verteilen oder Städte als Knoten von Kommunehäusern zu organisieren, blieben auf der Strecke. In sowjetischen Filmen der dreissiger Jahre kamen die Menschen vom Land in die Stadt, um sich von der Herrschaft der „Kulaken“, der Land besitzenden Bauern, zu befreien und am Aufbau des Sozialismus, der Industrialisierung teilzunehmen. In diesen Filmen wird auch die Ruralisierung der sowjetischen Städte durch den enormen Zuzug vom Land erkennbar.21 Umgekehrt brachten Moskauer Orte diese Konzepte die Stadt aufs Land, unter anderem in Form von „Agrostädten“. Die Stadt wurde zum Mittel, um den Sozialismus in den hintersten Winkel zu tragen: „Ein charakteristisches Merkmal des sozialistischen Entwicklungsweges unserer Städte besteht gerade darin, dass wir auf Grund der zweckmässigen Verteilung der Produktivkräfte und der Ausnutzung der Naturreichtümer, sowie der Kraft- und Rohstoffbasis des ganzen Landes allmählich zur Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land, d. h. zur Entwicklung moderner Industrie, zur Einbürgerung fortschrittlicher, sozialistischer, städtischer Kultur in Gegenden schreiten, wo sie früher fehlte und wo Verrohung und jahrhundertealte Finsternis herrschte.“22 Stalins kulturelle Revolution setzte den Experimenten zu Beginn der dreissiger Jahre ein Ende. Die 1926 gegründete Zeitschrift der sowjetischen Avantgarde, Sovremennaja Architektura (Gegenwartsarchitektur) stellte 1930 ihr Erscheinen ein. In zwei Etappen wurde zwischen 1930 und 1932 ein Wettbewerb für die Rekonstruktion Moskaus durchgeführt.23 Er stellte die letzte Runde im Architektenstreit der Zwanzigerjahre dar und war Teil der „Revolution von oben” während des ersten Fünfjahrplans. Bereits im Juni 1931 präsentierte der erste Parteisekretär Lazar’ Kaganovič (1893–1991) die künftige Orientierung in der Architektur der Hauptstadt: Moskau sollte eine vom Rest des Landes unabhängige Verwaltungseinheit und zur exemplarischen sozialistischen Metropole umgebaut werden.24 Der auf diesem Vorgehen fussende Generalplan von 1935 behielt die radiokonzentrische Grundstruktur Moskaus bei und setzte innerhalb dieser Struktur die stalinschen Ideen von der idealen Stadt um: Magistralen und Plätze im Zentrum sollten sternförmig raumgreifend die Hauptstadt- und Herrschaftsfunktion symbolisieren. Dabei wurde die Massstäblichkeit wesentlich vergrössert. Kernstück im Zentrum Moskaus sollte der gigantische Palast der Sowjets werden.25 Am internationalen Wettbewerb 1933 nahmen 160 Architektenteams aus der ganzen Welt teil. Das Projekt scheiterte später an seiner schieren Grösse. Es wurde im Krieg unterbrochen und nach Kriegsende redimensioniert, bis man es 1960 endgültig aufgab und in der Baugrube ein Freibad anlegte. Das Bild der kompakten, geordneten Stadt griff auf bekannte europäische Vorbilder zurück, war leicht verständlich, pompös und gefällig. Es stellte sich der Weite der Landschaft ebenso ent20 R.A. French, F. E. Ian Hamilton: Is There a Socialist City? In: The Socialist City, S. 1–22. 21 Janina Urussowa: Das Neue Moskau. Die Stadt der Sowjets im Film 1917–1941. Köln usw. 2004, S. 186. 22 L(azar’) M. Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus und anderer Städte in der UdSSR. Moskau usw. 1931, S. 110. 23 An diesem Wettbewerb nahm auch der Schweizer Kommunist und Architekt Hannes Meyer teil. 24 Elisabeth Essaïan: Le Plan Général de la Reconstruction de Moscou 1935: Transformation du centre historique. Zusammenfassung der DEA, Paris 2001. Unveröff. Manuskript. 25 Sona Stephan Hoisington: „Ever Higher”: The Evolution of the Project for the Palace of Soviets. In: Slavic Review 62, Nr. 1 (2003), S. 41–68.
gegen wie dem Topos vom „grossen Dorf” Moskau. Das Stadtbild war um 1930 sehr heterogen. Die Schweizer Abenteurerin Ella Maillart (1903–1997) reiste im Frühjahr 1930 nach Moskau und mietete ein Zimmer im Zentrum. „La chance veut que nous soyons au quatrième étage; Moscou est construite en maisons d‘un ou deux étages seulement: aussi de la fenêtre voit-on un ciel immense doublé d‘un horizon de toits. La ville couvre une superficie énorme; basses maisons en bois, avec des jardins entourés de palissades, ponctuées ça et là par la pierre d‘une maison luxueuse ou d‘une église pittoresque, Moscou n‘a rien d‘une ville occidentale; les petites rues aux pavés ronds font encore son charme. Mais déjà la triple ceinture des boulevards est asphaltée, et le centre de la ville élève ses étages de pierre.“26 In vergleichender Perspektive etwa mit Haussmanns Umgestaltung von Paris im 19. Jahrhundert stellte die Rekonstruktion des Moskauer Zentrums eine nachholende bürgerliche Modernisierung dar.27 Zu jedem Generalplan gehörte ein „Abbruchplan“. Dass Altes zerstört werden müsse, um Neues schaffen zu können, war integraler Bestandteil des revolutionären Credos und bezog sich auf die ganze Gesellschaft. Die Zerstörung, um Neues zu schaffen wurde in Form der „In-Marsch-Setzung“ der Massen zum Herrschaft legitimierenden Metanarrativ, das sich in der Architektur in besonders anschaulicher Weise äusserte. Im russischen Kontext griff die Rekonstruktion Moskaus auf das Vorbild St. Petersburg zurück, darauf wird im Kapitel über die Tverskaja näher eingegangen. Die ausgedehnten Arbeitersiedlungen, die in den dreissiger Jahren im Südwesten Moskaus und auch im Süden Leningrads entstanden, erinnern mit ihrer Blockrandbebauung und den parkähnlichen Höfen an die sozialdemokratischen Arbeitersiedlungen in Wien und die „Hufeisen“ von Bruno Taut in Berlin. Die Debatten um die ideale Gestalt der sozialistischen Stadt in den Zwanzigerjahren hatten Grundprinzipien hervorgebracht, die auch Eingang in den Generalplan zur Rekonstruktion der Stadt Moskau von 1935 fanden:28 • Die Begrenzung der Stadtgrösse, die in diesem Fall 5 Millionen betrug und durch Einschränkung der Freizügigkeit und ein Ausweissystem erreicht werden sollte. • Staatliche Kontrolle des Wohnungswesens auf Grundlage sozialhygienischer Prinzipien (die Norm betrug schon seit 1922 neun Quadratmeter pro Person) sowie die staatliche Zuteilung des Wohnraums. • Zentrale Planung und Bau von standardisierten Wohnvierteln. Hier setzte sich als Planungseinheit der „Superblock” durch, ein Häusergeviert für 1000–1500 Menschen. Alle öffentlichen Dienstleistungen wie Schulen, Kantinen, Wäschereien, Kinderkrippen und Läden sollten sich in Laufdistanz befinden. Bereits hier wurden mehrere Superblöcke zu „Mikrorayons“ mit 8000–12000 Einwohnern zusammengefasst, auf deren Ebene weitere Dienste (Gesundheitswesen etc.) angesiedelt waren. Die nächste Hierarchiestufe war der Wohnkomplex. • Räumlich ausgeglichene Verteilung von Gütern und Diensten. Der Forderung nach gleicher Verfügbarkeit von Gebrauchs- und Kulturgütern widersprachen die hierarchischen Verteilungsverhältnisse im Alltag. Das Angebot in verschiedenen Städten blieb sehr unterschiedlich und war in Moskau und Leningrad immer besser als im Rest der Union. • Kurze Arbeitswege, die in öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden konnten. Die
26 Ella Maillart: Parmi la jeunesse russe. Paris 2003 (1. Ausg. Paris 1932), S. 31–32. Ausführlichere Informationen zu Maillart finden sich im Kapitel über die Lubjanka. 27 Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929–1935. Hg. von Harald Bodenschatz und Christiane Post. Berlin 2003, S. 180. 28 Bater: Soviet City, S. 27–30; French: Plans, Pragmatism and People, S.46.
43
Normierung der Arbeitswege sollte eine wirtschaftlich rationale Stadt- und Zonenplanung fördern. • Verbindliche Zonenplanung, die die Anlage von Wohn- und Industriezonen regelte. • Rationalisierte Verkehrsplanung mit klaren innerstädtischen Erschliessungskonzepten und direktem Anschluss von Industriezonen an Verkehrssysteme, getrennte Verkehrswege für den Schwerverkehr. • Grosszügige Grünzonen. Die Grünzonen ergänzten die geplanten kompakten Städte um Erholungsräume. Besonderes Gewicht wurde auf die klare Trennung beider Bereiche gelegt, auf die Einhaltung der Siedlungsgrenzen. • Symbolik und Zentrumsbildung in der Moskauer Orte Stadt. Während die Zwanzigerjahre die sozialistische Stadt als zentrumslos charakterisiert hatten, sollte sich nun hier der Kern sozialen und politischen Lebens befinden. Einheitliche architektonische Ensembles, Plätze und Magistralen sollten Räume für öffentliche Zeremonien bieten. Ein Problem in der Umsetzung lag im Spannungsverhältnis zwischen den Festtagsnutzungen und der Funktionalität dieser Räume im Alltag. • Stadtplanung als Teil der Planwirtschaft. Die Industrialisierung sollte abseits der grossen Städte umgesetzt werden. Die Gründung neuer Industriezentren in unterentwickelten und peripheren Gebieten sollte die unkontrollierte Urbanisierung und Agglomerationsgebiete vermeiden. Dieser Grundsatz liess sich nur im Zeichen totalitärer Machtausübung umsetzen. Die Kontrolle der Bevölkerungsbewegungen und Migration zur Begrenzung der Stadtgrössen blieb problematisch.
Moskaus Subsysteme In Moskau stehen heute die standardisierten Aussenbezirke mit ihren zumindest zur Erstellungszeit weitgehend homogenen Erscheinungsbildern innerhalb der „Mikrorayons“ einem chaotisch und heterogen wirkenden Zentrum innerhalb des Gartenrings gegenüber. Baulinien, Gebäudehöhen und Baustile treffen hier ganz unvermittelt aufeinander. Die zunächst irritierende Stadtoberfläche lässt sich als Folge der unterschiedlichen städtebaulichen Leitbilder lesen, die jeweils nur bruchstückhaft umgesetzt wurden. Sie orientierten sich an der im 18. Jahrhundert ausgeprägten Grundstruktur Moskaus mit dem Kreml als Mittelpunkt, von dem Radialstrassen ausgingen, die durch Ringstrassen untereinander verbunden waren. Das alte Strassennetz dazwischen bestand aus Gassen und Höfen, es war kleinräumig und durchlässig, die Strassenseiten waren eng aufeinander bezogen, so dass Zickzack-Pfade möglich waren. Konkrete bauliche Eingriffe erfolgten in den zwanziger Jahren zunächst nur punktuell. Dezentral gelegene Arbeiterclubs und Redaktionsgebäude wie das der Izvestija am späteren Puškinplatz wirkten als Signale, als Vorboten der Zukunft. Die Gebäude hatten ein Innenleben: In den Clubs entwickelten sich Ansätze für eine neue Interpretation der Arbeiterkultur.29 Zugleich teilten die Bauten etwas über die neuen Machthaber mit und machten den Anspruch auf die Herrschaft über den öffentlichen Raum geltend. Während der Stalinzeit, genauer noch: zur Zeit der ersten drei Fünfjahrpläne zwischen 1928 und 1941, intensivierte sich dieser Anspruch. Das erste grosse System, das neben der Elektrifizierung die Stadt Moskau direkt einband, waren die Kanalbauten. 29 Gabriele Gorzka: Arbeiterkultur in der Sowjetunion. Industriearbeiter-Klubs 1917–1929: Ein Beitrag zur sowjetischen Kulturgeschichte. Berlin 1990.
Das Wasser spielte eine grosse Rolle bei der Neugestaltung Moskaus.30 Die neuen Kanäle, Stauseen und Häfen rund um Moskau hingen mit dem Bau gigantischer Wasserstrassen zusammen. Bereits 1931 beschloss das Zentralkomitee den Bau des 128 Kilometer langen MoskvaVolga-Kanals. Schon 1932 war Baubeginn und 1937 war der Kanal fertig. Nach dem Krieg folgte der Bau des 1952 eröffneten Volga-Don-Kanals, der Moskau zum ebenso symbol- wie herrschaftsträchtigen Beinamen „Hafen von fünf Meeren“ verhalf. Ostsee, Weisses Meer, Kaspisches Meer, Schwarzes Meer und Asovsches Meer waren nun von Moskau aus auf dem Wasserweg zu erreichen. Der Ausgleich der unterschiedlichen Pegel machte zahlreiche Schleusenbauten nötig. In Moskau erhöhte sich der Pegel der Moskva um drei Meter. Nicht zuletzt deshalb sah der Generalplan neue Uferbebauungen und Brücken vor.31 Die Moskva und die Jauza erhielten insgesamt 35 Kilometer Uferverbauungen aus Granit sowie zwei grosse Flusshäfen im Norden und im Süden der Stadt. Die Befestigung der Flussufer erschloss ausserdem Landreserven für den Bau repräsentativer Wohnbauten an zentralen Lagen in der Stadt. Der Generalplan von 1935 zur „Rekonstruktion der Stadt Moskau” schuf mehrere neue urbane Subsysteme: Die schon vor dem Beschluss des Generalplans begonnene Metro verwirklichte eine schon länger gehegte Ambition und sollte den Status Moskaus als Metropole unterstreichen. Sie schuf neben dieser Bedeutung – einmal abgesehen von ihrer pompösen Ausstattung – ein neues orientierungsräumliches System, legte der Stadt einen neuen Plan zugrunde. Die Erschliessung durch die Metro strukturierte die weitere Stadtentwicklung ein Stück weit vor. Teile des Zentrums wie beispielsweise Krasnaja Presnja fielen aus der Entwicklung, weil sie im Gegensatz zu anderen Teilen zwischen Lubjanka und Ochotnyj Rjad nicht erschlossen waren. Die Metro etablierte ein neues Orientierungssystem – Stadtpläne fehlten – und neue Hierarchien. Die zentralen Magistralen und Plätze im Zentrum bauten das vorhandene System der Radialen und Ringstrassen aus. Die neuen alten Achsen wurden dabei so weiträumig, dass die Strassenseiten sind nicht mehr als aufeinander bezogen wahrnehmbar waren. Die Magistralen verbanden das Zentrum Moskaus mit der Peripherie, strahlten vom Kreml, der „Sonne”, aus in die Welt. Die Hochhäuser schufen nach dem Krieg als Gegenstück zur Metro ein überirdisches stadträumliches Orientierungssystem, wie es schon im Plan von 1935 vorgesehen war. Ursprünglich waren 15 geplant, wenig später aber nur noch acht. Die Hochhäuser sollten nach dem Krieg als Zeichen des Sieges die Moskauer Silhouette krönen. Mit der Planung waren die besten Architekten des Sozialistischen Realismus beauftragt worden. Die Bauten sollten „originell“ und besser sein, als die amerikanischen Wolkenkratzer. Die massiv erscheinenden Gebäudekomplexe sind eigentlich Stahlskelettkonstruktionen, mit Ziegelsteinen ausgefacht und mit Naturstein- oder Keramikplatten verkleidet. Ihre Bauweise entspricht derjenigen der amerikanischen Wolkenkratzer der Zwanziger- und frühen dreissiger Jahre, welche die Architekten bei der Planung für den Palast der Sowjets studiert hatten. Trotz ihrer unterschiedlichen Funktionen weisen die Hochhäuser alle dieselbe Grundstruktur auf: Einen schweren, mehrgeschossigen Sockel, pyramidenförmig angeordnete Aufbauten und einen gestuften, von einer Spitze gekrönten Turm. Diesen turmartigen Abschluss hatten in der Planungsphase nicht alle Hochhäuser. Hier schaltete sich Stalin persönlich ein. Er wollte damit an die „Moskauer Tradition“ der Kreml-Türme anknüpfen.
30 Alexej Tarchanow, Sergej Kawtaradse: Stalinistische Architektur. London 1992, S. 90; Tyrannei des Schönen, S. 63; Vladimir Paperny: Moscow in the 1930s and the Emergence of a New City. In: The Culture of the Stalin Period. Hg. von Hans Günther. London 1990, S. 229–239, hier S. 231–232. 31 Mehrere Beiträge von beteiligten Planern zur Projektierung der Uferbebauungen sowie eine allgemeine Einführung finden sich in: Architektura SSSR (1934) Nr. 4, S. 15–30.
45
Stilistisch orientierten sich die Hochhäuser an der russischen Neogotik des 18. Jahrhunderts (am deutlichsten: das Aussenministerium an der Smolenskaja) und am „nationalen Stil“ um 1900, der Themen des Russischen Barock aus dem 17. Jahrhundert variierte. Neoklassizistische Formen zitiert einzig das Hotel Ukraina. Der Charakter der Dekorationen entsprach der kulturellen Ausrichtung der „Aufsteiger“, die durch die „Säuberungen“ in die freigewordenen Verwaltungspositionen nachrücken konnten und die „neue Mittelschicht“ der Stalinzeit bildeten. Das nicht gebaute achte Hochhaus, ein Verwaltungsgebäude im Sarjade-Viertel, wäre mit 37 Geschossen das höchste geworden. Nach Stalins Tod kam heftige Kritik am Entwurf auf: Er schien im Verhältnis zum Kreml und zur Basiliuskathedrale zu massig. In den sechziger Jahren entstand Moskauer Orte auf der Grundplatte das Hotel Rossija. Die Nachkriegsjahre prägten das Stadtbild nachhaltig mit den Hochhäusern, den repräsentativen Wohnbauten entlang der grossen Achsen und den grossflächigen Neubauvierteln im Südwesten. Der Begriff des „Ensemble“ war das Schlüsselwort bei dem Versuch, mit einheitlichen Bebauungen entlang der Magistralen ein „Stadtensemble“ zu schaffen. Die konsequente Bebauung der Ufer der Jauza und der Moskva
4. Abb. Verteilung der Hochhäuser, Schema Das Gesamtkonzept umfasste neben den Hochhäusern auch die Magistralen und Plätze mit ihrer Rand bebauung, sozusagen als „Ordnungskonzept”.
band die Flussachsen ein.32 Doch die Hochhäuser standen nicht einmal immer an einer Metrostation. Die Paläste und Tempel wuchsen symmetrisch in die Höhe, um schliesslich in die Vertikale zu münden. Sie bildeten eine Stadt für sich, die neben der realen Stadt existierte. Die Stadtkrone überwölbte als „anderer Raum” die reale Stadt. Besonders erstaunlich ist in Bezug auf den Generalplan von 1935, dass die drei Schichten der Umgestaltung, also die Magistralen als Entwicklungsachsen, die Metro und die Hochhäuser, trotz ihrer gleichzeitigen Planung nicht nur die Feinstruktur der Gassen und Höfe des alten Moskau ignorierten, sondern sie ignorierten sich auch gegenseitig33 und nahmen keinerlei Bezug auf das Kanalsystem. Nach Stalins Tod wurden die Anstrengungen der Nachkriegszeit im Massenwohnungsbau fortgesetzt, intensiviert und propagandistisch genutzt. Mit der Entstalinisierung lebten einige Grundsätze der Zwanzigerjahre wieder auf, so der „Mikrorayon“ oder die Idee der Kommunehäuser. Das Konzept der „Mikrorayons“ blieb über Jahrzehnte für den sowjetischen Städtebau die pragmatische Grundlage, obwohl die Grundidee der umfassenden gestuften Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen innerhalb der „Mikrorayons“ niemals umgesetzt werden konnte. Durchsetzen konnte sich jedoch der Gedanke durchgehender Begrünung der Stadt.34 Ein Grund für die Entwicklung am Stadtrand war die Wohnungsknappheit: Um abzureissen, hätte man erst umsiedeln müssen, und dazu fehlte der Wohnraum.35 Im Zentrum kamen in den Sechzigerjahren deshalb eher punktuell moderne Hochbauten mit viel Glas hinzu, die Akzente setzten. Einzige Ausnahme war die neue Achse des Kalinin-Prospekts, sowie an der Peripherie die neuen, als „Mikrorayon“ geplanten Wohnviertel in Fertigbauweise. Wie bereits zur Stalinzeit waren auch in den folgenden Jahrzehnten die ökonomischen Pläne und die Generalpläne für die Städte nicht aufeinander abgestimmt. Das war einer der Gründe dafür, warum die Generalpläne der Urbanisierung immer hinterherhinkten und letztlich nur ansatzweise umgesetzt wurden. In den Sechzigerjahren griff man zwar zunächst auf Leitbilder der Zwanzigerjahre zurück, mit den Wirtschaftsreformen von 1965 setzte jedoch ein vermehrt kostenorientiertes, „pragmatisches” Umdenken ein: Die stadtplanerischen Leitbilder sollten nun der gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr vorauseilen und diese stimulieren, sondern die gesellschaftliche und die urbane Utopie sollten sich parallel entwickeln. Dabei hatte man bereits seit der Revolution die Verwirklichung der gesellschaftlichen Utopie auf mehreren Gebieten parallel vorangetrieben: In der Stadtplanung, in der Wirtschaftsplanung, in der forcierten Industrialisierung und mit der Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Fahrpläne waren allenfalls in der Planungsphase aufeinander abgestimmt, doch in der Hierarchie der Ausführung stand immer die Industrialisierung zuoberst. Vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg waren dies neben der Schwerindustrie bald auch die Rüstung und die Raumfahrt. Darunter litten der Wohnungsbau, eine flächendeckende Infrastruktur und die Konsumgüterindustrie. Auch ein auf niedrigem Niveau funktionierendes soziales Netz vermochte die Sowjetunion erst in den letzen 25 Jahren ihres Bestehens aufzubauen.36 Die mehrfache Überlagerung der Stadt Moskau durch die strukturell „verschobenen” Subsysteme wird planimetrisch und volumetrisch im alten Zentrum innerhalb des Gartenrings überdeutlich. Jedes dieser Subsysteme hat seine eigene Massstäblichkeit, seine Funktionen und formalen 32 de Magistris: La Costruzione della città totalitaria, S. 132. 33 Dieter Hoffmann-Axthelm: Moskauer Stadtstruktur: Die Übermacht der Bilder. In: Bauwelt (1999) Nr. 12, S. 647–659, hier S. 649. 34 French: Plans, Pragmatism and People, S. 92–93. 35 French: Plans, Pragmatism and People, S. 75–76. 36 Bater: Soviet City, S. 94; French: Plans, Pragmatism and People, S. 93–94; Stefan Plaggenborg: Die Sowjetunion – Versuch einer Bilanz. In Osteuropa 51 (2001) Nr. 7, S. 761–777, hier S. 776–777.
47
Prinzipien.37 Die neuen Subsysteme bemühten sich niemals um den Anschluss an die vorhandenen Feinstrukturen. Der fehlende Bezug der Systeme aufeinander ist das städtebauliche Kennzeichen Moskaus. Während die Leitbilder wechselten und nach der Revolution auch ganz neue Bedingungen für deren Umsetzung herrschten, war dies eine Kontinuität: Denn auch der KalininProspekt bezieht sich in keiner Weise auf die Feinstruktur seiner Umgebung, sondern verbindet als Teil des Magistralensystems lediglich den Arbatplatz mit dem Kutuzovskij Prospekt. Dasselbe galt für die Neubauviertel, die „Mikrorayons“ und die Trabantenstädte: Sie entstanden anstelle der alten dörflichen Siedlungen im Moskauer Umland, die ihnen weichen mussten.
Moskauer Orte Die Sozialtopografie: Wechselspiel zwischen der realen und der mentalen Landkarte Vor der Revolution entstand in den grossen steinernen Mietshäusern im Zentrum neben der territorialen auch eine horizontale Segregation: Da Verkehrsmittel fehlten oder unerschwinglich waren, lebten die Bediensteten und Arbeiter nah an ihren Arbeitsorten, in Kellern, Ecken und Winkeln, während die Angestellten die oberen Stockwerke der liftlosen Mietshäuser bevölkerten und die begüterten Kaufleute und Bürger in der Beletage wohnten.38 Der Adel besass zahlreiche kleine Palais, von denen einige noch heute im Zentrum zu bewundern sind. Nach der Revolution übernahm die Administration einen Teil der Bauten, und die Stadtwohnungen wurden zu Kommunalwohnungen mit zahlreichen Bewohnern umfunktioniert und sozial durchmischt. Der Zuzug vom Land liess die Bevölkerung im Zentrum Moskaus weiter ansteigen, bis 1940 die höchste Dichte von einer Million Einwohnern innerhalb des Gartenrings erreicht war. Diese Dichte blieb zwanzig Jahre lang, bis 1960, bestehen und nahm erst mit der Umsiedlung in die grossen Neubausiedlungen an der Peripherie wieder ab.39 Daneben gab es eine territoriale soziale Segregation, die vor und nach der Revolution ungebrochen bestehen blieb: Der Westen und Südwesten des Zentrums – darunter das Arbatviertel – waren der „bessere” Teil, wo sich auch die neue Nomenklatura in den ehemaligen Häusern des Adels und Grossbürgertums niederliess, während der Osten und Südosten über Industriebetriebe und einen hohen Anteil an Arbeitern verfügte.40 Der Generalplan von 1935 wies den Südwesten als Wohnzone, den Südosten als Industiezone aus. Dies und die Verwaltungsreform, die 1938 neue, sternförmig ausstrahlende Bezirke schuf, trugen mit der stadtplanerischen Entwicklung entlang der grossen Magistralen zur Verfestigung dieser Struktur bei.41 Diese Prestige-Achsen verlängerten sich mit den Magistralen, als die Stadt wuchs. 1917 lag die Stadtgrenze beim Eisenbahnring. 1960 wurde die Ringautobahn MKAD (Moskovskaja kol’cevaja avtomobil’naja doroga) zur neuen Stadtgrenze erklärt. Die Exklusivität des alten Zentrums als Wohnlage erhöhte sich mit der Ausdehnung der Stadtgrenzen, die automatisch den Anteil der Bewohner des alten Zentrums an der Moskauer Stadtbevölkerung senkte. Seit dem Generalplan von 1971 galt auch offiziell der 37 Vgl. zu den Subsystemen auch V. Judincev: Il centro di Mosca e le attività urbane. In: Metamorfosi (1988 Nr. 3), S. 16– 19. 38 Timothy Colton: Moscow. Governing the Socialist Metropolis. Cambridge, Mass. 1995, S. 44 39 O. E. Truščenko: Prestiž centra. Gorodskaja social’naja segregacija v Moskve. Moskau 1995, S. 70. 40 Truščenko: Prestiž centra, S. 40. 41 Vgl. Hierzu auch die Auswertungen der Volkszählungen von 1936 und 1939 durch Alain Blum: Changer la ville, changer l’homme. In: Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 73–92, hier S. 86–89.
innerhalb des Gartenrings gelegene Stadtteil als das „Alte Zentrum“. Dieses hauptstädtische Zentrum entwickelte eine beträchtliche Anziehungskraft und konzentrierte kulturelles, wirtschaftliches und politisches Kapital. Daran schloss unmittelbar ausserhalb des Gartenrings die alte Peripherie an, um die sich dann als neue Peripherie der Gürtel der Neubausiedlungen in standardisierter Bauweise legte. Anfang der Siebzigerjahre bedeutete jede Stufe näher dem Zentrum eine wöchentliche Zeitersparnis von drei Stunden an Arbeits- und Einkaufswegen. Auch der Bau neuer Metrolinien bis zu den Wohngebieten an der Peripherie kompensierte die Vorteile des zentrumsnahen Wohnens nicht.42 Eine weitere hierarchische Abstufung von Zentrum und Peripherie ergab sich aus der Anordnung höherer Schulen mit speziellen Ausrichtungen in Sprachen oder anderen Fächern. Deren Dichte nahm mit der Nähe zum alten Zentrum kontinuierlich zu. Zwei der südöstlichen Stadtbezirke verfügten über keine einzige diesre als besonders prestigeträchtig geltenden Lehranstalten. In der Nähe des Zentrums, vor allem im „besseren” Westen und Südwesten, – und somit unter anderem in der Nähe der Prestigeschulen – wohnten überdies die Mehrzahl der Kulturschaffenden sowie der wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsträger. In diesen Bereich fällt auch das im Folgenden untersuchte Experimentalviertel Novye Čeremuški. Der Schritt zur Exklusivität des Zentrums als Wohnort vollzog sich jedoch letztendlich mit der Aussiedlung der kommunal’ka-Bewohner in die Neubauwohnungen an der Peripherie, obwohl sich diese Hypothese nicht anhand von Datenerhebungen belegen lässt.43 Eine anders lautende Hypothese besagt, dass die Neubaugebiete zu einer sozialen Segregation beitrugen, da zuerst verdiente Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft eine Wohnung erhielten und ihre angestammte kommunal’ka verliessen. Nicht zuletzt dadurch sei der Südwesten zur „besseren Gegend” geworden.44 Anfang der Siebzigerjahre wurde das Zentrum offiziell für historisch wertvoll und erhaltenswert erklärt und 1973 denkmalgeschützte Bereiche der Altstadt definiert. Hierzu gehörte aus den untersuchten Fallstudien der Bereich um die Arbatstrasse. Diese Massnahme schützte das alte Zentrum vor neuen Grossprojekten und schrieb bestehende Tendenzen zur sozialen Segregation fort. Die Interessen der führenden Eliten an Wohnlagen im Zentrum wurden davon nicht tangiert. Die Aneignung historischer Bauten sicherte den herrschenden Gruppen ausserdem neben der Macht über den Raum auch die Macht über die Zeit, da die alten Herrschaftsbauten etwa des Kremls überzeitliche Legitimationen darstellten.45 Sie waren ein symbolisches Kapital. In den Siebziger- und Achtzigerjahren gab es zwei gegenläufige Tendenzen: Die Renovation und Umwandlung von Altwohnungen in Einzelwohnungen für die Nomenklatura förderte eine Verbürgerlichung des Zentrums. Zugleich ging mit dem Erhalt eines hohen Anteils an kommunal’ki eine „Proletarisierung” einher. 1960 lebten 60 Prozent aller Moskauer in kommunal’ki, 1970 nur noch 40 Prozent. 1980 lebten bereits 80 Prozent der Moskauer in der eigenen Wohnung – ausser im alten Zentrum, wo mehr als die Hälfte immer noch in einer kommunal’ka wohnte. Die „Proletarisierung“ hatte ihren Grund darin, dass zahlreiche Privilegiertere aus den Kommunalwohnungen in den neuen kooperativen Wohnungsbau investierten und umzogen. Deren Zimmer in den Kommunalwohnungen 42 Truščenko: prestiž centra, S. 59–62. 43 Truščenko: prestiž centra, S. 72–73. 44 Vgl. hierzu den Artikel von V. Semenova: Ravenstvo v niščete. Simvoličeskaja značenie „kommunalok”. In: Sudby ljudej. Rossija XX. vek. Biografii semej kak obekt sociologičeskogo issledovanija. Moskau 1996, S. 373–389. Truščenko arbeitet im ersten Teil ausschliesslich auf der Grundlage von statistischen Angaben, während Semenova ihre Schlüsse aus eigenen Umfragen herleitet, deren Methodik sie nicht transparent macht. Beide zeichnen jedoch ähnliche sozialtopografische Karten von Moskau. Im letzten Teil arbeitet auch Truščenko mit Interviews und qualitativen Erhebungen. 45 Truščenko: prestiž centra, S. 74–77.
49
wurden gemäss einer neuen Pass-Verordnung von 1964 befristet an limičiki vergeben, auswärtige Arbeiter mit begrenzter Aufenthaltserlaubnis, um dem Mangel an Arbeitskräften entgegenzuwirken.46 Auf die gesamte Sowjetunion bezogen, gab es zwei generelle Aspekte sozialer Segregation: Die Wohnort-Segregation betraf ein System „geschlossener Städte“, für die eine besondere Zuzugsgenehmigung nötig war. Hier zu wohnen, war ein Privileg. Der zweite Aspekt betraf die individuellen Wohnverhältnisse. Die Lage und die Grösse der Wohnung sowie deren Ausbaustandard, die Erschliessung durch öffentliche Infrastruktur wie Verkehrsmittel und Warmwasser: Es gab bis zum Ende der Sowjetunion ganze Städte ohne Warmwasserversorgung. So Moskauer Orte ergaben sich Hierarchien. Statt soziale Unruhen auszulösen, führten solche Verhältnisse in der Sowjetunion eher zur Abwanderung in die besser versorgten, aber „geschlossenen“ Zentren.
46 Truščenko: prestiž centra, S. 79 ff.
51
Visuelle Kultur
Visuelle Kultur – Bilder schaffen, Bilder deuten, die Welt als Bild Was ist visuelle Kultur? Die Welt besteht keineswegs nur aus Texten, sondern noch vor den Texten aus Bildern. Bilder im weitesten Sinne wirken auf die Betrachterin simultan und auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen zugleich. Neben der Information, die sie auf der kognitiven Ebene vermitteln, haben sie eine materielle Gestalt. Vor allem vermögen Bilder aber, ähnlich wie Gerüche, starke Gefühle auszulösen. Sie sind ein Sinneseindruck. Wer ein Bild beschreibt, ist gezwungen, das Bild in Teile zu zerlegen, beispielsweise in Vorder-, Mittel- und Hintergrund oder in Handlungssequenzen: Beschreibungen folgen vorstrukturierten Verfahren und erzielen nicht die Bildwirkung. So sollte auch die Geschichtsschreibung neben den Texten die Bilder einer Zeit lesen. Der Begriff des visual, pictorial oder iconic turn bedeutet aber mehr als die Entwicklung von bildhermeneutischen Verfahren, Analyse kulturanthropologischer Fragestellungen anhand von Bildern oder vermehrte Nutzung von Bildern als historische „Quelle“. Er beruht auf der Erkenntnis, dass auch Texte Bilder erzeugen und somit Bildwirkungen. Es geht nicht mehr um die Textualität von Bildern, sondern um die Bildlichkeit von Texten. Visual Culture Studies positionieren sich zwischen Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften. Dabei verlagert sich das Interesse von den Gegenständen zum Sehen und zur Sichtbarkeit, zu den Sehweisen, die als kulturell bedingt untersucht werden. Visuelle Kultur ist der Umgang der Menschen mit optischen Eindrücken, visuellen Symbolen, Vorstellungen und Codes. Visuelle Kultur ist Gegenstand der Untersuchung sowohl der sozialen Konstruktionen des Sichtbaren wie auch der visuellen Konstruktion des Sozialen. Gerade in einer Entzifferung der Sinnstrukturen des öffentlichen Raums spielt neben anderen sinnlichen Eindrücken das Visuelle, das Bild vom Raum, eine wichtige Rolle. So, wie Bilder vom Inneren unseres Körpers unsere Körpervorstellungen, ja sogar unsere Körperwahrnehmung verändert haben, haben Bilder von Raum – Landkarten, Satellitenbilder, ein Globus – unsere Raumvorstellung und Raumwahrnehmung beeinflusst.
Der erweiterte Bildbegriff „Abbildungen“ erfolgen über Bild und Text hinaus auch in anderen Medien. Man könnte von „Bildern ohne Rahmen“ sprechen, die Definition also erweitern auf Darstellungsabsicht und Rezeption. Der Begriff „Bild“ ist in diesem Zusammenhang weit gefasst. Neben Darstellungen wie einem Tafelbild, einer Fotografie oder einem Bildschirm gehören auch andere Formen optischer Überformung oder Beeinflussung des Gegebenen dazu. So reichen „Bilder“ von der Malerei bis hin zu „Inszenierungen“, ob in den kleinen Inszenierungen der Schaufensterdekorationen, in der Architektur, als Fassadenschmuck an Feiertagen oder als Masseninszenierungen an Festen und Margaret Dikovitskaya: Visual Culture. The Study of the Visual after the Cultural Turn. Cambridge, Mass. 2005, S. 56. Dikovitskaya: Visual Culture, S. 58. Vgl. etwa die Arbeiten von Lisa Cartwright: Screening the Body. Tracing Medecine’s Visual Culture. Minneapolis, Min. 1995 und Barbara Duden: Anatomie der guten Hoffnung: Bilder vom ungeborenen Menschen 1500–1800. Frankfurt a. M. 2003; Dies.: Die Gene im Kopf – der Fötus im Bauch: Historisches zum Frauenkörper. Hannover 2002; Dies.: Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.–20. Jahrhundert. Hg. von Barbara Duden u.a. Göttingen 2002.
53
Paraden mit ihrem ornamentalen Charakter. Gottfried Boehm hat Bilder als von Menschenhand gemachte materielle Formenkomplexe, die sich in einem definierten Rahmen ereignen, bezeichnet. Die Verdichtung unterscheidet das Bild von der umgebenden Realität und erzeugt eine „ikonische Differenz“. Doch auch die Selbstdarstellung beispielsweise von Anhängern unterschiedlicher Jugendkulturen in ihrer äusseren körperlichen Aufmachung ist ein visuelles Signal, das sich von der „Normalität“ der Umgebung abhebt. Optische Überformung geschieht ferner in Form von Gestaltung von Gebrauchsgegenständen über ihre reine Funktion hinaus. Das ist der Fall bei der Mode wie bei der „Stilisierung“ von Alltagsgegenständen. Als Beispiel sei hier etwa an das space design der sechziger Jahre erinnert. „Bilder“ haben immer kommunikativen Charakter. Design oder visuelle Gestaltung ist Kommunikation und somit soziales Handeln, ebenso wie der Kauf, Gebrauch oder das Vorzeigen gestalteter Objekte. „Innere Bilder“ sind Vorstellungen, Erinnerungen und Phantasie. Visualisierungen von Wissen und Ordnungen des Wissens von rhetoVisuelle Kultur rischen Visualsierungstechniken über die Tabelle bis zum mind map gehören dazu. Darunter fallen auch Bilder von Dingen, die eigentlich gar nicht sichtbar sind wie des Körperinneren oder rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen. Ferner kann man kulturell codierte räumliche Anordnungen hinzuzählen, die Löw „institutionalisierte Räume“ nennt, beispielsweise Schulzimmer oder Gerichtssäle. Solche Vorstellungen umfassen neben Raumbildern auch das Wissen um dazu gehörende Handlungsroutinen oder „Skripte“ (etwa „Schulstunde“ oder „Arztbesuch“). Erinnerungen werden nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern gespeichert. „Der Kampf um die Bilder im Kopf musste in dem Masse zunehmen, in dem die inneren Bilder an traditioneller Prägung durch Religion und überkommene Hierarchien abnahmen: Pierre Nora setzt diesen Zerfall der inneren Bilder, der Gedächtnistradition, mit dem Ende des Milieus an. Walter Benjamins berühmter Aufsatz über das ‚Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‘ sieht die grundlegende Veränderung der Sinneswahrnehmung mit dem Zerfall der Aura des Kunstwerks, das ursprünglich im Kult eingebettet war.“ Die Annahme, mit der Reproduzierbarkeit hätte das Bild seine Aura verloren, wird zu Recht bezweifelt.10 Im sowjetischen Kontext könnte man den Bilderkult um Stalin als Beispiel anführen, dessen reproduzierte Porträts in unzähligen privaten und öffentlichen Räumen hingen, und deren Rezeption von religiösen Bildtraditionen der Ikonenmalerei und der Funktion der Ikonen selbst mitbestimmt wurde.11 Dabei war es für die Stalin-„Fotografie“ kennzeichnend, dass sie den Herrscher durch Retusche bis hin zur Übermalung „entrückte“, durch Fotomontagen auf Plakaten in Szene setzte oder durch 1 Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M. 1977, S. 50ff. 1 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: Was ist ein Bild? Hg. von Gottfried Boehm. München 1994, S. 11–38, hier S. 29. 1 Klassisch dazu ist Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 10. Aufl., Frankfurt a.M. 1998. 1 Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001, S. 226. 1 Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Paris 1990. S. 13. Weil die Erinnerungsgemeinschaften zerfallen seien, hätten die Erinnerungsorte (etwa Feiertage, Archive, Nachrufe) deren Funktionen übernommen. 1 Irmgard Wilharm: Einleitung. Geschichte, Bilder und die Bilder im Kopf. In: Geschichte in Bildern. Von der Miniatur bis zum Film als historische Quelle. Hg. von Irmgard Wilharm. Pfaffenweiler 1995, S. 7–24, hier S. 19. 10 Peter Burke: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen. Berlin 2003, S. 19. 11 Rosalinde Sartorti: „Grosser Führer, Lehrer, Freund und Vater“. Stalin in der Fotografie. In: Führerbilder. Hitler, Mussolini, Roosevelt, Stalin in Fotografie und Film. Hg. von Martin Loiberdinger, Rudolf Herz und Ulrich Pollmann. München usw. 1995, S. 189–209, hier S. 193–194.
riesenhafte Vergrösserungen monumentalisierte. Die Fotografie war zu hart und scharf, deshalb wurden die Porträt-Fotos retuschiert oder abgemalt und dann reproduziert oder hundertfach von Kopisten vervielfältigt, was dem Bild einen zeitlosen Ewigkeitsanspruch gab und Distanz verlieh. Das Verhältnis von Bild, Deutung und Wirklichkeit wird zur zentralen Frage, bis hin zum Phänomen, dass nur noch das Abgebildete wirklich erscheint, das Bild zum Existenzbeweis wird oder zwischen Realität und Bild nicht mehr unterschieden wird. Welche Folgen hat der erweiterte Bildbegriff für die Untersuchung von Bildern im Hinblick auf historische Fragestellungen?12 Die Analyse muss die Herstellungsvoraussetzungen und –bedingungen, die formalen Komponenten eines „Bildes“ und seine Rezeption umfassen. Sie bezieht sich einerseits auf die visuelle Kultur einer Gesellschaft, auf Sehgewohnheiten und visuelle Konstruktionen des Sozialen, andererseits auf einzelne Bilder oder Bildkorpora.
Zum Umgang mit Bildern in Bezug auf die Fallstudien: Planung, Bau, Nutzung und Bedeutung öffentlicher Räume Die Interpretation der Bilder in dieser Studie erfolgt letztlich von aussen, im Dienste einer historischen Fragestellung, eines bestimmten Erkenntnisinteresses. In dieser Studie soll die Frage nach Formen von Macht, Öffentlichkeiten und Kommunikationsräumen anhand der Analyse des Prozesses von Planung, Bau, Nutzung und Bedeutungswandel öffentlicher Räume an fünf konkreten Orten untersucht werden. Bilder als realienkundliche Quelle sagen etwas über die baulichen Veränderungen aus, aber auch über Nutzungen öffentlicher Räume und über die Art und Weise der Repräsentation dieser Räume im Bild. Eine Analyse der visuellen Kultur beleuchtet den Wandel von Sehgewohnheiten. „Sehen“ ist eine erlernte Fähigkeit, die kulturell bedingt ist. „Wir ‚identifizieren’ etwas, das sich von uns unterscheidet, tun dies aber in unserem Körper, unserem Gehirn, die ihre Aktivierung in kulturellen Feldern, in Umgebungen erhalten haben.“13 Damit zusammen hängt die gesellschaftliche Konstruktion neuer „innerer Bilder“: Wie entstanden neue kulturelle Muster, „Bilder“ als Vorstellung und abstrakter Begriff davon, wie etwas auszusehen hat? Ein Bild von „Stadt“ etwa? Wie wandelten sich die unbewussten kulturspezifischen Regeln, die der Bildproduktion zugrunde liegen, die Bildsprache, aber auch die Vorstellungen? „Bild lehrt die kulturell zulässigen, reflexiv-wahrnehmbaren, konventionellen Grenzen der Sichtbarkeit, aber es erzeugt keine Sichtbarkeit. Es ist stets von der Interpiktorialität, von den visuellen Expressions- und Verständigungsregeln abhängig. In der Form des Bildes erhalten Dinge und Gedanken einen veränderten Charakter. Darin sind Bilder Texten nicht unähnlich. Mit ihnen werden visuelle Umgebungen archivierbar.“14
12 Die Bildinterpretation bezieht sich immer noch wesentlich auf von der Kunstwissenschaft entwickelte Methoden. Die Ikonografie fragt nach dem Dargestellten zugrunde liegenden Geschichten, Motiven, z.B. biblischen oder andere kulturspezifischen Themen. Die von Erwin Panofsky entwickelte hermeneutische Methode der Ikonologie geht über Ikonografie hinaus und rekonstruiert den kulturellen Kontext eines Bildes, das Programm oder Konzept, das ihm zugrunde liegt und ihm seinen intendierten Sinn gibt. Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. In: Ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1985, S. 85–97 (erstmals publiziert 1932). Zum qualifizierten Umgang mit Bildern vgl. auch Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001. 13 Manfred Fassler: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit. Wien usw. 2002, S. 23. 14 Fassler: Bildlichkeit, S. 22.
55
Durch Architektur selber, aber auch durch ihre vervielfältigten Repräsentationen im Bild können neue Bedeutungen eines Ortes konstruiert und transportiert werden. Die Konstruktion von Bedeutungen über innere Bilder geschah auch in der Malerei und in der Dichtung. Dies wird in der Malerei am Beispiel der Hinterhöfe deutlich, in der Dichtung am Beispiel des Arbat.15 Grundsätzlich sind unterschiedliche Bild-Kontext-Relationen möglich, die es zu erschliessen und zu interpretieren gilt. Für die Dokumentation der gebauten Räume in der vorliegenden Studie waren Fotografien von Anfang an eine wichtige Quelle.16 Die Funde in Moskauer Archiven und Museen einerseits und die Vielzahl publizierter Aufnahmen in Zeitschriften und Bildbänden andererseits erfordern einen methodisch reflektierten Ansatz.17 Bei der Fotografie gilt ein besonderes Verhältnis der Ähnlichkeit zum Abgebildeten.18 Ein Foto kann Zustände bezeugen, aber nicht erklären. So steht die Fotografie als Quelle in einem Wechselverhältnis zur Geschichtsschreibung. Visuelle Kultur Zumindest die vordigitale „Ablichtung“ beweist zwar, dass das abgebildete Objekt sich zu einem gewissen Zeitpunkt vor der Kamera befunden haben muss und leitet daraus seinen Authentizitätsanspruch ab. Dieser ist vergleichbar mit dem „autobiografischen Pakt“ (Philippe Lejeune), der die Autobiografie von fiktionalen Texten vielleicht nicht in ihrer Entstehung, sicher aber in ihrer Rezeption grundlegend unterscheidet. Dieses Postulat ist als solches ein wichtiges Merkmal der Fotografie. Ebenso wie bei der Autobiografie sagt aber die Fotografie nichts wirklich über die „Echtheit“ des Dargestellten aus, sondern ist als Behauptung von Echtheit, Wahrheit oder Wirklichkeit zu interpretieren. Ist ein Text zum Bild vorhanden, steuert der Text die Bildbetrachtung. Umgekehrt beglaubigt das Bild den Text. Jede bildhistorische Untersuchung richtet sich in erster Linie nach der Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse und muss von den verfügbaren Quellen ausgehen. Dennoch lässt sich ein Katalog von Arbeitsschritten erstellen. Am Anfang einer Analyse steht die Bildquellenkritik, die realienkundliche, sozialgeschichtliche und semiotische Ansätze verbindet. Die Realienkunde fragt nach der Materialität des Bildes. Wann und wo wurde es produziert? Mit welcher Technik? Die Sozialgeschichte fragt unter anderem nach Herrschaftsverhältnissen, Institutionen und Verwendungskontexten. Wer stellte das Bild her? Wer gab den Auftrag, trug die Kosten? Zentral ist die Frage nach dem Inhalt. Was ist auf dem „Bild“ zu sehen, was ist abgebildet? In welchem Verhältnis steht das Bild zu Texten wie Bildlegende oder Titel? Wie war die Beziehung zwischen der die Aufnahme produzierenden Institution und den abgebildeten Motiven?
15 Vgl. Kapitel „Folgerungen“ und Kapitel „Arbat“. 16 Zu räumlichen Repräsentationen auf sowjetischen Briefmarken vgl. Evgeny Dobrenko: The Art of Social Navigation. The Cultural Topography of the Stalin Era. In: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space. Hg. Von Evgeny Dobrenko und Eric Naiman. Seattle usw. 2003, S. 162–200. 17 Einen grundlegenden Überblick über fotohistorische Ansätze und Methoden bietet Jens Jäger: Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung. Tübingen 2000; Zur Fotografie als historische Quelle vgl. Michael Sauer: Fotografie als Quelle. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10 (2002) S. 570–593. 18 Ronald Berg: Die Photographie als alltagshistorische Quelle. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte: zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. Von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 187–198, hier S. 189; zum „Doppelcharakter“ der Fotografie vgl. auch Horst Bredekamp: Drehmomente – Merkmale und Ansprüche des Iconic turn. In: Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Hg. von Christa Maar und Hubert Burda. 3. Aufl., Köln 2005, S. 15–26, hier S. 18–21.
In diesem Zusammenhang steht auch die Frage nach der Geschichte der Motive. Zu welchem Themenkreis gehört das Bild? Semiotische Analysen stellen häufig einzelne Bilder ins Zentrum und versuchen, deren Aussagestrategien, die Regeln der Sinnproduktion zu entschlüsseln. Bilder werden als Zeichensysteme und Botschaften betrachtet. Dabei wird nach der manifesten Bedeutung des Bildes gefragt. Diese Frage hat zwei Teile: Was bedeutet das Abgebildete, welche Zeichen und Symbole machen welche Aussage? (Denotat); im zweiten Schritt wird nach der konnotativen Aussage des Bildes gefragt. Was assoziierten zeitgenössische Betrachter mit dem Dargestellten? Neuere kulturgeschichtliche Ansätze begreifen nicht nur Fotografie, sondern die Produktion von „Bildern“ allgemein als kulturelle Praxis und legen Wert auf die diskursive Einbettung. „Sie zielen auf die Analyse der Bilder in spezifischen gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhängen. Leitfragen richten sich nach dem Wie und Was der visuellen Kommunikation sowie nach den zeitgenössischen bewussten und unbewussten Lektüren der Bilder“.19 Dabei ist zu beachten, dass Sehen nicht trivial ist: das, was wir sehen, muss nicht mit dem übereinstimmen, was andere sehen. So stellt sich die Frage nach der Wahrnehmung. Was sah das intendierte Publikum in dem Bild? Doch „niemand weiss, was der andere sieht, denkt, erwägt. Sicher, eine Menge von visuellen Eindrücken wird vergleichbar sein, weil wir Stühle und Autos, Häuser und Kühlschränke, Kriegsbilder und Gefangene, Präsidenten und Wählerinnen ‚kennen’ und diese Kenntnis uns die Vergemeindung von Sinnerwartungen, also Kommunikation ermöglicht.“20 Diese Feststellung muss in zweierlei Hinsicht berücksichtigt werden: Einerseits selbstreflexiv für die Assoziationen und Erwartungen, die der oder die Forschende aus ihrem kulturellen und individuellen Erfahrungsraum aus den Bildern ableiten. Andererseits zeigt sich die Schwierigkeit und Begrenztheit der Möglichkeiten, vergangene Sehgewohnheiten, Sichtweisen und die Evolution innerer Bilder zu rekonstruieren: Hier muss ebenfalls von einer grossen individuellen Bandbreite und Differenzierung ausgegangen werden. Die Bedeutung der abgebildeten Gegenstände ist nicht eindeutig festzustellen, sondern von zeitbedingten Lesarten abhängig, von Praktiken der Lektüre wie beispielsweise dem Konsum illustrierter Zeitschriften oder dem Stellenwert von Fotoalben oder Diaabenden in Familien. Es geht somit auch um die Regeln der Verwendung von Fotografie in einer Gesellschaft.21 Antworten auf diese Fragen sind deshalb nur mit Kontextwissen möglich. Von Bedeutung ist häufig auch das, was auf dem Bild nicht zu sehen ist, das Fehlende, Ausgesparte, „nicht Fotografierbare“. Welche „latenten Sinnstrukturen“ transportiert das Bild? Damit sind die vorbewussten Regeln der Bildproduktion gemeint, die dem Bild eingeschrieben sind. Das reicht vom Entscheid, ein Motiv zu fotografieren über die Regeln der Bildkomposition bis hin zur Rezeption des Bildes, zur Entzifferung durch die Zuschauer, die bei der Herstellung von Bildsinn diesen Regeln folgen oder nicht. Antworten auf diese Fragen ermöglichen die Rekonstruktion der sozialen Mitteilungsinhalte, der manifesten und latenten Deutungs- und Orientierungsmuster visueller Präsentation.22 Die Entstehungskontexte lassen sich nicht immer präzise rekonstruieren. Häufig sind die Beziehungen zwischen den Bildmotiven, den abgebildeten Menschen und Dingen, und den Institutionen, welche die Abbildung veranlassten, nicht genau bekannt. Hier helfen rezeptionsgeschichtliche Ansätze weiter. Sie fragen nach der Herkunft der Motive, Stile und Gestaltungsprinzipien, 19 Jäger: Photographie, S. 79. 20 Fassler: Bildlichkeit, S. 25. 21 Jäger: Photographie, S. 85. 22 Stefan Müller Dohm: Visuelles Verstehen. Konzepte kultursoziologischer Bildhermeneutik. In: „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Hg. von Thomas Jung und Stefan Müller-Dohm. Frankfurt a. M. 1993, S. 438–457, hier S. 443.
57
nach Interpiktorialität und Intertextualität, also nach bildlichen und literarischen Bezügen, Traditionen, Diskursen oder Vorbildern und untersuchen die Bildwirkungen und die Rezeption anhand anderer Quellengattungen wie Presse, Selbstzeugnissen oder Befragungen. Rezeptionsgeschichtliche Ansätze arbeiten mit Bildgruppen. Die Rezeptionsästhetik geht davon aus, dass der anvisierte Betrachter, der Adressat, im Bild präsent ist. Das Bild gibt deshalb auch über sein Zielpublikum Auskunft. Wichtig ist die Art und Weise, wie die Bilder der Öffentlichkeit präsentiert wurden, mit welchen Deutungsangeboten sie versehen waren. Bilder werden als Medien der Kommunikation begriffen und analysiert. Geht man davon aus, dass „institutionelle“ Bilder immer im Hinblick auf ein bestimmtes Publikum entworfen und gestaltet werden, erlaubt die Rezeptionsästhetik, etwas über den impliziten Betrachter zu erfahren. Daraus leitet sich die Frage nach Intention und Funktion des Bildes ab (das Bild als soziale Tatsache) und zu seinem kommunikativen Charakter (Fotos zeigen immer das Besondere). Daraus folgt die Frage: In welchem Verwendungskontext stand Visuelle Kultur das Bild: Wann, wie und wem war es zugänglich? Als Beispiel sei hier der Umgang mit Bildserien im Sinne von offiziellen Fotoreportagen über neue Wohnviertel und Menschen in ihren Wohnungen im Kapitel über Novye Čeremuški angesprochen. Diese lassen sich einerseits über ihre Motivgeschichte und ihren Verwendungszweck interpretieren, geben aber durch Posen und Anordnungen ebenso Auskunft über Werte und Grundhaltungen. Ein seriell-ikonographischer Ansatz erläutert in Bezug auf den ganzen Bildkorpus die Entwicklung bestimmter Motive und Themen längs einer Zeitachse und für den spezifischen zeiträumlichen Kontext des Musterviertels Novye Čeremuški. Dieses Verfahren erhellt wahrnehmungs- und mentalitätsgeschichtliche Prozesse wie die Entstehung neuer Gemeinplätze. Es ist jedoch schwierig, Wahrnehmungskontexte allein aus seriellen Bildanalysen abzuleiten. Die Bedeutung einzelner Bildelemente lässt sich nur durch qualitative Analysen entschlüsseln. Eine Verbindung beider Methoden bietet sich daher an.23 Die Quellenkritik der Aufnahmen erweist sich als schwierig: Die Archivierung in Museen und Archiven überliefert Entstehungsdatum, Fotograf und auftraggebende Agentur oder Institution, bei den „sozialdokumentarischen“ Wohnungs-, Umzugs- und Familienfotos auch Namen, Adressen und Berufe der abgebildeten Personen. Die hier verwendeten Aufnahmen haben einen hochgradig inszenierten Charakter, da es sich um institutionelle Fotos handelt. Ihr Verwendungszweck lässt sich lediglich aus Inhalten und Motivgeschichte, aus dem Kontextwissen erschliessen. Der Erkenntniswert der Bilder steigt mit dem Wissen um Wohnungsnot und Kommunalwohnungen, aber auch mit der Frage, was auf den Bildern „ausgespart“ wurde und wo und in welchen Auflagen sie publiziert wurden. Der Erkenntniswert eines Bildes ist umso höher, je mehr bildexterne historische Information zum Bildkontext und zum Themenkreis vorliegt, dem man das Bild zuordnet. Besonders spannend wird die Analyse einzelner Bilder oder Bildkorpora im grösseren Kontext sowjetischer Konstruktionen des Sichtbaren. Dabei gehe ich davon aus, dass „die kulturelle Isolierung und Präparierung von Gesehenem willkürlich, also machtförmig ist. Die Funktion dieser herausgearbeiteten Sichtbarkeit ist es, Blicke zu lenken, einzudämmen, zu kontrollieren, also sie erst durch die zugelassene Sichtbarkeit zu ermöglichen.“24 Über Einzelbilder hinausgehend, wandelte sich die visuelle Konstruktion des Sozialen in der generellen Erscheinung der verwendeten Architekturzeitschriften, in Titelbildern, Aufmachung 23 Jäger: Photographie, S. 78–79. 24 Fassler: Bildlichkeit, S. 27.
und vor allem dem Stil der Projektskizzen. Es lohnt sich deshalb, einen Blick auf die Geschichte sowjetischer Bildwelten zu werfen.
Sowjetische Geschichte als Geschichte ihrer visuellen Kultur Revolution der Sehgewohnheiten? Im Raum wird auf verschiedene Weisen kommuniziert: Visuell, haptisch, das heisst über den Tastsinn oder Anordnungen wie Enge und Weite sowie akustisch, wie beispielsweise die in den dreissiger Jahren im öffentlichen Raum allgegenwärtigen Lautsprecher zeigen. Das Visuelle ist dem Räumlichen auch zugeordnet, weil über Raum weitgehend visuell, nämlich durch Bilder, Pläne und Modelle, kommuniziert wurde. Das Bild konnte Momente und Inszenierungen verewigen. Die visuelle Kultur der Sowjetunion entwickelte sich vor dem Hintergrund von Gewalterfahrungen. Dem Ersten Weltkrieg und dem blutigen Bürgerkrieg zu Beginn der zwanziger Jahre folgte die Auflösung aller Institutionen einschliesslich der Familie. Das ganze Land war entwurzelt, ein grosses Problem waren die Horden von obdachlosen Kindern, die auf der Suche nach Nahrung umherzogen. Die Neue Lebensweise, novyj byt,25 verkündete die Umkrempelung der materiellen Alltagskultur. Damit war auch eine Erneuerung der Bildsprache und der Wahrnehmungsgewohnheiten gemeint. Die bol’ševiki veranstalteten in den zwanziger Jahren spektakuläre Inszenierungen wie Massendarbietungen und Paraden, bei denen die zentralen Schauplätze mit Fassadenschmuck, Bannern und Fahnen förmlich in Rot getaucht waren.26 Seit 1918 gab es die so genannte Monumentalpropaganda, die alte Denkmäler durch neue ersetzte, und architektonische Eingriffe. „Leitgedanke war der Einbezug eines emotional beteiligten Proletariats und seiner künstlerischen Bedürfnisse. Über Wettbewerbe und unter Wahrung der ‚Neutralität gegenüber einzelnen Kunstströmungen’ wurden namhafte Künstler aller Sparten mit der Gestaltung von Plätzen beauftragt, die in einer ‚riesigen Strassenausstellung zeitgenössischer Kunst’ resultierten.”27 Die Avantgarde suchte nach der Revolution neue Formen für die neuen Inhalte. Mit der Idee, dass Kunst die Welt verändert und den „Neuen Menschen“ schafft, standen die Künstler den Ideen der europäischen Reformbewegung der Jahrhundertwende nahe. Die Künstler der linken Gruppe LEF strebten innovative, an industriellen Produktionsformen orientierte Kunstproduktion an und die Aufhebung der Autorschaft im Kollektiv. In den zwanziger Jahren arbeiteten Filmer wie Dziga Vertov (1896–1953) mit seinem kino glaz und Fotografen wie Aleksandr M. Rodčenko (1891–1956), Arkadij S. Šajchet (1898–1959) und Boris V. Ignatovič (1899–1976) an der Auflösung gewohnter Sicht- und Wahrnehmungsweisen des Raums und an der Begründung einer neuen visuellen Kultur. Die Kamera war für sie die
25 Vgl. Tatlin, El Lisickij und andere in: Der Architektenstreit nach der Revolution. Zeitgenössische Texte, Russland 1925– 1932. Hg. von Elke Pistorius. Basel usw. 1992, S. 98–113. 26 Zu den ersten Feiertagen in Moskau vgl. Street Art of the Revolution. Festivals and Celebrations in Russia 1918–1933. Hg. von Vladimir Tolstoy, Irina Bibikova und Catherine Cooke. London 1990. 27 Rainer Stommer, Marina Dalügge: Masse – Kollektiv – Volksgemeinschaft. Massenästhetische Inszenierungen der zwanziger und dreissiger Jahre. In: Berlin – Moskau 1900 bis 1950. Hg. von Irina Antonowa und Jörn Merkert. München usw. 1995, S. 349–355, hier S. 349. Zu den ersten Revolutionsfeiern in Petrograd vgl. Heiko Haumann, Andreas Guski: Revolution und Fotografie. In: O.10 – Iwan Puni und Fotografien der Russischen Revolution. Museum Tinguely, 12. April 2003 bis 28. September 2003. Bern 2003, S. 101–130.
59
objektive Maschine, die mehr sah, als das menschliche Auge (kino pravda, Film-Wahrheit). Ausschnittwahl, Aufnahmewinkel und selbst die Montage galten nicht als Manipulation, sondern als Steigerung der Authentizität und Mittel zur visuellen Aneignung der neuen Welt. Rodčenkos Theorie der Momentaufnahme polemisierte gegen den Anspruch des kunst-fotografischen wie malerischen „Bildnisses“, das menschliche „Wesen“ vollständig zu erfassen. Seine Aufnahmen sollten reportageartig den Aufbau des neuen Russland dokumentieren. Das narrative Element war ein wesentliches Kennzeichen der russischen Avantgardefotografie. Revolutionäre Visualisierungs-Techniken wie Montage und Collage, vom Kubismus inspirierte Multiperspektivität und dynamisierende Blickwinkel von weit oben oder weit unten sowie stark angeschnittene Bildmotive waren Ausdrucksmittel der Avantgarde. Zur Wirkungsmacht des Visuellen trug auch der niedrige Alphabetisierungsgrad von 30 Prozent bei. Neue Reproduktionstechniken machten die Herausgabe illustrierter Zeitschriften mit hohen Auflagen möglich, eine wesentliche NeuVisuelle Kultur erung in der visuellen Kultur der zwanziger Jahre. Das veränderte die Arbeitsbedingungen der Fotografen und förderte die Reportage-Fotografie.28 Überliefert wird heute ein abgeschlossener Bilderkanon, den zu hinterfragen sich lohnen würde. Die proletkul’t-Bewegung strebte danach, die Arbeiter von sich aus eigene kulturelle Formen entwickeln zu lassen und verfolgte ihren Bildungsanspruch in den Betrieben angegliederten Arbeiter-Klubs mit Zirkeln, Vorträgen und Theatergruppen. Ein Grundkonflikt bestand hier zwischen Bildungsauftrag und Unterhaltungsbedürfnis der Arbeiter am Feierabend. Die alternativen, anti-elitären Ansätze wurden ausserdem von Gewerkschaftsseite angegriffen mit dem Argument, erst sei das „Bildungsdefizit“ aufzuholen. Dabei wurden die Formen nicht hinterfragt. Als „Defizit“ galt dabei der „Bildungsrückstand“ zu Adel und Intelligencija nach traditionellen, vorrevolutionären Kriterien von Bildung. Die Suche nach und Analyse von Bildern „von unten“, beispielsweise aus den FotografieZirkeln der Arbeiter-Klubs, könnte hier interessante neue Aufschlüsse über die Rezeption und den Einfluss der unterschiedlichen kulturpolitischen Maximen von Avantgarde, proletkul’t und Gewerkschaften geben. Mit dem Wechsel von kleinen Arbeiterklubs zu grossen Kulturpalästen zu Beginn der dreissiger Jahre wuchs die Schwellenangst der Arbeiter und ihre Selbsttätigkeit wich dem Kultur-Konsum. Deshalb blieb die theoretische Position der Avantgarde im Grunde elitär und vermochte die Sehgewohnheiten breiter Schichten nicht zu verändern. Erst der Stalinismus brachte eine veritable Bilderfabrik hervor. Der zentrale Wendepunkt war die Verordnung über die künstlerischen Organisationen von 1932, die den Sozialistischen Realismus, die leicht verständliche Kunst im Dienste der Partei zur Norm erhob.29 Die „Massen“-Kunst des sozialistischen Realismus knüpfte gezielt an traditionelle Formen der Volkskunst an. Die tief greifenden, alle Lebensbereiche erfassenden Umwälzungen der ersten beiden Fünfjahrpläne (1928–1932 und 1933–37) prägten sowohl die visuelle Kultur, wie auch die materielle Alltagskultur.30 Die Formensprache der sowjetischen Fotografie entwickelte sich in Phasen, die in etwa den ersten drei Fünfjahrplänen entsprachen. Während zwischen 1928 und 1932 28 Grigorij Čudakov: Einführung. In: Russische Fotografie 1917–1940. Hg. von David Elliott (Katalogbearbeitung). Berlin 1993, S. 9–26, hier S. 21. 29 Beschluss des ZK der KPdSU(B) vom 23. April 1932. z. B. abgedruckt in: Agitation zum Glück. Sowjetische Kunst der Stalinzeit. Hg. von Hubertus Gassner u.a. Bremen 1994, S. 23. 30 Einen guten Eindruck hiervon gibt der Ausstellungskatalog Agitation zum Glück. Sowjetische Kunst der Stalinzeit. Hg. von Hubertus Gassner. Bremen 1994.
noch unterschiedliche theoretische und avantgardistische Positionen vertreten wurden, zwang die „Verordnung zur Restrukturierung literarischer und künstlerischer Organisationen” von 1932 die Künstler zur Zusammenarbeit und zur Zurückhaltung. Zuvor charakteristische Elemente verschwanden während des Zweiten Fünfjahrplans aus der Bildsprache: Extreme Blickwinkel, Fragmentierung, Anschneiden des Motivs. Die Agentur „Sojusfoto“ beispielsweise, für die Fotografen wie Arkadij Šajchet, Maks V. Alpert (1899–1980) und Solomon Tules arbeiteten, bot seit Beginn der dreissiger Jahre geschlossene Serien von Aufnahmen zu bestimmten Themen an. Ende der zwanziger Jahre entwickelten Rodčenko und Ignatovič neue kompositorische Möglichkeiten für die Präsentation fotografischer Bilder in Zeitschriften. Gegenstand waren häufig Arbeiter und ihre Arbeitsplätze, Fabriken und die Landwirtschaft.31 Die Grossprojekte wurden nicht nur in der Fachpresse, sondern auch in eigens der bildlichen Kommunikation im In- und Ausland dienenden Zeitschriften wie „USSR na strojke“ und „Architekturnaja Gazeta“ begleitet. Das sich verändernde Bild der Städte und Landschaften konnte in diesen Bildern eine ungleich grössere Wirkung entfalten als am konkreten Ort allein. Als besonders vorbildlich wurde von der Regierung der 1931 von Alpert und Šajchet veröffentlichte, konventionell fotografierte Foto-Essay „Vierundzwanzig Stunden im Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie” gepriesen, der 1931 zunächst in der deutschen „Arbeiter Illustrierte Zeitung” erschienen war.32 Diese Reportage erregte grosses Aufsehen, weil sie deutschen Arbeitern in der Zeit der europäischen Wirtschaftskrise, als der „Kapitalismus“ zu versagen schien, eine sowjetische Arbeiterfamilie mit Wohnung, Essen, Arbeit und Zukunftsaussichten vorführte. Seit dem Ende des Ersten Fünfjahrplans tauchte das Portrait Stalins regelmässig in Fotomontagen auf Plakaten auf. Die politischen Botschaften wandelten sich von der Allegorie hin zur konkreten Mitteilung, von der Erzählung zur Behauptung.33 Eine weitere Art der Publikation von Fotos waren grossformatige Bildbände mit Fotografien und Fotomontagen, die zu Propagandazwecken und zur Verbreitung der sowjetischen Errungenschaften im Westen während des Zweiten Fünfjahrplans aufkamen. Industrialisierung, Elektrifizierung, die Bildungsrevolution und die damit verbundenen sozialen Aufstiegsmöglichkeiten sowie ein grosser Aufwand an Kommunikation wirkten zusammen: Die Bevölkerung zeigte Loyalität und Begeisterung für die Projekte, obwohl diese Teil desselben Systems waren, das durch die Hungersnöte der Kollektivierung und die immer gewaltsamer werdenden Säuberungen Angst und Schrecken verbreitete. In den zwanziger Jahren waren die Verachtung „überflüssiger” persönlicher Besitztümer sowie der perfekte, dynamische, sportliche, bewegte Körper als Symbol der Selbstüberwindung Bestandteil der Kultur des „Neuen Menschen“. Der Erste Fünfjahrplan machte Sport als Produktionsgymnastik zur Massenbewegung. Sportlerparaden waren ab 1931 Bestandteil der offiziellen Festtagsparaden in Moskau.34 Sport stand symbolisch für Willensanstrengung, Körperbeherrschung und Leistung. Die Massenveranstaltungen wurden immer stärker theatralisch durchge-
31 Maria Tupitsyn: Die abtretende Avantgarde. Sowjetische Bildwelten unter Stalin. In: Margarita Tupitsyn: Glaube, Hoffnung – Anpassung : sowjetische Bilder 1928–1945. Hg. vom Museum Folkwang Essen. Essen 1995, S. 12–33, hier S. 14, zu den Zeitschriften S. 17–18. 32 Nina Klingler: 24 Stunden im Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie. Die Fotoreportage als historische Quelle. Unveröff. Lizentiatsarbeit, Basel 2003; Tupitsyn: Die Abtretende Avantgarde, S. 19–20. 33 Tupitsyn: Die Abtretende Avantgarde, S. 17. Richard Stites: Russian popular culture. Entertainment and Society since 1900. Cambridge, Mass. 1992, S. 83–84. 34 Laurent Gervereau: Les images qui mentent. Histoire du visuel au XXe siècle. Paris 2000, S. 129, 150; Stommer, Dalügge: Masse – Kollektiv – Volksgemeinschaft, S. 354.
61
staltet. Parallel zum Ersten Fünfjahrplan entwickelten sie sich zur leistungsbetonten Propaganda für Industrie und Technisierung.35 Für die öffentlichen Räume Moskaus bestimmend wurden vor allem der Generalplan von 1935 und der sozialistische Realismus in der Architektur und ihrer Abbildung. Sorgfältig inszenierte sozialistische Idealvorstellungen bestimmten die visuelle Kultur: die perfekten Körper der neuen Menschen an den Paraden, die Monumentalbauten, die neuen Stadträume, die Metro. Eine Verbindung zur ganzheitlichen Wahrnehmung stellte der Hang des Sozrealismus zur Intra-Ikonie dar: Zwischen dem Leben und seinem Abbild wurde nicht unterschieden, „l’image s’incarne”.36 Die sowjetische visuelle Kultur favorisierte mehrfache, sich überlagernde Inszenierungen in Planung und Propaganda, gebauter Architektur, dem Abbild davon und den hier stattfindenden Massenveranstaltungen. Entsprechend stand im Sozrealismus nicht das Original, sondern die Reproduktion im Mittelpunkt. Um eine Massenkultur zu schaffen, brauchte man die massenhafte Reproduktion, die Bilderfabrik, die Visuelle Kultur visuelle Muster verbreitete.37 Das konnten die millionenfach verwendeten Briefmarken sein, Fotografien oder Ölbilder als Kopien von eigens zur Vervielfältigung hergestellten Originalen. Die visuellen Mittel entsprachen letztlich denjenigen der amerikanischen Werbewelt, während die stalinistische Bilderfabrik eine alles beherrschende Massenkultur schuf, die auf die Produktion neuer Bilder und Vorstellungswelten gerichtet war. Dabei verdrängte die Malerei die Fotografie, da sie der Realität die Schärfe nehmen und sie besser idealisieren konnte. Ziel war nicht die Dokumentation, sondern ein überzeitlich-ewiger Anspruch, die Synthese von Abbild und symbolischer Überhöhung. Im Folgenden ist von diesem Prozess des Erschaffens neuer Bilder vor allem im Kapitel über die Ulica Gor’kogo und im Schlusskapitel die Rede.
Abb. 5 Stroitel’stvo Moskvy (1926) Nr. 12, (1927) Nr. 11, (1928) Nr. 10, (1929) Nr. 2, 4
35 Guski, Haumann: Revolution und Fotografie, S. 122–125. 36 Gervereau: Les images qui mentent, S. 151. 37 Ekaterina Degot: Zwischen Massenreproduktion und Einzigartigkeit: Offizielle und inoffizielle Kunst in der UdSSR. In: Berlin-Moskau, Moskau-Berlin 1950–2000. Hg. Von Pawel Choroschilow, Jürgen Harten, Joachim Sartorius, Peter-Klaus Schuster. Berlin 2003, S. 133–137, hier S. 135.
Abb. 6 Stroitel’stvo Moskvy (1929) Nr. 5, 8, 9, 11, (1930) Nr. 1, 5
63
Ein Beispiel: Die Zeitschrift „Stroitel’stvo Moskvy“ als Quelle Die Umschlaggestaltung der 1924 gegründeten und bis 1941 erscheinenden Zeitschrift „Stroitel’stvo i architektura Moskvy: Dvuchnedel’nyj architekturno-stroitel’nyj žurnal Moskovskogo Soveta R.K. i K.D.“ zeigt auf exemplarische Weise die Entwicklung der visuellen Kommunikation während der zwanziger und dreissiger Jahre. Die Zeitschrift wurde von Behörden mit wechselnden Namen herausgegeben: Die Ausgaben von 1926 bis 1931 tragen die Aufschrift izdatel’stvo mosoblispolkoma sovetov rabočich, krest’janich i krasnoarmejskich deputatov, Nr. 6 des Jahres 1931 Izdatel’stvo mosk oblastnogo ispolnitel’nogo komiteta sovetov R.K. i K. D. , ab Nr. 7 desselben Jahres Izdatel’stvo Mosoblispolkoma, Heft 1 des Jahres 1932 ebenfalls. Auf den Titelblättern aller Ausgaben stand bis Anfang der dreissiger Jahre der Satz: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ Die Hefte 5–9 des Jahres 1932 tragen keine Bezeichnung des Herausgebers, ab Heft 10 dann Izdanie Mossoveta. Bezeichnenderweise verschwindet auch der Aufruf an die Proletarier aller Länder, sich zu vereinigen, um allerdings ab Heft 1 des Jahres 1933 von Zeit zu Zeit wieder aufzutauchen. Die Auflagenhöhe betrug anfangs 15 000, 1927 10 000, sank 1928 auf 7500, um sich dann wieder zwischen 10 000 und 15 000 einzupendeln.38 Diese Veränderungen waren Ausdruck tief greifender Umwälzungen: Die Stadt Moskau wurde als Hauptstadt ökonomisch und politisch abgekoppelt und ihre Verwaltung umstrukturiert, während sich die Sowjetunion insgesamt nach aussen abschottete. Die Zeitschrift richtete sich an das Fachpublikum der Architekten und Stadtplaner. In den Artikeln wurden die Grundlagen der Neuplanung der Hauptstadt Moskau diskutiert und Beispiele von Städte- und Siedlungsbau aus dem Ausland vorgestellt. Es ging um Grundlagen und Ergebnisse der Wettbewerbe und die Architekten hatten Gelegenheit, ihre Projekte selbst zu kommentieren. Mit dem Erlass von 1931 und der Gleichschaltung von Literatur und bildenden Künsten 1931 ging auch der Beginn der Entwicklung des
38 Auflagenhöhen und weitere Informationen zur Architekturpresse dieser Zeit in: Architecture in Print. Design and Debate in the Soviet Union 1919–1935. (Ausstellungskatalog) New York 2005. Ich danke Isabel Haupt, Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich für den Hinweis.
Moskauer GenPlans einher, ebenso die Erhebung der Hauptstadt in einen generellen Ausnahmeund Modellstatus. Die Regeln der Bildproduktion wandelten sich auch auf den Titelblättern des Moskauer Baublattes: Mitte der zwanziger Jahre herrschte noch eine uniforme Aufmachung vor. Das Bild der 1918 errichteten Verfassungsstele auf dem Sovetplatz wurde jeweils ergänzt durch eine aktuelle Fotografie. 1928 kam Bewegung in die Gestaltung. Verschiedene konstruktivistische Grafiker wie Grigorij und Vladimir Stenberg (1930 Nr. 1, 11, 1931 Nr. 1), V. Elkin (1931 Nr. 7) und Gustav Klucis, El Lisickij (1929 Nr. 5), N. Prusakov (1929 Nr. 8), A. Karr (1929 Nr. 9, 1930 Nr. 5), N. Sedel’nikov (1929 Nr. 11) oder V. Lavrov und V. Popov (1931 Nr. 6) erhielten jeweils den Auftrag, den Umschlag zu gestalten. Zwischen 1929 und 1932 dominierten Gestaltungsprinzipien mit Montagetechniken. Manche Gestalter setzten die Plangrafik der Projekte in grafische Zeichen um. Die Titelblätter hatten eine narrative Struktur, sie erzählVisuelle Kultur ten von Planungsprozessen und von der Überlegenheit der Neubauten über die älteren Gebäude. Diagonalen brachten Dynamik in die Darstellungen.
Abb. 7 Stroitel’stvo Moskvy (1930) Nr. 11, (1931) Nr. 1, ?, 6, 7
Besonders spannend sind die Titelblätter des Jahres 1932. Die Gestalter waren nun Hans Leistikow (1932 Nr. 1, 4) und F. Millar (1932 Nr. 2, 3). Im April erliess das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei die „Verordnung über die künstlerischen Organisationen“ und erhob den sozialistischen Realismus zur Richtlinie. Die Ausgabe 8–9 erschien, erstarrt in einem Moment absoluter Ratlosigkeit. Die folgenden Ausgaben verfuhren in bewährter Manier. Nr. 7 und Nr. 10 wurden von V. Lavrov gestaltet. Aber die Diagonale hatte ausgedient, die Horizontale gewann an Gewicht. Die Papierqualität war jetzt auffallend schlecht. Die Umschlaggestaltung der Nr. 11–12 war dem 15. Jahrestag der Revolution gewidmet. Das Jahr 1933 brachte den Übergang zu einer einheitlichen formalen Gestaltung der Frontseite. Es gab keine individuellen Aufträge an Künstler mehr. Die Papierqualität blieb grobkörnig, die Gestaltung einfach. Die Farbe Rot spielte eine wichtige Rolle. Bei den Heften 9–12 schien ein
Gestaltungsraster gefunden. Doch 1934 veränderte sich das Erscheinungsbild mehrfach. Auffallend blieb die horizontale Ordnung mit einer quadratischen Illustration. Einen Einschnitt stellte der Wechsel zu schwarz-weissen Illustrationen im Zentrum des Titelblattes zwischen zwei Balken dar, während die Schrift rot blieb. Die Zeichnungen der Ausgaben 1934 Nr. 8 und 11 stammten von I. Rerberg. Mit der Darstellungsform wandelte sich auch die Formensprache der dargebotenen Prestigeobjekte hin zu einem pompösen, eklektizistischen Klassizismus. 1935 wurde die Papierqualität besser, die Drucktechnik aufwändiger und die Umschlaggestaltung farbig. Im Jahr 1936 erschienen auf dem Umschlag in sanften Tönen aquarellierte Visualisierungen von Metro-Entwürfen und anderen Grossprojekten wie Landkarten mit raumgreifenden
Abb. 10 Stroitel’stvo Moskvy (1933) Nr. 10–11, 12, (1934) Nr. 1, 3, 11, 12
Visuelle Kultur
Abb. 11 Stroitel’stvo Moskvy (1935) Nr. 7–8, (1936) Nr. 2, 7, (1937) Nr. 1, 4, 10
grossen technischen Systemen wie den Kanalbauten oder Aspekten des Moskauer Generalplans. Die Bilder hatten nun eine Legende, die in der Regel das Projekt und dessen Urheber benannten. 1937 kamen vermehrt Fotografien fertig gestellter Errungenschaften zum Einsatz, etwa eines Wohnhauses für Schriftsteller oder der Gor’kij-Park für Kultur und Erholung. Ab 1938 erschienen Stalinportraits auf dem Umschlagbild. Der Umschlag der Nr. 1 von 1939 ist ein Beispiel für eine Gestaltung, die den Prinzipien des politischen Plakates folgte. Vorne rechts steht Stalin und blickt in die Ferne, die Hand im Revers seiner Uniformjacke. Im Zentrum, dem Mittelgrund, steht auf einem Marmorsockel das Modell
67
Abb.12 Stroitel’stvo Moskvy (1939) Nr. 1
des Palastes der Sowjets. Der Sockel trägt in Stein gemeisselt die Inschrift: „Verfassung der Sowjetunion, Artikel 145: Hauptstadt der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken ist Moskau.“ Der klassizistische Ewigkeitsanspruch äussert sich in der trompe l’œuil-Malerei des Marmorsockels mit der Inschrift. Lenin ist in der Statue auf dem Dach des Palastes präsent und legitimiert Stalin als seinen Erben. Die Kreml-Türme im Hintergrund verkörpern das alte Moskau und das Zentrum religiöser wie profaner Macht. Davor steht das zentrale Symbol des Neuen Moskau. Im Hintergrund weht das
sowjetische Banner. Der sozialistische Realismus verpflichtete die Kunst, politische Aussagen leicht verständlich zu vermitteln. Diese Umschlaggestaltung ist ein Beispiel dafür, wie Botschaften zu diesem Zeitpunkt kommuniziert wurden. Die Zeitschrift erschliesst sich der Interpretation auf mehreren Ebenen: Einmal können die Beiträge zu Themen von Architektur, Gesellschaft und Stadtplanung auf ihren Inhalt hin unter verschiedenen architekturhistorischen oder gesellschaftsgeschichtlichen Fragestellungen analysiert werden. Die Themenschwerpunkte lassen sich seriell durch eine thematische Betrachtung der Umschläge erfassen. Auf den Umschlägen waren bis Mitte 1932 Objekte und Themen abgebildet, die, wie etwa der genossenschaftliche Wohnungsbau, allen Bürgern zugute kamen. Diese Projekte waren darüber hinaus in internationale städtebauliche und architektonische Kontexte und Diskussionen eingebettet. Dann wandte sich die Sowjetunion von der internationalen Szene ab. Ab 1932 dominierten auf den Titelblättern Monumentalbauten, Grossprojekte und repräsentative BauVisuelle Kultur ten, die unter dem Gesichtspunkt einer Alltagsnutzung jenseits ihrer Repräsentationsfunktion nur den neuen Eliten Wohnraum und Arbeitsplätze boten. Ausstellungen und Erholungsparks symbolisierten zwar Stalins „Fürsorge» für den Einzelnen, boten aber am Ende nur Fluchträume in Welten, die mit der Alltagsrealität wenig bis gar nichts zu tun hatten. Auf der visuellen Ebene lassen sich die Hefte ferner bezüglich ihrer formalen Gestaltung und der Art und Weise der Präsentation von Plänen, Modellen und Bildern analysieren. Die Projekte waren utopische Zukunftsentwürfe. Immer wieder taucht auf dem Umschlag der Palast der Sowjets auf, der das Zentrum des „Neuen Moskaus“ markieren sollte. Auch die Bildtechniken hatten eine Bedeutung. Skizzen und zeichnerische Visualisierungen spielten wegen ihrer besseren Manipulierbarkeit bei der Umschlaggestaltung eine viel wichtigere Rolle als Fotografien. Schliesslich wandelte sich die materielle Gestalt der Zeitschrift über die Jahre hin, was die Qualität von Papier und Druck betraf. Auch diese Schwankungen liessen sich auf ihre politischen und ökonomischen Ursachen hin untersuchen. Eine eingehende kulturwissenschaftliche Analyse der Umschläge dieser Zeitschrift ist eine Studie an sich Wert.
Sowjetische Bildwelten nach Stalin Die Entstalinisierung mit ihren Höhepunkten am XX. und XXII. Parteikongress 1956 und 1961 machte sich auch in der visuellen Kultur deutlich bemerkbar. So verschwanden die zahlreichen Stalin-Büsten aus dem öffentlichen Raum, und seine Portraits wurden aus den Mosaiken der Moskauer Metro entfernt. Diese erhielt nun auch den Namen Lenins statt den des Stalin-Jüngers Kaganovič. Ganz allgemein wurden die Leerstellen des Stalin-Kults durch einen Rückgriff auf die Väter der Revolution, Lenin und Marx, gefüllt. 1961 wurde der einbalsamierte Stalin aus dem Lenin-Mausoleum geholt und in einer Nacht- und Nebel-Aktion an der Kremlmauer beerdigt. In der sowjetischen Fotografie wichen inszenierte und offensichtlich retuschierte, ja übermalte Aufnahmen allmählich dynamischeren Rhythmen, überraschenden Blickwinkeln und angeschnittenen Motiven. Die Formensprache der zwanziger Jahre und berühmte Fotografen wie Rodčenko, zuvor als „formalistisch” geächtet, wurden wieder rezipiert. Das Tauwetter brachte einen neuen lyrischen Ton in die Fotografie. Fotos galten als „ehrlich“, und mit der „neuen Ehrlichkeit“ grenzte sich die Tauwetterkultur vom „Stalinkult” ab. Während das Ölbildnis das Medium der Selbstinszenierung Stalins gewesen war, setzte Chruščev die Unmittelbarkeit der
Fotografie ein, um sein Image als moderner, spontaner „Mann des Volkes” zu kultivieren. Die Fotografie blieb jedoch Gebrauchskunst. Dokumentarfotografie und Fotojournalismus blühten, doch das Kunstestablishment versagte der Fotografie die Anerkennung.39 Ende der fünfziger Jahre ist ein deutlicher Bruch in der visuellen Kultur der Sowjetunion erkennbar, der bislang nur wenig erforscht ist. Allgemein legte man Wert auf mehr Buntheit – dies geschah aus der Konkurrenzsituation des kalten Krieges heraus, der ganz wesentlich mit visuellen „Waffen“ und zwischen den Konsumgüterindustrien ausgetragen wurde.40 Die neuen Leitbilder der visuellen Kultur der Sowjetunion standen deutlich im Dialog mit westlichen Trends. Hintergrund waren der 1959 mit Chruščevs Reise in die USA und den wechselseitigen Leistungsschauen in New York und Moskau intensivierte Kulturaustausch. Die Sowjetunion begab sich auf das internationale Parkett und wollte sich nicht dem Spott aussetzen, unmodisch zu sein. Chruščev, dessen weite Leinenhosen in den USA Anlass zu spöttischen Kommentaren gegeben hatten, ergriff die Initiative und schickte eine Delegation ins Herz der westlichen Modewelt, zu Dior nach Paris. Allerdings erwies es sich als schwierig, die Bürokraten in der Hierarchie der sowjetischen Massenkonfektion zum Ändern der Schnittmuster zu bewegen.41 Private Schneiderinnen, die in Moskau westliche Vorbilder und in der Provinz wiederum die Moskauer Vorbilder kopierten, hatten Konjunktur. Sowjetische Frauen in Jaroslavl beobachteten aufmerksam die Moskauerinnen und versuchten, deren Stil nachzuahmen. Einzelstücke aus Kommissionsläden waren sorgsam gehegte Trophäen. Zeitzeuginnen können heute noch genaue Angaben zu den Kleidungsstücken machen, die sie auf Fotografien der siebziger und achtziger Jahre tragen.42 Hier kommen Fragen von Moden, Gegenmoden und Geschmack in den Blick, die bislang soziologisch innerhalb von Gesellschaften untersucht wurden, nicht aber zwischen „Blöcken“ mit rivalisierenden Wertordnungen und Modernisierungskonzepten.43 Internationale Ausstellungen wären die Katalysatoren für solche Prozesse des Vergleichs und der Angleichung. Bilder wurden zum wichtigen Faktor der Ost-West-Beziehungen, nicht zuletzt, weil ein direkter militärischer Konflikt als zu risikoreich angesehen wurde. Amerikanische Sicherheitsberater kamen auf den Gedanken, den „Kulturaustausch” über die modernen Kommunikationstechnologien als Mittel der Infiltration zu nutzen.44 Zu Beginn der sechziger Jahre hatten die Bilder die Vorstellungen von der amerikanischen Massenkultur bei der Bevölkerung der Sowjetunion auf breiter Basis zu beeinflussen begonnen. Der Lebensstil des American way of life erwies sich in der Nachkriegszeit als wirksamstes aussenpolitisches Kapital der USA. Die kulturelle Expansion ins Nachkriegseuropa sollte die Verbündeten und das besiegte Deutschland nach Westen hin orientieren. Sie geschah durch geschickte Vermarktung von eindeutig als 39 Susan E. Reid: Photography in the Thaw. In: The Art Journal. Sommer 1994, S. 33–39. 40 Walter L. Hixson: Parting the Curtain. Propaganda, Culture, and the Cold War, 1945–1961. Basingstoke usw. 1997, S. XII. 41 Larisa Zakharova, EHESS Paris, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps 76 (2004) S. 34–40 und „Soviet Fashion and the Transfers of Western Clothing Practices to the USSR under Khrushchev“. Vortrag gehalten am ICCEES-Kongress in Berlin vom 25.–30. Juli 2005. 42 Anna Tikhomirova, Universität Bielefeld: „On the Way to Distinction Through Fashion: Actual Practices of Clothing Consumption of Women in the Soviet Province (Yaroslavl), 1960s–1980s. Vortrag gehalten am ICCEES-Kongress in Berlin vom 25.–30. Juli 2005. 43 Georg Simmel: Zur Psychologie der Mode. Soziologische Studie. In: Ders.: Schriften zur Soziologie. Hg. von H-J. Dahme und O. Rammstedt. Frankfurt a. M. 1983. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 10. Aufl., Frankfurt a.M. 1998. Jukka Gronow: The Sociology of Taste. London usw. 1997. 44 Susan E. Reid: Cold war in the kitchen. Gender and the De-Stalinization of consumer taste in the Soviet Union under Khrushchev. In: Slavic Review 61, no.2 (summer 2002), S. 211–252, hier S. 222–224.
69
„amerikanisch” codierten Konsumgütern, auch Coca-Kolonisierung genannt. Amerika selbst wurde dadurch zum Symbol für Modernität und einen konsumorientierten Lebensstil. Der Aufstieg zur Grossmacht war begleitet von Bildern des Wohlstands und des technologischen Fortschritts.45 Eine Präsentationsfläche für diese Bilder brachten Ereignisse wie das Weltjugendfestival von 1957 in Moskau, dessen Symbol die von Picasso gezeichnete Friedenstaube wurde. Zuvor galten Haustiere und Tauben als bürgerlich und unnütz, doch für das Festival wurden auf Befehl Chruščevs Tauben im Moskauer Strassenbild angesiedelt. Aufnahmen in späteren Bildbänden über Moskau zeigen den Mossovet oder den Kreml hinter auffliegenden Taubenschwärmen, Moskau als friedliebende Hauptstadt des Kommunismus. Beispielsweise im Bildband „Moskva“ von 1963. Das letzte Foto zeigt festlich gekleidete Jugendliche im Morgengrauen auf dem roten Platz mit einem Taubenschwarm. Legende: „In hellen Juninächten kommt die Jugend zu den alten Kremlmauern. Die Moskauer Visuelle Kultur Abiturienten begrüssen als Erwachsene auf dem Roten Platz das Morgenrot ihres neuen Lebens, das ihnen soviel Schönes verheisst.“ Die Texte steuern die Bildwahrnehmungen. Dasselbe Foto beschliesst auch das Al’bom fotografij Moskva aus dem Jahr 1967. Hier lautet der Titel: „Der Frieden bedeutet Leben!“46 Dreissigtausend junge Leute aus der ganzen Welt kamen im August 1957 nach Moskau, aus westlichen Ländern waren sowohl kommunistisch gesinnte Jugendliche wie auch Neugierige dabei. Sie brachten ihre Musik, ihre Mode und Alltagsgegenstände mit. Der Einfluss dieses einen Anlasses als „Wendepunkt der sowjetischen Kulturgeschichte” ist unbestritten, sollte andererseits aber nicht verdecken, dass die vielfach zum „Beweis“ angeführte jugendliche Gegenkultur der stiljagi eine bereits früher existierende Nachkriegserscheinung war, die nach dem Festival von westlichen Beobachtern fälschlich als Folge dieses Ereignisses interpretiert wurde. 47 Seit der Auslandserfahrung sowjetischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg lief ein vielschichtiger Prozess ab, in dem die sowjetischen Bürger mit Bruchstücken und Bildern der westlichen Massenkultur, auch mit Schallplatten, Literatur, Modejournalen und Kriegstrophäen in Berührung kamen. Dabei sollte davon ausgegangen werden, dass Vorbilder auch, aber nicht ausschliesslich übernommen wurden, sondern dass sich in der Chrušcev-Zeit eine eigenständige sowjetische Konsumkultur entwickelte, die eigene kulturelle Codes und Moden hervorbrachte. Die Analyse der sowjetischen visuellen Kultur kann weitere Aufschlüsse über diese Vorgänge geben. Besonders bildintensiv war die „Amerikanische Ausstellung”, die 1959 im Moskauer Sokolniki-Park stattfand. Die Sowjetunion hatte im Zuge des Kulturaustauschs im Juni und Juli 1959 in New York ihre Errungenschaften ausgestellt und das Schwergewicht dabei auf Wissenschaft und Technik gelegt. Die Ausstellungsmacher schöpften den Flugerfolg des Sputniks von 1957 in
45 Hixson: Parting the curtain, S. XI. 46 Moskva. Hg. von Evgenij Gannuškin, Moskau 1963. Al’bom fotografij Moskva. Moskau 1967, Abb. 302. Im Bildband „Moscow in Photographies“ des Moskauer Hauses der Fotografie erscheint die Aufnahme von Vladimir Lagrange aus dem Jahr 1962 mit der Legende: „Absolventen der Moskauer Schulen auf dem Roten Platz“. Moscow in Photographies/ Moskva v fotografijach/Moskau in Photographie. Hg. vom Moskovskij Dom Fotografii. Moskau o.J. (2000), S. 29. 47 So in Hixson: Parting the curtain, S. 159. Vgl. auch Stites: Russian popular culture. Weiteres zum Thema jugendlicher Gegenmoden im Kapitel über die Gor’kijstrasse. Zur Bedeutung des Festivals als „Wendepunkt“ der sowjetischen Nachkriegsgeschichte, die das Ende des autarken sowjetischen kulturellen Systems durch die Öffnung nach aussen bedeutete, vgl. Vladimir Bukovsky: To Build a Castle. My Life as a Dissenter. New York 1978, S. 139 sowie Kristin Roth-Ey: „Loose Girls“ on the Loose? Sex, Propaganda and the 1957 Youth Festival. In: Women in the Khrushchev Era. Hg. von Melanie Ilič, Susan E. Reid und Lynne Attwood. Basingstoke 2004, S. 75–95, hier v.a. S. 75 und Anm. 1.
seinem Propagandawert voll aus. Unter dem Gewölbe des New Yorker Coliseums hingen verschiedene Modell-Satelliten, die ihre Wirkung auf das Publikum nicht verfehlten.48 Die Amerikanische Ausstellung in Moskau öffnete ihre Tore am 24. Juli. Sechs Wochen lang wurden hier amerikanische Einbauküchen und Automobile ausgestellt, Modeschauen vorgeführt, Pepsi-Cola ausgeschenkt und – Bilder aus den USA gezeigt. In einer von Buckminster Fuller gestalteten geodesischen Kuppel lief der Film „Glimpses of the U.S.A.”, den die Gestalter Charles und Ray Eames für diesen Anlass produziert hatten. Die zehnminütige Schau hatte „einen Tag im Leben der USA” zum Thema und sollte alle Sinne ansprechen. Auf sieben neben- und übereinander angeordneten grossen Leinwänden liefen als multiple Projektion parallel insgesamt 2200 stills und bewegte Bilder, die den amerikanischen Alltag in seiner Komplexität und Diversität visuell darstellten. Sie zeigten Amerikaner bei der Arbeit, wie sie einkaufen, wohnen und essen, den Strassenverkehr und die Highways, industrielle Prozesse und einen Ausschnitt aus Billy Wilders Film „Some like it hot” – eine konsequent positive Darstellung der an der white middle class orientierten Grundwerte der amerikanischen Nachkriegszeit, egalitär und konsumorientiert. Der Abschluss der Projektion zeigte Bilder von Abschiedsszenen und Gute-Nacht-Ritualen, Symbole der Trennung. Das allerletzte Bild zeigte einen Strauss Vergissmeinnicht. Wie sich an der Reaktionen des Publikums erkennen liess, bedeutete diese Blume auch für die Russen ein Symbol der Freundschaft und Loyalität. Unter der Installation stand ein IBM-RAMAC-Computer, der Fragen über die USA beantwortete.49 Eine weitere Bilderschau an der Amerikanischen Ausstellung war „The Family of Man” des Fotografen Edward Steichen, erstmals gezeigt im MOMA 1955, die in den folgenden Jahren um die ganze Welt ging.50 Steichen hatte 503 Bilder aus 68 Ländern zusammengetragen. Die Ausstellung knüpfte ideell an eine frühere Serie an: Die Agentur „Magnum“ hatte 1948 unter dem Motto „People are People the World Over“ eine Reihe von Foto-Essays über ländliche Familien in der ganzen Welt publiziert.51 Sie verkörperte „das Ideal einer wahrheitsgetreuen Bildreportage, welche das Vertrauen in eine globale Solidarität der ‚Menschheit‘ beschwor, indem sie überall auf der Welt einen ähnlichen Blick auf die Menschen richtete.”52 Steichen ordnete die Fotos nach „universellen“ Themen wie Geburt, Arbeit und Liebe, „befreite“ sie von ihren ursprünglichen Titeln und liess sie einheitlich zuschneiden, in ihren Tonwerten angleichen und auf Poster-Grösse abziehen.53 Die Ausstellung begann mit dem Ausblenden kultureller Differenzen zugunsten der „Gleichheit aller Menschen“ und endete mit dem farbigen, hinterleuchteten Grossbild der Explosion einer Wasserstoffbombe, der Vollversammlung der Vereinten Nationen und Bildern von spielenden Kindern.54 Fotografie wurde als Medium der Entspannung im „Kalten Krieg“ instrumentalisiert. In Moskau transportierte sie die Botschaft von den friedliebenden USA. Dass sie auch den Sehgewohnheiten der sozrealistisch sozialisierten Moskauer entsprach, zeigt der Zustrom von Besuchern. Evgenij Evtušenko meinte in einem Interview, sie hätten die „physische Verbindung zum Rest der Welt” darin gesucht.55
48 Hixson: Parting the curtain, S. 170. 49 John Neuhart, Marilyn Neuhart, Ray Eames: Eames Design. The Work of Charles and Ray Eames. New York 1989, S. 239– 241; The Work of Charles and Ray Eames: A Legacy of Invention. Hg. von Donald Albrecht. New York 1998, S. 32. 50 Mary Warner Marien: Photography. A Cultural History. London 2002, S. 312. 51 Warner Marien: Photography, S. 312. 52 Belting: Bild-Anthropologie, S. 228. 53 Warner Marien: Photography, S. 312. 54 Warner Marien: Photography, S. 313. 55 Interview mit Evgenij Evtušenko, www.gwu.edu/~nsarchiv/coldwar/interview/episode–14/yevtushenko1.html (zuletzt eingesehen am 20.12. 2004)
71
Die sowjetische visuelle Kultur der sechziger Jahre war vom Weltraum, Sputnik, Technik- und Wissenschaftskult geprägt. Im Rahmen des Sieben-Jahr-Plans von 1959–1965 wurde eine intensive Bildpropaganda betrieben. Die ökonomischen, wissenschaftlichen – die Raumfahrt – und sozialen Fortschritte wurden seit 1961 von jährlichen Fotoausstellungen dokumentiert.56 Der im Rahmen des Kapitels über den Arbat näher beleuchtete Kalinin-Prospekt, mitten im altehrwürdigen Stadtviertel gelegen, drückte all dies in seiner Formensprache aus, in seiner vertikalen Architektur, seiner Materialität, der Beleuchtung und nicht zuletzt in den Schaufensterdekorationen und dem Design der neuen Automodelle, denen Flügel wuchsen. Weitere bedeutende Eingriffe im Zentrum waren der ebenfalls ganz modern gehaltene Kreml-Palast und das RGW-Gebäude (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, COMECON), beide in den sechziger Jahren errichtet, sowie das Anfangs der siebziger Jahre erbaute Inturist-Hotel an der Ulica Gor‘kogo. Sie alle markierten einerseits Selbstbewusstsein, andererseits aber auch den architektonischen Anschluss an die internationale Nachkriegsmoderne. Visuelle Kultur Im Kapitel über das Experimentalviertel Novye Čeremuški No 9, dass als Beweis des neuen Wohlstands und eines neuen Gesellschaftsvertrags galt, wird besonders auf visuelle Aspekte des „Tauwetters” eingegangen. Als Gegentendenz zur Familienwohnung wurden spartanische Interieurs und eine Neuauflage der Kommunehäuser propagiert. Die vorliegende Arbeit versucht, diese Entwicklungen in der visuellen Kultur in ihrer Relevanz für die Frage nach dem Wandel der öffentlichen Räume zu fassen und den Beziehungen von Ort, Raum und Bild nachzuspüren. Ein weiteres Ziel ist aber auch, Grundlagen für einen reflektierten Umgang mit dem Phänomen des sozialistischen Realismus und vor allem der Kunst der Stalinzeit anzubieten. Der Trend hin zum Retroschick macht mittlerweile auch vor Stalinplakaten nicht Halt, ohne zu bedenken, dass die Kunst ein Teil des Systems war, das sie repräsentieren sollte, also auch ein Teil der Gewalt. Die Hypothese lautet hier, dass die Kunst des Stalinismus keineswegs ein „Gesamtkunstwerk“ war. Betrachtet man die stalinistische Kultur im Rahmen des eingangs vorgestellten relationalen Raumkonzeptes, kommt hier die These zum Tragen, dass das Alltagswissen um Raum einen einheitlichen, monolithischen Raum annahm. Deshalb synthetisierten die Menschen Räume aus Fragmenten. Im Falle des Sozrealismus führte eine Zusammensetzung mehrerer Elemente – Gemälde, Reliefs, Monumente, Ausstellungen, Parks, Gebäude – zu einem ganzheitlichen Raum, der aufgrund der Ästhetik seiner Teile idealen Charakter hatte. Dieser ideale Raum des angeblichen Sozialismus war allerdings ebenso diskursiv erzeugt wie imaginär, er war das Ergebnis einer Kulturpolitik und der Syntheseleistung aller Beteiligten, die unter hohen Kosten alles nicht Perfekte ausblenden mussten, um die beabsichtigte Wirkung des Sozrealismus zu erzielen. Auf die „Inseln des Sozialismus“ geht das Kapitel „Räume“ näher ein. In dieser Hinsicht besonders ergiebig ist das Studium der zentralen Gor’kijstrasse, die bis 1933 und nach 1991 Ulica Tverskaja hiess.
56 Reid: Photography in the Thaw, S. 35, 38.
73
Die Gor’kijstrasse
Von der Tverskaja Ulica zur Ulica Gor’kogo: Eine Ikone des „Neuen Moskau“ Die Tverskaja war die Strasse, die von St. Petersburg ins Zentrum von Moskau führte. Ihren Namen hatte sie von der im Norden Moskaus gelegenen Stadt Tver’. Mit ihrer Verlängerung, der Peterburgskoje Šosse war sie auch auf symbolischer Ebene die bedeutendste Strassenverbindung des Landes. Die Strasse wurde zwischen 1817 und 1834 als Verbindungsachse ausgebaut, und zwar nach einem planerischen Gesamtkonzept, das auch die Herbergen und Poststationen entlang der Kommunikationsachse umfasste. Diese Achse war die erste Chaussee, die erste ausgebaute Verbindungsstrasse Russlands. Seit der Gründung St. Petersburgs durch Peter den Grossen 1703 am Rand des Reiches stand Moskau für die Mitte, das Herz, das wahre, alte Russland. Petersburg war modern, aufgeklärt und nach Westen orientiert. Dieser Gegensatz dauerte, mythisch überhöht, auch im 20. Jahrhundert an. Die zwei Hauptstädte wurden als zwei kontrastierende Repräsentationen der russischen „Mentalität“ interpretiert, als Rivalität und Dialog zugleich. Die Dichotomien gruppieren sich um die Gegensatzpaare Vergangenheit-Zukunft, Russland-Europa, Ost-West. Moskau ist weiblich, Petersburg männlich (Gogol’); Moskau ist russisch, Petersburg europäisch; Moskau ist Ausdruck einer textbasierten – der Text bestimmt, was gilt –, Petersburg einer grammatikbasierten Kultur, in der Regeln bestimmen, was richtig oder falsch ist; in Petersburg regiert Spiritualität, in Moskau Merkantilität. Der unterschiedliche städtebauliche Charakter ist tatsächlich ein Kontrast – Ordnung, Randbebauung, repräsentative Prachtbauten, breite Achsen und Plätze in St. Petersburg, „Höfe“ als Prinzip und damit der Charakter eines „grossen Dorfes“ in Moskau. Moskau blieb religiöses Zentrum der Orthodoxie, im Moskauer Stadtbild traten die Kirchen stark in Erscheinung. In Petersburg dominierte die Repräsentation weltlicher Macht. Die Strasse zwischen beiden Städten war die Verbindung zwischen Herz und Kopf. Deshalb sollte gerade die Tverskaja helfen, durch ihren Charakter den Hauptstadtstatus Moskaus gegenüber Petersburg zu unterstreichen. Die Fallstudie zur Tverskaja, der späteren Gor’kijstrasse, teilt sich in drei Abschnitte: Zuerst in einen chronologischen Abriss über den Wandel der Strasse mit stärker thematisch gewichteten Abschnitten. Das Interesse gilt dabei einerseits der baulichen Umgestaltung und den damit verknüpften Diskursen wie auch den Erfahrungen und Nutzungen der Strasse. Anschliessend folgt im zweiten Teil die Frage nach Bedeutungen und Punkten verdichteter Kommunikation, von Kommunikationsräumen sowie deren Regeln und Reichweiten. Schliesslich folgt eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse des Kapitels. Die Tverskaja Ulica gehörte mit zum Entwicklungsgebiet der russischen Gründerzeit seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rund um Kitajgorod, wo Banken, Bürogebäude und grosse
Tver’ wurde 1931 in Kaliningrad umbenannt, erhielt aber 1990 den alten Namen zurück. Auf die Stalinzeit bezogene, frühere Versionen dieses Kapitels erschienen in zwei Sammelbänden: Stadtplanung, Kommunikation und Inszenierung von Macht. Die Ulica Gor’kogo zwischen 1928 und 1953. In: Stalinistische Subjekte; Stalinist Subjets; Sujets staliniens: Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern, 1929–1953. Hg. von Heiko Haumann und Brigitte Studer. Zürich 2005, sowie: The Moscow Gorky Street in late Stalinism: Space, History and Lebenswelten. In: Late Stalinism, Society between Reconstruction and Reinvention. Hg. von Juliane Fuerst. London usw. (erscheint 2006). Zum Verhältnis zwischen Petersburg und Moskau zuletzt: Aleksander Shevyrev: „The Axis Petersburg-Moscow. Outward and Inward Russian Capitals.” In: Journal of Urban History vol. 30 (2003) Nr. 1, S. 70–84; Markus Wehner: Hauptstadt des Geistes, Hauptstadt der Macht. Leningrad/St. Petersburg und Moskau: Die Konfrontation im zwanzigsten Jahrhundert. In: St. Petersburg – Leningrad – St. Petersburg. Eine Stadt im Spiegel der Zeit. Hg. von Creuzberger u.a., Stuttgart 2000, S. 19–36, S. 220–234; Ol’ga I. Vendina: Moskau und Petersburg. Städtemythen als Spiegelung ihrer Rivalität. In: Osteuropa 50 (2000) Nr. 12, S. 1299–1315; zur Chaussee spezifisch in diesem Zusammenhang Janina Urussowa: Die Achse Petersburg-Moskau. In: Zeitschrift für Semiotik 19 (1997) Nr. 1–2, S. 95–115.
75
steinerne Mietshäuser entstanden. Ende der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts erwarb der Petersburger Millionär Eliseev, Kolonialwaren- und Weinhändler, das Palais an der Tverskaja Nr. 14 und liess es unter grossem Aufwand zu einem „heidnischen Bacchustempel” umbauen. Das „Kolonialwarenhaus Jelissejews und Weinkeller mit russischen und ausländischen Spezialitäten” an der Tverskaja wurde zur ersten Adresse Moskaus in Sachen Delikatessen. In den Schaufenstern türmten sich bislang unbekannte „überseeische Früchte; wie ein Haufen Kanonenkugeln ragte eine Pyramide Kokosnüsse empor, jede von der Grösse eines Kinderkopfes; Bananen hingen in riesigen, pudschweren Bündeln; perlmuttfarben schimmerten die bunten Bewohner des Meeresgrundes, die Bewohner unbekannter Ozeantiefen, und über alldem strahlten elektrische Sterne auf ganze Batterien von Weinflaschen herab, sie leuchteten und verschwammen in den tiefen Spiegeln, die sich in schwindelnder Höhe verloren.” Die in dem neuen Medium der Schaufenster ausgestellten Waren bedeuteten für die Stadtbewohner ein neues symbolisches Kapital: Sie schufen in ihren Arrangements und mit der Bildwerbung den imaginären Raum eines modernen, städtischen Lebensstils. Die Bürger konstruierten sich hier ihre schicht- und geschlechtsspezifischen Identitäten. Zugleich boten die Warenhäuser den weniger Begüterten Leitbilder für Die Gor’kijstrasse Aufstiegsphantasien und Konsumwünsche. Die exotischen Früchte und Kolonialwaren brachten den Duft der grossen weiten Welt nach Moskau und versprachen den Kunden Teilhabe an den neuen städtischen Lebensweisen und am Reichtum ihrer Warenwelt. Der Bühnen-Charakter mit Kostümen, Verfremdungseffekt und urbanem Lebensstil war vielen der üppig nach bestimmten „Themen” dekorierten Geschäften der Gründerzeit zu eigen. Beispiele dafür sind der heute noch existierende Teeladen der Perlovs an der Mjasnickaja im „chinesischen Stil“ mit Pagondendächern oder das nach Motiven aus den Erzählungen Sheherazades dekorierte Süsswarengeschäft an der Arbatstrasse. Der Bäckerladen „Filippov“ an der Tverskaja Nr. 36 (später Ulica Gor’kogo Nr. 10) war bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Institution. Die Brote und Wecken Filippovs wurden täglich an den Zarenhof nach Petersburg geschickt. „Zwar versuchte man am Ort zu backen, doch es gelang nicht, und der alte Filippow bewies, dass in Petersburg die Kalatschen und Wecken auch gar nicht geraten könnten. ‚Warum denn?’ ‚Ganz einfach! Das Newawasser taugt nichts!’” Ende des neunzehnten Jahrhunderts erbaute sein Sohn anstelle des zweistöckigen Gebäudes das grosse Haus, das bis heute dort steht, und „richtete es nach ausländischer Manier ein, indem er das einst so berühmte ‚Filippowsche Café’ mit Spiegelglasfenstern, Marmortischen und Kellnern in Smokings ausstattete.” In Erinnerung ist das „Filippov“ bis heute als die beste Bäckerei Moskaus, die während der Sowjetzeit unter dem Namen Buločnaja Nr. 1 die Wecken weiterhin verkaufte. Inzwischen hat sie das Schicksal des 21. Jahrhunderts ereilt: eine Kaffeehaus-Kette führt hier eine Filiale und verkauft pro forma ein paar Brötchen nebenher. Die Tverskaja war nicht nur die bedeutendste Geschäftsstrasse Moskaus, hier standen auch Gebäude mit zentralen gesellschaftlichen oder Macht-Funktionen, also mit symbolischem Gehalt Pud: Altes russisches Handelsgewicht, 40 Pfund oder 16,38 Kg. Wladimir Giljarowski: Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen. Sittenbilder aus dem alten Moskau. Berlin 1988 (Moskva i moskviči, 1934), S. 262–263. Steve Smith, Catriona Kelly: Commercial Culture and Consumerism. In: Constructing Russian Culture in the Age of Revolution: 1881–1940. Hg. von Catriona Kelly und David Shepherd. Oxford UP 1998, S. 106–113, hier S. 109. Giljarowski, S. 180. Giljarowski, S. 188.
auf einer anderen Ebene als derjenigen von gesellschaftlicher Teilhabe durch Konsummöglichkeiten. In der Tverskaja 13 befand sich das Palais des General-Gouverneurs, und seit 1917 regierte der Arbeitersowjet von hier aus. Die Tverskaja schrieb auch Geschichte in Bezug auf die Umverteilung des knapp bemessenen Wohnraums. Im Haus Nr. 12 entstand 1919 die erste „Kommune”. 2000 Moskauer bezogen damals das 1901–1902 erbaute Gebäude. Es gab Einzel- und Familienzimmer, Gemeinschaftsküchen, einen Speisesaal, eine Kinderkrippe und eine Wäscherei. Im Haus Nr. 21 der alten Tverskaja befand sich der Englische Club, die Umgebung der Helden in Tolstois Roman „Anna Karenina”.10 Später wurde hier das Museum der Revolution eingerichtet.
Öffentlicher Raum als Raum für Machtrepräsentationen nach 1917 Schon bald nach der Revolution von 1917 wird erkennbar, dass den Machthabern die Bedeutung bewusst war, die der öffentliche Raum als Repräsentationsraum für sie hatte. Er war ein Bereich, in dem sie sich darstellen und mit dem Volk kommunizieren konnten. Sie begannen, ihn zu ‚bespielen’. Denkmalsturz und Denkmalerrichtung waren die ersten Instrumente, 11 Massenspektakel sowie ein neuer Festkalender mit Aufmärschen und Paraden folgten.12 Eine wichtige Rolle auf der Bedeutungsebene spielten Umbenennungen, die sich bis in die neueste Zeit fortsetzen. Sie zielten darauf, neue symbolische Räume zu schaffen, vermochten jedoch die mit den Orten verknüpften Erinnerungen nicht immer zu tilgen. Bauliche Eingriffe und die gestalterische Formulierung städtischen Raums waren eine weitere Möglichkeit der Machtentfaltung. Neue Wortschöpfungen, novojaz genannt, und die Orthographiereform kennzeichneten die Losungen, die auf roten Bannern an den Fassaden hingen.13 Die alltäglichen Oberflächen des Stadtraumes wurden somit ideologisch aufgeladen. Die festliche Atmosphäre an den Feiertagen muss man vor dem Kontrast des Alltags in der Zeit nach der Revolution und vor allem während des Bürgerkrieges sehen. Ein Zeitzeuge beschrieb die Stimmung in Moskau: „Die Plätze vor den Bahnöfen waren schwarz von Menschen, 1 Timothy Colton: Moscow. Governing the Socialist Metropolis. Cambridge, Mass. 1995, S. 46, 71, 96. 1 Colton: Moscow, S. 121 10 Karl Schlögel: Moskau lesen. Die Stadt als Buch. Berlin 2000, S. 309. 11 Bildersturm in Osteuropa. Die Denkmäler der kommunistischen Ära im Umbruch, München 1994 (ICOMOS). Cahiers du Comité National Allemand XIII), S. 29–33, hier S. 31; Dario Gamboni: The Destruction of Art. Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution. London 1997 (Picturing History); Christopher A. Binns: The Changing Face of Power: Revolution and Accommodation in the Development of the Soviet Ceremonial System. In: Man. The Journal of the Royal Anthropological Institute, New Series (1979) Nr. 14, S. 585–606 und (1980) Nr. 1; Symbols of Power. The Aesthetics of Political Legitimation in the Soviet Union and Eastern Europe. Hg. von Claes Arvidsson und L. E. Blomquist. Stockholm 1987; Evgenij A. Dobrenko: Metafora vlasti literatura stalinskoj epochi v istoričeskom osveščenii, München 1993 (Slavistische Beiträge 302); Richard Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Princeton/N.J. 1995; Sabine R. Arnold: Die Dankbarkeit der Heldenmasse. Jubiläumsfeiern in Volgograd. In: Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht. Hg. von Sabine R. Arnold, Christian Fuhrmeister und Dietmar Schiller. Wien 1997, S. 95–107. 12 James Von Geldern: Festivals of the Revolution, 1917–1920, Berkeley/Cal. 1993, S. 198, berichtet vom Eindruck, den die fünfstündige Demonstration zum Ende der Internationalen von 1920 in Moskau auf dem Roten Platz auf die ausländischen Teilnehmer gemacht hat. Abbildungen und Quellentexte auch von der Tverskaja und dem hier gelegenen Sowjetplatz in: Street Art of the Revolution. Festivals and Celebrations in Russia 1918–1933. Hg. von Vladimir Tolstoy, Irina Bibikova und Catherine Cooke. London 1990 13 Dazu Daniel Weiss: Prolegomena zur Geschichte der verbalen Propaganda in der Sowjetunion, in: Slavistische Beiträge 332 (1994), S.343–391, hier S. 346 und 384.
77
die in urzeitlichen Nomadenlagern tage- und nächtelang auf den Abgang eines Zuges warteten. Ab und zu schleppten sich durch die verwahrlosten, zertrümmerten Strassen Züge von Bauernwagen, mit kleinen, mageren Pferden bespannt. Während der Nacht aber brannten die holzgebauten Vorstädte der verwüsteten Stadt nieder. (…) Ich erinnere mich, wie wir einmal in der Nacht vom Arbat nach der Twerer Strasse zurückkehrten. Vielleicht schien der Weg schon deshalb unheimlicher als sonst, weil das Mondlicht gar so gespenstisch und leichenblass war. Im Gehen schauten wir uns um, ob nicht irgendwo hinter einer Ecke ein Tschekascherge oder auch nur ein betrunkener Strolch mit einem Revolver in der Tasche lauerte. Plötzlich liess sich hinter uns das Knarren von Kufen vernehmen. Unwillkürlich blieben wir stehen, um den Schlitten vorbeizulassen. Als er uns mit seiner aufgetürmten Last überholte, sahen wir mit Entsetzen, dass unter der bedeckenden Plane blosse menschliche Beine hervorragten… In den Jahren des Kriegskommunismus fehlte es in Moskau an allem. Die Menschen verhungerten zu Tausenden, starben an Typhus und ‚spanischer Grippe’. Die um Särge anstehenden Schlangen waren ebenso lang, wie die auf Brot wartenden.“14 Die Szenerie war gespenstisch: „In ganz Moskau sind alle Läden bis auf einige Lebensmittelläden geschlossen. Die Strassenbahn funktioniert nicht. Die StrasDie Gor’kijstrasse sen werden nicht von Dreck und Schnee gereinigt. Die öffentlichen Toiletten sind verschmutzt und zugenagelt; deswegen sind alle Plätze, Gärten, Tore und Höfe mit Abfällen und Mist verdreckt. Auf den Strassen hinter dem Gartenring liegen Pferde- und Hundekadaver. Die Bürgersteige stehen unter Wasser, das in der Nacht einfriert. (…) Man trifft auf Verhungernde und Irre. Auf der Twerskaja Strasse, in der Tschernyschow Gasse sind wir auf eine Kinderleiche gestossen, die von Raben zerfetzt worden war.“15 Eine der ersten Massnahmen im öffentlichen Raum war der 1918 von Lenin initiierte Plan der „monumentalen Propaganda”.16 Die neuen Machthaber wollten ihre eigenen Helden errichten und somit Herrschaft über Raum und Zeit beanspruchen. Ein Beispiel dafür an der Tverskaja ist die Verfassungs-Stele auf dem gegenüber dem ehemaligen Gouverneurssitz und nun dem Mossovet gelegenen Sovetplatz. In grösster Eile sollten zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution Skulpturen entstehen, die neue Helden darstellten und neue Symbole schufen. Dabei gab es verschiedene Probleme: Die Bildhauerei hatte in Russland keine grosse Tradition, da der Adel eher Tafelbilder in Auftrag gegeben hatte. Ausserdem musste eine Liste erwünschter bekannter und weniger bekannter Heldenpersönlichkeiten erstellt werden. Diese Liste war unter den bol’ševiki nicht unumstritten. Der Kulturminister Lunačarskij entwarf schliesslich dennoch ein beispielhaftes breites, demokratisches Verfahren für die Entwürfe, die in Gips und Lehm errichtet und dem Volk zur Begutachtung und Abstimmung überantwortet wurden. Der Wettbewerb begann im Frühjahr 1918; bis die Skulpturen standen, war es September. Der deutsche Kommunist Alfred Kurella wurde Augenzeuge der monumentalen Propaganda und berichtete: „Im Stadtkern und in einigen Arbeitervierteln standen ganz frisch errichtete, meist aus Gips hergestellte Denkmäler berühmter Männer der Weltkultur und der russischen Vergangenheit, 14 Fedor Stepun: Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution. Aus meinem Leben 1884–1922. München 1961, S. 375. Fedor Stepun (1884–1965) war Kulturphilosoph und Schriftsteller. Er nahm an der Februarrevolution teil und emigrierte 1922 nach Deutschland, 1926 wurde er Soziologieprofessor in Dresden. Er starb 1965 in München. 15 Otečestvennye vedomosti, 15.5.1919. Zit. nach Janina Urussowa: Das Neue Moskau. Die Stadt der Sowjets im Film 1917–1941. Köln usw. 2004, S. 27. 16 John E. Bowlt: Russian Sculpture and Lenin‘s Plan of Monumental Propaganda. In: Art and Architecture in the Service of Politics. Hg. von Henry A. Milton und Linda Nochlin. Cambridge, Mass. 1978, S. 182–192.
die sich um den Fortschritt verdient gemacht hatten. Viele Häuser trugen ebenfalls vor kurzem entstandene, in Kopfhöhe in die Strassenwand eingelassene Reliefs, die entweder in grossen Buchstaben Grundideen des Sozialismus propagierten oder Szenen aus dem Befreiungskampf darstellten. Alle diese Denkmäler und Reliefs hoben sich stark vom Strassenbild ab und wurden dadurch besonders wirksam. Ich erfuhr, dass auch diese ‚Monumental-Propaganda’, wie man damals sagte, auf eine Anregung Lenins zurückging. Hier war der erste Versuch gemacht, die Künstler für eine unmittelbare Mitarbeit an der Verbreitung der sozialistischen Weltanschauung zu gewinnen.”17 Allerdings waren die Gebilde nicht wetterfest und litten unter dem nassen Herbstwetter. Ihrer oft mangelhaften künstlerischen Qualität wegen stiessen sie auf wenig Gefallen und wurden teilweise durch Vandalenakte verunstaltet oder zerstört.18 Bis zur ersten Revolutionsfeier sollte mindestens auf dem Sovetplatz ein richtiges neues Denkmal stehen. Vor der Revolution befand sich hier ein Denkmal zu Ehren des Helden des RussischTürkischen Krieges von 1877–1878, General Michail D. Skobelev. 1918 wurde in einer Unterredung mit Lenin persönlich aus verschiedenen Entwürfen für ein sowjetisches Monument an diesem Ort derjenige ausgesucht, der sich am ehesten in Grundzügen bis zur Revolutionsfeier realisieren liesse. Die Stele mit den Verfassungstafeln und der geflügelten Freiheitsstatue war dann aber zum Zeitpunkt der feierlichen Einweihung noch teilweise aus übermaltem Sperrholz. Die Bronzeplatten mit dem Verfassungstext wurden aus dem Metall des eingeschmolzenen Denkmals von Alexander III. gegossen.19 Die monumentale Propaganda war eng mit dem neuen Festkalender der bol’ševistischen Feiertage verknüpft. An der Maifeier 1918 war der damals noch Skobelev-Platz genannte Platz vor dem Mossovet ein zentraler Ort für Treffen und Festredner. Eine Gruppe von Künstlern hatte den Platz einheitlich geschmückt. Lastwagen mit verkleideten Menschen, die „lebende Bilder“ darstellten, zogen vorbei und sangen die Internationale, die Marseillaise und andere revolutionäre Lieder.20 Eindrückliche Aufnahmen vom ersten Jahrestag der Oktoberrevolution zeigen die noch nicht ganz vollendete, aber bereits eingeweihte Verfassungsstele vor dem Mossovet, geschmückt mit Girlanden aus Zweigen. Bei dieser Gelegenheit wurde der Platz in Sovetplatz umbenannt.21 Die Tverskaja war am 9. November 1918 von der Strast’naja Ploščad’ bis zum Ochotnyj Rjad mit rotem Stoff, Girlanden aus gründen Zweigen und Bannern mit Slogans geschmückt. In der ehemaligen Bäckerei Filippovs war eine Ausstellung über das erste Jahr der „Diktatur des Proletariats“ zu sehen.22 Besonderen Anklang fand die sehr farbige Bemalung des „hässlichen Zauns“ oberhalb des Hotels National. Besonders gut gelungen seien die Szene mit einer Gruppe Männer mit erhobenen Waffen und das Hauptstück, das die Geburt einer neuen Welt aus dem Chaos darstellte.23 Immer wieder erwähnt wurde die expressive Farbigkeit der Poster und Dekorationen.
17 Alfred Kurella: Unterwegs zu Lenin. Erinnerungen. Berlin (Ost) 1967. Zitiert nach: Reise nach Moskau. Aufzeichnungen und Berichte, 1526–1972. Hg. von Klaus Kuntze. Frankfurt/M. usw. 1980, S. 276–277. 18 Bowlt: Russian Sculpture. 19 Architektura SSSR (1937) Nr. 10, S. 69. Die Freiheitsstatue war von N. A. Andreev, die Bronzetafeln mit den Verfassungstexten (zunächst auf Spanplatten) stellte Lavrov her. Zur Geschichte der Denkmäler auf dem Sovetplatz vgl. auch Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1963) Nr. 4, S. 22–24. 20 Bericht in der Izvestija vom 3. Mai 1918, in: Street Art of the Revolution, S. 49–50. 21 Street Art of the Revolution, S. 58–59. 22 Izvestija, 9. November 1918, in: Street Art of the Revolution, S. 65. 23 Iskusstvo (November 1918) Nr. 6, S. 3, in: Street Art of the Revolution, S. 67.
79
Die Tverskaja in den Zwanzigerjahren: Flaniermeile und Strassenstrich Im Haus Nr. 36 der alten Tverskaja, später Ulica Gor’kogo Nr. 10, befand sich neben der „Filippov“-Bäckerei auch das berühmte Hotel „Ljuks“. Ruth von Mayenburg hat es beschrieben: „Das Haus, ein grosses, stattliches Gebäude, steht in Moskau an der Gorkistrasse und trägt die Nummer 10. Es erstreckt sich, sechs Stock hoch, vierzig Schritte lang an der Hauptfront und dreissig Schritte lang um die Ecke in eine Seitengasse hinein, die Ulica Nemiroviča-Dančenko. Auf dem Moskauer Stadtplan ist es als Hotel eingezeichnet. Wer vom Roten Platz rechtsseitig zum Puschkinplatz hinaufschlendert, kann es kaum übersehen. Zwei schwere, graue Säulen stehen vor dem überdachten Eingangsportal, zu dem drei flache Stufen führen. An der Ecke befindet sich noch immer das Restaurant, und im Gebäude, gleich neben dem Eingang, zieht noch immer der grosse Bäckerladen, bis spät abends geöffnet, die Brotkäufer an. Dem Haus wurde dreimal ein anderer Name gegeben: Jetzt trägt es den ganz banalen dritten Namen ‚Hotel Zentral’ und ist ein solides, nicht allzu modernes Inturist-Hotel, wo Reisebusse halten, Gäste und Koffer ein- und ausgeDie Gor’kijstrasse laden werden. Seitdem die Gorkistrasse mit Lindenbäumen bepflanzt wurde, fällt dünner Schatten auf den Gehsteig. Den ersten Namen, ‚Franzija, Filipowskije Nomera’, zu Deutsch ‚Frankreich, Haus Filippow’, erhielt es von seinem Erbauer, dem vorrevolutionären Moskauer Grossbäcker Filippow.” 24 Aus Filippovs Zeiten stammte das noble Hotel, mit einer Dependance im Hof für die minderen Gäste. Die Karriere des Lux bei der Komintern begann am III. Weltkongress 1921. Hier wurden die Besucher des Kongresses en bloc und gut abgeschirmt untergebracht. Von nun an hatte das „Ljuks“ Sonderstatus, ein propusk-System25 und wurde bald zum Ghetto. Die Namen gingen jeweils mit einer Funktion einher. Sollte eine Bedeutung in Vergessenheit geraten, änderte man den Namen des Ortes. Das funktionierte aber nicht immer: Unter den Brüchen lauerten die Kontinuitäten. Die Ratten blieben, die räumliche Hierarchie ebenfalls: im Hofgebäude landeten in den dreissiger Jahren die Angehörigen von Verhafteten, so etwa die Mutter von Jelena Bonner und Frau des Komintern-Mitarbeiters Gevork Alichanov, Ruth (Rufa) Bonner.26 Das elitäre Absteigequartier entwickelte in den zwanziger Jahren eine magische Anziehungskraft: „Der Hurenstrich entlang der Tverskaja und um die Ecke herum in der Seitengasse, wo die halb mit Brettern verschlagenen Fenster der Stolowaja Kohl- und andere verlockende Gerüche ausströmten, gehörte zum täglichen Bild der Kongresswochen. Moskau hungerte kläglich – was Wunder also, dass die offene und geheime Prostitution das Ausländerhotel belagerte – und eroberte.”27 Die Perspektive dreht sich mehr um die Frauen als um deren Freier und deren Motive. Auch andere Besucher berichteten vom Nachtleben an der Tverskaja. 1925, auf dem Höhepunkt der NĖP (Novaja ëkonomičeskaja politika), besuchte der französische Journalist Henri Béraud Moskau. «Mais faire la noce à Moscou, est-ce donc permis? C’est défendu sans l’être. Enfin, c’est défendu. Mais on ouvre les bars tous les soirs, sauf le lundi. Encore sont-ils clos, ce soir là, parce que le lundi est le repos du Soviet des jazz.
24 Ruth von Mayenburg: Hotel Lux. Frankfurt a. M. 1981, S. 15. 25 Die Bewohner erhielten Ausweise, und an den Eingängen gab es strenge Kontrollen. Alle Besucher wurden registriert. 26 Jelena Bonner: Mütter und Töchter. Erinnerungen an meine Jugend 1923 bis 1945. München usw. 1992, S. 304. 27 von Mayenburg: Hotel Lux, S. 56.
On tolère donc les ‚boites’ qui, dans leurs caveaux fumeux et calfeutrés, ont conservé un air vieux de neuf ans, un air à mettre en bouteilles, un air à étiqueter, à étamper, à cacheter: l’air tsariste. (…) Il faut voir ces nuits de la Tverskaïa, laquelle est, passé minuit, une espèce de rue Pigalle, moins les publicités lumineuses. Tout se passe dans l’ombre, une ombre houleuse où des êtres noirs se poursuivent en silence, au milieu des appels de cochers invisibles et sans nombre, tandis que tous les chevaux de Walpurgis semblent de leurs pieds sonores battre l’enclume sur le pavé. (…) Il y a le ‚le Bar’ (..). Il y a le Nedved (sic!) (l’Ours), fort à la mode, où l’on voit les plus troublantes courtisanes moscovites; Praga, aux lumières bizarres; Kroujok (le Cercle), Où il faut ‚être présenté’; Philipov, une sorte d’usine à soulerie, vaste, nue et venteuse comme un buffet de grande gare; un orchestre barbare y pousse des plaintes de cuivre, les camarades serveurs renversent la bière sur les pantalons, et la clientèle est formée d’ouvriers en goguete, d’étrangers inquiets, de policiers immobiles. Au Sad Ermitage, on se croit un peu dans les champs Elysées. Presque partout, il faut descendre une vingtaine de marches, gagner le sous-sol. Au rez-dechaussée, on trouve un buffet, avec l’Ambigu traditionnel, qui est, à toute heure de jour et de nuit, le hors-d’œuvre du Russe. En bas, c’est la musique, ce sont les tziganes. On les connaît. (…) D’une boîte à l’autre, cela ne change pas. Ce ne sont que couples hagards ou si émus qu’ils en paraissent révoltés. La musique gémit et ronfle. A chaque table, on boit, d’un trait, la vodka d’Etat. Les yeux chavirent. Des ménages à trois, à quatre, à cinq sont là, dont les hommes commencent à s’entre-regarder avec des regards de bourreaux doucereux.» Kaum den Kellerbars entflohen, traf man die Bettler: «Mais voici les mendiants. Quels mendiants! Le réservoir aux monstres a crevé; la cour des miracles coule en torrents par la Tverskaïa. Ils sont dolents, pressants, injurieux. On en a jusque dans ses poches.»28 So stellte sich dem französischen Besucher die nächtliche kognitive Landkarte dar, er konstruierte den an konkrete Orte gebundenen sozialen Raum „Nachtleben“. In dieser wie auch an späteren Beschreibungen des Nachtlebens wird deutlich, dass Zeit und Raum soziale Konstruktionen sind: Sie unterliegen Konventionen und die Messverfahren mit Uhren, Kalendern oder Stadtplänen sind Kulturtechniken, die Wandlungen unterworfen sind. Wesentlich ist hier jedoch die erlebte Zeit, der erlebte Raum: Nachts scheinen sich die Grenzen zu verschieben oder gar ganz aufzulösen, und zwar zeiträumliche wie soziale Grenzen und Konventionen. Das Nachtleben der NĖP-Zeit erscheint als autonome soziale Zone, als geduldeter Freiraum. Walter Benjamin beschrieb 1926 das Nachtleben an der Tverskaja viel zurückhaltender: „Stückweise, vor den grossen Hotels und vor einem Café in der Tverskaja, gibt es Nachtleben in der Strasse. Die Kälte macht, dass sich an diesen Stellen Menschen rudelweise zusammenballen.“29 Auf dem Höhepunkt der NĖP gab es 10–15 000 Prostituierte in Moskau. Eine Umfrage des Volkskommissariats für Gesundheitswesen ergab, dass sie zu 64 Prozent zwischen 18 und 25 Jahre alt, von ihren Ehemännern verlassen und ohne festes Einkommen waren. Dieselbe Umfrage erhob den Kundenkreis: 30 Prozent der einfachen Arbeiter und 47 Prozent der qualifizierten Metallarbeiter „leisteten“ sich von Zeit zu Zeit eine Prostituierte.30 Der erste grössere bauliche Eingriff entlang der Tverskaja war der Neubau des zentralen Telegrafenamtes, der 1927 zum zehnten Jahrestag der Revolution abgeschlossen sein
28 Henri Béraud: Ce que j’ai vu à Moscou. Paris 1925, S. 84–87. 29 Walter Benjamin: Moskauer Tagebuch. Frankfurt a. M. 1980, S. 44. 30 Nicolas Werth : Des hommes, des chiffres et des classes. In : Moscou 1918–1941. De „ l’homme nouveau “ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 42–60, hier S. 57.
81
sollte.31 Das Telegrafenamt war Symbol für Moderne, globale Kommunikation und den damit verbundenen Anspruch, auf der ganzen Welt gehört zu werden. Der Bau dieses Repräsentationsstückes wurde in zahlreichen Fotoreportagen festgehalten. Eine berühmte Aufnahme von Arkadij Šajchet zeigt Arbeiter 1928 bei der Montage des Globus auf dem Dach.32 Das Telegrafenamt war eine bekannte Anlaufstelle für Nachtschwärmer. Hier konnte man „Mädchen auflesen”. Es war stadtbekannt, dass die schlecht bezahlten Postangestellten sich ein Zubrot als Prostituierte verdienten und die Tverskaja Moskaus grösster Strassenstrich war. Die bekannten Homosexuellentreffpunkte waren während der gesamten Sowjetzeit neben der Ulica Gor’kogo die Grünfläche am Theaterplatz.33 Für Prostitution war auch der Arbat bekannt.34 Die Prostitution war in der Sowjetunion kein Straftatbestand, weil es sie offiziell gar nicht gab. Nach der Oktoberrevolution schaffte man die Regelungen von 1843 ab, da man mit dem Verschwinden des Phänomens in der kommunistischen Gesellschaft rechnete. Nach 1936 wurde die Sowjetunion zum einzigen Land ohne Prostitution erklärt.35 Deshalb entfielen polizeiliche Registrierung und medizinische Kontrollen. In den Medien und der Literatur war Prostitution als Thema tabu.36 Das Führen von Bordellen und Kuppelei waren aber strafbar: Im StGB von 1926 hiess es unter Absatz 155: „Nötigung zur Die Gor’kijstrasse Prostitution sowie Kuppelei, Unterhaltung von Stätten der Unzucht oder Anwerbung von Frauen zu Prostitution – Freiheitsentziehung bis zu fünf Jahren, verbunden mit völliger oder teilweiser Vermögenskonfiskation.”37 Der expressionistische deutsche Schriftsteller Armin T. Wegner (1886–1978) beschrieb die Strassenprostitution in einem Tagebucheintrag: „Moskau, Hotel Passage,38 den 14. Februar 1928. Um elf Uhr nachts, dicht unter den Mauern des Hotels Bristol, gehen die Mädchen auf dem schneebedeckten Bürgersteig der Tverskaja spazieren. Der Schnee knistert, die geschminkten Wangen sind durch die Kälte noch stärker gerötet, die Lippen leuchten wie gefrorene Erdbeeren in Eis. Die Blicke der Männer aber sind voll Verlangen auf ihre hohen Russenstiefel gerichtet, als wünschten sie, gerade von diesen männlichen Schuhen auf ihre immer liebebedürftigen Herzen getreten zu werden. Ich mischte mich unter sie und ging zum Denkmal Puschkins. Ein Schlitten mit einem jungen Mann fuhr langsam auf der Strasse vorbei. Der Kutscher wies mit der Peitsche auf ein Mädchen, sie stieg ein, und der Schlitten fuhr weiter.“39
31 Huber: Moskau, S. 82 ff. 32 Abb. in: Dokument und Konstrukt. Arkadij Schaichet. Fotografie zwischen N.E.P. und grossem vaterländischen Krieg. Hg. vom Deutsch-russischen Museum Berlin-Karlshorst. Berlin-Karlshorst 2001, S. 22, 44. 33 A. Geiges, T. Suworowa: Liebe steht nicht auf dem Plan. Sexualität in der Sowjetunion heute. Frankfurt a. M. 1989. Ebenso Rudolph Chimelli: 9 mal Moskau. München 1987, S. 154; René Ahlberg: Prostitution in der Sowjetunion. In: Osteuropa 49 (1989) Nr. 6, S. 513–528 (mit Vorsicht zu geniessen, da mit einschlägigen Vorurteilen behaftet. So sieht Ahlberg tatsächlich die Hauptursache der Prostitution in der „moralischen Zügellosigkeit“ der jungen Frauen). 34 Chimelli: 9 mal Moskau, S. 144, 153. 35 Bol’šaja Sovetskaja Enciklopedija, Moskau 1940, Bd. 47, S. 335. 36 Stichwort Prostitution in Historisches Lexikon der Sowjetunion, 1917/22 bis 991. Hg. von Hans-Joachim Torke. München 1993, S. 258. 37 Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik vom 22. November 1926 in der am 1. Januar 1952 gültigen Fassung mit Nebengesetzen und Materialien. Übersetzt von Dr. Wilhelm Gallas. Berlin 1953. 38 Das Hotel Passaž lag an der Tverskaja, Ecke Belinskogo, 15/4. Quelle: Obščedostupnyj putevoditel’ po moskve. Izdatel’stvo moskovskogo kommunal’nogo chozjajstva, Moskau 1926, S. 27. 39 Armin T. Wegner: Fünf Finger über dir. Wuppertal 1979. Zit. nach: Kuntze: Reise Textbuch Moskau, S. 121–123. Armin T. Wegner verfasste expressionistische Gedichte. In den dreissiger Jahren verbrachte er wegen seiner politischen Ansichten
83
13. „Blick in die Strasse vom Ochotnyj Rjad , 1930er Jahre”. Fotograf unbekannt. CMADSN 2–3808. Die Fotografie zeigt im Vordergrund das Hotel National und den unteren Strassenabschnitt vor der Erweiterung, weiter oben das neue Telegrafenamt. Die später eliminierte Krümmung der Strasse ist gut sichtbar. Damals verlief die Strassenbahn noch hier, ein Wagen hält gerade. Falls die Absperrung gegenüber dem Hotel den Bauvorbereitungen für das zwischen 1932 und 1935 errichtete Haus des Ministerrats diente, stammt die Fotografie aus dem Jahr 1932. Dieselbe Datierung ergibt sich, falls es sich um einen der von Boris Jampol’skij weiter unten beschriebenen, mit gelbem Holz verschalten Zugänge der Metro-Baustelle handelt. Die Aufnahme wurde vermutlich vom obersten Stockwerk eines der Häuser auf dem Manegeplatz aus gemacht, die im Zuge der Rekonstruktion abgerissen wurden (vgl. Abb. 14). Das Hotel National wurde 1932 total renoviert und diente in einer Zeit allgemeinen Hungers in all seiner Herrlichkeit ausländischen Gästen mit ausreichend Dollars als Nobelherberge. Die Möbel stammten aus den Palästen des Zaren, die Türsteher trugen Uniformen mit glänzenden Goldknöpfen und eine Armee von Lakaien stand zu Diensten. Die Zimmer waren mit authentischen Möbeln eingerichtet, es gab ein Zimmer Katharinas II. mit ihrem Bett, ihren Sesseln und ihrer Kommode, herrlichen Teppichen und einem Paravent, der ein Geschenk des japanischen Kaisers an Nikolas II. war. Im Zimmer Alexanders III. stand sein riesiger Schreibtisch mit einem Tintenfass aus Bronze in Form einer Sphinx darauf. Die Möbel und kostbaren Bücher stammten aus Carskoe Zelo. Die Möbel standen zum Verkauf. Eulalie Piccard: Lettres de Moscou. Paris 1963, S. 229.
und weil er sich wenige Monate nach dessen Wahl in einem Brief an Adolf Hitler gegen die Judenverfolgung der Nationalsozialisten engagierte, sieben Jahre in deutschen Gefängnissen.
Von der Tverskaja zur Gor’kogo: Die dreissiger Jahre Hunger, „Ankunft im Überfluss“ und Metrobau Die frühen dreissiger Jahre waren Hungerjahre, die die Rationierung zurückbrachten. Vor den Schaufenstern des „Eliseev“, das nun ein torgsin-Geschäft war,40 bildeten sich Menschentrauben, die die appetitlich aufgetürmten, aber unerreichbaren Lebensmittel in den Schaufenstern belagerten.41 Die Präsentation der knappen Lebensmittel in pompösen Delikatessengeschäften hing mit einer ganz bestimmten Politik zusammen, mit dem „Geheimnis des Kaviarbrötchens“.42 Dessen Ursprung lag in einer Kulturpolitik, die den Bedürfnissen der „neuen Mittelschicht“ der Stalinära entgegenkam: Während des Ersten Fünfjahrplans von 1928–1932 war eine Schicht von Führungskräften ausgebildet worden, die wegen der ständigen „Säuberungen“ in frei gewordene Positionen aufsteigen konnten und nach sozialer Anerkennung und Orientierungswerten verlangten. 1934 lässt sich ein historischer Wendepunkt ausmachen, als die Kommunistische Partei im Herbst des Jahres alle Formen der selbst auferlegten Askese verdammte. Strassenfeste, Musik, Tanz, Make-up und gepflegte KleiDie Gor’kijstrasse dung – zuvor als bourgeois verschrien – gehörten nun ebenso zum Programm wie eine konservative Familienpolitik und die allgemeine Rückbesinnung auf eine popularisierte klassische Hochkultur. Zugleich wich die Partei vom Prinzip der Lohngleichheit ab und führte Privilegien ein. Die moralischen Werte der „Neuen Mittelschicht“ legitimierten soziale Ungleichheit, denn aus ihrer Sicht hatten die vydvižency (Aufsteiger) ihren neuen Status aus eigener Anstrengung erlangt, wenn auch mit Hilfe der neuen Bildungsinstitutionen. Sie sahen es als ihr gutes Recht an, Privilegien zu geniessen. Das Ende der Rationierung 1935 wurde als „Ankunft im Überfluss“ vermarktet. Handelsausstellungen zeigten Güter, die im Alltag unerreichbar und nirgends zu kaufen waren, wie Waschmaschinen, Autos oder Kameras. Reklame wurde Teil des kulturbewussten sowjetischen Alltagslebens. Der Vorgang des Einkaufens geriet zum Erziehungsprozess. Der Laden war das Schulzimmer, in dem die stets zur Vorbildlichkeit ermahnten Verkäuferinnen die Kunden in Fragen der Hygiene und des guten Geschmacks belehrten.43 Moskaus Schaufenster, vor allem die Luxusgeschäfte an der Ulica Gor’kogo, waren das Aushängeschild der Sowjetunion. Sie sollten eine Aura von Luxus und Überfluss verbreiten, selbst wenn die ausgestellten Waren gar nicht erhältlich oder nur für wenige zugänglich waren. Sie hatten dieselbe Funktion wie die unterirdischen Prunkhallen der 1935 eingeweihten ersten Metrolinie: Sie stellten ein kleines Stück der versprochenen Zukunft vor und „bewiesen” die Behauptungen der Propaganda. Ihr Bedeutungsraum ging also weit über das Strassenpublikum hinaus. Bei der Rekonstruktion der Gor’kijstrasse ab 1937 wurde das „Eliseev“ sorgfältig herausgebaut, konserviert und im Erdgeschoss des Neubaus wieder eingerichtet. Das „Eliseev“ an der Tverskaja, die nun Ulica Gor’kogo hiess war – vergrössert und modernisiert – unter dem Namen Gastronom Nr. 1 das berühmteste torgsin40 Torgsin: vsesojuznoe obedinenie dlja torgovli s inostrancami. 41 Sheila Fitzpatrick: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s. New York usw. 1999, S. 57. 42 Jukka Gronow: Kitsch and Luxury in the Soviet Union. In: Ders.: The Sociology of Taste. London usw. 1997, S. 49–70. 43 Julie Hessler: Cultured Trade. The Stalinist Turn Towards Consumerism. In: Stalinism. New Directions. Hg. von Sheila Fitzpatrick. London usw. 2000, S. 182–209, hier S. 188; Fitzpatrick: Everyday Stalinism, S. 90–91; Catriona Kelly, Vadim Volkov: Directed Desires: Kul’turnost’ and Consumption. In: Constructing Russian Culture in the Age of Revolution: 1881–1940. Hg. von Catriona Kelly und David Shepherd. Oxford usw. 1998, S. 291–329.
Geschäft.44 Die torgsin -Geschäfte sollten die staatlichen Devisenreserven aufbessern. Sie dienten ursprünglich dem Verkauf an ausländische Touristen und waren die Vorläufer der späteren Devisenläden (berezka-Läden). Sowjetbürger konnten hier ihre Wertgegenstände wie Schmuck oder Edelmetalle gegen Lebensmittel eintauschen. Die staatlichen Handelsläden verkauften Waren ausserhalb der Rationierung, aber zu hohen Preisen. In seinem autobiografisch gefärbten Roman „Kommunalka“ beschreibt Boris Jampol’skij (1912–1972) die Erinnerung seines Protagonisten an den Aufbau-Enthusiasmus der ersten Fünfjahrpläne, an die Gor’kijstrasse vor deren Umbau und die Baustellen der Metro. Die Gestalt der Stadt dient ihm als Metapher für den Zustand der Gesellschaft. „Ganz Moskau war von Gräben durchfurcht. Gierig sog ich den säuerlichen Geruch aufgerissenen Erdreichs und unverzinkter, rostiger, kalt erscheinender Rohre ein. Ich stand lange an den mit frischem gelben Holz verschalten Türmen, die so eigenartig, so fremd inmitten der Stadt auf Höfen und Plätzen emporgeschossen waren, und beobachtete neidvoll und freudig erregt die Burschen und Mädchen in breitkrempigen Hüten, Segeltuchoveralls und lehmbeschmierten Gummistiefeln, die da aus der Erde ans Licht der Strasse stiegen, die nach ihrer geheimnisvollen, wichtigen Arbeit unter Tage nun ans Licht kamen uns stolz und unbekümmert, wie Ritter ohne Furcht und Tadel, ohne sich in der gewöhnlichen Menge zu verlieren und allen anderen unähnlich, die besonnte Strasse entlangschritten. (…) Die ansteigende, enge Twerskaja-Strasse gleisste, lärmte, hallte wider von Strassenbahngeklingel; hell und neuartig, wie Zauberwerk erstrahlten Neonröhren, mit leuchtendem Gas gefüllt, an den Eingängen der festlich beleuchteten Restaurants, Friseurläden und Geschäfte klappten die Türen, Zeitungsverkäufer riefen: ‚Abendzeitung, Abendzeitung…’ Dunkel wogte die erregte Menge. Vom Lärm, vom gellenden Verkehr gefesselt, atmete ich die von Elektrizität gesättigte, von orangefarbenen und grünen Leuchtreklamen durchschillerte Luft der belebten Strasse in vollen Zügen, die Strassenbahnen und hupenden Autos erschienen mir lauter und schriller in der Abenddämmerung, greller zogen die angestrahlten Wolken über die Stadt. Ach, du mein Gott! Ringsum strahlte und funkelte Moskau als helles, festlich frohes Lichtermeer, leuchtete rührend und anheimelnd aus Tausenden von Fenstern. Ich aber wollte in die Tundra, in die Wüste Karakum, an den Nordpol, um etwas Schweres, ungemein Schweres zu vollbringen, etwas, das alle meine Kräfte, all meine unstillbare Gier nach Leben fordern würde. Von der Strastnaja herunter kam ein abendlicher Demonstrationszug mit Fackeln durch die Twerskaja-Strasse. Es war der Internationale Tag der Jugend. Damals gab es noch nicht das eiserne Demonstrationsregime, bei dem der Rote Platz sich im Belagerungszustand befindet und im Zentrum die Miliz regiert; die Kolonne mit den roten Fahnen bewegte sich frei, strömte wie ein Fluss durch die Strassen, und man konnte sich ihr anschliessen und unter dem Transparent ‚Nieder mit Chamberlain!’ mitmarschieren, bis auf den Roten Platz, bis an die Mausoleumstribüne, und sich die Reden anhören.“45 Hier verdichtete sich in literarischer Form das Erleben eines jugendlichen Moskauers in den dreissiger Jahren. Er dokumentierte den Aufbau-Enthusiasmus, den die forcierte Industrialisierung während der ersten Fünfjahrpläne zu mobilisieren vermochte. Die an sie gestellte „Aufgabe“ des Aufbaus und der Eroberung löste heroische Phantasien bei der jungen Generation aus. Die Marsch-Rhetorik des „Durchbruchs zum Sozialismus“ begleitete die Flucht nach vorn
44 Von Mayenburg: Hotel Lux, S. 153. 45 Boris Jampolski: Kommunalka. Ein Moskauer Roman. Leipzig 1991 (erstmals russ. in der Zeitschrift Znamja, Februar und März 1988 ersch.), S. 118–120.
85
ebenso, wie der innere Kriegszustand und der „Kampf gegen Schädlinge“.46 Metrobauer und Pioniere waren die Helden der Jugend, und tatsächlich standen viele Möglichkeiten sozialen Aufstiegs offen. Die Datierung des Zeitpunktes durch die Chamberlain-Losung ist schwierig, da Chamberlain zwar erst 1937 englischer Premierminister wurde, aber als konservativer Politiker gemeinsam mit Baldwin während der ganzen dreissiger Jahre ein beliebtes Sujet sowjetischer Karikaturen war. So berichtete Eulalie Piccard 1929 von einer Karikatur bei der 1.-Mai-Parade auf dem Roten Platz, die Trockij vor Chamberlain kniend zeigte.47 Irritierend ist die vom Autor postulierte Spontaneität der Demonstrationszüge noch während des Metrobaus, also in den dreissiger Jahren: Stalins Demonstrationsregime etablierte sich bereits zu Beginn der dreissiger Jahre mit den Industrialisierungsanstrengungen der ersten Fünfjahrpläne: „Die wuchtigen Blöcke marschierender Rotarmisten, Gewerkschaftler oder Sportler glichen in ihrer gnadenlosen Symmetrie den braunen Formationen, die Hitler und Goebbels Unter den Linden oder auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände wie in Bewegung versetzte Zinnsoldaten zu betrachten liebten.“48 Die inscenirovki an den Mai- und Revolutionsfeiern sollten das theoretische Programm in eine den „Massen“ verständliche Sprache übersetzen. Eine Hauptmetapher war der „Weg zum Kommunismus“.49 In der zeitlichen Verschiebung Die Gor’kijstrasse bei der Wahrnehmung und Benennung der neuen Achse liegt dennoch eine innere Logik: Erst die Monumentalität der umgebauten Gor’kijstrasse bot den perfektionierten Formationen die angemessene Kulisse.50 Die Demonstrationen vor dem Umbau werden als „spontan“ erinnert. In der Rückschau des Autors überblenden sich die verschiedenen Phasen dieses Prozesses mit dem Wandel von Stimmung und Atmosphäre, den sein Protagonist rückblickend schmerzhaft empfindet. Zur Zeit der ersten Fünfjahrpläne verschärften sich die Zugangsregulierungen und eine entwickelte offizielle Symbolik. Abgrenzungsmythen zeitlicher und räumlicher Natur trennten sakrale von nicht sakralen Räumen, schufen räumliche Hierarchien. Hinzu kam das komplexe Ausweis-Wesen, die Erlaubnis, in Moskau wohnen zu dürfen, die Zuteilung von Wohnraum, von „räumlichen” Privilegien wie dačas und Ferienaufenthalte. Diese Herrschaftstechniken, „Pomp” im Geertzschen Sinne von gegenseitiger Rollenbestätigung,51 hatten sämtlich Signalcharakter, dienten aber auch dazu, Gemeinschaft und Identität zu stiften. Architekten und Stadtplaner entwarfen Projekte für die „sowjetische Stadt”, die ideale Umgebung für den „Neuen Menschen”.52
46 Heiko Haumann: „Eine sozialistische Lebensweise der Zukunft“. Die Sowjetunion zwischen 1929 und 1939. In Utopie und Terror. Josef Stalin und seine Zeit. Hg. Von Eva Maeder und Christina Lohm. Zürich 2003, S. 15–40, hier S. 20–21, 25. 47 Eulalie Piccard: Lettres de Moscou. Paris 1963, S. 57. 48 Heiko Haumann, Andreas Guski: Revolution und Fotografie. In: O.10 – Iwan Puni und Fotografien der Russischen Revolution. Museum Tinguely, 12. April 2003 bis 28. September 2003. Bern 2003, S. 101–130, hier S. 125. 49 V. V. Glebkin: Ritual v sovetskoj kul’ture. Moskau 1998, S. 102. 50 Vgl. zum Rückzug des Theatralischen in Klubs und Theater und zur Theatralisierung der Architektur für die Massenaufmärsche: Rainer Stommer, Marina Dalügge: Masse – Kollektiv – Volksgemeinschaft. Massenästhetische Inszenierungen der zwanziger und dreissiger Jahre. In: Berlin – Moskau 1900 bis 1950. Hg. von Irina Antonowa und Jörn Merkert. München usw. 1995, S. 349–355, hier S. 352–353. 51 Geertz: Interpretation, S. 335. 52 Zygmunt Bauman: Moderne und Macht: die Geschichte einer gescheiterten Romanze, in: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument. Hg. von Romana Schneider und Wilfried Wang. Ostfildern-Ruit 2000, S. 13–32, hier S. 15; zu den Architekturdebatten über die sozialistische Stadt siehe weiter unten in diesem Kapitel.
Das Hotel „Ljuks“ Das Hotel „Ljuks“ (Luxus) war Quartier der Teilnehmer des VII. Weltkongresses der Komintern 1935. Sie erlebten und schilderten sowohl die Propaganda für den Generalplan wie auch die Politik der Ankunft im Überfluss: „Das Plansoll für die auf zehn Jahre angesetzte ‚Rekonstruktion’ Moskaus hatte sich auch der altehrwürdigen Hauptstrasse bemächtigt, von der man ins Lux gelangt. Sie wurde verbreitert und begradigt – imposante Gebäude waren an beiden Strassenseiten im Entstehen. (…) Obwohl es also noch immer die alte Adresse hatte, so waren dennoch die ‚Zeichen der neuen Zeit’, wie der Kongressteilnehmer Jules Humbert-Droz bemerkte, auch am Lux abzulesen: ‚Es blitzt vor Sauberkeit, ist vollkommen renoviert, neu möbliert.’ Von zwei aufgesetzten Stockwerken berichtete Jules zwar nichts seiner Jenny, die mit den beiden Kindern in der Schweiz geblieben war; nur dass ihn die ‚überall eröffneten Nachtlokale und Restaurants mit Tanzorchestern, Tango …’ an die NĖP-Zeit erinnerten, ‚aber natürlich auf einer neuen sozialistischen Basis!’ Und habe er im Dezember 1933 ‚vergeblich nach Fällen öffentlicher Trunkenheit’ gesucht, so wären ihm jetzt davon ‚Hunderte jeden Abend in den Strassen Moskaus aus allen Schichten der Bevölkerung und jeden Alters’ begegnet. Auch die bettelnden Kinder wären noch nicht ausgestorben. Einer polnischen Armbäuerin jedoch, Marzjanna Fornalska, der das Schreckensjahr 1937 drei Söhne raubte, verdanken wir genauere Nachricht: Ihr drang ‚der Regen wie ein kleiner Wasserfall’ durch die Zimmerdecke, als im Herbst 1933 das Dach abgenommen und das stattliche Gebäude um zwei Etagen stattlicher wurde. Ungefähr 72 neue Quartiere boten nun zusätzlichen Raum für etwa 130 Personen. Die Komintern benötigte ihn gerade von nun an dringend, weil die Weltgeschichte wenig Rücksicht auf kommunistische Weltkongresse nahm und immerfort neue Quartieranwärter nachlieferte.”53 In den dreissiger Jahren wurden durch die „Säuberungen“ beinahe nächtlich Quartiere frei. Jelena Bonner, die hier zwischen 1931 und 1937 als Kind mit ihrer Familie lebte, berichtet von den Verhaftungen und ominös versiegelten Türen: „Unser ‚Lux’ war mittlerweile ein schlicht katastrophaler Ort geworden. Bei fast einem Drittel seiner reichlich fünfhundert ‚Nummern’ hing irgendwann ein Siegel an der Tür.“54 Die Wohnungen und Zimmer wurden sogleich von neuen Bewohnern übernommen. „Das Lux war ein konspiratives Hotel, konspirativ nach innen und nach aussen – ein Geheimnisträger. Keine Gästeliste, keine Totenliste gibt darüber Auskunft, wer jemals darin gewohnt hat. Bei den An- und Abreisenden stimmte in den meisten Fällen der Passname nicht mit dem Personennamen überein, nicht der Personenname mit dem Parteinamen, mit den wechselnden Deck- und Rufnamen. Im Lux wurden ausländische Delegierte zu fünf von insgesamt sieben Weltkongressen der Kommunistischen Internationale einquartiert. Hier trafen legal und illegal Abgesandte aller kommunistischen Parteien zu Tagungen und Beratungen, zur Berichterstattung und zum Befehlsempfang ein. Hier logierten Komintern-Angestellte, Mitarbeiter der Geheimapparate, Emigranten jeder Nationalität.”55 Das Lux ist jedoch kein offizieller Erinnerungsort, „weil es dort, wo es steht, in Moskau, der totalen Vergessenheit anheimgegeben, sein Name ausgelöscht wurde. Bewusst und konsequent.” Hier tritt ein spannender Aspekt zutage: Das Lux oder „Ljuks“ war das Hauptquartier der Komintern und löste sich dadurch von seinem physischen Ort an der Gor’kijstrasse, um ein Ort
53 Von Mayenburg: Hotel Lux, S. 154–155. 54 Bonner: Mütter und Töchter, S. 330. 55 Von Mayenburg: Hotel Lux, S. 16–17.
87
in der Geschichte der kommunistischen Internationalen und ein Ort in der Erinnerung der Emigranten zu werden. Das Hotel Lux war jedem Sympathisanten oder Angehörigen der Komintern ein Begriff und stellt auf die Komintern bezogen einen Erinnerungsort dar.56
Der Generalplan von 1935: Die Gor’kijstrasse wird zur wichtigsten Zeremonialachse Die mit der monumentalen Propaganda begonnene Inszenierung von Macht im öffentlichen Raum intensivierte sich während der Stalinzeit. Grundlage der Planung war die politische und symbolische Inbesitznahme des Zentrums und nicht die alltägliche Nutzung. Der öffentliche Raum diente explizit Festmärschen und Paraden, nicht „Händlern und Touristen”.57 Er wurde als politischer Raum geplant. 58 Die Planung und damit der Anspruch wurden im Generalplan für Moskau von 1935 flächendeckend. Dieser reichte mit der Metro unter die Erde und mit dem Palast der Sowjets bis in den Himmel. Seit dem 17. Jahrhundert galten Zeremonialachsen in europäischen Hauptstädten als ideale Orte, um Machtdemonstrationen zu inDie Gor’kijstrasse szenieren. Die Stalinschen Magistralen waren, soweit gebaut, ein Echo auf die absolutistischen Stadtvisionen. Sie waren solide gefasst von einer ordentlichen Abfolge symmetrischer Blöcke, deren Fassaden einheitlich verziert waren und in ihrer schier endlosen Reihung die höhere Ordnung der Sowjetmacht repräsentierten. Im russischen Kontext vollzog Moskau den Rollenwechsel mit der Rivalin St. Petersburg. Die 1935 im GenPlan vorgestellte sowjetische Modellstadt Moskau mit ihren weiten Prospekten und ihrer klassizistischen Architektur folgte in architekturhistorischer Sicht dem Petersburger Vorbild.59 Moskau wurde in mehrfacher Hinsicht „peterburgisiert“: Schon der Ansatz der „Planstadt“ an sich war für Russland „peterburgisch“ besetzt. Weitere Parallelen waren der Ausbau der Wasserwege und die Verkleidung der Fassaden und Ufer mit Granit, die Orientierung an Klassizismus und Renaissance sowie die aufklärerische und zukunftsweisende Funktion des „Neuen Moskau“ als Modellstadt. In den sozrealistischen Romanen wurden die Helden mit denselben Attributen geschmückt, mit denen die Dichter um 1900 Petersburg beschrieben hatten: Sie waren ruhig, stark und überlegen. Wichtige Funktionen und Institutionen wanderten von Petersburg nach Moskau, so 1934 der Hauptsitz der Akademie der Wissenschaften. Der erste Fünfjahrplan und der stalinistische Städtebau mit seinen Generalplänen und Grossprojekten knüpften direkt an den alten Petersburg-Mythos an, nach welchem sich aus den unwirtlichen Sümpfen über Nacht eine Kulturmetropole erhoben hatte. 60 Damit erhielten die Generalpläne die Dimension von Schöpfungsgeschichten. Monumentalbauten und gigantische Kanalprojekte erzählten vom Sieg der Technologie über die Natur, vom Triumph der Ordnung, die sich aus dem Chaos erhob. Dieser Mythos sollte sich insbesondere mit dem „Neuen Moskau“ wiederholen. 56 Das Buch mit dem Titel „Hotel Lux” von Arkadij Vaksberg, 1993 erschienen, ist ein Beispiel dafür, wie ein topografischer Ort die Bedeutung von Ereignissen annehmen und zum Topos werden kann. Es handelt sich um eine autobiografisch gefärbte Geschichte der internationalen kommunistischen Parteien und ihrer Vertreter in Moskau. 57 Jörn Düwel: Am Anfang der DDR: der Zentrale Platz in Berlin. In: Moderne Architektur in Deutschland, S. 163–188, hier S. 171. 58 Spiro Kostof: The City Shaped. Urban Patterns and Meanings Through History. London 1991, S. 271. 59 Katerina Klark: Moskva i Peterburg v tridcatye. In: Sankt-Peterburg. Okno v Rossiju 1900–1935. Materialy meždunarodnoj konferencii. Paris, 6.–8. März 1997. Hg. von Eva Berard. Sankt Petersburg 1997, S. 138–152, hier S. 143–146. 60 Katerina Clark: Petersburg, Crucible of Cultural Revolution. Cambridge, Mass. 1995, S. 264–265.
Die Tverskaja war als die dominierende Zeremonialachse der Hauptstadt geplant.61 Hier marschierten bereits vor der Erweiterung die Menschenmassen für die Paraden auf dem Roten Platz auf: Eine geradezu gespenstische nächtliche Szene aus dem Jahr 1935 schilderte der ungarische Emigrant Ervin Sinkó. „Moskau rüstet zum morgigen grossen Turnfest, das hier fizkulturnyj parad genannt wird. Nachts, als wir von Kurellas nach Hause gingen, begegneten wir Gruppen von jungen Frauen im Badeanzug, die im Laufschritt durch die Tverskaja eilten; Training für das Fest.”62 Die Paraden aus der Perspektive der leicht bekleideten Jugendlichen schilderte der Schweizer Ingenieur Ernst Derendinger: „die Mädels waren da meistens nur in Badetrikos, teils aber auch in kurze blaue Röcklein und weisse Blusen mit Matrosenkragen, die jungen Burschen nur mit weissen Badehosen bekleidet, und alle hatten natürlich noch Sandalen an den Füssen.“ Die Vorführungen der fizkul’turnyj parad konnten sich Normalsterbliche nicht ansehen, weil der Rote Platz bereits im Vorfeld weiträumig abgesperrt wurde. „Aber dafür sah ich diese jungen Physkulturschtschiki in nächster Nähe, als sie nach der Vorstellung in Reih und Glied vom Roten Platz ab- und durch die Strassen marschierten. (…) Aber die Mädels waren jetzt etwas ermüdet, man sah es den meisten sogar deutlich an, sie trällerten ihre Sowjetmarschlieder auch nur so mechanisch vor sich hin und trugen auch sonst eine ziemlich apathische Haltung zur Schau. (…) Dafür fiel mir aber – und auch andern – etwas auf, das man vom Leninmausoleum und von den Tribünen aus wohl kaum bemerken konnte. Einige Mädels in den Badetrikos stierten im Vorbeimarsch mit Angst und Schrecken in den Augen vor sich hin, ihre Lippen waren krampfhaft zusammen gepresst und ihre sonst recht hübschen Gesichter waren jetzt zu Grimassen verzerrt. Ausserdem marschierten sie auch noch etwas nach vorn gebeugt, mit gekrümmten Beinen, und ganz sachte wie auf Eiern, die sie auf keinen Fall zerdrücken möchten.“ Der Mangel an Toiletten machte die Parade zum Albtraum. „Und schon waren sie vorbei, diese gequälten Geschöpfe in den leichten Badetrikos und mit den lustigen roten Fähnchen in den Händen.“63 Derendinger kontrastiert in seiner Erzählung die Schauseite mit der Rückseite, den äusseren Anblick mit dem inneren Blickwinkel. Derendinger, der in den dreissiger Jahren in Moskau lebte, sprach aus eigener Erfahrung, denn er selbst hatte schon an ähnlichen Aufmärschen mit seinem Fachverband teilgenommen. Erst musste er von morgens früh um sieben bis nachmittags um zwei bei nasskaltem Wetter auf dem Tverskoj-Boulevard warten. „Dann endlich, und nach einer letzten Kontrolle und Ermahnung (…) konnte unsere Organisation einschwenken und die Twerskaja hinunterlaufen. Das erwärmte uns in dieser ungeheuren Menschenmasse wieder etwas. Aber auch jetzt gab es wieder Stockungen und lange Wartepausen. Hier war es aber bedeutend wärmer als auf dem Boulevard, wegen der Menschenmasse, die sich hier tänzelnd und schwatzend die Zeit vertrieb. Auch konnte man an den Strassenkreuzungen Butterbrote kaufen, mit Wurst, Käse, Schinken, Fisch u.d.g. belegt. Dann wurde auch, wenn die Blechorchesters nicht spielten, gesungen, z. B. Burschuj daloj, Burschuj daloj (fort mit den Bürgerlichen) und auch andere Sowjetlieder, aber auch Gassenhauer wurden nicht verschmäht. Dann, über den roten Platz – durch drei Zugänge zugleich, – wälzte sich der Menschenstrom in Sechserkolonnen durch die Spaliere der schwerbewaffneten G.P.U. Soldaten und Agenten hindurch, die dort die Ordnung aufrechterhielten.“64 Obwohl schon 1933 in Gor’kijstrasse umbenannt, taucht der alte Strassenname in beiden Zitaten auf, er scheint sich bis zur baulichen Umgestaltung behauptet zu haben. Für die Ordnung 61 Kostof: The City Shaped, S. 271 ff. 62 Ervin Sinkó: Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch 1935–1937. Berlin 1990, S. 157. 63 Ernst Derendinger: Als Grafiker in Moskau von 1910 bis 1938. Erzählungen aus dem Leben Unpubl. Manuskript, S. 875. zit. Nach: Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 3: Sowjetische Moderne und Umbruch. Zürich 2005, S. 289–290. 64 Derendinger: Als Grafiker in Moskau, S. 881–885, zit. Nach Goehrke: Russischer Alltag, S. 288–289.
89
der Paraden und deren Einzug auf den Roten Platz wurde der Manegeplatz zwischen Hotel National und Kreml frei geräumt und diesem Plan fielen auch die Voskresenskie Vorota zum Opfer, die den Zugang zum Roten Platz verstellten. Nach dem Ende der Sowjetunion wurden sie rekonstruiert, um religiöse Bedeutung zu symbolisieren. Der Prozess der Umgestaltung begann 1933 mit der Umbenennung in Ulica Gor’kogo.65 Zwischen 1937 und 1941 wurde aus der schmalen, gewundenen Tverskaja die gerade, breite ulica Gor’kogo. Weil die Gor’kijstrasse im Zentrum Moskaus lag und somit auch im Zentrum des Plans zur Rekonstruktion Moskaus als Hauptstadt von 1935, sind Planung und Baumassnahmen ausführlich dokumentiert. Das gilt sowohl für die Projekte, wie auch für die Begleitung der Baustellen und für die Publikation der fertigen Bauten. In der Zeitschrift „Architektura SSSR“ erschien 1934 in Heft 8 der erste umfassende Artikel zum Projekt der Rekonstruktion der Ulica Gor’kogo. Der Autor, S. Černyšev, Direktor des Planungsbüros Mosproekt Nr. 1, führte drei Hauptargumente für die Verbreiterung an: Die Erschliessung der Aussenbereiche an der Leningradskoe Šosse, die Verbindung der Arbeiterviertel mit dem Stadtzentrum sowie den Anschluss an das Transportwegenetz des Moskva-Volga-Kanals. Ausserdem belegten VerkehrsstatisDie Gor’kijstrasse tiken, dass der Automobilverkehr weiter zunahm und breitere Strassen erforderte. Diese verkehrstechnisch-pragmatische Argumentation spart die spätere Nutzung und die symbolisch-rituelle Bedeutung der Strasse aus. Das planerische Vorgehen stand bereits fest: Die Strasse sollte von der Ploščad’ Revolucii (sonst Teatral’naja Ploščad’) bis zum Gartenring auf 40 Meter verbreitert werden, und zwar bis zum Telegrafenamt auf der rechten Seite, und vom Telegraf bis zur Triumfal’naja Ploščad’ (MajakovskijPlatz) entlang der linken Seite. Die Tramlinie sollte auf die Novo-Tverskaja verlegt werden.
14. Schema aus Sovetskaja architektura 1917–1957. Moskau 1957. Legende: Plan der Gor’kij-Strasse mit Markierung der abgebrochenen Bauten. Am Beispiel der Gor’kijstrasse zeigt sich, dass die Umsetzung des Generalplans zu erheblichen Revisionen des ursprünglichen Plans zugunsten der vorhandenen Bausubstanz führte. Die Gor’kijstrasse wurde nicht in ihrer ganzen Länge, wie ursprünglich geplant, auf 60 Meter, sondern überwiegend nur auf 40 Meter verbreitert. Ganz links im Bild sind die zum Abbruch bestimmten Bauten auf dem Manegeplatz zu erkennen, in der Mitte der Sovetplatz und auf dem späteren Puškinplatz das ebenfalls zum Abbruch vorgesehene Strastnoj-Kloster. Die Puškin-Statue wurde bei der Neugestaltung des Platzes an den Ort des abgebrochenen Strastnoj-Klosters verschoben, und zwar in die Sichtachse der umgebauten Gor’kijstrasse.66 Auf die Umsetzung des städtebaulichen Konzepts der Superblöcke – Blockrandbebauungen mit grossen, freien Innenhöfen – wurde im Stadtzentrum verzichtet. Die Gründe dafür sind vor allem im ökonomischen und prag-
65 Architektura SSSR (1938) Nr. 4, S. 17. Andere Quellen geben 1935 als Datum der Umbenennung an. Später wurde tatsächlich auch die Verlängerung der Strasse in Richtung Leningradskij Prospekt in Ulica Gor’kogo umbenannt. 66 Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1938) Nr. 4, S. 14–30, hier S. 19
matischen Bereich zu suchen. Ein wichtiger Kontext war die Wohnungsnot, die grossflächige Abrisse im dicht besiedelten Zentrum unmöglich machte. Ein weiterer Grund lag im Bodenrecht: Waren nach der Revolution Enteignungen ohne Entschädigung möglich gewesen, hatte man während der NĖP den Bau privater Mietshäuser zur Behebung der Wohnungsnot gefördert. Deren Eigentümer hätte man nun entschädigen müssen. Der ganze Planungsprozess weist darauf hin, dass die Idealplanung der Propaganda der idealen sozialistischen Stadt diente. Die Umsetzung orientierte sich jedoch an den Gegebenheiten. 67 So wurde in der Gor’kijstrasse durch das Verschieben von Häusern, Aufstockungen, die Vereinheitlichung von Fassaden sowie Abbrüche und Neubauten der angestrebte einheitliche, repräsentative Strassenraum geschaffen.68 15. Gor’kijstrasse, Ščusev XI–20006, Blick in Richtung Roter Platz 195. Fotograf Naum Granovskij, vermutlich im Auftrag der Stadt. Der Umbau des Strassenraums begann 1937 mit der Errichtung der Häuser Tverskaja 4, 6 und 8, den „Korpus A“ und „Korpus B“ genannten Wohnhäusern des Architekten A. G. Mordvinov.69 Die Fassaden säumen links im Bild die Strasse. Deutlich erkennbar werden aus der Vogelperspektive die hochgezogenen Vorderfronten. Korpus A fing die starke Krümmung im untersten Teil der Gor’kogo ab. Statt der zwanzig unterschiedlichen Häuser gab es zwischen Ochotnyi Rjad und dem auf 60 Meter verbreiterten Sovetplatz jetzt nur noch zwei. Den Höhenunterschied nahm das sich verjüngende Sockelgeschoss auf. Die neue Randbebauung gab der Strasse einen einheitlichen Charakter. Zwischen Sovet-Platz und Ochotnyj Rjad hatte die Magistrale nun eine Trichterform. Sie verbreiterte sich nach unten hin von 40 auf fast 60 Meter.70 Die Aufnahme aus dem Jahr 1957 zeigt die frei geräumte Sichtachse zum Roten Platz, die damals vorübergehend auch als Verkehrsachse diente. Links die Prachtfassaden der Korpusse A und B. Dahinter die Rückseite des zwischen 1932 und 1935 vom Architekten A. Ja. Langman geplanten Haus des Ministerrats der UdSSR. Mitten in der Sichtachse steht das Historische Museum. Die Linden wurden erst in den Fünfzigerjahren gepflanzt und inzwischen wieder gefällt.
Stadterneuerung als Diskursereignis: Fotodokumentation und Publikation als doppelte Inszenierung Über drei Kilometer Länge wurde die Gorkistrasse radikal umgebaut und vor allem verbreitert. Die neue Randbebauung gab ihr einen einheitlichen Charakter. Der Eingriff führte zur Zerstörung der alten Struktur, wobei die historisch bedeutenden Gebäude zurückversetzt oder den Neubauten einverleibt wurden. So entstand ein homogener Strassenraum, eingefasst von monumentalen Fassaden, reich an klassizistischen Bezügen, die vor allem dekorativ eingesetzt wurden.71 67 Essaïan: Le Plan Général, S. 6–7. 68 Fotos mit Beispielen von Aufstockungen an der Gor’kijstrasse Nr. 64/2 und Nr. 91 finden sich in: Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1937) Nr. 10, S. 26–28. 69 Architektura SSSR (1938) Nr. 11, S. 3–13. 70 Schema in Huber und in Sovetskaja Architektura 1917–1957. Moskau 1957 (keine Seitenzählung). 71 Alessandra Latour: Mosca 1890–1991. Bologna 1992, S. 236.
91
Die Stadterneuerung war ein Ereignis, das Diskurse hervorbrachte und zugleich selbst Fragment von Diskursen war. Zentral war die revolutionäre Erzählung, in der die Zerstörung des Alten bereits den Aufbau des Neuen in sich barg. Die Zerstörung des alten Moskau stand für die Zerstörung der alten Gesellschaftsordnung und war somit bereits ein Element des Aufbaus der Neuen Gesellschaft. Die gewalthaften Eingriffe in die Bausubstanz betrafen die Menschen in ihrem Alltag auch ganz unmittelbar. Ein gross angelegter visueller Propagandafeldzug begleitete die Umgestaltung der Magistrate. Es gab Vorträge, Ausstellungen und aufwändig gestaltete Plakate. Im Oktober 1933 zeigte eine Leistungsschau der Moskauer Planungsbehörde Modelle, Zeichnungen und Pläne zur Rekonstruktion Moskaus in den Schaufenstern der Gor’kijstrasse.72 1935 fand zum 1. Mai bereits die vierte Ausstellung zu Planung und Architektur in der Gor’kogo statt.73 In Briefkästen konnten die Bürger ihre Meinung zu der neuen Strasse deponieren. Ein beeindruckendes Modell der neuen Stadt war an der Gor’kijstrasse öffentlich ausgestellt: „Man steht auf einer Estrade vor dem gigantischen Modell, welches dieses Moskau des Jahres 1945 darstellt, ein Moskau, das sich zum heutigen verhält wie das heutige zu dem des Zaren, das ein grosses Dorf war. Das Modell ist elektrifiziert, und immer neue blaue, Die Gor’kijstrasse grüne, rote elektrische Linien zeigen den Lauf der Strassen, der Untergrundbahnen, der Autowege, zeigen, wie planmässig Wohnwesen und Verkehr der grossen Stadt konstruiert sein werden.”74 Der Betrachter herrschte über eine Spielzeugwelt. In der Stadt selbst wurde auf diese Weise über die Zukunft der Stadt als Abbild der Gesellschaft kommuniziert. Die Inszenierung eines „Dialogs“ zwischen Obrigkeit und Bevölkerung hatte eine mehrfache Funktion: Sie war eine Macht legitimierende Strategie und förderte zugleich das Identität stiftende Potential. Der Generalplan von 1935 war ausserdem Teil eines internationalen städtebaulichen Diskurses um die Idealform der Stadt. In der Fachpresse, aber auch in der allgemeinen Presse und in illustrierten Zeitschriften erschienen regelmässig Artikel über den Stand der Baustellen und die fertig gestellten Häuser. Die verbreiterte Gor’kijstrasse zwischen Ochotnyj Rjad und Sovet-Platz wurde zur Ikone des Neuen Moskau und fehlt in keinem Bildband über die Stadt. Seit der Fertigstellung dieses Teils repräsentiert dieser Abschnitt den Fortschritt und die Errungenschaften der sowjetischen Stadtplanung der dreissiger Jahre und der Stalinzeit mindestens ebenso bildmächtig wie die Hochhäuser der Nachkriegszeit. Die Fassaden der neuen Gor’kijstrasse verrieten nichts über die Nutzungen der Gebäude. Büro- und Wohnhäuser unterschieden sich äusserlich nicht von Hotels. Die Fassaden verwiesen nicht auf die dahinter liegenden Innenräume, sondern gestalteten den Strassenraum. Lediglich die Läden im Sockelgeschoss waren in der Regel pompös ausgestaltet und hielten, was die Fassade versprach. Die Schaufenster der Hauptstadt waren wichtige Signale. An der Gor’kogo gab es eine Reihe sinnstiftender Einrichtungen, die dem Ort Bedeutung schenkten: Die Feinkostgeschäfte „Eliseev“ und „Filippov“, das Luxusgeschäft „Podarki“ (Geschenke), wo es Porzellan und Kleidung gab, ein Juweliergeschäft, das grösste Pelzgeschäft Moskaus, eine internationale Buchhandlung, das Hotel „Ljuks“, das vornehme Hotel „National“, das zentrale Telegrafenamt, das berühmte georgische Restaurant „Aragvi“. Viele bestanden vor und nach dem Umbau, manche findet man heute noch – zumindest dem Namen nach.
72 Städtebau im Schatten Stalins, S. 162, hier auch zwei Fotos von Schaufenstern. 73 Pervomajskaja (4-ja) vystavka planirovki i architektury na ul. Gor’kogo. Pervomajskaja komisija MGK VKP(d) i mossoveta orgkomitet sojuza sovetskich architektov. Moskva 1935. 74 Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. 2. Aufl., Berlin 1993, S. 24.
93
16. Bild der Verschiebung eines Hauses an der Gor’kijstrasse Nr. 24 in „Architektura SSSR“ 5 (1938) S. 10 Bemerkenswert ist neben dem als Legitimationsstrategie eingesetzten Dialog mit der Bevölkerung auch die gewaltige Kraftdemonstration der Machthaber im Kreml, die ganze Häuser versetzen liessen. Insgesamt wurden im Laufe der Rekonstruktion des Stadtzentrums 50 Gebäude versetzt. 75 Diese Aktionen waren häufig in spektakuläre Inszenierungen eingebettet. Im Laufe einer Nacht wurde ein Gebäude auf vorbereiteten Schienen verschoben, so dass am nächsten Tag eine Parade ungehindert durchmarschieren konnte.76 Allein an der Gor’kijstrasse waren es deren fünf, die nicht selten – wie der Savvinskoe Podvor’e, ein 1905–1907 vom Architekten I. S. Kuznecov errichtetes Jugendstilgebäude, hinter dem Korpus A – im Hof der Neubauten endeten, die nach ihrer Rückversetzung vor ihnen hochgezogen wurden. Haus Nr. 13 beispielsweise, der ehemalige Sitz des Generalgouverneurs und vom Mossovet auch symbolisch besetzt, wurde 1939 um 14 Meter nach hinten verschoben. Beim Um- und Neubau 1945 kürzte der Architekt Dmitrij Čečulin die Flügel und integrierte den Säulenportikus in die Fassade des neuen, um zwei Stockwerke erhöhten Gebäudes.77 Er begründete die Massnahme mit der neuen Massstäblichkeit der Gor’kijstrasse, der sich der Mossovet anpassen müsse, um nicht unterzugehen.78 Bei Beginn des Grossen Vaterländischen Krieges 1941 war die Umgestaltung der Gor’kijstrasse zwar noch nicht abgeschlossen, aber die grundlegenden Eingriffe bereits realisiert.79
75 Verschiebungen als Thema in Architektura i stroitel’stvo Moskvy. (1939) Nr. 12, S. 3 ff, S. 6 ein Foto von der Verschiebung der Gor’kijstr. Nr. 24. Vgl. auch: Städtebau im Schatten Stalins, S. 229. 76 Architektura SSSR (1938) Nr. 5, S. 10–11 zeigt das Foto der Verschiebung des Gebäudes Gor’kijstrasse Nr. 24. Zu Kriterien der Auswahl und Inszenierung vgl. auch Essaïan: Le Plan Général, S. 9. 77 Colton: Moscow, S. 327. Bilder des Sovetplatzes vorher und nachher in: Moscow in Photographies/Moskva v fotografijach/Moskau in Photographie. Moskau o.J. (2000) S. 70/71. 78 Essaïan: Le Plan Général, S. 8. 79 Latour: Mosca, S. 236.
17 und 18. Abbildungen „Die Gor’kijstrasse während der Rekonstruktion”, 1937–1938, Fotograf unbekannt. CMADSN 2-4263 und 2-4327 Die Aufnahmen dokumentierten den Umbauprozess. Gerüste symbolisierten das „Neue Moskau“ im Bild, solange es noch keine fertigen Stadtteile gab. Auf heutige Betrachter wirkt vor allem die Intensität des Eingriffs mitten im bebauten Zentrum der Stadt. Hier wurde systematisch Altes zerstört, um Neues zu schaffen. Die Gewaltsamkeit des städtebaulichen Eingriffes lässt sich in Bezug zu den gleichzeitig 1937 und 1938 im nur wenige Meter von der Gor’kijstrasse entfernten Kolonnensaal des Gewerkschaftshauses am Ochotnyj Rjad stattfindenden Schauprozessen setzen.
Krieg und Nachkriegszeit Während des Krieges erhielt die Gor’kogo einen Tarnanstrich, die Schaufenster und Fassaden wurden mit Sandsäcken geschützt. Der Krieg unterbrach den Umbau der Strasse. 1945 erfolgte der Umbau des Sowjet-Platzes mit der Tverskaja 13, dem ehemaligen Sitz des Generalgouverneurs. Das Denkmal des „Stadtgründers” Jurij Dolgorukij auf dem Sovetplatz wurde 1947 zur 800-Jahr-Feier der Stadt beschlossen und 1954 eingeweiht. Es stammt von den Bildhauern S. Orlov, A. Antropov, A. Stamm und dem Architekten A. Andreev. Es ersetzte die 1918 zum Jahrestag der Revolution errichtete Stele mit Verfassungstexten und einer Freiheitsstatue, die kurz nach Kriegsbeginn 1941 zerstört worden war.80 Nach dem Krieg wurden beim weiteren Ausbau der Gor’kijstrasse weit reichende Grundsatzentscheide gefällt. Die Wohnbaupolitik stand zur Debatte. Offenbar gab es zwei Fraktionen. Die städtische Baukommission und ihr Vorsitzender, G. M. Popov, zugleich Vorsitzender des Mossovet, strebte an, komfortable, mit dem letzten Stand der Technik ausgerüstete Stadtwohnungen zu bauen. Die andere Fraktion bestand aus den Leitern zahlreicher Ministerien und Ämter, die zuerst die dringende Wohnungsnot beheben und die Menschen aus den Baracken in Massenbau-Wohnungen mit einfachem Komfort umsiedeln wollten. Die letzten Kriegsjahre hatten eine Welle von „Papierarchitektur” hervorgebracht. Imposante Monumente sollten den Ruhm der Gefallenen verewigen. Debattiert wurde auch über die planerischen Grundlagen des Wiederaufbaus. Nach dem Krieg standen überdies Aufgaben wie die Integration der baltischen Republiken an, die ebenfalls eine Berücksichtigung nationaler Bautraditionen wünschenswert erscheinen liess. Bereits 1943 hatte Andrej Burov, der Architekt, der bereits in den dreissiger Jahren mit standardisierten Fertigelementen experimentiert hatte, vorgeschlagen, die „grossen Pläne” für fünf Jahre ruhen zu lassen und statt dessen niedrige, vorfabrizierte Häuser nach amerikanischen Vorlagen zu bauen – ein Vorschlag, der zehn Jahre zuvor oder wenige Jahre später undenkbar gewesen wäre. Diese Überlegungen waren in den letzten beiden Kriegsjahren durch die enormen Zerstörungen und Verluste einerseits und durch den Kontakt mit den Amerikanern sowie eine gewisse intellektuelle Dezentralisierung andererseits möglich geworden. Auch Michail Ivanovič Kalinin (1875–1946), Mitglied des Politbüros mit zuweilen mässigendem Einfluss, machte sich in einem offenen Brief an die Architektenzunft für Rationalität und Einfachheit stark. Die Pläne für den Wiederaufbau Moskaus, vor allem aber der zerstörten historischen Städte, vermögen noch interessante Aufschlüsse über diese wenig erforschte Phase zu geben.81 Einen Eindruck vom Zustand der Innenstadt vermitteln die Berichte der Schweizer Gesandtschaft vom September 1946. Der Berichtende war schockiert von den Wohnverhältnissen der Moskauer im Zentrum: „Überhaupt befinden sich alle Gebäude in Moskau, mit Ausnahme der im Kreml gelegenen und einiger neuer Monumentalkonstruktionen, in einem für unsere Verhältnisse einfach undenkbaren Zustande der Verlotterung. Teilweise sind die Nebenstrassen mit Steinpflaster belegt, zum grossen Teil bestehen sie aber nur aus Löchern und Wasserpfützen. Man darf wohl behaupten, dass es in diesen Vierteln keine einzige ganze Hausmauer gibt; überall ist der Kalkverputz weggefallen, die Ziegelmauer angebrochen, einzelne Häuser sind in Ruinen zerfallen, ein Bild vollständiger Verwüstung.
80 Architektura SSSR (1937) Nr. 10, S. 69; Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1963) Nr. 4, S. 24. Bilder des Mossovet-Gebäudes vorher und nachher und des umgestalteten Sovetplatzes in: Moscow in Photographies/Moskva v fotografijach/ Moskau in Photographie. Moskau (o.J.) S. 70/71. 81 Alessandro de Magistris: La Costruzione della città totalitaria. Il piano di Mosca e il dibattito sulla città sovietica tra gli anni venti e cinquanta. Mailand 1995, S. 129–130.
95
In diesen Behausungen wohnt die Bevölkerung von Moskau. Für die hohen Offiziere, Staatsfunktionäre, Künstler usw. sind in den neuen Monumentalbauten dem Range entsprechende Wohnungen reserviert. Der Grossteil der Bevölkerung muss sich aber mit dem kleinsten Unterschlupf begnügen. Wenn man den Häusern dieser Elendsviertel entlang geht und einen Blick in ein Parterrezimmer wirft, so sieht man 3–4 Betten- Wohn- und Schlafraum für eine ganze Familie. Auch die Kellerräume sind als Wohngelegenheiten in Anspruch genommen. (…) Es ist direkt unglaublich, wie zerrissen und schmutzig das Volk, wenige Ausnahmen abgerechnet, gekleidet ist.“82 Der Bericht zeugt von einer grossen kulturellen Differenz zwischen dem Autor und seinem Gegenstand. Der Grad der Hinnahme solcher Verhältnisse irritierte ihn masslos. Er ärgerte sich insbesondere darüber, dass im Hotel National das Warmwasser ausgefallen war, sich aber niemand darum zu kümmern schien. Auch die Leuchtschrift am Hotel Moskva war „seit Tagen“ teilweise ausgefallen. In der Schweiz hätte man das schon längst behoben, aber hier schien das keinen zu stören. Der Bericht aus dem Alltag stellt einen wertvollen Hintergrund für die im Folgenden geschilderten Vorgänge auf der PlanungseDie Gor’kijstrasse bene dar. In der Moskauer Stadtplanung kam es zu einer Konsolidierung und als wesentliche Neuerung zu einer vermehrten Beschäftigung mit dem „architektonischen Erbe”. Das führte zu zu einer russischen Nationalisierung, die sich später unter anderem an der Ausschmückung der Hochhäuser im „patriotischen Stil“ manifestierte. Wie immer war Stalin der Schiedsrichter und entschied sich für den Bau komfortabler Wohnungen, die den „Auserwählten” zur Verfügung standen. Nun entstanden die repräsentativen Wohnkomplexe von Rozenfel’d an den Peščanie Ulicy, von Žoltovskij am Leninskij Prospekt und an der Smolenskaja Ploščad’,83 von Mordvinov am Prospekt Mira. Eine weitere Achse war die Gor’kijstrasse mit ihrer Verlängerung, dem Leningradskij Prospekt.84 Um das Haus gegenüber des Telegrafenamtes in der Gor’kijstrasse entstand ein Konflikt: Dem für die Finanzierung zuständigen Ministerium war der Bau zu teuer. Die Architekten argumentierten, der Granit für die Verkleidung werde nicht nur die wichtigste Magistrale der Hauptstadt verschönern, sondern erinnere auch an den Sieg über die Deutschen. Diese hatten die polierte roten Platten, die für ein Siegesdenkmal gedacht waren, bei ihrem Rückzug aufgeben müssen. Als das nichts fruchtete, wendete sich Popov an Stalin, der sagte, man könne in der Hauptstadt nichts Billiges bauen, denn aus jedem Gebäude sollte für die folgenden Generationen der „Atem der kommunistischen Epoche” wehen. Dieser Ausspruch führte dazu, dass für Moskau nur individuelle Projekte mit den besten Architekten und hohem Ausbaustandard geplant wurden. 85 Ein Beispiel hierfür war das Delikatessengeschäft „Armentorg“, das 1952 im Erdgeschoss eines Wohnhauses am Puškinplatz eröffnet wurde. Das Architekturjahrbuch für das Jahr 1952 zeigte drei grossformatige Aufnahmen davon.86 Dieses prachtvoll dekorierte Geschäft setzte die Tradition exotisierender Kolonialwarenläden fort, die in Moskau durch das „Eliseev“ an der Gor’kijstrasse, das im 82 Schweizerisches Bundesarchiv (BAR) E 2300, MF 110 Berichte der Schweizer Gesandtschaft. Mein Dank für diesen Hinweis geht an Carmen Scheide. 83 Das elegante Wohnhaus an der Smolenskaja war bereits 1939 geplant worden und wurde 1950 gebaut. 84 De Magistris: La Costruzione, S. 131. 85 E. Taranov: Gorod Kommunizma. Idei liderov 50–60-x godov i ich voploščenie. In: Moskovskij Archiv. Istorikokraevedčeskij Al’manach. Vypusk I, Moskva 1996, S. 372–390, hier S. 372. 86 Prodovol’stvennyj magazin Armentorga v žilom dome na Puškinskoj ploščadi. Arch.: A. I. Zerenin, V. V. Bilibina. Künstler: A. Vartanjan. In: Sovetskaja Architektura. Ežegodnik , 1952. Moskau 1955, S. 121–241, hier v.a. 214.
chinesischen Stil gehaltene Teehaus „Perlov“ an der Mjasnickaja und den im orientalischen Stil gehaltenen Süsswarenladen am Arbat vertreten waren. Eines der bukolischen Wandmosaiken, die den Laden in von Stuckbögen gerahmten Nischen zierten, zeigte eine junge Frau in einem antikisierenden weissen Gewand. Die von Reben umrankte Frau balancierte auf der Schulter einen mit Früchten prall gefüllten Korb, wie die allgegenwärtigen Füllhörner der Stalinzeit ein Symbol des Überflusses. Auf der Konsole vor dem überlebensgrossen Mosaik stapelten sich Konfitürengläser in den typischen Pyramiden. Die Bildlegende lautete: „Für die gesamte ornamentale Gestaltung wurden dekorative Motive der armenischen Volkskunst verwendet“. Diese Architektur war kennzeichnend für die Demonstration nationaler Grösse der „Siegermacht“ und die Pflege eines ganz besonderen „Kolonialstils“. Dieser funktionierte in zwei Richtungen. Einerseits exportierte Moskau seine Architektur in die Provinz, andererseits schmückte sich die Hauptstadt mit exotischen Ornamenten aus den „Provinzen“ ihres Machtbereiches. Die Eliten des Zentrums konnten sich an den Produkten der armenischen „Provinz“ in angenehmer Atmosphäre mit Lokalkolorit gütlich tun. Ein komplementäres Beispiel für den imperialen Charakter der Architektur war das 1951 fertig gestellte zentrale Verwaltungsgebäude in der aserbeidschanischen Hauptstadt Baku, das von den russischen Architekten Lev Rudnev und Viktor Munc unter Verwendung lokaler Dekorationselemente geplant wurde. Lev Rudnev war Architekt der 1953 fertig gestellten Moskauer Staatsuniversität auf den Lenin-Bergen und des Stalin-Palastes in Warschau (1952–1955), der später in Palac Kultury umbenannt wurde. Rudnev betonte, bei der Planung des letzteren ebenfalls typische „polnische Stilelemente“ berücksichtigt zu haben, insbesondere steinerne Zierelemente, die Vorbildern aus Krakau und Zamość nachempfunden seien. Es handelte sich um eine Technik der „Verwaltung der Unterschiede“ durch ostentative Assimilation von Elementen. Diese wurden auf die Oberfläche der eigenen Architektur aufgetragen und als Angebot der Identifikation „vermarktet“. Das Erhabene, das die Architektur der Stalinzeit verkörpern sollte, hatte imperialen Charakter und funktionierte als exotisierendes Element im Zentrum wie auch als Statthalter der Herrschaft in den Hauptstädten der „Provinzen“. Zweierlei wird aus der Moskauer Debatte über architektonische Qualität deutlich: Ein Bruch in der Wohnbaupolitik wäre angesichts des Zustandes der Stadt notwendig und auch möglich gewesen. Dafür gab es Konzepte, und sie konnten diskutiert werden. Der Bruch wurde jedoch nicht vollzogen. Begründet wurde die Entscheidung mit dem Verweischarakter der Bauten, die über sich hinaus die sozialistische Stadt der Zukunft repräsentierten. Die Bauten dienten nicht zum Gebrauch, sondern der Selbstbeschreibung und der Herrschaft. Sie unterstrichen die Rolle des Zentrums und die Hierarchien von Zentrum und Provinzen. Berija, der mit dem Innenministerium (MVD) an der Lubjanka dem mächtigsten Amt vorstand (und die Arbeit von Millionen von Zwangsarbeitern verwaltete), versprach, die Frage der Arbeitskräfte zu lösen und spielte damit auf den Erfolg des Einsatzes von Strafgefangenen beim Bau des Weissmeerkanals sowie einer Reihe von Städten und Fabriken an. Doch die Stadtverwaltung wurde beim ZK vorstellig und lehnte das Ansinnen ab. Die Annahme, im Nachkriegsmoskau seien in grosser Zahl Strafgefangene und Kriegsgefangene auf den Baustellen eingesetzt worden, lässt sich aus den vorliegenden Dokumenten nicht bestätigen. Sie belegen lediglich den Einsatz deutscher Kriegsgefangener auf Baustellen im Zentrum Moskaus, namentlich in der Gor’kijstrasse. Dahinter stand die Absicht, den Moskauern die besiegten Deutschen bei der Arbeit vorzuführen. Strafgefangene kamen nur beim Bau der MGU zum Einsatz, und auch hier nur beim Giessen der Fundamente.87
87 Taranov: Gorod kommunizma, S. 373.
97
Tauwetter auf der Gor’kogo Nach Stalins Tod veränderten sich die städtebaulichen Prioritäten. In der Architektur bedeutete die Entstalinisierung eine Abkehr von den reich mit Ornamenten verzierten Prunkfassaden. Am Baukongress im Dezember 1954 bezogen die Architekten Schelte von Chruščev persönlich.88 Nicht schön sollten die Häuser sein, sondern schnell zu bauen, praktisch und kostengünstig. Chruščev hatte bereits zu Lebzeiten Stalins in der Moskauer Bauverwaltung Andrej Burovs Experimente mit der Grossblockbauweise – aufeinander geschichteten genormten Zementblöcken – und mit Stahlbeton unterstützt. Er musste Stalin zunächst davon überzeugen, dass Beton kein kapitalistischer Baustoff sei.89 Nun forcierte er die Typenbauweise anstelle individueller Entwürfe und instrumentalisierte zugleich das Wohnbauprogramm im Machtkampf gegen seine Rivalen an der Parteispitze. Wohnungsbau und Baupolitik blieben Chefsache. Die baupolitischen Prioritäten verlagerten sich vom Zentrum an die Peripherie der Stadt. Erst als 1959 die ersten Neubauviertel im Südwesten bezogen waren, wurden weitere Pläne für die zentrale Gor’kijstrasse vorgelegt.90 Zunächst hoben die Planer die historische Bedeutung der „Hauptarterie” der Stadt hervor und Die Gor’kijstrasse nahmen Bezug auf die Rekonstruktion des unteren Teiles zwischen Ochotnyj Rjad und Manegeplatz mit Hotel Moskva und Haus des Ministerrats. Baulücken sollten mit modernen, vielstöckigen Gebäuden im Stil der internationalen Nachkriegsmoderne geschlossen und vertikale Akzente gesetzt werden. Das wichtigste 1963 vorgestellte Projekt war die verglaste Hochhausscheibe des Hotel Inturist im unteren Teil der Gor’kijstrasse, das 2002 abgerissen wurde.91 Die Plätze entlang der Achse Puškinskaja, Majakovskaja, Sovetskaja Ploščad’ und Ploščad’ Belorusskogo Vokzala waren in die Neugestaltung einbezogen. Sogar das Dolgorukij-Denkmal sollte im Zuge der Enstalinisierung 1963 ans Neujungfrauenkloster verlegt werden. An seiner Stelle sollte wieder die 1918 von Lenin persönlich eingeweihte, im Krieg zerstörte Verfassungsstele errichtet werden.92 Das auffälligste Merkmal der Projektskizzen ist dabei, dass es sich um „Nachtvisionen“ mit hell erleuchteten Schaufenstern handelt. Die Gor’kijstrasse wurde nach den gleichen Prinzipien zur „Konsummeile“ umgestaltet, die zeitgleich den Entwurf des Novyj Arbat leiteten. Dieser Vision entsprachen die Fotoserien, die das neonbeleuchtete „Nachtleben“ in Szene setzten.
Konsumkultur in der Mangelwirtschaft Unter Chruščev sollten die Menschen die Früchte der entbehrungsreichen Industrialisierungsanstrengungen endlich auch ernten können.93 Die eigene Wohnung, wie klein auch immer, mit moderner Innenausstattung und in einem Neubauviertel gelegen, wurde zum zentralen Symbol dieses neuen Wohlstandes. Einen historischen Wendepunkt stellte die Errichtung der riesigen 88 Albrecht Martiny: Bauen und Wohnen in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Bauarbeiterschaft, Architektur und Wohnverhältnisse im sozialen Wandel. Berlin 1983, S. 91 ff. und S. 167 ff. 89 Colton: Moscow, S. 354. 90 In Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1961) Nr. 8, S. 17–21 wird die Rekonstruktion der Ul. Gor’kogo weitergeführt, hier werden die Projekte vorgestellt. 91 Das Projekt wurde in Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1963) Nr. 3, S. 22–25 vorgestellt. 92 Ausführlich dazu Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1963) Nr. 4, S. 22–24. 93 David Christian: Imperial and Soviet Russia. Power, Privilege, and the Challenge of Modernity. London 1997, S. 365.
99
19. CMADSN 1–6831, „Abends auf der Gor’kogo” von B. Trepetov 1961 („Podarki“) „Die Gor’kijstrasse hat etwas von einem grossen Dorfplatz an sich. Dort findet sich ganz Moskau ein, und jedesmal habe ich dort nach ein paar Schritten Bekannte getroffen. Diese unbestrittene Vorherrschaft einer einzigen Strasse in einer Sechs-Millionen-Stadt ist erstaunlich, aber leicht zu erklären. Zwar sind Fahrbahnen und Gehsteige der Gor’kijstrasse breit, aber da ist ein Gedränge von morgens bis abends. Hier gibt es Luxusgeschäfte wie Podarki, ein Geschenkehaus, in dem hübsche Gegenstände aller Art, vor allem Volkskunst, verkauft werden, das grösste Juweliergeschäft, das Gastronom Nr. 1, der die Einrichtung des 19. Jahrhunderts bewahrt hat (…), das grösste Pelzgeschäft, riesige Buchhandlungen, berühmte Restaurants (…), mehrere Eisbars, zwei Theater und einige Kinos.” 94
Autofabrik Togliatti dar, in der Fiat in Lizenz Žigulis produzierte. Zugleich hielten Kühlschränke, Fernsehgeräte und Unterhaltungselektronik Einzug in sowjetische Schaufenster und Haushalte – zumindest als Versprechen in Frauenzeitschriften und Haushaltsratgebern.95 Der vorsichtige Anfang einer Konsumgesellschaft berührte auch die Gor’kijstrasse. Das „Elisejev“ und Filippovs Bäckerei waren Aushängeschilder der staatlichen Handelsorganisation und wurden weiteren Kreisen zugänglich. Erste Selbstbedienungsgeschäfte nach westlichem Vorbild gab es in Moskau bereits um 1958, sie fanden jedoch keine Verbreitung.96 Um 1970 wurden wiederum einige wenige Selbstbedienungsläden eingeführt, der bekannteste davon an der Gor’kijstrasse Nr. 4, ein anderer am Kalinin-Prospekt. Sie hiessen universam – Universelbst. Wegen seiner langen Form nannten die Kunden das universam an der Gor’kijstrasse den „Darm“. Die Selbstbedienungsläden sollten Zeit beim Schlangestehen einsparen. Aus Furcht vor Ladendiebstählen gab es jedoch
94 Paul Thorez: Moskau. Lausanne 1964, S. 43–44. 95 Gronow: Kitsch and Luxury, S. 51. Susan Reid: The Khrushchev Kitchen. Domesticating the Scientific-Technological Revolution. In: Journal of Contemporary History 40 (2005) Nr. 4, S. 289–316, hier S. 310–312. 96 Hermann Pörzgen: So lebt man in Moskau. München 1958. Pörzgen war bereits von 1937 bis 1941 Korrespondent in Moskau gewesen, bis 1955 russischer Kriegsgefangener und kehrte 1957 zum ersten Mal beruflich nach Moskau zurück. Hier S. 109.
20. CMADSN 1–7203, „Abends auf der Gor’kogo” von V. Langranž 1962 („Berezka“-Laden) Besonderen Wert legte man auf die Läden im Erdgeschoss entlang der Strasse: sie waren beleuchtet und verglast. Schaufenster und Leuchtreklame verliehen dem Strassenraum einen „festlichen Charakter”. Die Läden im Erdgeschoss dienten explizit den Bedürfnissen der Bevölkerung und verlängerten den öffentlichen Raum ins Innere der Gebäude. Die Gor’kijstrasse wurde nach denselben Prinzipien umgestaltet, die auch die Planung des Neuen Arbat bestimmten.97 Glamour brachte das 1962 eröffnete Juweliergeschäft „Berezka“. In den „Berezka“-Läden konnte man allerdings nur mit Devisen bezahlen. Es handelte sich um eine Ladenkette mit gehobenem Angebot, die nur Eliten und Ausländern zugänglich war, oder aber Sowjetbürgern, die mit Ausländern zusammenarbeiteten, etwa Reiseführerinnen. In der Regel waren sie auch versteckter gelegen und nicht frei einsehbar.98 Der Raum veränderte sich somit auf mehreren Ebenen: Der Strassenraum erhielt nun „Glanz“. Das Geschäft richtete sich aber vor allem an ausländische Besucher und privilegierte Sowjetbürger. Transparenz und Beleuchtung wirkten am Ort selbst, aber auch bei der Inszenierung eines neuen Bildes der Stadt. Die Aufnahme durch die Neonblume legt den Akzent auf Dynamik, Veränderung, auch auf Vergnügen und Konsum. Die Betonung der Neonblume und der Beleuchtung verweisen auf mögliche Bezüge zu westlichen Stadtbildern, etwa des Times Square in New York, der als Inbegriff des beleuchteten nächtlichen Stadtlebens galt. Sie verweisen auch auf den gleichzeitig geplanten „Rivalen“, auf die neue Magistrale nach Westen, den Novyj Arbat.
97 Skizzen der neuen Ladenpassagen an der Gor’kijstrasse in: Stroitel’stvo i Architektura Moskvy 8 (1961) S. 17, 20 und 21. 98 Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1962) Nr.2, S. 14, Fotos des Interieurs.
am Ein- und Ausgang zeitraubende Taschen- und Tütenkontrollen, so dass sich der gewünschte Effekt nicht einstellte.99 Die Versorgung mit Konsumgütern guter Qualität blieb jedoch ein Problem. Schlangestehen, geschlossene Systeme und Schattenwirtschaft gehörten weiterhin zum Alltag. Die Läden im Zentrum Moskaus hatten das beste Angebot der Sowjetunion.100 Wie in den dreissiger Jahren trafen auch jetzt noch Luxus und Mangel in hierarchisierten Räumen aufeinander.
101
21. Eine Eisesserin im schicken Kleid, mit Hochfrisur und Pfennigabsätzen vor einem modernen Pavillonbau, möglicherweise einer Eisdiele. Foto aus der Reihe „in der Gor’kijstrasse „ von Naum Granovskij 1962 (CMADSN 1–35337) Die Machthaber unter Chruščev verbesserten die Versorgung mit Wohnraum und Konsumgütern und garantierten Vollbeschäftigung sowie ein funktionierendes soziales Netz. In den Sechzigerjahren wurde es möglich, von einem Motorrad, einem kleinen Auto, einer dača oder gar einer Wohnung für die eigene Familie zu träumen. Mode und Frisuren, aber auch Neubauten setzten neue Akzente im Stadtbild. Die Aufnahme zeigt die Kontraste. Sie war Teil einer Serie über den „Alltag in der Gor’kijstrasse“. Bezüglich der Intention der Serie darf man annehmen, dass den Sowjetbürgern und dem Ausland der gehobene sowjetische Lebensstandard wirksam vor Augen geführt werden sollte: Gut gekleidete Menschen, die einen Stadtbummel in einer Prachtstrasse machen. Die Aufnahmen sind wahrscheinlich nicht gestellt. Sorgfältig ausgespart sind auf den Aufnahmen die Warteschlangen vor den Geschäften, wie sie Paul Thorez beschreibt.
„Im Geschenkehaus an der Gor’kijstrasse stehen die Kunden etwa über 100 Meter Schlange. Sie beginnt im ersten Stock, geht über die Treppe, durchläuft das Erdgeschoss und wird auf dem Gehsteig immer länger. Man verkauft italienische Pullover. Sie kosten durchschnittlich 50 Rubel, was 199 Anatoli Rubinow: Moskau intim. Berlin 1992, S. 67–93; Der Satiriker Rubinow schildert groteske Szenen von unfreundlichen oder aufgebrachten Verkäuferinnen, die in jedem Kunden einen Feind erkennen sowie von raffinierten Methoden des Ladendiebstahls. Leo Gruliow: Moskau. Amsterdam 1977 (Time-Life: Die grossen Städte), S. 131; Gruliow schreibt auch über das Einkaufen allg. S. 128–134, sowie über die Kolchosmärkte. Gruliow lernte als Journalist das Moskau des Metrobaus in den dreissiger Jahren kennen, war 25 Jahre lang Redaktor von The Current Digest of the Soviet Press in den USA und kehrte 1972 bis 1975 als Korrespondent nach Moskau zurück. 100 Monica Rüthers: Markt und Mangel. Geschichten der Konsumkultur vom Hoflieferanten bis zur Derizitwirtschaft. In: Moskau. Menschen, Mythen, Orte. Hg. von Monica Rüthers und Carmen Scheide. Köln usw. 2003, S. 58–82.
sehr teuer ist. Die Neuigkeit hat sich in Windeseile in der Stadt verbreitet, und innerhalb von zwei Stunden war die Menge da, sah gleichgültig über die soliden, aber weniger eleganten einheimischen Waren zu 10 bis 50 Rubel hinweg. Jeden Wochentag gleichen die Strassen zwischen der Gorkowo und dem GUM lebendigen Flüssen. Die Anzahl der Fussgänger ist einfach unvorstellbar. In der Gor’kijstrasse verteilen sie sich dann auf die ebenfalls sehr belebten Querstrassen.”101
Das Jahr 1953: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Spätstalinismus In seinem Roman „Kommunalka“ beschreibt Boris Jampol’skij einen nächtlichen Spaziergang seines einsamen und verfolgten Helden vom Puškintheater die Gor’kijstrasse hinunter – die Handlung spielt im Februar 1953. „Ich ging am dunklen, schlafenden Herzen-Haus (das Haus, in dem sich der Club des Schriftstellerverbandes befindet, MR) und am ‚Wochenschaukino’ vorbei, das früher ‚Grosses Stummfilmtheater’ hiess und wo jetzt in einem kleinen, schlauchartigen, provinzkinoähnlichen Saal mit abschüssigem Fussboden ‚Im Eis des Die Gor’kijstrasse Weltmeers’ gezeigt wurde, ging an der alten Eckapotheke vorbei, die noch das Passionskloster gesehen und sicherlich die Mönche mit Arzneien versorgt hatte und wo noch heute Greise und Neurotiker jederzeit eine fertige Bechterew-Mixtur erhalten konnten, vorbei an Puschkin, der immer noch dort stand, wo Liebhaber der schönen Literatur ihn hingestellt hatten (des Volkes Pfad zu ihm wuchs niemals zu), passierte das Haus mit der steinernen Frau auf dem Ecktürmchen,102 das im Glanz merkantiler Kronleuchter erstrahlende Jelisseewsche Geschäft, das ehemalige Hotel ‚Lux’, in dem noch die letzten Komintern-Funktionäre wohnten, liess die wie klobige Kommoden aussehenden Mordwinowschen Häuser hinter mir und ging die graue, fast menschenleere Gorkistrasse hinunter, in Richtung Ochotny Rjad.”103 Die Gebäude definieren den Strassenraum durch ihre Fassaden, aber auch durch ihre Funktionen. Selbst Bauten der Vergangenheit geben dem Ort immer noch ihre Bedeutung mit. „Der Wind blies mir einen Haufen kalten, prickelnden Schnee ins Gesicht, gierig atmete ich die frische, irgendwie besondere Luft der nächtlichen Stadt und ging die Gorkistrasse zum Haupttelegrafenamt hinauf. Im halbdunklen, öden Schalterraum schreiben einige wenige traurige Gestalten an den Schreibpulten Briefe und Telegramme. Was mochte sie zu dieser späten Nachtstunde hergetrieben haben – ein Unfall, Reue, Angst vorm Alleinsein, das Bedürfnis zu Geständnissen? Ich ging an einen Schalter, nahm mir ebenfalls ein Telegrammformular und trat an ein Pult, auf dem schmierige, dünne Federhalter mit verbogenen Federn lagen. Wem konnte ich um diese Zeit ein Telegramm schicken? Grosser Gott, wem konnte ich meinen Aufschrei, meine Not telegrafieren! Still legte ich den Halter aus der Hand, liess das leere Formular auf dem tintenbeklecksten Pult liegen und ging.”104 Jampol’skij beschreibt in dieser Szene eindrücklich das Gefühl der totalen Atomisierung durch Angst, die Isolation seines Protagonisten während der Zeit des so genannten „Ärztekom-
101 Thorez: Moskau, S. 80–81. GUM: Gosudarstvennyj universal’nyj magazin, Staatliches Warenhaus. 102 Das Gebäude ist auf der Abb. 80 aus „Sovetskaja Architektura za XXX let“ im Kapitel „Folgerungen“ zu sehen. 103 Jampolski: Kommunalka, S. 221. 104 Jampolski: Kommunalka, S. 259–260.
plotts“.105 Eine Kommunikation ist gar nicht mehr möglich – nicht einmal am Ort der Kommunikation selbst. Der Protagonist flüchtet sich in eine andere Welt: An der Tverskaja gab es den Hauch eines Nachtlebens im Café National. „Das Café ‚National’ schimmerte mit grossen, hellen, freundlichen Fenstern durch den fallenden Schnee. Auch jetzt hatte es noch bis drei Uhr nachts geöffnet. Das war noch aus der Zeit der ‚kommerziellen Restaurants’ beibehalten worden, als Stalin plötzlich das Nachtleben in Gaststätten zugelassen hatte. (…) Im Café war gedämpftes Licht, im Halbdunkel drehten sich in den Lichtreflexen einer an der Decke rotierenden Spiegelkugel Paare im Walzer, schwebten an mir vorbei. (…) Alles war wie immer. Das Nachtleben im Café ging seinen Gang. (…) Jeden Abend, im Winter gegen zehn oder elf, im Sommer gegen Mitternacht, fanden sich hier nach dem Bummel durchs Zentrum vom Dolgoruki-Denkmal zum Hotel ‚Moskwa’ und zurück, auf der Seite, wo das ‚Aragwi’, die ‚Cocktail Hall’ und das Café ‚Moroshennoje’ waren, das später in ‚Kosmos’ umbenannt wurde, stets ein und dieselben Leute ein, die sich alle untereinander kannten: Wer das Café betrat, egal ob allein, mit der Freundin oder einem gerade erst am Zentraltelegrafenamt unter der Laterne aufgelesenen Mädchen, wurde sofort an die kleinen Tische in den verschiedenen lauschigen Ecken gerufen, und bis drei Uhr nachts waren dann alle Tische gründlich durchmischt, wusste keiner mehr, wer zu wem gehörte.”106 Im Nachtleben geraten die Gesetze von Raum und Zeit ausser Kraft, räumliche Kontraste und soziale Grenzen lösen sich auf in der Dunkelheit und den Lichteffekten, alles scheint sich zu drehen. Das geschilderte Nachtleben mit seiner ansatzweisen Anonymität und halböffentlichen Atmosphäre bot Jampol’skijs verzweifeltem Helden einen Fluchtpunkt. Für eine nur wenige Jahre jüngere Generation war es eine der Voraussetzungen für die Bildung einer Gegenkultur, eine Zone autonomen sozialen Lebens. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges tauchten in Moskaus Strassen auffällig gekleidete junge Männer auf, die sich regelmässig auf der Ulica Gor’kogo trafen, der sie den Übernamen brodvei gaben. Sie verbrachten ihre Abende in der berüchtigten 1940 eingerichteten „Koktejl choll“ oder im Restaurant „Aragvi“. Die sowjetische Presse bezeichnete das Phänomen als „Bummelei“ (besdelničestvo) und die Jugendlichen als stiljagi, sie selbst nannten sich allerdings čuvaki.
„Schon von ferne hört man Schreie, Misstöne und Freudengeheul und Gestöhn“: Die „Koktejl’ choll“, Treffpunkt der stiljagi Die stiljagi waren eine typische Nachkriegserscheinung. Sie wollten nach einer Kindheit im Krieg das Leben geniessen: Tanzen, Musik hören und ins Kino gehen, um die Beutefilme anzuschauen.107 Die Ängste, die Jampol’skijs Held ausstehen musste, waren ihnen fremd. Sie hatten
105 Die einer Verschwörung angeklagten Ärzte, alle jüdischer Herkunft, wurden nach Stalins Tod im März 1953 amnestiert. 106 Jampolski: Kommunalka, S. 247–249. 107 Juliane Fuerst: Stalins Last Generation: Youth, State and Komsomol, 1945–1953. Unveröff. PhD, London School of Economics and Political Science, 2003, zeichnet die Nachkriegszeit als eine Phase, während der Tanz, Beutefilme und Mode für die Jugend allgemein wichtig wurden. Insofern seien die Stiljagi nur als Spitze des Eisbergs zu betrachten. Die Gor’kij-Strasse-Stiljagi nahmen unter den Stiljagi wiederum einen Sonderstatus ein. Sie waren sozial im Allgemeinen Sprösslinge der hauptstädtischen Mittelschicht-Intelligenz; E. Ju. Zubkova: Obščestvo i reformy 1945–1964. Moskau 1993, S. 138 bezeichnet die Stiljagi ebenfalls als einen lediglich besonders sichtbaren Ausdruck eines allgemein unter der Nachkriegsjugend verbreiteten Wunsches nach Selbstbestimmung; zu Stiljagi vgl. auch Mark Edele: Strange young
103
keine persönlichen Erinnerungen an den stalinistischen Vorkriegsterror, aber auch keinen Anteil am Kriegsheldentum, da sie nicht an der Front gekämpft hatten. Sie hatten bezeichnenderweise, als erste Generation in der Sowjetunion, überhaupt keine Gewalterfahrung.108 Insofern fehlten ihnen zentrale Erfahrungen, die die Älteren geprägt hatten: Die nur wenig älteren frontoviki stolzierten mit ihren Medaillen an der Brust umher und trugen erbeutete westliche Kleidung. Die jüngeren Männer suchten sich eigene Symbole erfolgreicher Männlichkeit jenseits der Soldatenehre. Das Problem war für alle Mitglieder der jüngeren Generation dasselbe. Die differenzierte Entwicklung der stiljagi -Kultur und ihre interne soziale Distinktion zeigen, dass auch der Prozess der sozialen Schichtung und der Verbürgerlichung der Eliten eine Rolle spielte. Damit eine Alternativkultur entstehen konnte, mussten die Jugendlichen erst einmal merken, dass es alternative Moden gab und sich dann Zugang dazu verschaffen. Beides war möglich durch Beutegegenstände, die Kriegsheimkehrer in Kommissions-Geschäften oder auf dem Schwarzmarkt veräusserten. Auch die Ausländer, die in Moskau lebten, brachten Kleidung, Modejournale und Platten mit. Die sowjetischen Funktionärseliten hatten ebenfalls Zugang zu westlichen Informationen, Presseerzeugnissen und Modeartikeln. Über die nötigen finanziellen Mittel, um sich solche Dinge und Informationen zu verschaffen, Die Gor’kijstrasse verfügte zunächst nur die jeunesse dorée, die Kinder eben dieser Funktionseliten. Wichtiger Teil neben der visuellen Kultur war die Musik, die einerseits auf die Epoche des „Roten Jazz“ Mitte der dreissiger Jahre zurückgriff, andererseits über Filmmusik in Beutefilmen, westliche Radiosender und über Plattenimporte durch Offiziere der Roten Armee Eingang in die Sowjetunion fand. Umschlagplätze für Informationen und Orte sozialer Interaktion für die Jugendlichen, wo sie ihre Trophäen spazieren führen konnten, waren ebenfalls Bedingung: Das waren neben Privatwohnungen und dačas der Eltern öffentliche Einrichtungen wie Tanzlokale, Clubs und Restaurants. In den Restaurants und Bars verkehrten auch die in Moskau lebenden Ausländer – eine wichtige Schnittstelle für Information über westliche Lebensstile.109 Die stiljagi trugen enge Hosen, Schuhe mit zentimeterdicken Kreppsohlen und grell karierte Jacketts. Ihre Sprache war ein mit englischen Ausdrücken versetzter Jargon.110 Zu Beginn der Fünfzigerjahre hatten die meisten sowjetischen Städte ihren brodvei oder kurz brod, meist ein Teil der zentralen Strasse im Zentrum. In Moskau war das die Gor’kijstrasse vom Hotel National bis zum Gartenring, in Leningrad der Nevskij Prospekt.111 Die stiljagi wollten unpolitisch sein dürfen und drückten das symbolisch in ihrer „unsowjetischen“ Kleidung aus. Sie lehnten das Sowjetische ab, weil sie dem Kriegsheldentum gegenüber kritisch eingestellt waren. Die Kleidung war nicht das Mittel, sondern der Zweck an sich, und das war der Obrigkeit suspekt. Die Feuilletons und Karikaturisten verhöhnten die stiljagi und stellten sie als Nichtstuer und Kriminelle dar. Auf der Strasse und in der Strassenbahn wurden die stiljagi
men in Stalin’s Moscow: The birth and life of the stiliagi, 1945–1963. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 50 (2002), S. 37–61; Maurice Hindus: Haus ohne Dach. Russland nach viereinhalb Jahrzehnten Revolution. Wiesbaden 1962, S. 374–383. 108 Yuri Levada: „Rupture de Générations“ en Russie. In: The Tocqueville Review/La Revue Tocqueville 23 (2002) Nr. 2, S. 15–35, hier S. 23. 109 Edele: Strange young men, S. 37–61; Maurice Hindus: Haus ohne Dach, S. 374–383. 110 Zu Kleidung und Gehabe der Stiljagi Raisa Kirsanova: Stiljagi. Zapadnaja moda v SSSR 40–50-ch godov. In: Rodina. Rossijskij istoričeskij ill. žurnal. Moskva. (1998) Nr. 8, S. 72–75, S. 114 ff; Edward Crankshaw: Russia without Stalin: The Emerging Pattern. London 1956, S. 114 ff.; ähnlich Allen Kassof: Youth vs. The Regime: Conflict in Values. In: Problems of Communism 6 (1957) Nr. 3, S. 15–23. 111 Kirsanova: Stiljagi, S. 73.
22. Die „Koktejl choll“ an der Gor’kij-Strasse 6 in „Dreissig Jahre Sowjetische Architektur in der RSFSR. Leipzig 1950, Abb. 46. Leider sind auf diesem Bild keine Menschen zu sehen. Es entstammt einer Gesamtdarstellung der architektonischen Errungenschaften der Sowjetunion von 1950 und setzt vor allem den repräsentativen Charakter ins Bild.112
von ihren Mitbürgern verspottet und angerempelt. Sie wetteten gerne, wer von ihnen in Leningrad oder Moskau den ganzen brodvei hinuntergehen könnte, ohne angepöbelt zu werden.113 Eine breit angelegte Pressekampagne sollte die Öffentlichkeit gegen das Phänomen mobilisieren. Ein Artikel von S. Narinjani mit dem Titel Čelovek bes opredelennych zanjatij (Ein Mensch ohne feste Arbeit) in der „Komsomolskaja Pravda“ berichtete bereits am 22. Februar 1952 von Gecken mit greller Krawatte und stellte sie als verlogene Müssiggänger hin. Der junge Mann, der als negatives Beispiel diente, verhielt sich tagsüber angepasst und unauffällig. Er arbeitete bei Wandzeitungen mit und „obwohl Anatolij Gersoni niemals in der Armee war, lief er doch in halbmilitärischer Kleidung herum, und gab zu dieser Tageszeit der schlichten Farbe der Uniform gegenüber der gelben und violetten den Vorzug.“ 114 Denn er führte ein Doppelleben: Abends wechselte er mit den Kleidern auch die Persönlichkeit, wurde vom „guten Sozialisten“ zum „vergnügungssüchtigen Nichtstuer“. Damit verband er kein Ziel, er stellte die herrschende Ordnung nicht in Frage, sondern beanspruchte gewissermassen innerhalb dieser Ordnung einen „Feierabend“ für sein privates Vergnügen. Besonders spannend ist der Bezug zur militärischen Kleidung, die offenbar auch für nicht-frontoviki ein Status-Element war und zugleich offiziell als „konform“ angesehen wurde. Nach Stalins Tod im März 1953 und mit zunehmender wirtschaftlicher Erholung von den Kriegsfolgen verbreitete sich die jugendliche Gegenkultur und wurde auch für westliche Beobachter sichtbar. Sie orientierte sich auf der Suche nach alternativen männlichen Identitätsmustern an westlichen Jugendkulturen. Die stiljagi schlenderten mit ihren bunten Krawatten die Gor’kijStrasse hinunter und trafen sich in der „Koktejl’ choll“. Die wenigen Mädchen an der Peripherie dieser Jugendkultur schminkten sich die Lippen, toupierten das Haar und sparten für ein paar Schuhe mit Pfennigabsätzen. Die traditionellen Zöpfe der Komsomolzinnen waren ebenso out, wie der Bubischnitt der Kriegsjahre. Dafür begann die Jagd auf westliche Modezeitschriften und die entsprechenden polnischen Journale. Die „Komsomolskaja Pravda“ schilderte am 19. November 1953 den Werdegang dreier Jugendlicher von regelmässigen Treffen in der „Koktejl choll“ an der Gor’kijstrasse bis zum Mord als logische Kette von Ereignissen. Der Ruf der „Koktejl’ choll“ war geboren.
112 Zur Interpretation des Publikationsformates „Architekturbildband“ vg. Kapitel „Folgerungen“. 113 Kirsanova: Stiljagi, S. 74. 114 Zitiert nach Ost-Probleme 4 (1952) Nr. 29, S. 950–952, hier S. 950.
105
23. Die Zeitschrift Korokodil’ (1954) Nr. 1 brachte eine Karikatur der „Koktejl choll“.115 Die „Koktejl choll“ war ein Ort der Konfrontation des Individuums mit den geltenden Normen und Regeln. Die Kommunikation zwischen den normativen Instanzen und den Individuen fand einerseits über Presse und Karikatur statt, andererseits über Körpersprache, Kleidung und demonstratives Benehmen „gegen die Regeln“, wobei schon Hedonismus als demonstrativer, lustorientierter Konsum einen Verstoss darstellte. Zeichenhaften Charakter haben in der Darstellung das jugendliche Alter, die Frisur, der blasierte Gesichtsausdruck, das Rauchen und das Geldbündel in der Jackentasche, das Schwarzhandel suggeriert. Der Text spielt auf das Schulalter des Jugendlichen an, aber auch auf die Hilflosigkeit der Eltern. Die ausführlichste Beschreibung der „Koktejl choll“ findet sich in der Reisebeschreibung des französischen Journalistenpaars Lazareff aus dem Jahr 1954. Angesichts des Interesses, auf das die jugendliche Gegenkultur der stiljagi in letzter Zeit stösst, sei sie hier ausführlich zitiert. „Die Cocktail-Hall – das ist der Name der einzigen Bar von Moskau: sehr gross, Stil 1920, zwei Stockwerke, mit Zahltischen und hohen dunklen Hockern, einem Dutzend kleiner Tische, wo Männer und Frauen Cocktails aus Wodka mit süssen Likören trinken; Whisky oder Gin gibt es nicht. Hier verbrachten wir auf den Barstühlen hockend mehrere Abende. Ich hoffte sehr, auf einen geschwätzigen Nachbarn zu stossen; nach zwei oder drei russischen Cocktails ist das leicht.”
„‚Schon von fern hört man Schreie, Misstöne und Freudengeheul und Gestöhn. Das kommt aus einem Etablissement mit Namen Cocktail-Hall, wo die jungen ‚Stiliagis’ – so nennt man in Russland die Zazous, die modischen Exzentriker der jungen Generation der Nachkriegsjahre, die ‚Existentialisten’ – auf Hockern an der Bar sitzen und mit Strohhalmen Alkohol schlürfen.’ Dies lasen wir in der ‚Wetschernaja Moskwa’ (Moskau am Abend). Die Tageszeitung gab dann ‚fürchterliche Einzelheiten’ mit Namen von Schuldigen, wie es sich gehört: Leonidas Alexandrowitsch Baranow, Sekundaner in Schule 35, Sohn eines hohen Funktionärs der chemischen Industrie, 16 Jahre; Marek Kupoians, Sohn eines Direktors im Laboratorium für pharmazeutische Produkte en gros, 15 Jahre; Ewdokimow, Regisseur am Theater der Jugend, ‚der den Jungen eine reine Moral einprägen sollte’, und sogar – o Schreck – Marat Akimowitsch Brukow, der Lehrer ist: ‚Dürfen wir unsere Jugend solchen Leuten anvertrauen?’ ‚Maria Nikolaewna, die Barkeeperin, die zum Trinken aufmuntert, ist von völlig betrunkenen jungen Burschen umringt, die ohne zu rechnen ihre Rubel ausgeben’, versicherte ‚Moskau am Abend’. Wir hörten nicht zum erstenmal von der Cocktail-Hall. Sie war die Zielscheibe einer immer heftigeren Kampagne gegen die müsiggängerische und ‚ausschweifende’ Jugend. Diese war auf dem XIX. Kongress der Partei energisch angezeigt (…) worden. (…) Die Cocktail-Hall schien jene jeunesse dorée zu symbolisieren, deren blosse Existenz eine Herausforderung für das ‚System’ ist. Und schon häufig hatte die Presse Leserbriefe abgedruckt, in denen die Schliessung dieser Bar verlangt wurde. Wir beeilten uns, diesen einzigartigen Ort der Ausschweifung kennenzulernen, ehe es zu spät wäre. (…) Am ersten Abend, an dem wir hingingen, war es etwa 20 Uhr. Eine 115 Zitiert nach: Ost-Probleme 14 (1964) Nr. 8, S. 324.
lange Reihe von Besuchern erwartete auf dem Bürgersteig gelassen den Augenblick, in dem sie eintreten könnte. Von Zeit zu Zeit öffnete sich die Tür, und ein livrierter Portier liess ein oder zwei Paare heraus und zwei oder vier neue Konsumenten hinein. Unsere wartenden Genossen waren im Durchschnitt jung und ziemlich heiter, oft mit viel grösserer Sorgfalt gekleidet als ihre Landsleute, aber niemand hatte ‚lange Haare wie Tarzan’, niemand war ‚amerikanisch gekleidet’ , niemand ‚redete den anderen nur mit Mister oder Mistress, statt mit Towaritsch an’, wie es die ‚Stiliagis’ nach der Beschreibung der Presse tun sollten. Endlich durften wir in die Cocktail-Hall hinein. Sie hat zwei Stockwerke. Vor dem Saal ist die obligatorische und traditionelle Garderobe, das Ganze im Stil einer amerikanischen Bar von 1920 (…), mit Eichenholztäfelung, hoher Theke und gedämpftem Licht. Im ersten Stock spielt ein Orchester sehr con sordino. Um etwa zehn kleine Tische im unteren und etwa zwanzig im oberen Stockwerk trinken wenig lärmfreudige Gäste – genau wie andere, die auf den hohen Barhockern sitzen – mit Strohhalmen Cocktails auf Wodkabasis und essen belegte Brote, Schokolade oder Sakuskis, eine Art hors-d’oeuvre. Sehr oft Tische mit einzelnen Männern. Viele Uniformen. Hinter der Theke sind zwei junge schwarzgekleidete Frauen tätig, mit Flaschen oder Cocktail-Shaker in der Hand. Eine der beiden, brünett mit entschiedenem Aussehen, regelmässigen Zügen, muss die schöne Maria Nikolajewna sein. Sie kennt natürlich ihre Stammgäste und deren Vorliebe. Sie ist sehr stolz auf ihre Spezialitäten: ‚Mauerbrecher für den Anfang’ (armenischer Branntwein mit Aprikot-, Pfirsich- und Zwetschgenlikör); ‚Freundschaft’ (Wodka und Kirsch mit Branntwein); ‚Im Fluge’ (Himbeergeist, Zwetschgenwasser und Benediktinerlikör); ‚Weisse Nächte’ (Georgischer Branntwein, Kartäuserlikör und Sekt) usw.”116 Wie gross der Kontrast zwischen dem sowjetischen Alltag und diesem „anderen Ort” in Moskau war, konnten die Besucher aus Paris wohl kaum ermessen. Tatsächlich fiel die 1940 eröffnete Bar noch im Jahr 1954 der Antialkoholkampagne zum Opfer. Ein britischer Berichterstatter schrieb über die „Koktejl choll“, er selbst habe während des Krieges hier einmal eine milde HolzAlkohol-Vergiftung erlitten. Nach einer Pressekampagne sei die Bar geschlossen und als Eisdiele wieder eröffnet worden.117 Doch auch hier blieb der physisch ausgelöschte Ort auf der kognitiven Landkarte der Moskauer verzeichnet. 1960 war die „Koktejl choll“ bereits zur Legende geworden. Der schwedische Austauschstudent Harald Hamrin berichtet von einer Zufallsbekanntschaft: „Wir schlenderten zuerst die Strassen auf und ab und landeten schliesslich unvermeidlich auf der grossen Promenade der Gorkistrasse mit den für sowjetische Verhältnisse traumhaften Schaufenstern. Ganz unvermittelt blieb Valentin vor einer grossen Eisdiele stehen. ‚Hier war früher eine Cocktail-Bar’, sagte er. ‚Da gab es einen richtigen Bartisch mit hohen Stühlen, schummriger Musik und anständigen Getränken. Alle besseren Teddyboys von Moskau versammelten sich abends hier und hockten herum – Söhne von Ministern und Vize-Ministern oder Hoschschulprofessoren. Manche kamen in knallroten Sportwagen angefahren und hielten mit quietschenden Bremsen dicht an der Bordsteinschwelle. Manchmal kam es in dem Gedränge zu so heftigen Auftritten und Schlägereien, dass die Polizei eingreifen musste. Vor etwa einem Jahr spielte sich drin an der Bar ein Eifersuchtsdrama ab. Einer der Teddyboys wurde vom Sohn eines Ministers durch einen Pistolenschuss getötet, wenn ich mich recht erinnere. Die Polizei war sofort da, und es gab ein gewaltiges Aufsehen. Ein paar Tage später wurde die Bar geschlossen.’ Nun sind Moskaus finanzstarke Teddyboys heimatlos.”118
116 Hélène und Pierre Lazareff: Die Stunde Moskaus. Russland wie es wirklich ist. 2. Aufl. Düsseldorf 1955, S. 38–39 und S. 204–206. 117 Crankshaw: Russia without Stalin, S. 116–117. 118 Hamrin: Zwei Semester, S. 72–73.
107
Wie es in den Eispalästen um 1960 zuging, berichtet Paul Thorez: „Im zweistöckigen Eispalast an der Gor’kijstrasse mit einem breiten Schaufenster, aus dem am Abend ein weisser Bär leuchtet, hat eine Portion Eis 150 Gramm und die Kunden verlangen immer das Doppelte oder Dreifache. Da gibt es Persönlichkeiten, von denen man nie erwartet hätte, dass sie vor einer mit eingemachten Kirschen gespickten und mit Orange und Ananaswürfelchen vermischten Eispyramide sitzen würden. Niemals werde ich die beiden Generäle in Galauniform, die Brust von Orden strotzend, vergessen, die sich, an einem Tisch allein, einen Fruchtbecher einverleibten.”119 In der „Koktejl choll“ erhielt ein sozialer Konflikt einen Ort. Die Obrigkeit kommunizierte durch die Medien, spottete und drohte, während die Jugendlichen durch ihr Verhalten, ihre Kleidung und ihren Habitus ihre Einstellung den gesellschaftlichen Utopien gegenüber äusserten. Die Bar war ein Kommunikationsraum für jugendliche Gegenkulturen und bot eine Möglichkeit zum Kontakt mit den in Moskau verkehrenden Ausländern. Dieser Kommunikationsraum wurde 1954 geschlossen. Er lebte jedoch als Legende und auf dem geistigen Stadtplan weiter. Er war ein Ort, der durch diese Geschichten Bedeutung erlangte. Die Zeitschrift „Sovetskaja kul’tura“ kritisierte die stiljagi 1955 ausführlich als arbeitsscheue und genusssüchtige Modegecken und Die Gor’kijstrasse stellte sie an den Pranger.120 „Die stiljagi bevorzugen bestimmte Stellen Moskaus als Treffpunkte. Von dort aus begeben sie sich in die Restaurants, Klubs, Tanzlokale oder bummeln stundenlang auf der Gor’kijstrasse. Hier kann man auch den faulenzenden ‚Dandy’ Witalij Treschtschalin antreffen, den die stiljagi selbst anscheinend nicht ohne Grund den ‚Dummkopf vom Broadway’ nennen.”121 Westliche Beobachter teilten bereits 1956 die rebellische Jugend ein in Hooligans (Unterschicht),stiljagi (Mittelschicht) und jeunesse dorée, verwöhnte, gelangweilte Kinder der Privilegierten.122 Aufsehen erregte 1955 der Skandal um Söhne der Moskauer Parteielite, die in den Wohnungen und Datschen ihrer Eltern angeblich wahre Orgien gefeiert und sogar ein Amateurbordell unterhalten hatten.123 Nach dem internationalen Weltjugendfestival in Moskau 1957 entfalteten westliche Modeeinflüsse noch mehr Breitenwirkung.124 Die Atmosphäre war von Hoffung und Erwartung geprägt, wie sich Vladimir Bukovskij erinnert: „Es war lächerlich geworden, vom ‚verfaulenden Kapitalismus’ zu sprechen. In Bezug auf ihre Bedeutung kann man diese Ereignisse (gemeint sind das Weltjugendfestival von 1957 und die Amerikanische Ausstellung von 1959, MR) mit der Entlarvung Stalins vergleichen. (…) Moskau verwandelte sich vor unseren Augen: An die Stelle der kriminellen Stadt meiner Kindheit mit ihren Elendsvierteln und ihren Banden von Halbstarken in Regenmänteln und Stiefeln war eine Stadt getreten, deren Bewohner sich in Buchläden drängten, die Säle füllten, in denen Dichterlesungen stattfanden, die das Theater ‚Sowremmenik’ stürmten, während aus den Fenstern der Häuser abends nicht mehr die Stimme Utjussows
119 Thorez: Moskau, S. 83. 120 Sovetskaja kul‘tura, 18. Januar 1955. Abgedruckt in: Ost-Probleme 7 (1955) Nr. 7, S. 276–281. 121 Sovetskaja kul‘tura, 18. Januar 1955. Zitiert nach Ost-Probleme 7 (1955) Nr. 7, S. 277. Auch abgedruckt in: Crankshaw, Russia without Stalin, S. 259ff. 122 Crankshaw: Russia without Stalin, S. 71. Ähnlich auch 1961 Gerd Ruge: Gespräche in Moskau. Berlin usw. 1961, S. 200 ff. 123 Sovetskaja kul’tura, 10. Januar 1955, zitiert in: Crankshaw: Russia without Stalin, S. 128,. Auch Allen Kassof erwähnt „Orgien”: Youth vs. The Regime: Conflict in Values. In: Problems of Communism 6 (1957) Nr. 3, S. 15–23, hier S. 20, er zitiert „Komsomolskaja Pravda“, 15. August 1956, S. 2. 124 Zur Bedeutung des Festivals als „Wendepunkt“ der sowjetischen Nachkriegsgeschichte vgl. Kapitel „Visuelle Kultur“.
109 24. Foto aus Paul Thorez: Moskau. Lausanne 1964. In Moskau war die Mehrheit der Bevölkerung in den zwanziger und dreissiger Jahren vom Dorf zugewandert. Die jugendliche Gegenkultur der Nachkriegszeit war diejenige der ersten „Städter“, die für sich urbane Orientierungsmuster und Alltagspraktiken entwarfen. Die Nachkriegsjugend strebte auf breiter Basis nach Vergnügungen wie Tanzveranstaltungen, Beutefilmen und Mode. Sie wollte sich nicht mehr 24 Stunden am Tag organisieren lassen, sondern wünschte Freiräume. Die körperliche Ausdrucksweise der stiljagi war eine Form des Eigensinns, des individuellen, spontanen, nicht zielgerichteten Handelns. 125 Die Agenturaufnahme um 1960 zeigt štatniki, eine raffiniertere Folgeversion der čuvaki oder stiljagi. Sie „lungern“ am unteren Ende der Gor’kijstrasse vor dem Hotel National herum: hinter Ihnen ist die Kremlmauer und der Durchgang zwischen Kreml und Historischem Museum zum Roten Platz zu erkennen, im Hintergrund die Schlange vor dem Lenin-Mausoleum. Besonderes Kennzeichen der štatniki: der weisse Schal und weniger grellauffällige, dafür lässig-elegant und „westlich“ geschnittene Kleidung. Die Aufnahme, entnommen aus dem Stadtführer von Paul Thorez, hat Seltenheitswert. Die stiljagi wurden von der sowjetischen Forschung bislang verdrängt. Entsprechend schwierig ist es, in den Archiven etwas dazu zu finden. Bei Nachfrage wird regelmässig darauf verwiesen, es handle sich um ein „marginales Phänomen“.
drang, sondern heimlich, unter der Hand gekaufte Jazzmusik und Rock ‚n Roll.“126 Bukovskij beschreibt den vielfach erinnerten „kulturellen Enthusiasmus“ als einen Prozess der Urbanisierung. Dieser „Aufbruch“ hatte eine wertorientierte und eine konsumorientierte Seite: Junge Leute sprachen systematisch auf der Strasse die nun häufiger auftauchenden Touristen an, um ihnen Hemden, Strümpfe oder Schuhe abzukaufen. Für schwedische Nylonhemden oder italienische Schuhe wurden ebenso Schwindel erregende Preise bezahlt wie später für Jeans.127 Der Komosomol mobilisierte seit 1959 druženniki, Freiwilligenpatrouillen, die die nächtliche Sicherheit angesichts von Hooligans wahren sollten, sich aber auch Übergriffe auf friedliche stil125 Zum Konzept des Eigensinns vgl. Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte: zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 139–153. 126 Wladimir Bukowski: Wind vor dem Eisgang. Berlin usw. 1978, S. 114–115. 127 Harald Hamrin: Zwei Semester Moskau. Frankfurt a. M. usw. 1962, S. 71; Werner Leithmüller: Tourismus und Auslandreisen im Sowjetleben. In: Osteuropa 14 (1964) Nr. 2, S. 81–89; Susan E. Reid: Cold War in the Kitchen. Gender and the de-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union under Khrushchev. In: Slavic Review 61 (summer 2002) Nr. 2, S. 211–252, hier S. 222.
jagi erlaubten und ihnen die Haare abschnitten, so dass in der Moskauer „Komsomolskaja Pravda“ ein Artikel mit dem Titel „Wie weit sollen Hosenbeine sein?” erschien, der solche Formen gewalthafter Selbstjustiz verurteilte. Maurice Hindus berichtet: „Auf all meinen Reisen im europäischen Russland und in Sibirien habe ich niemals auch nur einen getroffen, der dieser Beschreibung entsprochen hätte, wenn man auch oft Jungen in auffälligem Anzug und mit langem oder à la Marlon Brando geschnittenem Haar herumlungern sieht. Im kältesten Winter gehen sie ohne Kopfbedeckung, lediglich um aufzufallen und ihre Überlegenheit herauszustellen. Sie sind nicht das russische Gegenstück zum amerikanischen beatnik, denn sie geben nichts auf ein ungepflegtes Äusseres. Sie sind einfach russische Angeber.”128
Hintergründe und Interpretationen des sowjetischen Generationenkonfliktes Die Jugendkultur wurde sowohl von der sowjetischen Führung wie auch von den westlichen Beobachtern als räumliche Ausdehnung westlichen Lebensstils gedeutet. Mitte der Fünfzigerjahre schärften westliche Reisende und Journalisten ihren Blick für „westliche Einflüsse“. Dabei interessierten sich Zeitschriften wie „Problems of Communism“ und „Ost-Probleme“ vor allem für Anzeichen der Rebellion unter den Jugendlichen der so genannten „vierten Generation“ nach der Revolution. In der Sowjetunion selbst äusserten sich solche Thesen vor allem in Anschluss an das Weltjugendfestival von 1957. Die Diskurse um westliche Einflüsse verlagerten sich nun auf Frauenkörper. Obwohl im Vorfeld intensiv für einen freundschaftlichen Umgang und aktive Annäherung an die ausländischen Gäste geworben wurde, gewannen diffuse Ängste vor dem Fremden die Oberhand. Diese hatten den Charakter einer „Sittenpanik“: Ähnlich wie bereits während der NĖP vermischten sich Ängste um unkontrollierbare jugendliche Sexualität mit Befürchtungen um westliche kulturelle Einflüsse.129 Die jeweils positiv oder negativ bewerteten, von westlichen und sowjetischen Beobachtern angenommenen Modelle kultureller Expansion und Einflussnahme des „Westens“ greifen jedoch zu kurz und verdecken die aus der sowjetischen Lebenswelt erwachsenden Entstehungsursachen der jugendlichen Gegenkultur. Kulturkontakte durch Kriegs- und Nachkriegszeit spielten sicher eine Rolle. Man kann die Gegenkultur auch als Orientierungsmuster und Alltagspraxis des Urbanen verstehen. Sie war eine subjektive Bewältigung des alltäglichen Stadtlebens, ein Verstädterungsprozess in einer Stadt, in der vor dem Krieg die Mehrheit der Bevölkerung vom Land zugewandert war und dörflichen Praktiken verbunden blieb. Schliesslich dürfte auch das frustrierende Gefühl dieser historischen Generation eine Rolle gespielt haben, politisch unwichtig zu sein, gegängelt zu werden und für die Zukunft keine selbst bestimmten Lebensgestaltungsmöglichkeiten zu sehen. Die Praxis der stiljagi erinnert insofern an das „Dandytum“, das oppositionelle russische Adlige und auch der Schriftsteller Puškin um 1830 pflegten und das als Mode auf breite Kreise übergriff. „Der Dandy kultiviert zugleich die Melancholie und den Weltschmerz, die kühle Distanz und die herablassende Langeweile. Indirekt, und bei einigen auch sehr be-
Die Gor’kijstrasse
128 Hindus: Haus ohne Dach, S. 375. 129 Kristin Roth-Ey: „Loose Girls“ on the Loose? Sex, Propaganda and the 1957 Youth Festival. In: Women in the Khrushchev Era. Hg. von Melanie Ilič, Susan E. Reid und Lynne Attwood. Basingstoke 2004, S. 75–95, hier S. 89.
wusst, schimmerte dabei die Enttäuschung über ausbleibende politische Reformen und über die Unmöglichkeit einer Änderung aus eigener Kraft durch“.130 Das Problem der „Väter und Söhne“ weist in beiden Generationenkonflikten einige Parallelen auf: Beide Gruppen, die russischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts und die šestidesjatniki des 20. Jahrhunderts, fanden sich in ähnlichen Situationen angesichts der herrschenden Institutionen wieder. In beiden Fällen lehnten sie sich gegen die starre Hierarchie vertikaler Herrschaftssysteme auf, die sich durch ihre Dauer, durch Vorschriften, Werte, Autoritäten und sakralisierte Texte legitimierten. In diesen Systemen bestanden die Sozialisation und das Kriterium der „Reife“ insbesondere in der Übernahme der Tradition, in der Treue zu den Gesetzen der Väter und zum herrschenden Dogma. Damit hingen sowohl die Angst vor dem Neuen zusammen wie auch die Neigung, jeden Kontakt nach aussen zu vermeiden. Dieses starre System traditioneller Sozialisationsinstitutionen und sozialer Kontrolle sollte einen Konflikt der Generationen eigentlich verhindern. Ähnlich wie Adel und Monarchie sich in einer geschlossenen Vertikalen Gesellschaft bis and Ende des 19. Jahrhunderts jedem Wandel entgegenstellten, hatte auch die Sowjetunion entgegen ihrer Losungen eine vertikale Struktur entwickelt und legitimierte sich über ihre Gründungsväter und deren Dogmen.131 Für den Ausdruck einer Frustration nach aussen spricht auch der Umstand, dass die stiljagi nicht etwa die Hinterhöfe unsicher machten, sondern jeweils die wichtigste urbane Flaniermeile zum brodvej auserkoren und dort, in der Nähe der Machtzentrale, öffentlich sichtbar „herumhingen“. Das ist als kommunikativer Akt zu bewerten. Die Ausdrucksformen durch Mode, Musik, Tänze und Jargon sowie das Übergreifen der Mode auf breite jugendliche Schichten standen im Zusammenhang mit der Entwicklung einer eigenständigen sowjetischen Form der Konsumgesellschaft unter planwirtschaftlichen Bedingungen in den Fünfzigerjahren. Den Jugendlichen bot sich der Westen als Antityp und Gegenmuster zur Provokation geradezu an. Die grösste Rolle spielte wohl die Abneigung gegen alles Militärische, sowohl im Hinblick auf das Männlichkeitskonzept und die Heldenkultur der frontoviki, wie auch auf die allgemein militarisierte Gesellschaft im Erziehungswesen und der kollektiven Freizeitgestaltung. Die besonders ins Auge stechenden stiljagi sind weniger als „marginales Phänomen“, denn als „Spitze des Eisbergs” zu sehen.132 An ihnen wurden verbreitete Tendenzen nur besonders deutlich. Die Vertreter der laut Andrej Bitov zwischen 1952 und 1953, laut Anatolij Gladilin 1956133 aufkommenden novaja volna grenzten sich von den stiljagi und der stiljažestvo ab, die einige Jahre früher entstanden war. Beide gehörten der zwischen 1930 und 1940 geborenen „vaterlosen Generation“ an, die ihre älteren Brüder und Väter im Krieg verloren hatte, und mit Stalins Tod auch den Übervater.134 Der ältere Teil, bis etwa 1935 geboren, waren die stiljagi, der jüngere brachte die „Neue Welle“ hervor. Beide Sozialisationskohorten wurden später als Generation der šestidesjatniki zusammengefasst, die „Sechziger“.135 Die stiljagi hatten weniger intellektuellen
130 Heiko Haumann: Geschichte Russlands. 2. Aufl. Zürich 2003, S. 234. Ich danke Heiko Haumann für den Hinweis auf diese Parallele. 131 Levada: Rupture de Générations, S. 16. 132 Fuerst: Stalin‘s last generation. 133 Interview mit Gladilin in: Inger Thorup Lauridsen, Per Dalgard: The Beat Generation and the Russian New Wave. Ann Arbor, Mich. 1990, S. 129. 134 Zur Generationenabfolge vgl. das Methodenkapitel am Anfang sowie Zubkova: Obščestvo i reformi, S. 72, 73, 138 sowie Nancy Condee: Cultural codes of the thaw. In: Nikita Khrushchev. Hg. Von William Taubman, Sergei Khrushchev, Abbott Gleason. New Haven usw. 2000, S. 160–176, hier S. 165. 135 Zum Begriff šestidesjatniki vgl. Nancy Condee: Cultural codes of the thaw, S. 164–165, allerdings ohne die Differenzierung zwischen Stiljagi und Novaja volna.
111
Ehrgeiz und kommunizierten über ihre Selbstinszenierung, während die nachfolgende Altersgruppe bereits das Instrumentarium einer Gegenmode und den damit demonstrierten Eigensinn als Möglichkeit erfahren und damit als Handlungsspielraum zur Verfügung hatte. Die Selbstinszenierung blieb wichtig, wie vor beispielsweise Harald Hamrins bissige Kommentare zu Evgenij Evtušenkos Eitelkeit zeigen. Allerdings übernahm das Wort bei der Neuen Welle die zentrale Rolle. Gemeinsam war beiden Altersgruppen die Vorliebe für Jazz und Hemingway und ihre ausgesprochene Urbanität, ihre Stadtbezogenheit: Sie brauchten die städtischen Lebensräume, die „Tavernenöffentlichkeit” der Cafés und Bars als soziale Kontakt- und Freiräume. Beide Generationen lebten intensiv im Hier und Jetzt und legten weniger Gewicht darauf, die Zukunft aufzubauen. Der „Eigensinn“ der Sechziger lag darin, dass sie den nahtlosen Übertritt in die Welt der Erwachsenen, ins Berufsleben und damit ins „herrschende System“ verweigerten. Sie verfielen in Moskau dem Reiz der Hauptstadt und wollten sie nach ihrer Ausbildung nicht mehr verlassen, um an einer der Neulandkampagnen mitzuwirken oder Dorfarzt zu werden.136 Dabei stellten sie sich ganz individuell Fragen nach dem Sinn, nach ihren Wünschen. Wie der 1952 in der Presse angeprangerte „Modegeck“, der Die Gor’kijstrasse einfach einen feierabendlichen Freiraum beanspruchte, wollten sie nicht das System verändern, sondern lediglich eine Auszeit für sich erlangen, ihr eigenes Tempo bestimmen und mögliche Rollenidentitäten ausprobieren. Am stärksten unterschieden sich die beiden Hälften der Generation der „Sechziger“ jedoch von der älteren Generation, der die Führungsriege angehörte, abgesehen von der fehlenden Gewalterfahrung in ihrer generellen Ablehnung alles Militärischen. Der Militarismus war ein kultureller Code, den abzulehnen einen grossen Bruch bedeutete. Bei der Kommunikation zwischen Chruščev und der jungen kreativen Intelligenz fehlte der gemeinsame Boden des Militärischen als Erfahrungsgemeinschaft, die Kommunikation erst möglich macht, als Grundkonsens, der Diskurse strukturiert und Metaphern zur gegenseitigen Verständigung angeboten hätte.137 Die Dichter der novaja volna übertrugen die Sprache und das Lebensgefühl der Stadtjugend Ende der Fünfzigerjahre in die Literatur und lösten erneut einen Diskurs über stiljagi, Bummelei und die Jugend aus. Aksenov bezeichnete die stiljagi später als „die ersten sowjetischen Dissidenten. Der Nonkonformismus drückte sich zwar nur in Kleidern, Benehmen und Geschmack aus, aber es war ein ästhetisches Dissidententum.”138 Auf diese viel zitierte Einschätzung wird noch zurückzukommen sein. Voznesenskij meinte rückblickend, die stiljagi seien ein marginales Phänomen gewesen und hätten sich in erster Linie mit ihren Kleidern und Tänzen beschäftigt. Darüber hinaus seien sie zeitlich vor der novaja volna aufgetaucht und in ihrer schlecht informierten Imitation westlicher Moden Karikaturen ihrer selbst gewesen.139 Die Angehörigen der novaja volna nahmen dagegen für sich in Anspruch, sich kreativ um Inhalte zu bemühen. Mode, Benehmen und Habitus wurden dennoch Teil der urbanen Grammatik des öffentlichen Raums. Der Moskauer Publizist Anatolij Rubinov erinnert sich: „Friseure und Dichter kamen etwa gleichzeitig in Mode“ und schildert, dass 1956, im denkwürdigen Jahr des offiziellen Beginns der Entstalinisierung, bei einer Abendveranstaltung nach dem Dichtervortrag Evtušenkos der berühmte
136 Aksenov hat diesen Konflikt in einer Erzählung gestaltet, und zwar ebenso sozrealistisch wie versöhnlich. 137 Condee: Cultural codes, S. 164. 138 Interview mit Aksenov in: Lauridsen, Dalgard: The Beat Generation and the Russian New Wave, S. 54. 139 Lauridsen, Dalgard: Beat Generation, S. 43–44.
113
25. Karikatur aus Krokodil’ (1961) Nr. 20, „Die alten Männer und das Meer” aus: Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 139 1959 erschien in der Sowjetunion eine zweibändige Hemingway-Ausgabe, die zum Kultbuch der jungen Generation wurde. Hemingway wurde zum Synonym für Amerika, und die Sechzigerjahre begannen mit einem Modeproblem. Hemingway brachte mit seinem Antiintellektualismus eine „neue Sinnlichkeit“, 140 vor allem aber auch neue männliche Rollenmodelle in die russische Literaturszene. Die Unterschrift der Karikatur „Die alten Männer und das Meer“ stellt den Bezug zu Hemingway her und suggeriert, die jungen Männer am Strand imitierten ein literarisches Vorbild. Zeichenhafte Accessoires der jungen „Helden“ in dieser Karikatur sind ihre Frisuren, die Sonnenbrillen, die Pfeifen und Halstücher und die Gitarre, die mit Freiheit und Abenteuer besetzt war.141 Die Vorliebe für Jazz und Hemingway wurde zum Kennzeichen der sowjetischen Jugend um 1960.
Frisör Janovickij zum Thema „Welche Frisur passt zu Ihnen?“ sprach.142 Janovickij hatte seinen Salon seit 1941 ebenfalls an der Gor’kogo, im Haus Nr. 4 gegenüber dem Telegrafenamt. Die Holztreppe, die zu seinem Reich führte, war stets von Kundinnen umlagert. Evtušenko selbst erschien dem schwedischen Studenten Harald Hamrin 1961 als ausserordentlich modebewusst.
Čuvaki und štatniki als gegenkulturelle Codierungen Stellt man die Stadterfahrung von Jampol’skijs Helden, der stiljagi und der Poeten einander gegenüber, fand in der Nachkriegszeit ganz offensichtlich ein Bruch in der Stadterfahrung und im Verhalten statt. Die Erfahrungsräume und damit auch die Erwartungshorizonte und die daraus 140 Petr Vajl, Aleksandr Genis: 60-e. Mir sovetskogo čeloveka. Moskva 1998 (1988), S. 65–66. 141 Zur Ikonografie des sowjetischen Tourismus arbeitet Christian Noack in Bielefeld. Die Gitarre stand dem „sowjetischen“ Akkordeon gegenüber. 142 Anatoli Rubinow: Moskau intim. Berlin 1992, S. 191.
abgeleiteten Handlungsräume der drei Altersgruppen in der Gegenwart unterschieden sich völlig.143 Die Ulica Gor’kogo wurde als Ort zentraler „Schauplatz” auf verschiedenen Ebenen. Sie war ein Ort, an dem auch „von unten“ Räume produziert wurden, in denen sich spezifische Interessen manifestierten, nicht nur „von oben“. Soziale Konflikte äusserten sich in „Skandalen” und der Schliessung der „Koktejl choll“. Der soziale Raum der Gegenkultur umfasste verschiedene Orte wie Restaurants, den Strassenraum, private Wohnungen und dačas. Mit der Strategie der Umbenennung wandten die Gegenkulturen ähnliche Herrschaftstechniken an wie die Obrigkeit. Mit dem Strassennamen brodvei und den englischen Ausdrücken schufen sie einen alternativen Raum, eine kognitive Landkarte ihrer Gegenkultur, in der sie sich bewegten, einen sprachlichen (Jargon), akustischen (Musik), körperlichen (Kleidung, Benehmen, Tänze, Geschmack) und räumlichen kulturellen Code. Darüber hinaus weisen die Selbstbezeichnungen als čuvaki und später štatniki auf eine umfassende Selbstinszenierung hin, die man als „performativen Akt“ der Aneignung einer fremden oder neuen Identität bezeichnen kann. Die čuvaki waren ein Turkvolk im Südwesten der Union. Warum gaben sich junge Städter diesen Namen? Sahen sie sich als Nichtrussen, pochten auf ein Recht auf eigene „nationale“ Identität? Eine Untersuchung dieser Namenwahl könnte Die Gor’kijstrasse interessante Aspekte des Verhältnisses von Zentrum und Provinz und der Selbstverortung städtischer Jugendlicher innerhalb dieses Spannungsfeldes beleuchten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die tägliche Transformation vom Arbeitstag zum Feierabend des jungen Mannes aus dem Pressebeispiel, der mit den Kleidern auch den Habitus und die „Identität“ wechselte. Die štatniki bezeichneten sich noch provokativer als „US-Amerikaner“ und waren äusserlich einerseits weniger auffällig, andererseits kaum von „echten“ Ausländern zu unterscheiden, sie betrieben also eine Art von – äusserst provokativer – Mimikry. Für all dies diente ihnen die Gor’kijstrasse als Bühne. Die russische Beat Generation: Tunejadcy und Bohémiens Es waren Erzählungen junger Autoren, die nach dem XX. Parteitag 1956 erschienen und „einen neuen Heldentypen schufen, der mit seinem Skeptizismus, seinem Misstrauen gegen die ältere Generation, seiner unbequemen Wahrheitssuche und seinen Versuchen, sich einer frühzeitigen Integration in das gesellschaftlich anerkannte Arbeitsleben zu entziehen, nicht dem offiziell favorisierten Bild des tatkräftigen, am Aufbau des Sozialismus beteiligten jungen Menschen entsprach.”144 Die jungen Dichter der „vierten Generation“145 begannen sich kritisch zu äussern. Die Dichter der novaja volna kritisierten das Konzept des „sozialistischen Realismus“ als zweckorientierte Kunst und forderten einerseits mehr poetischen Freiraum, andererseits politische Mündigkeit statt vorfabrizierter Antworten und persönliche Freiheiten für alle. Anatolij Gladilin (1935-) begründete mit seiner Erzählung „Chronik der Zeit des Viktor Podgurskij“ 1956 die neue Stilrichtung der „Jugendprosa“. Seine Protagonisten mussten sich mit der Erkenntnis abfinden, dass sie 143 Reinhart Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erfwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2000, S. 349–375. Zur weitern Anwendung der Kategorien Erfahrungsraum und Erwartungshorizont s.u. am Ende dieses Kapitels. 144 Wolfram Eggeling: Die Sowjetische Literaturpolitik zwischen 1953 und 1970. Zwischen Entdogmatisierung und Kontinuität. Bochum 1994 (Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur Band 3). 145 Titel eines kritischen Beitrags von F. Kuznecov in der Literaturnaja Gazeta vom 27.7.1961. Vgl. auch Eggeling: Die Sowjetische Literaturpolitik, S. 131.
in ihrer Mittelmässigkeit keine „heroischen Taten“ vollbringen würden. Ihre Sinnsuche fand ein breites Echo bei der Leserschaft. Die junge Generation stellte die herrschenden Kommunikationsmuster auf mehreren Ebenen bewusst in Frage und durchbrach sie. Die „Neue Welle” verfolgte eine subversive Strategie, eine Art von Ehrlichkeit, die Konventionen unterlief: „And the slang of the golden youth, not golden, that is, but city youth, the normal language of the young people in the big cities; we brought it into literature with great difficulties, and in doing so we gave it the right to exist. It was very difficult. That is precisely why we were persecuted”, erinnerte sich Anatolij Gladilin später.146 Einer der Hauptvertreter dieser Richtung war Vasilij Aksenov (1932-) mit seiner 1961 erschienenen Erzählung Svezndyj bilet (Fahrkarte zu den Sternen), von der noch die Rede sein wird. Neben der Prosa wurde die Lyrik zum Verständigungscode einer ganzen Gesellschaftsgeneration. Ein berühmtes Beispiel für die Thematik der städtischen Jugend ist das Gedicht „Nihilist“ von Evgenij Evtušenko. Nihilist Er trug enge Hosen, las gern Hemingway. «Unrussischer Geschmack, Junge», mahnte düster der Vater. Er war ein Heisssporn, fürchtete keinen Streit, verachtete Gerassimov, bewunderte Picasso. Er stiess seine Eltern vor den Kopf, die rechtschaffenen Werktätigen, sie suchten ihm seinen Geschmack auszureden. Die Eltern mahnten: «Jage nicht der Mode nach!» und klagten: «Wir nährten einen Nihilisten!» In den Norden zog er als Werkstudent im Sommer und fand ein frühes Ende. Granitblöcke bedecken Sein einfaches Grab. Für einen Kameraden stürzte der «Nihilist» in den Tod. Ich las sein Tagebuch: er war rein und hell. Und verstand nicht, wieso hiess er «Nihilist»? (1960)
146 Zit. nach Lauridsen, Dalgard: Beat Generation S. 126.
115
Der Übergang von der Mode zum Wort kam nicht ganz unvermittelt. Es waren zwei Aspekte derselben Entwicklung, die Musik und Freizeitgestaltung mit einschloss. Beliebte Treffpunkte der trendbewussten Moskauer Jugend waren internationale Hotels wie das National an der untersten Ecke der Gor’kogo und das Metropol’ am Theaterplatz. Gerd Ruge berichtet, dass 1958 im National gegenüber dem Kreml regelmässig amerikanischer Jazz gespielt wurde, zumindest einige Monate lang. Der Speisesaal wurde zum Treffpunkt der Moskauer Bohème und der stiljagi. Die Musiker waren Studenten des Konservatoriums oder der Universität. Es waren Mitglieder der Moskauer Band, die bei den Weltjugendfestspielen 1957 einen Preis gewonnen hatte. Deshalb riskierte der Direktor des Inturist-Hotel National, den im Winter immer leeren Saal mit einer stil’nij Band zu beleben und ein besonderes Publikum anzusprechen. Und das gelang, der Saal füllte sich mit der kritischen Jugend, die Hemingway las und von Picasso sprach. Getanzt wurde nicht. Als der Saal immer voller wurde, verlangten die Amateur-Musiker, nach Berufssätzen entschädigt zu werden und traten in den Streik. Der Direktor, dem ob seines Mutes wohl schon etwas mulmig geworden war, engagierte stattdessen wieder Berufsmusiker, die sich an das offiziell genehmigte Repertoire hielten.147 Ein Stück weit entsprach die Führung den Bedürfnissen der Jugend: 1961 wurde an der Gor’kijstrasse das Café „Molodežnoe“ Die Gor’kijstrasse eröffnet, wo Jazzabende und Dichterlesungen stattfanden. Es gab eine Tanzfläche, ein „zeitgemässes Interieur“ und Lautsprecheranschlüsse an jedem Tisch.148 Die novaja volna hatte ihre Blütezeit zwischen 1956 und 1963 – als Chruščev an der Ausstellung für abstrakte Kunst im Dezember 1962 in der Manege den Bildhauer Ernst Neizvestnyj angriff und damit konservativen Kräften Aufwind gab, war allen klar, dass das Ende der Freiheiten nahte.149 Dabei zeichnet sich ab, dass während der Zeit der „zweiten Entstalinisierung” zwischen 1960 und 1963 wie auch zuvor die Vorgaben für die literaturpolitischen Debatten von den Schriftstellern selber ausgingen und die Instanzen der Literaturpolitik darauf zustimmend oder ablehnend reagierten.150 Nach dem Machtwechsel 1964 orientierten Partei und Schriftstellerverband ihre Politik an „markanten Jubiläen, wie dem 50. Jahrestag der Oktoberrevolution und, schon vorausweisend, dem 100. Geburtstag Lenins 1970.”151 Die Schriftsteller wurden zu Geschlossenheit und Linientreue aufgerufen. 1968 brach mit dem Einmarsch in Prag eine regelrechte Panik unter den Schriftstellern aus, denn wer Panzer nach Prag schickte, würde auch im eigenen Haus mit dem eisernen Besen kehren.152 Es lohnt sich, den Kommunikationsmustern dieser Zeit nachzugehen, denn die Gor’kijstrasse war ein contested space, ein umkämpfter Kommunikationsraum.
Dichtertreffen auf dem Majakovskij-Platz Gezielte Formen der Kommunikation von unten um 1960 Im Frühjahr 1958 wurde auf dem Majakovskij-Platz ein Denkmal des während der Stalinzeit verbotenen Dichters enthüllt. Während der offiziellen Zeremonie lasen Komsomolzen Gedichte vor. 147 Ruge: Gespräche in Moskau, S. 116–120. 148 Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1961) Nr. 12, S. 25. 149 Lauridsen, Dalgard: Beat Generation, S. 15. 150 Eggeling: Die Sowjetische Literaturpolitik, S. 129. 151 Eggeling: Die Sowjetische Literaturpolitik, S. 226. 152 Grigori Svirski: A History of Post-War Soviet Writing. The Literature of Moral Opposition. Ann Arbor, Mich. 1981, S. 322.
Der Anlass wurde spontan verlängert, bis spät in die Nacht deklamierten junge Leute Gedichte zu Füssen Majakovskijs. Von nun an fanden hier regelmässig informelle Lesungen statt. Die poetischen Auftritte am Majakovskijdenkmal waren zunächst unpolitisch. Hunderte von Zuhörern versammelten sich abends und an den Wochenenden. Die jungen Leute, die meisten um die Zwanzig, wollten zuerst ganz einfach romantisch sein dürfen und eigene Ausdrucksweisen dafür finden. Dieses verbreitete Bedürfnis mündete in einen regelrechten Lyrik-Kult. Am Anfang standen Leseabende an der Universität, in Instituten oder Fabriken. Der erste Anlass, der im Voraus angekündigt wurde, war im Variététheater am Majakovskij-Platz, im ehemaligen zeitgenössischen Theater. Der Erfolg war bahnbrechend, und die Säle wurden grösser: Der Čajkovskij-Konzertsaal am Majakovskij-Platz, dann im Herbst 1962 die erste Lesung im LužnikiStadion.153 Die Gleichzeitigkeit von offiziellem Gagarin-Kult und inoffiziellem, zunächst geduldeten Lyrik-Kult ist augenfällig.154 Während die Sowjetmacht den Weltraum eroberte, wandten sich die Menschen in ihrer kulturellen Alltagspraxis den inneren Räumen zu, der Frage nach dem Sinn des Lebens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der ganz und gar zweckfreien Schönheit. Im offiziellen Diskurs sollten die liriki die fisiki zu immer höheren Leistungen beflügeln. „1957 (sic! Andere Quellen weisen als Entstehungsjahr 1959 aus) erschien in der Komsomolskaja Prawda Boris Sluckijs (1919–1986) Gedicht Physiker und Lyriker: Irgendwie kam es nun so: Die Physiker sind hochgeachtet, Die Lyriker im Hintertreffen.’“155
Daraufhin entspann sich eine landesweite Debatte in den Leserbriefspalten um das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, über die auch Hamrin unter dem Titel „Ein Lilienzweig im Kosmos“ ausführlich berichtet.156 Raissa Orlova erinnert sich an zwei Treffen zwischen „Physikern und Lyrikern“, die ein privater Zirkel um die Pianistin Marija Judina 1960 und 1961 im Konservatorium organisierte. In diese Zeit fielen die Lesungen am Majakovskij-Denkmal. Die Bezeichnung „Majak“ (Leuchtturm), den der Majakovskij-Platz bald erhielt, erinnerte weniger an den Dichter Vladimir Majakovskij (1893–1930), sondern sollte eine neue Zeit einleuchten. Als es dem Komsomol nicht gelang, die Kontrolle über die Veranstaltungen zu erlangen und diese so in den offiziellen Kulturbetrieb einzubinden, forderten Vertreter der Partei oder des Komsomol die Initiatoren informell dazu auf, die Treffen zu unterlassen. Doch im Herbst 1960 belebte eine Gruppe junger Leute um die späteren Dissidenten Vladimir Bukovskij (geb. 1942) und Jurij Galanskov (1939–1972) die Tradition wieder. Diese Aktivisten waren bereits im Samizdat tätig. Nun konnte man deutlich radikalere Töne am „Majak“ vernehmen.157 Bekannte Vertreter dieser Schriftstellergeneration wurden Evgenij Evtušenko mit seinen Gedichten „Nihilist“ (1960) und „Babi Jar“ (1961), Andrej Voznesenskij, Bella Achmadulina (1937-), 153 Voznesenkskij in Lauridsen, Dalgard: Beat Generation, S. 39. Raissa Orlowa, Lew Kopelew: Wir lebten in Moskau. Deutsch von Marianne Wiebe. München usw. 1987, S. 50. 154 Vgl. hierzu auch: Vajl, Genis: 60-e, S. 100–106 über fisiki und liriki. 155 Orlova, Kopelev: Wir lebten in Moskau, S. 29. 156 Hamrin S. 36–45. 157 Anke Stephan: Andersdenkende. Auf den Spuren der Dissidentenbewegung der 1950er bis 1980er Jahre. In: Moskau. Menschen, Mythen, Orte, S. 206–222, hier S. 210. Vladimir Bukovsky: To Build a Castle. My Life as a Dissenter. New York 1978, S. 143.
117
Vasilij Aksenov, Andrej Bitov (1937-) sowie die Barden Bulat Okudžava (1924–1997) und Vladimir Vysockij (1932–1980). Auch Bildhauer wie Ernst Neizvestnyj (1926-) und Filmer wie Andrej Tarkovskij (1932–1986) gehörten zu dieser Richtung.158 Die Neue Welle hinterfragte und überdachte die hergebrachten Werte. „‚In den Gedichten ging es um Menschen, um Gefühle, nicht um Klassen’, so die ehemalige Dissidentin Natal‘ja Sadomskaja (geb. 1928). ‚Das war für uns etwas ganz Neues, der Mensch als Persönlichkeit, als Mann und Frau, nicht als Staatsbürger. Für uns hiess Individualismus, als freie Menschen leben zu können. Das war unsere Revolte’. Ausdruck des Individualismus war für diese Generation vor allem die Dichtung des ‚Silbernen Zeitalters’ der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, in denen die Avantgarde in allen Künsten blühte: Anna Achmatova (1889–1966), Nikolaj Gumilev (1885–1921), Osip Mandel’štam (1891–1938), Marina Cvetaeva (1892–1941).”159 Die Verfolgung Anna Achmatovas wegen ihres lyrischen Stils lag erst fünfzehn Jahre zurück. Die Barden und Lyriker erfanden keine neue Sprache, sondern entdeckten die Intimität und die Schönheit der banalen Dinge des Alltags neu. Die Ästhetik des Privaten forderte das Recht auf Einsamkeit und Individualismus in einer Gesellschaft, deren Menschen in Gemeinschaftswohnungen zusammengepfercht lebten.160 Ihre Texte eröffneten eine Möglichkeit zur temporäDie Gor’kijstrasse ren Flucht aus dem Kollektiv. Dabei hatte die Idee des Kollektivs keineswegs ausgedient: Die Generation der šestidesjatniki erfand sich spätestens im kommunikativen Gedächtnis ihrer Autobiographien als wenn auch informelles, so doch als Kollektiv. Der junge Franzose Paul Thorez, 1940 im Moskauer Exil geborener Sohn des französischen Kommunistenführers Maurice Thorez, verkehrte Anfang der Sechzigerjahre in den Kreisen der novaja volna, war an Dichterlesungen und besuchte Bella Achmadulina und auch Andrej Voznesenskij in ihren dačas sowie Ernst Neizvestnyj in seinem Atelier. Der Maler Vladimir Jankelevskij war ein Beispiel dafür, wie der naturwissenschaftliche Diskurs die Kunst prägte.161 Später hob Thorez hervor, dass er einige der jungen Künstler im Westen erstmals bekannt machte.162 Thorez gab 1964 einen Moskau-Führer heraus, in dem er die Abende am Majakovskij-Platz beschrieb: ”Um das Majakowskijdenkmal haben sich viele Menschen versammelt. Ich trete näher. Kein Laut . Aus der Gruppe tritt ein Junge und deklamiert. (…) Darauf folgt ein anderer, dann ein junges Mädchen. Jeder deklamiert entweder Verse Majakowskijs oder seine eigenen, dem Dichter der Revolution gewidmeten Gedichte. Die Liebhaber der Poesie finden sich fast jeden Abend hier zusammen, manchmal sind es bis zu dreihundert. Am ‚Tag der Dichtkunst’ sind es mehrere Tausende. Da hallt ganz Moskau bis tief in die Nacht hinein von den Gesängen der Dichter wider, auf allen Plätzen, in allen Fabriken und Schulen, in allen Geschäften und Parkanlagen rezitieren die verschiedensten Leute die Worte, die sie lieben.”163 Allerdings wurden die Poeten zuweilen von Lautsprecheransagen übertönt: „Eine andere, tiefe und mächtige Stimme ist durch den Lautsprecher zu vernehmen: ‚Die Bürger werden gebeten, vor Überschreiten der Strasse das Lichtsignal abzuwarten. Genossen, befolgen Sie die Verkehrsregeln und setzen Sie nicht ihr Leben aufs Spiel!’”164 158 Lauridsen, Dalgard: Beat Generation, S. 15. 159 Stephan: Andersdenkende, S. 209. 160 Svetlana Boym: From the Russian Soul to Post-Communist Nostalgia. In: Representations 49 (1995), special Issue: Identifying Histories: Eastern Europe Before and After 1989, S. 133–166, hier S. 147–149. 161 Thorez: Moskau, s. 145–151. 162 Thorez: Les enfants modèles. Paris 1982, S. 204. 163 Thorez: Moskau, S. 138. 164 Thorez: Moskau, S. 138.
119
26. Dichterlesung am „Majak“, um 1960, aus: Paul Thorez: Moskau. Lausanne 1964. Die Aufnahme zeigt einen interessanten Aspekt der Inszenierung: Eine mit Flutlicht erhellte Rednertribüne vor dem Denkmal Majakovskijs, der ikonologisch ähnlich wirkt wie die legitimierende grosse Leninstatue an den Parteitagen. Das Agenturbild stammt zweifellos aus den Tagen offizieller Unterstützung des Anlasses. Auch der schwedische Austauschstudent Harald Hamrin besuchte die Dichterlesungen 1961 und beschrieb eine eindrückliche Szene: „Alljährlich am 8. Oktober wird in Moskau der ‚Tag der Poesie’ gefeiert. Die Studenten und viele andere Jugendliche versammeln sich auf dem Majakowskijplatz, um Gedichte vorzutragen und gefeierte Dichter zu hören. Am Fuss der Statue des grossen Revolutionsdichters, der Selbstmord beging, als ihm klar wurde, dass die Bolschewiken im Begriff waren, die Ideale preiszugeben, an die er geglaubt hatte, wird in jedem Herbst eine kleine Tribüne errichtet. An diesem Oktobertag liess das Publikum zuerst ein paar Leute der zweiten Garnitur auf der Plattform auftreten. Dann fing die jugendliche Menge an, nach dem einzigen zu rufen, um dessentwillen sie hergekommen war: ‚Wir wollen Jewtuschenko hören, wir wollen Jewtuschenko hören!’ Vielleicht hatten manche geglaubt, er würde nicht den Mut haben, sich auf dem Majakowskijplatz einzufinden, nachdem er erst vor einer Woche so heftigen Angriffen ausgesetzt gewesen war. Oder, wenn er wirklich irgendwo in der Menschenmenge stünde, würde er sich nicht auf die Tribüne vorwagen. Aber er war da und bahnte sich langsam den Weg durch das Gedränge. Sein Haar war von dem scharfen Herbstwind in Unordnung geraten. Er trug einen Mantel aus Tweed, den er sicher nicht im GUM oder einem anderen der grossen Warenhäuser in Moskau gekauft hatte, und darunter schimmerte wie immer das schneeweisse Hemd hervor. Er wartete, bis der Applaus verstummt war. Dann trug er zwei Gedichte vor. (…) Aber die vielen hundert Menschen hatten sich nicht auf dem Majakowskijplatz versammelt, um etwas über die Kais der Moskwa zu hören (…) ‚Jewgeni Alexandrovitsch, lies Babi Jar’, rief eine Stimme aus der Menge. Ein Augenblick des Zögerns, in dem der Dichter mit seinem selbstbewusst-trotzigen Blick und dem charakteristischen Lächeln um die Lippen über den offenen Platz blickte. Schliesslich sprach er die explosiven Verse, erfüllt vom Flehen um Gerechtigkeit und Toleranz. Als er geendet hatte, zog man ihn von der Tribüne herunter, hob ihn auf die Schultern und trug ihn die Gor’kijstrasse entlang. Erst nach einigen hundert Metern wurde der merkwürdige Zug von der Polizei aufgehalten und zum Umkehren gezwungen. Aber sonst geschah nichts. Das war vielleicht das seltsamste an diesem seltsamen Tag: dass die Behörden nicht eingriffen, um die Disziplin wiederherzustellen.”165
165 Hamrin: Zwei Semester, S. 67–68.
Harald Hamrin beschreibt, wie Evtušenko zunächst auf mehrfache Aufforderung aus der Menge sein Gedicht „Babi Jar“ vortrug und daraufhin von seinen Bewunderern auf den Schultern die Gor’kijstrasse hinunter getragen wurde. Babi Jar ist der Name einer Schlucht bei Kiew, in der während des Zweiten Weltkrieges über 50 000 Juden von den Nazis ermordet wurden. In der Sowjetunion galt der Name als Synonym für das Verschweigen der Schoah und des Antisemitismus. Dieses Tabu hatte Evtušenko gebrochen. Die Polizei hielt den Zug zwar auf, griff aber nicht aktiv ein. Die bedeutsame Szene zeigt, wie der Begriff des „Aushandelns“ zu verstehen ist. Es ist ein diffuser Vorgang, bei dem sich nicht gleichberechtigte Partner gegenübersitzen und keine klaren Regeln einen „herrschaftsfreien Diskurs“ bestimmen.166 Der Diskurs war alles andere als herrschaftsfrei, sondern angesichts der Zugriffsmöglichkeiten auf die Medien und auch auf die gesellschaftlichen Foren der Meinungsbildung einseitig „durchherrscht“. Dabei wechselten die Regeln von Zeit zu Zeit oder waren unklar. Die Verhandlungsteilnehmer waren keine Partner, sahen sich auch selbst nicht als solche. Die Obrigkeit war im öffentlichen Raum durch ihre Organe anwesend, durch die Ordnungskräfte, die Losungen und die Medien. Chruščev persönlich trat an Reden vor bestimmten Gremien auf, um Paraden abzunehmen, und an Anlässen wie der Ausstellung Die Gor’kijstrasse moderner Kunst in der Manege 1961. Konflikte wie der zwischen Chruščev und Neizvestnyj bei diesem Anlass verlagerten die Kommunikation auf eine öffentliche, eine „Stellvertreter-Ebene“. Es ging immer um das Aushandeln von Handlungsspielräumen. Diese Spielräume boten sich im kulturellen, künstlerischen Bereich und betraf in der Regel nicht Individuen, sondern Gruppen. In Gremien wie dem Schriftstellerverband standen sich Konservative und Neuerer gegenüber. Auch der Auftritt Chruščevs an der Manegeausstellung war von der konservativen Fraktion in die Wege geleitet worden. Die Dichterlesungen zogen ihrerseits ein breites Publikum an und schufen dadurch Öffentlichkeit. Es ging darum, Freiräume zu schaffen, die nicht staatlich kontrolliert waren. Spannend an der Gor’kijstrasse ist die Nähe zur Herrschaft im Kreml und die Nutzung eines so zentralen Ortes, der auch der Obrigkeit für Veranstaltungen diente. Symbolisch kommunizierten die Anhänger der Lyrikveranstaltungen damit ihren Anspruch auf einen weit reichenden Kommunikationsraum. Die Menschen, die kamen, um gemeinsam Lyrik zu hören, und die Dichter trafen hier auf Vertreter der Staatsgewalt, die den Handlungsspielraum physisch-räumlich begrenzten. Besondere Beachtung verdient die langsame Eskalation, bei der sich die Kommunikation auf Ebenen breiterer Wahrnehmung und in andere Medien verschob. Das Begräbnis Boris Pasternaks 1960 wurde zur ersten politischen Demonstration der NachStalin-Zeit, denn am Kiever Bahnhof fanden sich überall Hinweise auf Flugblättern, wie man am besten nach Peredel’kino komme. Damals kursierten die ersten inoffiziellen Anthologien und Zeitschriften mit überwiegend lyrischen Texten.167 Pasternak hatte 1958 den Literatur-Nobelpreis für sein Hauptwerk „Doktor Živago“ erhalten. Der Roman hatte nicht in der Sowjetunion erscheinen können und wurde daraufhin in Italien veröffentlicht, bei Feltrinelli in Mailand. Pasternak fiel in Ungnade und durfte auch den Nobelpreis nicht entgegen nehmen. In dem 1961 von Jurij Galanskov im samizdat herausgegebenen Sammelband „Feniks“ erschien eines der
166 Friedhelm Neidhardt: Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. In: Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. Hg. von Friedhelm Neidhardt. Opladen 1994 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), S. 4–41. 167 Dietrich Beyrau: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985. Göttingen 1993, S. 171. Orlowa, Kopelew: Wir lebten in Moskau, S. 62–63.
Gedichte des Protagonisten aus „Doktor Živago“. Es war die erste, illegale Veröffentlichung eines Ausschnittes des Werkes in der Sowjetunion. Immer häufiger kam es jetzt auf dem Majakovskij-Platz zu Rangeleien zwischen den LyrikAnhängern und Ordnungskräften, die versuchten, die Lesungen gewaltsam zu sprengen.168 Ein kurz vor dem XXII. Parteitag im Oktober 1961 veröffentlichter Bericht über die „Allrussische Versammlung junger Lyriker“ beschwor die „geistige Einheit” der Teilnehmer und deren einstimmige Kritik an Evtušenkos Gedicht „Babi Jar”. Den Dichtern am „Majak“ gegenüber schlug man einen schärferen Ton an, da sie anstelle sowjetischer Klassiker zunehmend eigene Texte vorstellten.169 Der Aushandlungsprozess über die Grenzen des Möglichen war in vollem Gang. Am 9. Oktober, dem Tag der Eröffnung des Parteitages, organisierten die Aktivisten Lesungen nicht nur am „Majak“, sondern auch an anderen Orten, insbesondere vor der Lenin-Bibliothek. Teilnehmer des Parteitags kamen nach dem Ende der Feier, angezogen von dem Publikumsauflauf, hinzu und beglückwünschten die Akteure.170 Diese Ausweitung der „Öffentlichkeit“ blieb nicht ungestraft. Im Herbst 1961 wurden drei junge Männer verhaftet und wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Niemand wagte, sich öffentlich für die Verurteilten einzusetzen.171 Doch das war keineswegs das Ende, sondern der Beginn von heimlichen Treffen in privaten Räumen. Im Zusammenhang mit dem Ende der Lesungen wird die Funktion des 1961 an der Gor’kijstrasse eröffneten, trendigen Jugend-Cafés „Molodežnoe“ deutlich: Es sollte potentielle Rebellen in ein kontrolliertes Umfeld bringen, kann also sowohl als Zugeständnis wie als Kontrollversuch interpretiert werden. Mit dem Verbot der Lesungen ging eine Pressekampagne gegen die jungen Dichter einher. Im Januar 1962 erschienen mehrere Artikel in der Presse, die mit dem Phänomen abrechneten. 1961 war eine Erzählung von Vasilij Aksenov mit dem Titel „Svezdnyj bilet“ (Fahrkarte zu den Sternen) erschienen. Die Erzählung hat die Form eines Entwicklungsromans; Thema ist das coming of age junger Moskauer. Es geht um drei junge stiljagi, die nach dem Ende ihres Studiums von Moskau aus eine Reise an die baltische Küste unternehmen, über den Sinn des Lebens nachdenken und Zukunftspläne schmieden. Der Eintritt in das eine oder andere sozialistische „Kollektiv“ erscheint nicht als Selbstverständlichkeit, heroische Aufgaben liegen nicht auf der Hand. Unter dem Titel „Počiščenie geroja“ (Raub des Helden) spuckte am 7. Januar 1962 in der „Komsomolskaja Pravda“ ein Kritiker Gift und Galle über die Wandlung des stiljaga vom Tagedieb zum Helden. Der Rundumschlag galt auch Evtušenkos Gedicht „Nihilist“, das eine „Poetisierung verfaulter Moral” darstelle.172 Aksenov wurde des Plagiarismus beschuldigt, obwohl er, wie ein Kollege später meinte, Salingers „Fänger im Roggen” gar nicht gelesen hatte – er konnte damals kein Englisch.173 Eine Schilderung der Lesungen und Aushandlungsprozesse am Majakovskij-Denkmal aus „offizieller“ Sicht bot ein weit ausholender Artikel von A. Elkin mit dem Titel „Kubarem Parnasa“ (Kopfüber vom Parnass) in der „Komsomolskaja Pravda“ vom 14. Januar 1962. Er rückte die Dichter am Majakovskij-Denkmal in die Nähe der Kriminalität und bezeichnete sie nicht nur als „poetische Giftpilze”, sondern auch als „Schieber“ und „Ikonenspekulanten”. Als Beweis für die 168 Bukovsky: To Build a Castle, S. 149, 161. 169 Eggeling: Die sowjetische Literaturpolitik, S. 133. 170 Bukovsky: To Build a Castle, S. 162. 171 Stephan: Andersdenkende, S. 210; Bukovsky: To Build a Castle, S. 162. 172 Ju. Verčenko in der „Komsomolskaja Pravda“ vom 5.1.1961, zit. nach Eggeling: Die sowjetische Literaturpolitik, S. 132. 173 Gladilin in: Lauridsen, Dalgard: Beat Generation S. 125; Bitov in: Lauridsen S. 85.
121
27. Karikatur aus Molodoj kommunist (1962) Nr. 1, zitiert nach Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 133. Die Zeitung Moskovskij komsomolec verhöhnte die Dichter am Majakovskij-Denkmal mit beissendem Spott als „ästhetisierende Schmarotzer” (16. November 1961). In der Presse und der Kritik wurden sie als tunejadcy oder, noch schlimmer, „Nihilisten“ bezeichnet. Auffallend sind die zeichenhaft gekleideten Figuren im Vordergrund, darunter ein „Hemingway“ mit Bart, Zigarette und kariertem Hemd und ein štatnik mit amerikanischer Frisur, schwarzem Mantel und dem typischen weissen Schal.
Gemeingefährlichkeit der Nichtstuer diente die Verhaftung des jungen Dichters Sacharov (ein Vorname wurde nicht genannt), der bei
Die Gor’kijstrasse ausländischen Touristen Kaugummis und Kleidungsstücke oder Devisen gegen Ikonen oder Souvenirs einhandelte. Diese keineswegs auf tunejadcy beschränkte Schwarzmarktpraxis wurde als Abgleiten in die Kriminalität hingestellt und neben weiteren Beispielen als Beweis in einer Argumentationskette angeführt, die den Weg vom Boogie-Woogie über die grelle Kravatte in den Knast als unausweichliche Abfolge vorzeichnete.174 Elkin beschrieb die Dichterlesungen und verspottete die jungen Poeten, die hier auftraten: „Als Tribüne wurde der Sockel des Majakovskij- Denkmals gewählt. Die poetischen Giftpilze wussten ja schliesslich genau, dass ein Majakovskij aus Bronze nicht in der Lage sein würde, von seinem Postament herabzusteigen und ihnen verdienterweise in den Hintern zu treten.“ 175 Angegriffen wurde in dem Artikel der Anspruch der Dichter auf Begriffe wie Freiheit und Gerechtigkeit: „Die Komsomolzen vom Werk ‚Serp i Molot’, die an jenem Tage gerade zu der Zeit am Majakowskij-Denkmal vorüberkamen, als dort die Lesung der niederträchtigen Pygmäengedichte stattfand, sprachen den Verkündern der ‚komplizierten Leere’ das Recht ab, sich als ausschliessliche Interpreten der Begriffe Freiheit, Schönheit und Fortschritt zu betrachten. Sie pfiffen sie aus, so dass den solcherart disqualifizierten nichts anderes übrig blieb, als unter dem Gejohle der Passanten zu verschwinden.“176 Dieser Vorgang beschrieb eine Variante des Aushandelns von Spielräumen im öffentlichen Raum. Diesmal sorgte eine Gruppe von druženniki durch „Vigilanz“ dafür, dass die Lesung endete. Auch die kritischen Kommentare der Zuschauer werden zitiert. Der Artikel spricht den Rückzug aus dem öffentlichen in private Räume an: „Was ihre Lebensweise betraf, so kehrten die Reimeschmiede augenscheinlich zu den Lebensgewohnheiten der Paviane zurück. Sie quasselten von der ‚Dämonie’ ihrer Knüttelverse, zogen aber in einen Raum, den sie von einer Alten gemietet hatten, die sie wegen ihrer Sympathien für Bananen und Limonade aus Singapur sowie für amerikanische Hosenträger ‚Madam Friede’ nannten.“177 Schliesslich, und hier war es mit den Spässen vorbei, wandte sich der Autor noch den ge-
174 Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 134–138. 175 Zit. nach: Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 131. 176 Zit. nach: Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 132. 177 Zit. nach: Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 132.
fährlichen und subversiven Elementen zu, die in diesem Klima gedeihen konnten: „Morast hat überall den gleichen Gestank. Es nimmt daher nicht wunder, dass die genannten ‚Progressisten’ sich aller möglichen boshaften Renegaten bedienen. So tauchte – natürlich keineswegs wie Aphrodite aus dem Schaum des Meeres – ein gewisser Ju. Galanskow auf, der sich anbot, die Rolle eines ‚Theoretikers’ zu spielen. Er las zwar selbst keine Verse, hetzte dazu aber jene leichtfertigen Idioten auf, denen die manische Ruhmsucht im Kopf spukte. Galanskow verleumdete unser Volk und versuchte, die Unerfahrenen zu verderben.“178 Galanskovs Gedichte wurden regelmässig am Majakovskijdenkmal vorgelesen.179 Ich gehe hinaus auf den Platz, und presse der Stadt einen Schrei der Verzweiflung ins Ohr! … Ich bedarf Eures Brotes nicht, gerührt unter Tränen. Ich falle und fliege auf in den Fieberwahn, in den Halbschlaf. Und fühle, wie in meinem Inneren das Menschliche erblüht. … Das bin ich, berufen zur Wahrheit und zur Aufruhr, will ich nicht länger dienen, ich reisse Eure schwarzen Fesseln, geknüpft aus Lügen, auseinander. Jurij Galanskov, Menschliches Manifest, um 1960
An Jurij Galanskov wurde ein Exempel statuiert. Nach der Herausgabe des Samizdat-Sammelbandes „Feniks“ 1961, in dem er auch sein „Menschliches Manifest“ veröffentlichte, wurde er mehrere Monate lang in einer psychiatrischen Anstalt „behandelt“. 1967 wurde er im „Prozess der Vier“, von dem später noch die Rede sein wird, zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilt. Er starb 1972 im Alter von 33 Jahren im Gefängnis an einem nicht behandelten Magengeschwür. Galanskov hat kaum eigene Texte veröffentlicht. Ein Ausdruck, der in der Debatte über die junge Dichtergeneration immer wieder auftauchte, war derjenige der „Kompliziertheit” des modernen Lebens und der ganzen Generation junger Menschen.180 Tatsächlich orientierten sich die Poeten am Existentialismus; Jack Kerouac war eine Leitfigur.181 Die westlichen Protokolle des „Kalten Krieges“, Zeitschriften wie „Osteuropa“, „OstProbleme“ oder „Problems of Communism“, stürzten sich auf das gefundene Fressen der Jugendrebellion, weil die kommunistische Theorie davon ausging, dass die Teilhabe der Jugend an
178 Zit. nach: Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 132. 179 Bukovsky: To Build a Castle, S. 147. 180 Gespräche über moderne Menschen. In: Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 138–145, abgedruckt aus „Der Sonntag”, Ostberlin, Nr. 2 ,7.1. 1962. Hier kommt auch Vasilij Aksenov zu Wort. 181 Lauridsen, Dalgard: Beat Generation, S. 16.
123
den Produktionsmitteln Generationenkonflikte durch die alles überwölbende Einheit der Klasse überwände.182 Sie berichteten ausführlich darüber. Die gegenseitige Faszination der wohlstandskritischen amerikanischen beat generation und der „Neuen Welle“ beruhte teils auf Projektionen und Missverständnissen, aber auch auf einer trotz der unterschiedlichen Verhältnisse ähnlichen Befindlichkeit der jungen Erwachsenen gegenüber dem „verkrusteten Establishment“, das ihrer Wahrnehmung nach die jeweilige Gesellschaft dominierte. Die Bedeutung der Dichtung war nichts Neues, auch die mittlere Generation pflegte die Erinnerung an ihre zeitweise verbotenen Lieblingsdichter: „Das neue Gefühl der Freiheit, das wir in der ersten Zeit nach dem XX. Parteitag erlebten, wurde besonders deutlich von der Lyrik geprägt. (…) Gedichte waren in Russland von jeher auch eine Art von Code-Sprache; einige angedeutete Zeilen von Lieblingsdichtern wurden zitiert, und Gleichgesinnte erkannten einander.“183 Dies ist ein gutes Beispiel für einen gemeinsamen Referenzraum einer Erfahrungsgemeinschaft. Der XXII. Parteitag im Oktober 1961 stand ganz unter dem Eindruck des erhofften wirtschaftlichen Aufschwungs, des ersten bemannten Raumflugs und der Grossbaustellen einerseits, der weiteren Entstalinisierung andererseits. Die Redner schworen die Schriftsteller auf die offizielle Linie ein. Dennoch kam es in der NachDie Gor’kijstrasse bereitungsphase des Parteitags 1962 zu einer Art Aufbruchsstimmung, während der die Darstellung der skeptischen oder nihilistischen, zynischen Lebenshaltung der Helden der Nachwuchsschriftsteller als „staatsbürgerliche Notwendigkeit” bezeichnet wurde, die zur Überwindung ebendieser Haltung nötig sei. Eine Berechtigung wurde auch einer als urban und „international” verstandenen Lyrik freier Rhythmen zugesprochen, neben einer als traditionalistisch ländlich verstandenen Dorfpoesie mit festen Versmassen.184 Im Oktober 1962 erschien Evtušenkos Gedicht „Stalins Erben”. Prägend für das IV. Vorstandsplenum des Schrifstellerverbandes im März 1963 waren die selbstkritischen Auftritte von Evtušenko und Voznesenskij, in einem späteren Presseartikel auch Aksenovs, die zwischen Reue und Aufrechterhalten der eigenen Position spielten, also mögliche Verhandlungsspielräume auszuschöpfen trachteten. Als positive Alibifigur des jungen Nachwuchses portierte der Verband Čingis Ajtmatov.185 In einer Bilanz Ende 1963 wurde sowohl Evtušenko für „Stalins Erben” kritisiert, wie auch Aksenov erneut für seine „nichtsnutzigen Helden”.186 Das „Wechselbad von Aufbegehren und Unterwerfungsritualen”,187 die sich bei Evtušenko und Aksenov in aller Öffentlichkeit vollzogen, spiegelte die unsichere Lage in der Kulturpolitik, die sich durch ein „undurchschaubares Spiel von Gewährenlassen und Zuschlagen”188 auszeichnete. Ein erstes Beispiel für die strafrechtliche Verfolgung nach dem 1961 verabschiedeten und 1963 in Kraft getretenen „Parasitengesetz“ war der Prozess gegen den Leningrader Schriftsteller Iosif Brodskij im Februar 1964. Dieser Prozess löste auf zwei Kommunikationsebenen Proteste aus: Bekannte Künstler wie Dmitrij Šostakovič setzten sich diplomatisch für den Kollegen ein. Während des Prozesses lärmten Freunde und Be-
182 Diane Koenker: Fathers against Sons/Sons against Fathers: The Problem of Generations in the Early Soviet Workplace. In: The Journal of Modern History 73 (Dec. 2001) S. 781–810, hier S. 783. 183 Orlowa, Kopelew: Wir lebten in Moskau, S. 43. 184 Eggeling: Die sowjetische Literaturpolitik, S. 146–147. 185 Eggeling: Die sowjetische Literaturpolitik, S. 159–160. 186 Eggeling: Die sowjetische Literaturpolitik, S. 170. 187 Dietrich Beyrau: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985. Göttingen 1993, S. 179. 188 Beyrau: Intelligenz und Dissens, S. 179.
kannte vor dem Gerichtsgebäude, ein Vorgang, der wenig zuvor undenkbar gewesen wäre.189 Nach dem Machtwechsel 1964 setzte sich die Abgrenzung gegenüber dem Modernismus fort. Der kulturpolitische Blick richtete sich auf die bevorstehenden Jubiläen: den 50. Jahrestag der Oktoberrevolution 1967 und Lenins 100. Geburtstag im Jahr 1970. Beide waren Anlässe, auf die hin der Schriftstellerband Linientreue zur Schau tragen sollte. Am 14. April 1965 versammelten sich zum ersten Mal seit 1961 wieder Menschen anlässlich einer Dichterlesung zum 35. Todestag Majakovskijs zu Füssen seines Denkmals. Die rund 1000 meist jungen Leute trugen teilweise Transparente mit Losungen wie „Für die Freiheit des Wortes, für die Freiheit der Kunst”.190 Als sich die Versammlung zu einem Demonstrationszug formierte und sich in Richtung des zentralen Schriftstellerhauses an der Herzen-Strasse (heute: Bol’šaja Nikitskaja Ulica) bewegte, wurde sie von Miliz und KGB aufgelöst, es gab 17 Verhaftungen.191 Nur wenige Blöcke vom Majakovskij-Denkmal entfernt steht das Standbild eines weiteren grossen russischen Dichters: das 1880 errichtete, unter Stalin an seinen heutigen Platz verschobene Denkmal Aleksandr Puškins (1799–1837). Paul Thorez schilderte die Stimmung hier: „Ich gehe die Gor’kijstrasse hinunter und sehe, dass sich auch auf dem Puschkinplatz eine grosse Gruppe von Leuten um das Dichterdenkmal geschart hat. Auch hier werden Verse rezitiert, aber weniger als bei Majakowskij. Der Puschkinplatz ist mehr ein allgemeiner Treffpunkt, wo man immer irgendwelche Freunde sieht. Auf dem breiten Gehsteig vor dem Denkmal begrüsst man sich und überlegt, wie man den Abend verbringen könnte. Verliebte und Gruppen von jungen Leuten, die vom endlosen Auf- und Abspazieren auf der Gor’kijstrasse müde sind, ziehen sich in den dahinter gelegenen Park zurück.” Sie sassen hier auf Bänken und sangen Volkslieder.192 Der Ort, der sich Paul Thorez 1961 oder 1962 noch ganz unpolitisch präsentierte, wurde zum Ort der ersten sowjetischen öffentlichen Gegendemonstration. Am 5. Dezember 1965 versammelten sich rund hundert Menschen auf dem Puškinplatz. Sie entrollten – wenn auch nur für wenige Minuten – Transparente mit der Aufschrift: „Achtet die sowjetische Verfassung!“ und „Wir verlangen Glasnost’ (Offenheit/Öffentlichkeit) für den Prozess gegen Daniel’ und Sinjavskij!“. Zu dieser Demonstration hatten an der MGU (Moskovskaja gosudar’stvennaja universiteta, Moskauer Staatsuniversität) und verschiedenen Instituten verteilte Flugblätter aufgerufen.193 Die Veranstaltung zu dem möglicherweise selbst erfundenen „Tag der Verfassung” war die Geburtsstunde der Verfassungs-, Bürger- und Menschenrechtsbewegung, die die Verfassung und die von der Sowjetunion anerkannten Menschenrechte zum Kriterium für die Beurteilung des Verhaltens der Behörden machte.194 Im September 1965 waren die beiden Schriftsteller Julij Daniel’ und Andrej Sinjavskij verhaftet worden. Im Februar 1966 begann der Prozess: Er war das erste Beispiel für Literaturpolitik mit dem Strafgesetzbuch. Die beiden Regimekritiker hatten unter den Pseudonymen Abram Terc und Nikolaj Aržak im Ausland Bücher veröffentlicht. Die Affäre wurde – im Gegensatz zu den Verhaftungen von 1961 – zum Diskursereignis auf breiter Ebene: In Protestbriefen an den Obersten Sowjet, das Zentralkomitee und den KGB und mit Unterschriftensammlungen setzten 189 Beyrau: Intelligenz und Dissens, S. 180. 190 Eggeling: Die sowjetische Literaturpolitik, S. 195 191 Eggeling: Die sowjetische Literaturpolitik, Fussnote 174, S. 285. 192 Thorez: Moskau, S. 140. 193 Der Text des Flugblattes ist abgedruckt in: Literatur und Repression. Sowjetische Literaturpolitik seit 1965. Hg. Von Helen von Ssachno und Manfred Grunert. München 1970, S. 13–14. 194 Beyrau: Intelligenz und Dissens, S. 187–188.
125
sich Wissenschaftler und Schriftsteller für Daniel’ und Sinjavskij ein. Die Demonstration auf dem Puškinplatz, im öffentlichen Raum, war das alle geltenden Kommunikationsschranken sprengende Ereignis. „Bisher kannten die Sowjetbürgerinnen und –bürger ‚Demonstrationen’ nur in Form von gigantischen öffentlichen Aufmärschen zu den hohen Staatsfeiertagen.”195 Der als erzieherischer Schauprozess geplante Prozess gegen Sinjavskij und Daniel’ verfehlte sein ideologisches Ziel. Die Angeklagten verstiessen gegen alle Konventionen sowjetischer Kommunikationsmuster. Sie bekannten sich nicht schuldig und brachten ihre Schlussvoten nicht in rituellen Floskeln der Unterwürfigkeit vor. Sie sahen sich als einfache Menschen und sprachen auch so. Der Verzicht auf die Rituale der Unterwürfigkeit löste Erschrecken aus, fand aber gerade in den Kreisen des künstlerischen Untergrundes enorme Resonanz. Die Protokolle des Prozesses zirkulierten im „Weissbuch“, einer von Aleksandr Ginzburg und Jurij Galanskov edierten Samizdat-Ausgabe in der neuartigen „kritischen Öffentlichkeit”, die sich seit Anfang der Sechzigerjahre herausgebildet hatte.196 Die ästhetische Position der frühen Dissidenten bestand darin, nicht die offiziellen Sprachcodes zu verwenden. Sie durchbrachen die Formeln und fanden eine eigene Sprache der Innerlichkeit und Betroffenheit. Das lenkte Die Gor’kijstrasse die Aufmerksamkeit auf die offiziellen Sprachhülsen und deren eigentlichen Bedeutungsinhalt. So konnten die Andersdenkenden später die alten, „offiziellen” Codes in ihrem vollen Wortsinn verwenden, und alle wussten, was gemeint war. Sie hatten den alten Worten einen neuen Inhalt gegeben und so eine neue Sprache geschaffen.197 Es gelang ihnen damit, eine wichtige Kommunikationsschranke zu durchbrechen und die Grundlage für die Entstehung einer alternativen öffentlichen Meinung zu schaffen. Die Demonstrationen waren Auslöser einer Kettenreaktion von Protesten, Verhaftungen und Prozessen. Seit Anfang 1967 befanden sich Jurij Galanskov, Aleksandr Ginzburg, Aleksandr Dobrovolskij und Vera Laškova in Untersuchungshaft. Der „Prozess der Vier” begann Anfang 1968. Die Anschuldigungen hatten nun nicht mehr deren literarische Tätigkeit zum Inhalt, wie noch bei Sinjavskij und Daniel’. Als die Kritik an staatlichen Repressionen ausserliterarische Formen (Demonstrationen, Briefe etc.) annahm, erfolgten auch die Urteile aufgrund „gesellschaftsschädigender Tätigkeiten”.198 Die Kommunikationsmuster im Diskurs über stiljagi und novaja volna bis hin zu den Andersdenkenden konstituierten neue Räume. Von oben reichten die eingesetzten Mittel vom Spott in der Presse und namentlichen Erwähnen Einzelner über druženniki und Aufforderungen an Einzelne am Arbeits- oder Studienplatz hin zum Einsatz von Strassenmiliz und Verhaftungen mit nachfolgenden Prozessen. Von unten wurden in erster Linie herrschende Kommunikationsmuster des offiziellen Kommunikationsmodells unterlaufen. Das informelle Modell wurde öffentlich gemacht, indem der Text zwischen den Zeilen nicht nur entziffert, sondern laut ausgesprochen wurde oder Angeklagte am Prozess die gängigen Floskeln nicht benutzten. Damit entwickelt besonders der Majakovskijplatz eine grosse Reichweite und konstituierte neue Räume der Kommunikationsmöglichkeiten.
195 Stephan: Andersdenkende, S. 211. 196 Die Texte sind auf deutsch nachzulesen in: Literatur und Repression. Sowjetische Literaturpolitik seit 1965. Hg. Von Helen von Ssachno und Manfred Grunert. München 1970. Die „neue Öffentlichkeit“ beschreiben Orlova und Kopelev in Wir lebten in Moskau, S. 131. Zum Prozess direkt S. 246–248 und folgende. 197 Vajl, Genis: 60-e, S. 186. 198 Eggeling: Die Sowjetische Literaturpolitik, S. 228–229.
Waren die stiljagi die ersten Dissidenten? Die Frage läuft darauf hinaus, nach dem Charakter des von den stiljagi und ihren Nachfolgern, der „Neuen Welle“ bis hin zu den „Andersdenkenden“ geäusserten „Eigensinnes“ zu forschen. Waren sie an einer Veränderung interessiert, oder kämpften sie für Freiräume innerhalb des bestehenden Systems? Das lässt sich hier im Ansatz beantworten. Ergebnis der Auseinandersetzung war der Rückzug der Andersdenkenden aus dem zentralen städtischen Raum in Privatwohnungen und Datschen wie etwa Lianozovo. Sie zogen sich in Nischen zurück, in denen sie auch in Ruhe gelassen wurden. Sanktionen hatten sie nur zu befürchten, wenn sie aus ihren Nischen auszubrechen versuchten, etwa durch Ausstellungen oder Samizdat-Publikationen Kommunikationsschranken überschritten. Im Hinblick auf die Kommunikation fällt auf, dass jeweils alle Beteiligten sich auf die wahren revolutionären Werte beriefen und die „Andersdenkenden“ den Staat lediglich dazu aufforderten, sich an die eigenen Gesetze zu halten. Vladimir Bukovskij berichtet, Aleksandr Esenin-Volpin, der 1965 den ersten „Tag der Verfassung“ ausrief, sei der Architekt der Strategie der „Legalität“ gewesen und habe sie erstmals auf dem Majakovskijplatz verkündet.199 Der Protest richtete sich gegen die herrschenden Strukturen, deren Vertreter den Künstlern und Intellektuellen schliesslich Nischen zugestanden, in denen sie sich einrichteten. Die Gründe für dieses schlussendliche Hinnehmen der Verhältnisse waren vielschichtig. Eine rolle spielte sicher die begründete Angst vor Repressionen. Das gemeinsame Ziel, die Idee einer sozialistischen Gesellschaft, wurde auch von kritischen Stimmen immer betont. Die „Idee des Sozialismus“ erfuhr während der Chruščev-Zeit im Hinblick auf das ideologische Vokabular eine deutliche Veränderung. Die offiziell vertretene Ideologie erschien weniger dogmatisch, sondern betonte allgemeine sozialethische Werte. Der „Sozialismus“ erhielt durch die Betonung von Ehrlichkeit und Moral beinahe den Charakter einer „Volksreligion“, zumal darüber hinaus bewusst traditionelle Vorstellungen des bäuerlichen, mythologischen „Volksrechtes“ integriert wurden.200 Somit stellte die Idee des Sozialismus einen universell gültigen Identifikationswert dar. Nunmehr wurde getrennt zwischen der Idee und den herrschenden Eliten, welche sie für sich in Anspruch nahmen. Es war möglich, im Namen der Idee des Sozialismus Kritik zu üben an der Obrigkeit, am Staat, an seinen Organen und Funktionären. Die Entstalinisierung brachte die Parole der „Erneuerung des Sozialismus“. Nun reklamierten die „kleinen Leute“ den „wahren“ Sozialismus für sich. Das hatte auch mit der verkrusteten Bürokratie und der um sich greifenden Korruption zu tun. Die Trennung zwischen Ideal und Realität wirkte letztlich stabilisierend. Angst vor Repressionen einerseits und Identifikation andererseits spielten zusammen. Hier endet der chronologische Teil der Fallstudie. Im Folgenden geht es um Ereignisse und Bedeutungen, um die Räume, die an der Gor’kijstrasse „von oben und „von unten“ produziert wurden sowie um Mittel und Wege der Kommunikation.
Orte sozialer Konflikte und verdichteter Kommunikation Schaufenster als Medien inszenierter Kommunikation Die Schaufenster der Tverskaja und später der Gor’kijstrasse hatten immer wieder wichtige kommunikative Funktionen. Vor der Revolution dienten die Schaufenster als Fenster zur Urbanität,
199 Bukowski: Wind vor dem Eisgang, S. 131, 133. 200 Nina Nikolaevna Cvetaeva: Biografičeskie narrativy sovetskoj epochy. In Sociologičeskij Žurnal (2000) Nr. 1–2, S. 150– 163, hier S. 154.
127
sie vermittelten den städtischen Lebensstil als symbolisches Kapital. Während des Bürgerkrieges, als die Schaufenster leer blieben, erfand ein Vertreter der Avantgarde die „ROSTA-Fenster“, die in künstlerischer Gestaltung Inhalte vermittelten, beispielsweise die Serien „Hunger und Typhus“ oder „Hygiene im Alltag“ von Vladimir Majakovskij (1893–1930).201 Die leeren Schaufenster verwandelten sich durch die Ausstellungen der Russischen Telegraphen-Agentur (Rossijskoe telegrafnoe agenstvo, abgekürzt ROSTA, 1925 in TASS, Telegrafnoe agenstvo Sovetskogo Sojuza, umbenannt) zeitweise in eine regelrechte Galerie. Sie vermittelten einer in grossen Teilen analphabetischen Bevölkerung Neuigkeiten in der Tradition der russischen Volksbilderbögen in bunten Farben und mit bissigen und satirischen Kommentaren oder Merkversen versehen. Während der NĖP-Zeit werden in den Quellen eher die Nachtlokale und Kellerbars erwähnt, aber zur Zeit der ersten Fünfjahrpläne um 1930 spiegelten die Schaufenster etwa des „Eliseev“, jetzt torgsinGeschäft und nur für wenige erschwinglich, die Hierarchisierung der Gesellschaft. Während der Ausarbeitung des Generalplans zur Rekonstruktion Moskaus zwischen 1931 und 1935 dienten die Schaufenster der Gor’kijstrasse immer wieder als Ausstellungsvitrinen für Pläne und Modelle des zukünftigen Moskau. Die Schaufenster der späteren dreissiger Jahre zeigten – analog dazu – unter dem Motto des „fröhlicheren Die Gor’kijstrasse Lebens“ Luxusgüter, die es im Laden gar nicht zu kaufen gab. Die Auslagen dienten als Versprechen eines besseren Lebens in der Zukunft, als Vermittler von kul’turnost’, kultivierter Lebensart. Während des Krieges waren die grossen Schaufenster mit Brettern vernagelt und von Sandsäcken geschützt. Die Strasse selbst erhielt einen Tarnanstrich. Die Nachkriegszeit scheint gegenüber den dreissiger Jahren keine wesentlichen Veränderungen gebracht zu haben. Die Bilder aus den frühen Sechzigerjahren zeigen dann neue Neonsymbole, das neue „Berezka“Geschäft und die Gestaltung des Strassenraums mit den Schaufenstern als luxuriöse Konsummeile. Die neuen Geschäfte hatten voll verglaste Fronten, die den Strassenraum ins Ladeninnere verlängerten. Die ökonomischen Räume der Schaufenster umfassten mehrere Ebenen: Die Luxusgeschäfte bedienten in- und ausländische Gäste, dienten aber auch als Repräsentanten sowjetischen Lebensstandards für diejenigen, die sich mit dem Anblick der Auslagen begnügen mussten. Für das nach 1956 zahlreicher werdende ausländische Publikum dienten die Schaufenster der Hauptstadt als Schaufenster der Sowjetunion. Die Gor’kijstrasse war mit ihren Luxusgeschäften eher Schaufenster der Nation als günstige Einkaufstrasse, sie konstituierte einen symbolischen Raum der Konsummöglichkeiten. Viele konnten sich die Waren hier gar nicht leisten. Die Teilhabe war eingeschränkt, der Raum hierarchisch strukturiert. Die Inszenierungen in Schaufenstern der Gor’kijstrasse funktionierten einmal auf der alltäglichen Ebene, am Ort selbst; ferner dienten sie als Lehrbuch des urbanen Lebensstils; und schliesslich waren sie ein weiterreichendes Signal als Schaufenster des Sozialismus und Zukunftsversprechen. Es waren mehrschichtige Orte, die in mehreren Kommunikationsräumen zugleich lagen.
201 Rosta: Bolshevik Placards 1919–1921. Handmade Political Posters From the Russian Telegraph Agency. Aussst.-Katalog, Sander Gallery, New York, 28.10.1994-07.01.1995 .Text: Leah Dickerman. New York 1994; Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Hg. von Nicola Lepp, Martin Roth, Klaus Vogel. Ostfildern 1999, S. 226 und 227.
„Rekonstruktion“ und Schauprozesse: Kaganovič, das Jahr 1937 und Gewalt als Kommunikationsmittel 28. „Architektura SSSR“ (1938) Nr. 4, S. 27. 1938 zählte weniger der Bau, es sei denn als Kraftdemonstration. Das wird aus den Baudokumentationen mit Fotoreportage in „Architektura SSSR“ vom April und November 1938 sehr schön deutlich. Die Aufnahme steht in einer Reihe eher kleinformatiger, dokumentarischer Schnappschüsse der Baustelle. Sie dokumentiert das grossflächige Ausmass der Kraftanstrengung. Verstand sie sich als Bild der Verwüstung oder als Inszenierung des Aufbaus? Dazu ist zu Bedenken, dass der Diskurs des Aufbaus des Sozialismus so mächtig war, dass die davon umgebenen Enthusiasten in jedem Abriss und jeder Baugrube den Aufbau, wenn nicht das fertige Gebäude erblickten. Die Gor’kijstrasse rechtfertigte diese Wahrnehmung: Sie wurde nach ihrem Umbau stellvertretend für alle anderen Projekte als Ergebnis, als Ankunft im Kommunismus inszeniert. Nicht als Prozess, sondern überzeitlich, ewig, als Wert an sich, als Denkmal ihrer selbst.
Die Monumentalpropaganda verband sich mit der neuen Festkultur, mit Fassadenschmuck, den Losungen auf Neonbändern und Spruchbändern, den Ritualen und dem Pomp: „Öffentliche politische Rituale sind Muster symbolischer Darstellungen verschiedener Aspekte einer politischen Kultur. Paraden, Parteitage und ähnliche aufwendige Veranstaltungen bekräftigen in regelmässigen Abständen die Legitimität des Regimes und seiner Pfründenbesitzer.”202 Die Rollen von Bürger und Führer, sprachliche Parolen, Bilder und Choreografien bestätigten gegenseitige Erwartungen, so dass Führung und Volk jeweils das Verhalten des anderen voraussagen konnten. Städtebauliche Eingriffe und Architektur zählten zur obersten Ebene der Kommunikation. Auf der Makroebene stand die Bedeutung der neuen Gor’kijstrasse für die „Modernisierung” der Gesellschaft im Zentrum, sie war städtische Entwicklungsachse, Paradigma des „Neuen Moskau“ und des Generalplans von 1935. Sie war Teil des Systems sternförmig vom Kreml ausgreifender Magistralen, sie verdrängte das alte zugunsten des neuen Moskau. Die Fotoreportagen in der Zeitschrift „Architektura SSSR“ zeigen den Umbau des unteren Teils der Gor’kijstrasse, die Abrisse und angefangenen Neubauten, Gerüst, Kräne und Bauarbeiter.203 Die Fotos sind erstaunlich unprätentiös verglichen mit der Darstellungsweise solcher AufbauThemen in den Zwanzigerjahren, wo extreme Blickwinkel Dynamik suggerierten und eine Heroisierung herbeiführten. Hier herrscht vielmehr der Eindruck von Arbeit, Dreck und Chaos. In Heft 11 des Jahres 1938 werden die Korpusse A und B nach ihrer Vollendung präsentiert, der Artikel zieht gewissermassen Bilanz und bildet den Schlussstrich der Bauphase. Die Fotos des Prozesses sind kleinformatig, die Fassaden der fertigen Bauten jedoch erscheinen grossformatig und makellos auf einem auszuklappenden Einkleber (S. 9).
202 Gayle Durham Hannah: Legale und dissidente Formen politischer Kommunikation in der Sowjetunion nach Stalin. In: Osteuropa 26 (1976) Nr. 7, S.491–512, hier S. 505. 203 Architektura SSSR (1938) Nr. 4, S. 16–30, sowie noch deutlicher in Architektura SSSR (1938) Nr. 11, S. 4 und 5.
129
Die kleinen Bilder des Abbruchs und Aufbaus – zu den Darstellungen der fertigen Fassaden ist später noch mehr zu sagen – zeigen ein Stück Alltag an der Gor’kijstrasse in den Jahren 1937 und 1938 und werfen die Frage nach Gleichzeitigkeiten auf. Es sind Bilder von Kraftakten der Bauarbeiter, aber vor allem eines städtebaulichen Gewaltaktes. Nur wenige Meter von der Gor’kijstrasse entfernt im Kolonnensaal am Manegeplatz vollzogen sich zur selben Zeit Gewaltakte anderen Ausmasses: Die Schauprozesse. Welche Bezüge lassen sich zwischen beiden Vorgängen herstellen? Beides sind kommunikative Akte. Beide waren öffentlich, sichtbar. „Schauprozess“ hiess es nicht umsonst, sondern sie dienten explizit der Kommunikation. Sie zeigten, wie Staat und Partei mit „Schuldigen“ verfuhren. Damit waren sie ebenso Teil einer visuellen Erfahrung von Macht durch symbolische Gewalt wie die neue Ritualachse nebenan. Die Menschen erlebten die Schauprozesse und die Monumentalarchitektur aber in erster Linie als Teilhabe an dieser repräsentativen Macht. Es waren Rituale gegenseitiger Bestätigung, bei denen sogar die Angeklagten ihre „Rolle“ spielen mussten. Sowohl die Rekonstruktion der Stadt wie auch die Schauprozesse fanden im Zentrum Moskaus statt, gegenüber dem Kreml, dem Die Gor’kijstrasse Sitz der Machthaber. Beide wurden von denselben Entscheidungsträgern am selben Ort und zur selben Zeit organisiert. Die Schauprozesse wurden im Kolonnensaal des Gewerkschaftshauses am Ochotnyj Rjad in Szene gesetzt, während daneben gleichzeitig die wichtigste Ritualachse der Stadt durch Abrisse, Verschiebungen, Aufstockungen und Neubauten in nur zwei Jahren vom Ochotnyj Rjad bis zum Sovetplatz freigehauen wurde. Vorbereitet wurden beide Massnahmen seit Beginn der dreissiger Jahre. Das wichtigste Narrativ, dem sich beide politischen Massnahmen verdankten, war die Geburt des „Neuen Menschen“ aus dem Chaos, eine „grosse Erzählung“ von der Erneuerung durch Revolution, das Neues durch Vernichtung des Alten schafft, ein Narrativ, das auch für Generationenkonflikte bedeutsam ist. Auf der symbolischen Ebene bedeutete die Stadterneuerung eine Säuberung der Stadt Moskau durch die Befreiung von Altlasten im Namen der Modernisierung und der Gestaltung der gemeinsamen Zukunft. Der Stadtumbau war zugleich auch Massstabserweiterung hin zu Monumentalität, Erhabenheit, Grösse. Das neoklassizistische Formenrepertoire der Architektur der Stadterneuerung der dreissiger Jahre symbolisierte durch seine „überzeitliche Schönheit“ den Anspruch auf Herrschaft über Raum und Zeit. Ein wichtiger Bestandteil des kulturellen Codes der bol’ševiki war die Gewalt.204 Sie war legitimes Mittel zur Machtgewinnung wie zur Machterhaltung. Es gab Institutionen wie die ČK und spätere GPU und NKVD, die zu eigenen Machtgebilden wurden und deren Instrument die Gewalt war. Es war legitim, das „Alte“ zu zerstören, um Platz für das „Neue“ zu schaffen. Das grosse revolutionäre Narrativ integrierte alle Phänomene der Gewaltherrschaft. Vor allem einte es Herrscher und Beherrschte, die bei der Ausdehnung der Gewalt häufig in irgendeiner Form beteiligt waren. In der Erzählung tauschten sie die Rollen: Die Berufsrevolutionäre standen im 204 Wesentliche Anregungen vor allem zur Verbindung von Gewalt und Generationenkonflikt durch den Gegensatz von Alt und Neu verdanke ich Heiko Haumann: Jugend und Gewalt in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus im lebensweltlichen Zusammenhang. In: Sowjetjugend 1917–1941: Generation zwischen Revolution und Resignation. Hg von Corinna Kuhr-Korolev, Stefan Plaggenborg und Monica Wellmann. Essen 2001, S. 25–62, hier S. 28–38; Ders.: Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft und Praxis gewalthafter Verhältnisse. Offene Fragen zur Erforschung der Frühgeschichte Sowjetrusslands (1917–1921). In: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994) S. 19–34; Stefan Plaggenborg: Gewalt und Militanz in Sowjetrussland 1917–1930. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996) S. 409–430.
Dienst der „herrschenden Klassen“. Während die bol’ševiki sich mit dem Zaren einer „väterlichen“ Herrscherfigur entledigten – die meisten kamen sehr jung zur revolutionären Bewegung – traf dieses Muster auf Stalin und seine engsten Mitarbeiter nicht zu. Sie merzten zwar die alte Stadt teilweise aus, indem sie symbolhafte Gebäude sprengen und Prachtstrassen anlegen liessen. Aber während der Zeit des „Grossen Terrors“ richteten sie die Gewalt gegen ihre Kollegen, die eigenen herrschenden Eliten. Stalins „Kulturrevolution“ führte zwar vorrevolutionäre Formen und Institutionen wieder ein, liess aber die Methoden der „Erneuerung“ nicht nur unangetastet, sondern münzte sie in ein Mittel der Machterhaltung um: Die regelmässigen „Säuberungen“ ermöglichten immer neuen Kadern den Aufstieg in höhere Positionen und schufen so laufend frische Klientelverhältnisse.205 Mit den seit 1929 intensiver werdenden „Säuberungen“ und der Begründung des GULag als Sklavenimperium 1930 wurde die Gewalt zum Wesensmerkmal des Systems, sie wurde zum Terror, der in die Lebenswelten hineinragte und diese bestimmte. Da sie sich nicht gegen klar definierte Gruppen richtete, wie etwa die antisemitische Gewalt der Nazis, sondern jeden jederzeit treffen konnte, schuf sie ein Klima der allgemeinen Verunsicherung. Nimmt man die strukturelle Gewalt der Massenarmut, des Hungers und der Wohnraumknappheit hinzu, entsteht das Bild eines intensiven Gewaltklimas. Die dreissiger Jahre sind ein Forschungsfeld, das intensiv bearbeitet wurde und wird.206 An dieser Stelle kann nur im Hinblick auf die „Rekonstruktion“ des Moskauer Zentrums und die Schauprozesse kurz auf die Zusammenhänge eingegangen werden. Der Erste Fünfjahrplan endete 1932 und löste eine Euphorie aus, die sich nach dem 17. Parteikongress 1934, der „Kongress der Sieger“ genannt wurde, noch verstärkte. Stalin verkündete, das Leben sei fröhlicher, die Askese des ersten Fünfjahrplans wich den Massenliedern und Karnevals, Nachtklubs und Jazzbands. Die Euphorie dauerte an, bis sie 1936 durch den allgegenwärtigen Kampf gegen die „Feinde im Innern“ erstickt wurde und um 1937 und 1938 massive Versorgungsprobleme die Unzufriedenheit schürten. Mit den Ersten Fünfjahrplänen wurden auch Akkordarbeit und eine gestufte Entlöhnung eingeführt. Nach dem Egalitarismus, der in den Zwanzigerjahren propagiert, wenn auch nicht realisiert worden war, kam es zu einer offenen Hierarchisierung der Gesellschaft. Das „kulturelle Erbe“ der vorrevolutionären Zeit kam wieder zu seinem Recht, der Rückgriff auf Werte wie Familie, Disziplin und Autorität kamen den Bedürfnissen vor allem der vydvižency (Aufsteiger) entgegen, der unter Stalin aufgestiegenen mittleren und höheren Kader, die eine neue Mittelschicht und teilweise auch Elite bildeten. Sie kamen aus einfachen Verhältnissen, teilten die Erfahrungen von Migration, Hunger und Armut, hatten dank der Bildungsoffensive eine höhere, oft polytechnische Ausbildung absolviert und konnten aufgrund der andauernden Säuberungen in gute Positionen aufsteigen: für jeden Gewinner gab es einen Verlierer.207 Die 205 Haumann: „Eine sozialistische Lebensweise der Zukunft“, S. 30. 206 Es wäre vermessen, hier einen Überblick über die neuere Literatur zum Stalinismus geben zu wollen. Hierzu vgl. die Bibliographie in Heiko Haumann: Geschichte Russlands. 2., überarbeitete Auflage. Zürich 2003. Nützlich sind ferner: Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993; Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg: Neue Wege der Forschung. Stalinism before the Second World War: New avenues of research. Hg. von Manfred Hildermeier unter Mitarb. Von Elisabeth Müller-Luckner. München 1998. Stalinismus: Neue Forschungen und Konzepte. Hg. von Stephan Plaggenborg. Berlin 1998. Utopie und Terror. Josef Stalin und seine Zeit. Hg. Von Eva Maeder und Christina Lohm. Zürich 2003. Interessante Überblicke über die Forschungsentwicklung der jüngsten Zeit geben: Astrid Hedin: Stalinism as a Civilization: New Perspectives on Communist Regimes. In: Political Studies Review 2 (2004) Nr. 2, S. 166–184 sowie Mark von Hagen: Empires, Borderlands, and Diasporas: Eurasia as Anti-Paradigm for the Post-Soviet Era. In: The American Historical Review 109 (2004) Nr. 2, S. 445–468. 207 Régine Robin: Stalinism and popular culture. In: The culture of the Stalin period. Hg. von Hans Günther. London usw. S. 15–40, S. 24, 26, 28. Catherine Gousseff: Introduction. In: Moscou 1918–1941, S. 10–26, hier S. 22–23.
131
Etablierung der „neuen Mittelschicht“ war begleitet von der verkündeten Fröhlichkeit, den kul’turnost’-Kampagnen,208 dem Bau von Warenhäusern und der „Ankunft im Überfluss“, während von 1931 bis 1935 die Grundgüter wie Brot rationiert, die Wohnverhältnisse der meisten Menschen katastrophal waren. 1934 und 1937 waren Schlüsseljahre. Mit der Eröffnung des „Instituts für Geschichte und Philosophie“ der Moskauer Universität im Jahr 1934 wurden Bildungswerte der vorrevolutionären Hochkultur, der Intelligencija, wieder eingeführt. Am 1934 ebenfalls im Kolonnensaal des Gewerkschaftshauses unweit der Gor’kijstrasse abgehaltenen ersten Kongress des Schriftstellerverbandes, der als intellektuelle Debatte inszeniert war, hielt der sozialistische Realismus Einzug in die Literatur. Die Rückkehr zu traditionellen Werten, die Zugeständnisse an bestimmte Gruppen wie die vydvižency und die Künstler trugen zur Konsolidierung der Macht Stalins bei. Die Schriftsteller wurden in das System integriert: Die dača, ein gezielt eingesetztes Privileg, diente als Mittel zur Integration und Kontrolle der kulturellen Eliten, bot aber auch Freiräume, wie das Beispiel der Schriftstellerkolonie Peredel’kino zeigt. Teil der Integration der Bildungseliten waren auch die zentral gelegenen und gut ausgestatteten Die Gor’kijstrasse Apartmenthäuser für die Schriftsteller, die allerdings wenig später dem NKVD die Säuberungen erleichterten – ebenso wie das „Haus der Regierung“ (auch „Haus am Ufer“ oder „Haus an der Moskva“ genannt) gegenüber dem Kreml und das Hotel „Ljuks“.209 „In den Gefängnissen von Moskau hatte das Lux bald eine zweite Dependance.“ Nach dem Ende des spanischen Bürgerkriegs zogen neue Bewohner in die frei gewordenen Quartiere. „Mit ihrem Einzug verwandelte sich das ‚Ausländerhotel’ an der Gorkowa in das ‚Emigrantenhotel’ in Moskau.“210 Das „Haus an der Moskva“ lasen die Zeitgenossen als „Barometer der Säuberungen“, wie sich ein Zeuge erinnert: Der luxuriös ausgebaute und möblierte Wohnkomplex am Ufer der Moskva beherbergte seit 1931 zahlreiche Regierungsmitglieder und führende bol’ševiki der Revolutionszeit mit ihren Familien, die zuvor im Kreml und in den umliegenden Hotels gewohnt hatten. Mehrere bis zu elf Stockwerke hohe Wohnblöcke gruppieren sich auf dem acht Hektar grossen Gelände um drei Innenhöfe. Der Wohnblock mit seinen Gemeinschaftsräumen und Dienstleistungen wie der Kantine, dem Kindergarten und der Wäscherei war ein Musterbeispiel für die neue, kollektive Lebensweise. Abends verwandelte sich der Block in ein Lichtermeer hell erleuchteter Fenster. Doch 1937 erschienen dunkle Flecken in diesem Meer, und am Ende des Jahres waren nur einige erleuchtete Inseln übrig. Hier wurden die „Säuberungen“ im Stadtbild sichtbar.211 Ab 1934 liefen bereits die Vorbereitungen für die grosse Terrorwelle der Jahre 1936 bis 1938, wurden in der Lubjanka den Beschuldigten Geständnisse abgepresst. Die Vernichtung
208 Vadim Volkov: The Concept of Kul’turnost’. Notes on the Stalinist Civilizing Process. In: Stalinism. New Directions, S. 210–230; Kelly: Refining Russia, S. 249. 209 Alexis Berelovitch: Peredelkino: le village des écrivains. In : Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire, S. 199–212, hier S. 208 ; von Mayenburg: Hotel Lux, S. 228. 210 von Mayenburg: Hotel Lux, S. 234 und 235. 211 Lev Razgon: 1937: l’année terrible. In: Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 301–311, hier S. 308–309; Sergei Kozyrev: The House on the Embankment. In: Russian Studies in History 38 (2000) Nr. 4, S. 21–27. Karl Schlögel: Der Mercedes-Stern auf dem „Haus an der Moskva“. In: FAZ, 25.1.2003, S. 41; Michail Koršunov, Viktoria Terechova: Tajny i legendy Doma na Naberežnoj. Moskau 2002. Der Schriftsteller Iurij Trifonov gestaltete eine berühmt gewordene Erzählung, „Dom na Naberežnoj“, mit der er dem Haus 1971 ein Denkmal setzte.
der „Feinde im Innern“ und der Aufruf zur Wachsamkeit begleitete die beiden grossen Feiern des Jahres 1937: Puškins 100. Geburtstag und den 20. Jahrestag der Revolution. Feiern, die wiederum wie die Gewaltakte im Zentrum Moskaus stattfanden, in der Gor’kogo, vor dem Mossovet, auf dem Ochotnyj Rjad und dem Roten Platz. Der neuen, in ihrem Wortlaut demokratischen Verfassung von 1936 stand die absolute Willkür der Schauprozesse zur Seite. Ängste und Hoffnungen, Aufstiegsmöglichkeiten und das Risiko, verhaftet zu werden, Zerstörung und Aufbau, Trauer und Freude gingen Hand in Hand. Diese Gegensätze waren alle am selben Ort zur gleichen Zeit präsent und im Zentrum Moskaus unauflöslich miteinander verflochten. Hier fand 1934 der Schriftstellerkongress statt, 1937 die Schauprozesse. Die Feiern des Jahres 1937 spielten sich mit ihren Paraden in der Gor’kijstrasse ab, deren „Rekonstruktion“ zur zentralen Prachtstrasse 1937 begann. Es ist gerade die Komplexität dieser widersprüchlichen Entwicklungen und der Haltung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte in ihnen, die diese Zeit so schwer beschreibbar machen.212 Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für die Zunahme und schreckliche Ausweitung des Terrors in den dreissiger Jahren. Die Hungerkrise von 1932 und 1933, eine Folge der Kollektivierung, sowie die ungeregelt und chaotisch verlaufende Industrialisierung begannen, Stalins Position zu gefährden.213 In der Partei wurde der Wunsch nach einer „Normalisierung“ der Verhältnisse immer lauter. Auf dem 17. Parteitag im Dezember 1934 sollte Stalin sogar seines Titels als „Generalsekretär“ beraubt werden. Ein möglicher Nachfolger bot sich in der Gestalt des populären Sergej Mironovič Kirov, eines Mitglieds des engsten Kerns um Stalin, an. In dieser Stalin bereits früh bewussten Tendenz und in der Ausschaltung möglicher Rivalen lag eine der Hauptursachen für seinen Terror gegen die eigene Partei.214 Die Ermordung Kirovs in Leningrad 1934, die nie aufgeklärt wurde, diente als Vorwand zur Aufdeckung einer „Verschwörung“ mit tödlichen Folgen für die Beschuldigten, erst Kamenev, später Jagoda. Stalins Position war gerettet. Die Ersetzung Jagodas durch Ežov an der Spitze des NKVD setzte das Signal für den Beginn des Grossen Terrors gegen die alten Parteikader, den Stalin persönlich mit seinen engsten Vertrauten überwachte.215 Ein weiteres Erklärungsmuster für die Beseitigung des alten Moskau und die Ermordung der alten Garde innerhalb der Partei ist die „Auslöschung des Gedächtnisses“. Die alten bol’ševiki waren Stalin im Weg, als er sich seine eigene Geschichte als Held der Oktoberrevolution neu zurechtlegte.216 Die „Rekonstruktion“ war – wie auch die „Säuberung“ – ein Euphemismus für die Auslöschung des Gedächtnisses der Stadt. Der Sucharev-Turm etwa wurde gesprengt, weil er ein Symbol des kaufmännischen Moskau war und an den Markt zu seinen Füssen erinnerte. Mit der „Auslöschung des Gedächtnisses“ entstanden aber zugleich neue Erinnerungsorte: Die „Ežovščina“, wie die Terrorzeit um 1937 und 1938 genannt wurde, aber auch die Sucharevka sind im kollektiven Gedächtnis der älteren Sowjetbürger bis heute präsent. Der SucharevTurm soll sogar wieder aufgebaut werden. Die Schauprozesse, deren Öffentlichkeit bei sonst verschlossenen Türen eine grosse Ausnahme war,217 verbanden Terror und Schönheit und präsentierten „Schuldige“, Saboteure, auf die sich 212 Einen eindrücklichen Einblick in ganz unterschiedliche Lebenswelten ermöglichen die Auszüge aus sechs Moskauer Tagebüchern der Jahre 1936 bis 1938, die Veronique Garros vorstellt: En leur for Intérieur. In: Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire, S. 260–280. 213 Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938. Hg. von Theo Pirker. München 1963, S. 62. 214 Haumann: „Eine sozialistische Lebensweise der Zukunft“, S. 30. 215 Loewe: Stalin. Eine politische Biografie, S. 78. 216 Daniel Weiss: Stalin. Person und Personenkult. In: Utopie und Terror, S. 41–64, hier S. 64. 217 Die Moskauer Schauprozesse, S. 47.
133
der Hass aller anderen richten konnte.218 Die Massenästhetik des Sozrealismus und die Schönheit der Monumentalarchitektur schufen Identifikations- und Normalitätsangebote – zusammen mit den „sicheren“ Werten Familie, Autorität, Disziplin, Hierarchie – „Ordnung“ war ein zentraler Begriff in den Reden Lazar’ Kaganovičs. Lazar’ Kaganovič (1893–1991) war eine Figur, die sowohl bei den Säuberungen und Schauprozessen wie auch bei der Rekonstruktion Moskaus eine zentrale Rolle spielte. Aus der Ukraine gebürtig und ursprünglich Schuhmacher, schloss er sich mit 17 Jahren den bol’ševiki an und stieg rasch in der Hierarchie der Berufsrevolutionäre auf. Am XIII. Parteitag wurde er Vollmitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und 1930 Vollmitglied des Politbüros. Als einer der engsten Mitarbeiter Stalins war er an der Durchführung von dessen gewaltsamen Kampagnen als treibende Kraft und ohne Rücksicht auf Verluste beteiligt: An Kollektivierung und Industrialisierung und insbesondere an den Parteisäuberungen. Von 1930 bis 1935 war er als Erster Sekretär des Stadt- und Gouvernementsparteikomitees in Moskau für den Bau der Metro verantwortlich. Er besass grosses Organisationstalent und war als Volkskommissar nacheinander für mehrere Industriezweige zuständig. Als früherer Förderer Chruščevs in der Ukraine konnte Kaganovič seine Position nach Stalins Tod zunächst beDie Gor’kijstrasse haupten. 1957 wurde er im Zuge der Entstalinisierung entmachtet und in die Provinz versetzt. 1961 schloss ihn die kommunistische Partei aus, was er nie verwand. In seiner 1996 in Moskau erschienen Autobiographie stellt er sich als treuen Diener seines Vaterlandes dar.219 Kaganovič war eine Schlüsselfigur bei der Neuplanung Moskaus. Berühmt und international verbreitet wurde seine Rede als Vollmitglied des Politbüros und 1. Sekretär des Stadt- und Gouvernementparteikomitees in Moskau auf dem Juniplenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei 1931.220 Damals machte er die neuen Schwerpunkte zum Umbau Moskaus zur Hauptstadt der UdSSR und der kommunistischen Weltbewegung bekannt. Moskau erhielt seine wirtschaftspolitische Vorzugsstellung. Kaganovič erklärte die Stadtplanung erstmals zum politischen Ziel. Als Folge davon mischte sich die Partei massiv in städtebauliche Belange ein. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Einsetzung von Kaganovič als Leiter der Parteiorganisationen von Moskau. „Kaganovič besetzte die Schlüsselposten nicht nur des Moskauer Parteiapparates, sondern auch des Mossovet mit seinen Gefolgsleuten.“221 Bei einer Ausstellung im Oktober 1933 an der Gor’kijstrasse wurde in den Vitrinen eine Leistungsschau des Moskauer Planungswesens gezeigt – ergänzt mit Fotos von Lenin, Stalin und Kaganovič.222 Er leitete den Bau der Metro, die nach ihm benannt war.223 Im Mai 1933 hielt er eine Rede „über die Parteireinigung“ vor Moskauer Parteifunktionären.224 Unter Genrich Grigorevič Jagoda (1891–1938) und ab September 1936 unter Nikolaj Ivanovič Ežov (1895–1940) war Kaganovič Leiter des NKVD und spielte eine 218 Loewe: Stalin. Eine politische Biografie, S. 77–78. 219 Lazar’ Moiseevič Kaganovič: Pamjatnye zapiski rabočevo, kommunista-bol’ševika, profsojuznogo, partijnogo i sovetskogosudarstvennogo rabotnika. Moskau 1996 (Erinnerungen eines Arbeiters, Kommunisten-Bol’ševiken, Gewerkschafters, Partei- und Staatsangestellten). 220 L(azar’) M. Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus und anderer Städte in der Sowjetunion. Moskau 1931. 221 Städtebau im Schatten Stalins, S. 271. 222 Fotos davon finden sich in: Städtebau im Schatten Stalins, S. 162. 223 L(lazar’) M. Kaganowitsch: Der Bau der Untergrundbahn und der Stadtplan Moskaus. Rede auf der Plenartagung des Moskauer Sowjets unter Teilnahme der Stossarbeiter des U-Bahnbaus und der Moskauer Betriebe. 16. Juli 1934. Moskau usw. 1934. 224 L(azar’) M. Kaganowitsch: Über die Parteireinigung. Rede vor den Funktionären der Moskauer Parteiorganisation gehalten am 22. Mai 1933. Moskau usw. 1933.
massgebliche Rolle bei der Vorbereitung der Moskauer Schauprozesse von 1936 bis 1938. Einer der ersten Anklagepunkte 1936 war ein Mordkomplott gegen Stalin, Molotov, Vorošilov und Kaganovič. Diese Aufzählung markierte die Fronten, zumindest für diesen Zeitpunkt. Aufgrund dieser Verbindung von Funktionen ist Kaganovičs Name eng mit den Schauprozessen und dem Umbau der Gor’kijstrasse verbunden. Kaganovič hatte intensiven Teil an der stalinistischen Herrschaftspraxis, in der Gewalt in unterschiedlichen Formen eine zentrale Rolle spielte. Ein Blick auf drei Reden gibt Aufschlüsse über solche Bezüge. In seiner Rede vor dem Juniplenum des ZK im Jahr 1931 ging Kaganovič auf die formalen und symbolischen Aspekte der Stadterneuerung überhaupt nicht ein, sondern stellte die Kommunalwirtschaft in den Vordergrund, den Bau einer neuen Infrastruktur für Wasser, Heizung, Licht, Abwasser und dergleichen mehr. Der nächste Punkt war die „sozialistische Umgestaltung der Lebensweise“, gefolgt von der „inneren Gestaltung der Städte“.225 Hier ging es, da es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Plan zur Rekonstruktion Moskaus gab, um die stadtplanerische Grundsatzentscheidung zwischen unterschiedlichen Systemen wie Ringsystem oder Schachbrettsystem. Insgesamt geht es in der Rhetorik nicht um Repräsentation, sondern um wirtschaftliche Gesichtspunkte und den Wandel von der kapitalistischen Handels- zur sozialistischen Industriestadt. „Auf dem Fundament der sozialistischen Ökonomik entfalten wir die sozialistische Rekonstruktion der Städte in der UdSSR.“226 Als Kaganovič 1934 vor dem Mossovet und den Metrobauern sprach, gab es den Generalplan bereits, wenn er auch noch nicht endgültig abgesegnet war. In dieser Rede wurden nun Anklänge an eine Säuberung der Stadt hörbar: „Neben der architektonischen Gestaltung, Verbesserung und Reinigung einer Reihe von Strassen in der Innenstadt, erblicken das Büro des Moskauer Gebiets- und des Stadtparteikomitees und das Präsidium des Moskauer Sowjets ihre wichtigste wirtschaftliche und politische Aufgabe darin, auch die übrigen Strassen Moskaus einigermassen in Ordnung zu bringen.“ Dazu sollten alte Häuser instand gesetzt oder abgerissen werden.227 Immer wieder taucht in diesem Zusammenhang der Terminus „in Ordnung bringen“ auf. Ordnung war ein zentraler Wert, ein gemeinsamer Nenner. Doch wer entschied darüber, was „Ordnung“ war? In seiner Rede über die Säuberung der Partei erläuterte Kaganovič zunächst die Stufen der Parteientwicklung und die jeweils angemessenen Mechanismen für die Überprüfung der Zuverlässigkeit der Parteimitglieder. Dabei argumentierte er gegen die Vorwürfe der „Trotzkisten“, die Säuberung diene der parteiinternen Mehrheit als Waffe gegen die Minderheit. „Gerade darum, weil die Partei es verstand, ihre Reihen fest und unentwegt in Reinheit und straffer Ordnung zu halten, gerade darum, weil die Partei mit aller Entschiedenheit alle rechten und ‚linken’ opportunistischen Elemente, den Sumpf, alle Schwankungen bekämpfte, konnten wir so gewaltige, grandiose geschichtliche Aufgaben erfüllen, wie sie im ersten Fünfjahrplan gestellt wurden.“228 Wie bei den Reden um Rekonstruktion und Metro ging es auch hier um Ordnung und linke Opposition. Die Metaphorik erinnert sogar an die Erdarbeiten beim Metrobau, die „straffen Reihen“ an die Fassaden, die die neuen Magistralen säumen sollten. Wachstum und Veränderung bedingten Massnahmen, die Ordnung wahren sollten. Klassenfeinde und schädliche Elemente hätten sich in die Partei eingeschlichen und müssten mit dem Mittel der Säuberung bekämpft werden. Die Feinde waren nicht mehr ausserhalb, sondern innerhalb der Partei zu suchen. 229
225 Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion, S. 98, S. 104. 226 Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion, S. 119. 227 Kaganowitsch: Der Bau der Untergrundbahn, S. 57. 228 Kaganowitsch: Über die Parteireinigung, S. 8. 229 Kaganowitsch: Über die Parteireinigung, S. 12–13.
135
„Heute wird der Staub entfernt, und nicht einfach mit einem Lappen und mit Wasser, sondern sogar mit Petroleum, und morgen ist wieder Staub da. Man muss ihn systematisch entfernen.“230 Ordnung steht gegen Disziplinlosigkeit und Durcheinander, und die Partei muss sich „noch enger um das leninistische Zentralkomitee scharen“.231 Reinigen muss sich die Partei von „untauglichen Elementen“.232 Es sind keine Menschen, sondern Elemente, Schädlinge, die Kaganovič in sechs Kategorien einteilt, darunter Karrieristen, Parasiten, Bürokraten. Die sechste Kategorie ist die der „moralisch Verkommenen“.233 Da kann jeder jederzeit dazugerechnet werden. Die Gewalthaftikgeit des Euphemismus der „Säuberung“ wird in der Wiederholung, vor allem aber in der Entmenschlichung von „Schädlingen“, „Parasiten“ und „untauglichen Elementen“, der Putzmittel-Metaphorik von „Staub“ und „Petroleum“ deutlich. Auch die Anlehnung an militärische Bilder, die Parteireihen als kämpferische Armee, der „Enthusiasmus des Aufbaus“ bis zum „Sieg des Sozialismus“ weisen auf gewalthafte Verhältnisse hin. „Unsere Selbstkritik, unsere innerparteiliche Demokratie ist gerichtet gegen die Revisionisten, gegen die Opportunisten, auf die Festigung der Parteidisziplin, auf die Stärkung der Parteireihen, auf die Mobilisierung aller Kräfte zur erfolgreichen Vorwärtsbewegung, auf einen erfolgreichen Kampf für den vollen Sieg des Sozialismus in unserem Lande und in der Die Gor’kijstrasse ganzen Welt.“234 Aufbau des Sozialismus und Marsch in die lichte Zukunft hiessen die Ziele, die zu erreichen jedes Mittel rechtfertigte. Die zeitliche Parallele des grossen Terrors der dreissiger Jahre mit dem Verlauf der Planung und Rekonstruktion Moskaus und die personelle Verknüpfung sind Hinweise darauf, dass beide Teil derselben komplexen gewalthaften Herrschaftspraktiken waren. In der Rhetorik taucht die Gewalt jedoch niemals in direkter Form auf. Die Stadt wird „rekonstruiert“, „in Ordnung gebracht“, die Partei „gesäubert“. Alles ist geplant und bis ins Detail inszeniert. Damit sind die Massnahmen auch in die herrschenden Kommunikationsrituale eingebettet, von der Häuserverschiebung über die Monumentalfassaden bis in die Geständnisse der Angeklagten hinein.
Die neue Gor’kijstrasse bedeutet das „Neue Moskau“ Vom Moment ihrer Fertigstellung an wurden die aufgeräumten Strassen mit den perfekten, statischen Fassaden ins Bild gesetzt. Die Stadt wurde zum Kommunikationsraum und Medium: Das Verschieben ganzer Gebäude und die monumentalen Neubauten waren demonstrative Kraftakte und Machtdemonstrationen, sie dienten aber auch der Identitätsstiftung, der Integration. Die Verbreiterung durch neoklassizistische Neubauten brachte eine enorme Vergrösserung der Dimension und der Sichtachse zum Roten Platz. Der urbane Raum wurde mit Bedeutung befrachtet: Als Herrschafts- und Ritual-Raum, der sich aus den neuen Orten für Paraden und Aufmärsche konstituierte. Der umgestaltete urbane Strassenraum der Gor’kijstrasse diente als Aushängeschild der gesellschaftlichen Utopie in der sozialistischen, kompakten Stadt. In der Zeit des Grossen Terrors, in die der Umbau fiel, war die Monumentalachse ein Angebot für Identifikation, Schönheit, für genau
230 Kaganowitsch: Über die Parteireinigung, S. 18. 231 Kaganowitsch: Über die Parteireinigung, S. 29, 32. 232 Kaganowitsch: Über die Parteireinigung, S. 31. 233 Kaganowitsch: Über die Parteireinigung, S. 20. 234 Kaganowitsch: Über die Parteireinigung, S. 30.
137
29. „In der Gor’kijstrasse 1962” von Naum Granovskij, Agenturfoto, Teil einer Reihe. CMADSN 1–7400. Eine Form der Öffentlichkeit des Strassenraums stellte eine Inbesitznahme als ökonomischen, der Freizeit, Mode und Konsum dienenden Raum und Ort der Identitäts-Bestätigung der Stadtbewohner dar, die hier in neuen Kleidern „auftraten” wie auf einer Bühne. Die Aufnahme vermittelt die Stimmung auf der Gor’kijstrasse vor dem Geschäft „Podarki“. Der Fotograf und somit der Blick der Betrachterin geht mit der Menge, die Menschen erscheinen als gut gekleidete Spaziergängerinnen und Spaziergänger. Da die Menschen in unmittelbarer Nähe von hinten zu sehen sind, treten keine Individuen hervor. Die Agenturfotos stammen von einem der wichtigsten Stadtfotografen Moskaus. Sie bilden den Konsens mit den Bürgern ab, zeigen diese als zufriedene „Konsumenten“. Die Kleider sind gepflegt, die Menschen „kultiviert“. Ein Punkt erweckt Argwohn: Die Frauen tragen Handtaschen, keine schweren Einkaufstaschen, wie es üblich war. Es geraten keine Warteschlangen ins Bild.235
die „Normalität“, nach der viele verlangten. Die Gor’kijstrasse wurde zur allgemein akzeptierten Flaniermeile. Mit der Erweiterung wuchs auch die Attraktion des Publikums durch die monumentale Machtschau und den Reiz der „Nähe zur Herrschaft“ im nahe gelegenen Kreml. Mit dem Massstab wuchs die Teilhabe. Wie die Metro stand auch dieser „schöne“ öffentliche Raum im Gegensatz zu den „privaten“ Wohnräumen, die kläglich waren und tagsüber kaum Aufenthaltsmöglichkeit boten. Deshalb verbrachten die Menschen ihre Freizeit meistens in öffentlichen Räumen. Nach dem Krieg und vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren war die Gor’kijstrasse Raum zur Selbstdarstellung der Gesellschaft, Flaniermeile und Zeremonialachse. Derselbe Ort war an Festtagen sakral und an Wochentagen profan. Dabei bestand eine Art stiller Konsens der Akzeptanz und Kollaboration der Bürger. Sie trafen sich dort in ihren besten Kleidern um zwischen Puškinplatz und Ochotnyj Rjad auf und ab zu flanieren und zeigten sich und der Welt, etwa den seit der Wiedereröffnung des Inturist-Reisebüros 1955 dort in grösserer Zahl spazierenden Ausländern, wie gut es den Sowjetbürgern ging.
235 Mikhail Epstein : Russo-Soviet Topoi. In: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space. Hg. Von Evgeny Dobrenko und Eric Naiman. Seattle usw. 2003, S. 277–306, hier S. 298.
Die Bürger hatten Teil an einem kulturellen Raum ziviler Öffentlichkeit, der an den Festtagen des offiziellen Kalenders zum Regieraum der Machthabenden wurde, wo die Defilees für den Roten Platz aufmarschierten. Die Abgrenzung war hier nicht räumlich, sondern zeitlich bestimmt.
Soziale Räume und ihre Reichweiten Gegensätze Die Gor’kijstrasse vereinigte über die ganze Zeit hinweg auffällige Gegensätze: Diese entstanden nicht nur aus der wachsenden Notsituation, der Hungerkrise und den Luxusdisplays in den Schaufenstern der Gor’kijstrasse. Die Gegensätze zwischen Tag und Nacht, Festtag und Alltag, Strasse und Hof erwiesen sich als Kontinuität. Mit dem Ausbau der Gor’kijstrasse, der die Hierarchisierung der Gesellschaft auch in gebaute und ökonomische Räume übertrug, wurden die Gegensätze unübersehbar. Das perfekte „neue Moskau“ liess das viel umfangreichere Die Gor’kijstrasse „alte Moskau“ noch baufälliger erscheinen. Hinzu kam, dass die Menschen im alten Moskau und in Baracken, Gemeinschaftswohnungen oder Wohnheimen lebten. Die Neubauwohnungen, erst recht diejenigen im Zentrum, waren nur für die Eliten bestimmt. Diese Gegensätze prägten die Lebenswelten der Menschen auf der Gor’kijstrasse. Sie kamen beispielsweise am Feierabend her, um das neue Moskau zu besuchen und daran teilzuhaben, um nahe am Zentrum der Macht zu sein und zu spüren, dass die Sowjetunion eine Weltmacht war. Andere prostituierten sich hier oder suchten käufliche Liebe; Gruppen von Jugendlichen standen herum, und in den Bars trafen nachts ganz unterschiedliche Lebenswelten aufeinander. Es ist an der Zeit, die Frage von der sozialgeschichtlichen Seite her zu stellen: Für wen war die Gor’kijstrasse da, welche Gruppen konnten sie wie nutzen? Zu den Fragen nach der Bedeutung der Strukturprinzipien Alter, Gesundheit, Geschlecht, sozialer und ethnischer Zugehörigkeit fehlen bislang umfassende Darstellungen, die hier weiterhelfen könnten. So lassen sich nur ansatzweise Teilantworten skizzieren – über die spezifischen Raumkonstitutionen an der Gor’kijstrasse, über die asymmetrisch verteilten Möglichkeiten, Räume zu schaffen oder zu verändern. Die Tverskaja war ein Ort, an dem Frauen und Männer sowohl spazieren konnten, wie auch an Paraden marschieren oder im Rahmen der Hausarbeit Einkäufe erledigen – was meistens hiess: Schlange stehen. Wer an der Gor’kogo einkaufte oder Bars und Restaurants besuchte, musste allerdings über ein gehobenes Einkommen oder Devisen verfügen, denn die Geschäfte waren teuer. Das Tagespublikum unterschied sich grundsätzlich vom Nachtpublikum. In der Regel verfügten Männer über mehr Freizeit als Frauen, weil diese nach wie vor neben ihrer Berufstätigkeit für Haushalt und Kinder zuständig waren. Die stiljagi -Subkultur war eine männliche Kultur. Kinder hatten auf der Strasse nichts zu suchen. Ihre Welt waren die Höfe, die ein von der Strasse unabhängiges Eigenleben führten. Moskau als Hauptstadt eines Vielvölkerstaates zog zahlreiche Besucher unterschiedlicher Ethnien an. Die Lebensbedingungen ethnischer Minderheiten in Moskau sind nur oberflächlich erforscht. Nach der Volkszählung von 1939 scheint es eine starke räumliche Segregation der Nationalitäten in Moskau gegeben zu haben. Da die Statistik die Existenz von sozialen Schichten verneint – es gab nur noch Arbeiter, Angestellte und Kolchosbauern -, lässt sich über den Umweg der Nationalitäten eine soziale Segregation rekonstruieren: Die Angehörigen einer Nationalität waren häufig in ähnlichen Berufen tätig: Die Tataren waren überwiegend Arbeiter und lebten an der Peripherie, die Ukrainer verteilten sich auf Arbeiter und Angestellte und hatten einen An-
teil von 10 Prozent Bauern, die Juden waren wie auch die Letten überwiegend Angestellte, das heisst in Staat und Verwaltung tätig, und wohnten im Zentrum und im Südwesten. Dominierende Gruppe waren selbstverständlich die Russen.236 Aus zahlreichen Quellenfragmenten geht jedoch hervor, dass die ethnische Vielfalt des Vielvölkerstaates Sowjetunion das Strassenbild im Zentrum der Hauptstadt wesentlich mitprägte und, wie auch das bekannte georgische Restaurant „Aragvi“ die touristische Repräsentationsfunktion der Gor’kijstrasse unterstrich.
Potemkin lebt! Der Gegensatz von vorne und hinten, Stadt und Land Ein Gegensatz, der wegen des räumlichen Habitus besonders spannend ist, ist derjenige zwischen Strasse und Höfen. Die strikte Trennung in innen und aussen ist eine Eigenheit der Blockrandbebauung, die sich auch in Berlin oder Wien studieren lässt. Lebhafte Schilderungen belegen, dass die Rückseite der Häuser an der Gor’kogo „dörflich“ geprägt blieb, hier eine grössere Kontinuität bestand als auf der Strassenseite. Zwischen der Gor’kijstrasse auf den Fotos, die ein Bild von Stadt fassen und vermitteln sollten, und der Alltagsrealität am Ort selbst bestand ein so spannender wie dauerhafter Widerspruch. Wesentlich bei der Abbildung des Strassenraums nach der Verbreiterung war der geschlossene Charakter, die geordnete Monumentalität. Eine Analyse muss diese Logik des „Gesamtkunstwerks” durchbrechen und den Raum nicht als statisch, homogen und begrenzt, sondern als Gefüge von dynamischen, offenen und durchlässigen Räumen betrachten. Sie muss die Strasse verlassen und durch die Toreinfahrten in die Höfe gehen, um die Rückseite zu erwandern. Schon Walter Benjamin beobachtete, dass sich die Hinterhöfe wesentlich von den Strassenräumen unterschieden und einen dörflichen Charakter hatten: „Mit diesen Strassen ist eins sonderbar: das russische Dorf spielt in ihnen Versteck. Tritt man durch irgendeine der grossen Torfahrten – oft sind sie durch schmiedeeiserne Gitter verschliessbar, aber ich habe nie eines versperrt gefunden – dann steht man am Beginn einer geräumigen Siedlung, die oft so breit und ausladend angelegt ist, als ob der Raum in dieser Stadt nichts kostet. So öffnet sich ein Gutshof oder ein Dorf. Der Grund ist uneben, Kinder fahren in Schlitten, schaufeln den Schnee, Schuppen für Holz, Gerät oder Kohlen füllen die Winkel, Bäume stehen herum, primitive Holzstiegen oder Anbauten geben der Seitenfront oder Rückfront von Häusern, die nach der Strasse sich sehr städtisch präsentieren, das Äussere eines russischen Bauernhauses. So wächst die Strasse um die Dimension der Landschaft.”237 Jelena Bonner, die als kleines Mädchen anfangs der dreissiger Jahre im Hotel „Ljuks“ lebte, berichtet von den „Bachruščenka“ genannten Durchgangshöfen hinter dem Hotel bis zur Bol’šaja Dmitrovka, die wegen der dort herrschenden Banden verwahrloster Jugendlicher als unsicher und gefährlich galten.238 Dieser für Moskau spezifische Doppelcharakter blieb auch nach dem Umbau der Gor’kogo erhalten. Vladimir Bukovskij (geb. 1942) lebte als Kind in der Nähe des PuškinPlatzes.239 Die Höfe, in denen er seine Kinderjahre zubrachte, waren von Kindern und Jugendlichen bevölkert und hatten ein lebhaftes, an die „Sittenbilder“ Giljarovskijs erinnerndes Eigenleben, wenn man Bukovskij folgt: „Unser Hof war reich an Schuppen, Anbauten und Winkeln, die sich gut als Versteck eigneten. Die älteren Jungen fingen Tauben ein, auch fremde, tauschten sie untereinander und tranken in ihren Taubenschlägen heimlich Wodka. Abends sammelten sie sich
236 Alain Blum: Changer la ville, changer l’homme. In: Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire, S. 73–92, hier S. 91–92. 237 Benjamin: Tagebuch, S. 99. 238 Bonner: Mütter und Töchter, S. 154–155. 239 Wladimir Bukowski: Wind vor dem Eisgang. Berlin usw. 1978: To Build a Castle. My Life as a Dissenter. New York 1978, S. 70.
139
in Gruppen vor der Haustür, manchmal mit Gitarren. Fast alle stahlen, sie lebten in einer durch und durch kriminellen Atmosphäre. Soweit ich es beurteilen kann, entsprach das in jenen Jahren dem allgemeinen Klima in Moskau. Das Idol der Jungen war ein bärenstarker, ewig betrunkener Mann namens Jurka, ein ehemaliger Ringer, Anstifter aller Prügeleien. Er liebte es im Unterhemd oder mit nacktem Oberkörper im Hof zu erscheinen, damit alle seine gewaltigen Muskeln bewundern konnten. Dann begab er sich in die nahe Stehbierhalle, betrank sich dort und zettelte eine Prügelei an, aus der er stets als Sieger hervorging. Stundenlang lungerte er vor der Haustür herum und belästigte Passanten. Über seine Kraft und seine Taten kursierten Legenden unter uns. Die zänkischsten und kopfstärksten Familien wohnten im Keller. Zwischen ihnen kam es häufig zu regelrechten Schlachten, wobei gelegentlich der ganze Hof für die eine oder andere Seite Partei ergriff und sich an der Prügelei beteiligte. Bei schönem Wetter schleppten sich die alten Weiber in die Sonne, Kinder krochen im Staub herum, Wäsche trocknete auf den Leinen.“240 Der Hof gehörte als Gegenstück zur Strasse, vor allem aber als Lebensraum, denn er spielte für den Alltag zu Fuss eine Rolle. Paul Thorez wanderte Anfangs der Sechzigerjahre hier umher: „Hinter den Fassaden der Gor’kijstrasse sind die zwei Welten nur durch ein paar Schritte getrennt. Wenn Sie in Richtung MosowDie Gor’kijstrasse jet gehen, genügt es, in die erste Strasse links, die Ogarew- oder die Stankewitschstrasse einzubiegen oder ganz einfach durch die Halle eines Gebäudes zu gehen, um auf die Hinterhöfe zu gelangen, die eine fast fortlaufende Parallelstrasse zur Gor’kijstrasse bilden. Auf der einen Seite die grossen Häuser, auf der anderen, in einer unregelmässigen Linie, die Gärten, Baracken und niedrigen Häuser mit schmalen Fenstern und vorstehenden Dächern. Dahinter, bis zur Herzenstrasse, ein Labyrinth von Pereulki und Wegen, in denen man sich schnell verirrt hat. Die Grenze zwischen den beiden Welten verläuft in den Wohnungen der grossen Häuser, deren Aufenthaltsräume auf die Gor’kijstrasse und die Stadt hinausgehen, während die Küche zum ausgedehnten Dorf, an dessen äusserstem Ende sich andere Hochhäuser und Wolkenkratzer gegen den Himmel abheben, gerichtet sind. Oft schlenderte ich von einem Hinterhof, dem dwor, zum anderen. Mauern ohne Kolonnaden, ohne Reliefs – darüber die viereckigen Fenster im nackten Backstein. Sie alle haben einen vergitterten Vorsprung, der im Winter als Speisekammer dient. Im Sommer sitzen dort vornübergebeugt die Hausfrauen und überwachen die im Hof spielenden Kinder oder unterhalten sich so stimmgewaltig von einem Stockwerk zum anderen, dass ich, ohne ungebührlich neugierig zu sein, genauestens über den Klatsch dieses Stadtteils informiert bin. Unten das herrliche Leben des dwors. „241 Die Höfe waren nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich durchlässig: Hier überdauerte in alten Hütten und Gässchen ein Stück Vergangenheit. Die Höfe waren im Gegensatz zur Strasse informelle Räume. Hier herrschte nicht urbane Anonymität, sondern dörfliche Vertrautheit. Das machte die Höfe zu einem Ort der sozialen Kontrolle durch Nachbarn und dvorniki (Concierge). Sie boten aber dennoch Freiräume vor obrigkeitlichen Zugriffen. Sie waren Zonen autonomen sozialen Lebens; als Raum waren die Höfe den Alten und den Kindern, aber auch dem Feierabend zugeordnet. Die Kommunikation fand hier nicht vertikal statt, sondern horizontal. So gesellt sich zum offiziellen Bild des Strassenraums und zum neuen «Bild der Stadt» die Erfahrung der Höfe als Ort des «Eigensinns».242 In der alltäglichen Lebenswelt der Menschen, verbanden
240 Bukowski: Wind vor dem Eisgang, S. 72–73. 241 Thorez: Moskau, S. 28f. 242 Zum Konzept des Eigensinns vgl. Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn. In: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte: zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139–153.
141
30. N. I. Osenev( 1909-?), Moskau im Winter. Öl auf Leinwand, 105 x 141 cm. 1967, im Besitz des Künstlers. Der für Moskau spezifische Doppelcharakter von Strasse und Hof blieb auch nach dem Umbau der Gor’kogo erhalten. Der Gegensatz von vorne und hinten entsprach demjenigen von Stadt und Dorf. Die Strasse hatte einen offiziellen Stadtraum, den sie bewusst gestaltete und schuf, eine Schaufassade, die den urbanen Raum beschloss und definierte. Durchbrach man sie, durchbrach man auch ihr Konzept. Das 1967 entstandene Gemälde zeigt das Gewirr von Gassen und Höfen, das Thorez beschreibt, zwischen der Herzenstrasse (heute: Bol’šaja Nikitskaja) und dem Kalinin-Prospekt (heute: Vozdviženka Ulica). Es sind die Höfe hinter der alten Universität am Romanov Pereulok. Rechts im Hintergrund zu erkennen ist der Dreifaltigkeitsturm des Kreml, rechts davon der Neubau des Kreml-Palastes, dahinter knapp die Kuppeln der ZwölfApostel-Kathedrale vor dem Glockenturm Ivans des Grossen. Links des Dreifaltigkeitsturmes das lang gezogene gelbe Gebäude des Arsenals an der Kremlmauer. Im Vordergrund jedoch dominiert das kleinmassstäbliche „alte Moskau“, die gelben, niedrigen Häuser, die Schuppen und Bäume im Hof, wo Kinder spielen. Das Bild scheint zu sagen: Um den Kreml verändert sich die Stadt, schreitet die Zeit voran. Vorne dominiert die Ästhetik der Macht. Hier hinten steht die Zeit still oder folgt einem anderen Rhythmus. Die Besonderheit des Bildes liegt gerade in der Wahl des Motivs. Nahe am Zentrum der Macht, zeigt es nicht die repräsentativen Strassenräume, sondern die Rückzugs-Räume der Höfe.
sich die scheinbar widersprüchlichen Elemente der Anonymität und Monumentalität mit den Rückzugsmöglichkeiten der Höfe.
Visuelle Kultur: Wie ein neues „Bild von Stadt“ in einem kommunikativen Prozess erzeugt wurde Wie konnten die Gegensätze zwischen den perfekten Strassenräumen und der wirren Welt der Höfe überwunden werden, wie die ausgeprägten Hierarchien? Die Integration der Gegensätze erfolgte über die Wahrnehmungsmuster, und diese konnten durch die Verbreitung fertig gedeuteter Bilder geformt und umgeformt werden.
Der Raum „Gor’kijstrasse“ war nicht territorial begrenzt, sondern konstituierte sich aus symbolischen Verknüpfungsprozessen: Die Publikation von Abbildungen, besonders Fotografien des „Neuen Moskau”, diente der Kommunikation über den Raum als Lebensumfeld des „Neuen Menschen”. Die Gor’kijstrasse wurde zum Synonym für „Moskau“ und den utopischen Raum der Hauptstadt des Kommunismus oder des „Hafens von fünf Meeren”, wie sich Moskau nach dem Bau des Moskva-Volga-Kanals symbolträchtig nannte.243 Die „demokratischste“ Form dieser Visualisierung war die Briefmarke. In der Sowjetunion wurden Briefmarken bewusst als Mittel visueller Propaganda genutzt. Gerade wegen ihrer massenhaften Produktion und dem breiten Zielpublikum blieb der künstlerische Stil der Briefmarke dem darstellenden Realismus verhaftet.244 Seit Mitte der dreissiger Jahre wandelte sich der Fokus. Landschaften waren bereits seit 1932 das wichtigste Briefmarken-Sujet, nun aber wurde der Raum hierarchisiert: Moskau wurde als Zentrum des Landes inszeniert. In diesen Jahren entwickelte sich eine „Moskau-zentrische Briefmarkenkultur“. Den Anfang markierte 1935 eine Serie zur Moskauer Metro. 1937 war eine Serie von Briefmarken dem Allunions-ArchitektenKongress gewidmet. Sie zeigte Bauten, die für Moskau geplant waren wie den Palast der Sowjets und das Hotel Moskva. Im darauf Die Gor’kijstrasse folgenden Jahr erschien die Grosserie zur „Rekonstruktion Moskaus“, in der die Gor’kijstrasse prominent vertreten war. Diese Marken hoben sich durch ihre Übergrösse ab.245 Die Sowjetunion ausserhalb Moskaus wurde nunmehr durch zweierlei Motive repräsentiert: 1939 und 1940 erschienen Bildserien zur Moskauer Allunions-Landwirtschaftsausstellung, welche die Pavillons der Sowjetrepubliken zeigten. Das andere Motiv waren Ferienorte und Sanatorien. Der Krieg führte zu einer vorübergehenden Dezentralisierung. Helden des Krieges und der Sowjetunion sowie die „Helden-Städte“ waren die Motive. Die endgültige Kanonisierung Moskaus als Zentrum erfolgte dann auf den Briefmarken der Nachkriegszeit. 1946 erschien die Reihe „Ansichten Moskaus“, und zum 800. Jahrestag der Gründung Moskaus 1947 erschien eine zwölfteilige Briefmarken-Serie. Die Gor’kijstrasse war auf vier Marken vertreten und millionenfach verbreitet. Weitere Serien dieser Jahre hatten den Moskauer Stadtsovet, die Moskauer Metro und den Moskva-Volga-Kanal (alle 1947) sowie „Moskauer Museen“ (1950) zum Thema.246 Um eine Vorstellung von der Breitenwirkung zu erhalten, können folgende Zahlen dienen: 1957 wurden innerhalb der Sowjetunion vier Milliarden Briefe und 80 Millionen Pakete befördert.247 Ein weiteres Medium der Visualisierung des „Neuen Moskau“ war die Fotografie. Architekturfotografen mit festen Kommissionen setzten für ihre Agenturen die Fassaden der neuen Prachtstrasse ins Bild. Die Fotos waren eine Inszenierung der Inszenierung. Das sorgfältig gestaltete Abbild des neu geschaffenen Strassenraums und der Fassaden wurde in der Tages- und Fachpresse sowie in dem damals neuen Medium grossformatiger Fotobücher verbreitet. Die Architekturzeitschrift „Architekturnaja Gazeta“ bestand mehrheitlich aus grossformatigen Bildern soeben fertig gestellter Projekte. 243 Zur „Dominanz Moskaus als sakraler Ort der politischen Macht” vgl. auch Klaus Gestwa: Sowjetische Landschaft als Panorama von Macht und Ohnmacht. Historische Spurensuche auf den „Grossbauten des Kommunismus” und in dörflicher Idylle. In: Historische Anthropologie (2003) Nr. 1, S. 72–100, hier S. 82. 244 Evgeny Dobrenko: The Art of Social Navigation. The Cultural Topography of the Stalin Era. In: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space. Hg. Von Evgeny Dobrenko und Eric Naiman. Seattle usw. 2003, S. 163– 200, hier S. 163–165. 245 Dobrenko: Art of Navigation, S. 169–171. 246 Dobrenko: Art of Navigation, S. 175. 247 Dobrenko: Art of Navigation, S. 163–165.
143
31. „Lichterzeitung über dem Restaurant Sofia an der Gor’kijstrasse „ Fotograf M. Čert’, 1965, CMADSN 1–38832 Die Nachtaufnahmen der Gor’kijstrasse von 1961 und 1962 zeigen eine Modernisierung und Dynamisierung des Bildes von Stadt durch verglaste, lichtdurchflutete Gebäude und pulsierendes Nachtleben, während die Losung und die steinerne Fassade des Hotels Sofija in der Aufnahme von 1965 geradezu programmatisch vom Machtwechsel erzählen. Die Losung dient der „in-Marsch-Setzung“ und lautet: Unter dem Banner des Marxismus-Leninismus, unter der Führung der kommunistischen Partei – vorwärts zu neuen Siegen beim Aufbau des Kommunismus.” Die Welt der Höfe bleibt aus diesen Bildern ausgeklammert.
In der zweidimensionalen Abbildung erfuhr die Gor’kijstrasse eine enorme räumliche Verbreit(er)ung – der gestaltete Strassenraum entfaltete losgelöst vom physischen Ort eine flächendeckende Wirkung. Der repräsentative Strassenraum formte die Wahrnehmung des „Zentrums der Hauptstadt”. Er bot ein geschlossenes Bild der „kompakten Stadt”, die nicht nur das Gegenstück zur weiten und oft unbesiedelten Landschaft war, sondern auch eine Urbanisierung des Stadtraumes selbst, ein Gegenstück zum Topos vom „grossen Dorf” Moskau. Aussagen über die „Stadt“ zirkulierten in der Malerei, auf Briefmarken, im Kino und in der Fotografie, in den Schaufenstern der Gor’kijstrasse, in den Architekturwettbewerben und den Expertendiskursen zu städtebaulichen Leitbildern, den Reden Kaganovičs, in der Presse, in der Teilhabe der Menschen an den neuen Strassenräumen, in den Masseninszenierungen an Festtagen. Der untere Teil der Gor’kijstrasse wurde als Ausschnitt eines Stadtraums in ein Bild verwandelt, „eingerahmt“. Besonders spannend ist der Gegensatz zwischen der bildlichen Inszenierung des Baus des Telegrafenamtes 1927 und der Rekonstruktion der Gor’kijstrasse 1937–1938. Das Telegrafenamt sollte rechtzeitig zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution fertig werden. Der Bau war zugleich als Aufbau des Kommunismus inszeniert, die Arbeiter waren Helden und der Bau wurde von Fotografen wie Šajchet dokumentiert. 1938 dagegen zählte nicht mehr der Bau, es sei denn als Kraftdemonstration. Das wird aus der Baudokumentation mit Fotoreportage in „Architektura i Stroitel’stvo Moskvy“ vom April 1938 sehr schön deutlich. Die Aufnahmen sind eher dokumentarische Schnappschüsse der Baustelle und des grossflächigen Ausmasses der Kraftanstrengung als Inszenierungen des Baus. Allenfalls das Ausmass der Zerstörung verweist hier auf die Grösse der Aufbauleistung.
Die Gor’kijstrasse wurde schliesslich als fertiges Produkt, als „Ankunft im Kommunismus“ inszeniert. Nicht als Prozess, sondern überzeitlich, ewig, als Wert an sich, als Denkmal ihrer selbst. Die Differenz bei der bildlichen Repräsentation der beiden städtebaulichen Eingriffe ist paradigmatisch für den Wandel der visuellen Kultur während der ersten Fünfjahrpläne. Die Erzählung von Aufbau und Bewegung, die Vertikale oder Diagonale als Ausdruck des in die Höhe Strebens wird abgelöst von der Ankunft, einem zeitlosen Zustand des Verharrens und der Horizontalen.
Ergebnisse Im Folgenden sind die wichtigsten Ergebnisse der Fallstudie zusammenfassend dargestellt. Eine weiter führende Analyse einzelner Aspekte folgt im Zusammenhang mit den anderen Fallstudien übergreifend im letzten Teil der Arbeit.
Die Gor’kijstrasse
Planung und Bau, chronologischer Überblick
Während des Kriegskommunismus und der zentralen Machtsammlung 1918–1920 war die Monumentalpropaganda auf der Tverskaja präsent mit der Verfassungs-Stele auf dem Sovetplatz. Hinzu kamen die neuen Feste und der Strassenschmuck, die im Kontrast zum herrschenden Hunger und Elend standen. Als ehemalige Strasse vom Kreml in die Hauptstadt St. Petersburg war die Tverskaja auch zentrale Geschäftsstrasse. Während der NĖP 1921–29 kam das zum Ausdruck. Sie erschloss nun den Roten Platz. Die Strasse war das Zentrum selbst. Die Tverskaja war zugleich eingebunden in das alte System von Strassen, Höfen und Gässchen. Die Bauten der Zwanzigerjahre griffen nur punktuell und signalhaft ins Stadtbild ein. Zeichen der Neuerung war das imposante Telegrafenamt an der Tverskaja, pünktlich zum 10. Jahrestag der Grossen Oktoberrevolution 1927 fertig gestellt. Während der ersten beiden Fünfjahrpläne1928–1937 und der forcierten Industrialisierung, Kollektivierung und „Kulturellen Revolution“ stand die 1933 umbenannte Gor’kijstrasse im Zentrum des Generalpans zur Rekonstruktion Moskaus zur repräsentativen Hauptstadt. Der 1935 verabschiedete Plan sah die Massstabserweiterung und die Einordnung in neue städtische Subsysteme wie die Metro und die Zeremonialachsen vor. Zwischen 1937 und 1941 entstand hier ein Kernstück des „Neuen Moskau”. Die erweiterte Achse wurde Totalkulisse, sie repräsentierte Macht und das Ideal der kompakten Stadt. Die Bautätigkeit an der Gor’kijstrasse wurde im Krieg unterbrochen, während der Metrobau weiterging. Die Architekten begannen jedoch bereits 1943, für die Zeit nach Kriegsende zu planen. Nach Kriegsende wurde weiter gebaut, wichtigstes Objekt neben weiteren Wohnbauten war die Anpassung des Mossovet: an den neuen Massstab. Zwischen 1953 und1959 gab es keine Planungen im Zentrum, sondern neue Prioritäten. Planungs- und Bautätigkeiten verlagerten sich an die Peripherie und zum Wohnraum für alle. Die standardisierte Massenbauweise wurde gefördert. 1958 wurde das Majakovskij-Denkmal enthüllt, und bald darauf erschienen Pläne für den Weiterbau der Gor’kijstrasse mit modernen Bauten, die Baulücken schliessen sollten. Mit dem Anschluss an internationale städtebauliche Leitbilder hatte sich auch die Architektursprache gewandelt, sie war modern und rational, Materialien waren Metall, Glas, Licht, die Vertikale herrschte vor. Die Gor’kijstrasse erschien auf den Plangrafiken als Flaniermeile für alle, verglast, hell erleuchtet und schon deshalb demokratisch. Sie stellte sich der Konkurrenz durch den Kalinin-Prospekt.
Das Jahr 1937 als grosser Bruch: Räume durch Gewalt von oben Die Umbenennung und vor allem die Erweiterung und Massstabsvergrösserung durch Auf- und Umbauten bedeutete den grössten Bruch in der Geschichte der Strasse, der auch im Gedächtnis der Menschen so aufbewahrt wurde. Sie wandelte sich im unteren Teil in nur zwei Jahren von der schmalen, gekrümmten, dichten Geschäftsstrasse in eine breite, von klassizistischen Schaufassaden gesäumte Zeremonialachse, die zum roten Platz führte. Damit erhöhte sich ihre Bedeutung, sie wurde an Feiertagen „sakral“ besetzt und hoch reglementiert. Zugleich verstärkten sich die Kontraste und Hierarchien. Die „Rekonstruktion“ des Stadtzentrums mit der Gor’kijstrasse fand gleichzeitig mit anderen gesellschaftlichen Prozessen statt, die sich im Jahr 1937 bündelten, vor allem mit den Schauprozessen und den beiden grossen Jubiläen, die mit Festparaden gefeiert wurden. Die Analyse der Zusammenhänge konnte zeigen, dass Gewalt als legitimes Mittel zur Machtgewinnung wie zur Machterhaltung diente. Gewalthaft waren sowohl der Abbruch eines Teils der alten Tverskaja wie auch die Monumentalität der neuen Achse. Beide begleiteten höchst sichtbar den ebenfalls an zentralem Ort inszenierten Gewaltakt der Schauprozesse, die zur Hinrichtung der alten Parteikader führten. Gewalt war Mittel, Altes „auszulöschen“ und Neues aufzubauen. In allen Fällen wurde nur verschleiert darüber gesprochen, durch Euphemismen und Metaphern der Reinigung und Ordnung. Ebenso wie die Feste der Jubiläen boten diese Begriffe ein Identifikationspotenzial.
Gegensätze und der Umgang damit: Das Bild als Medium Der Bruch war optisch wahrnehmbar und drückte sich im Stadtraum aus, aber er trennte auch deutlich alt von neu, hinten von vorne: Hinter den Fassaden des „Neuen Moskau“ lebten die Gassen und Höfe des alten Moskau fort. Überdeckt wurde dieser Gegensatz durch die Produktion eines neuen Bildes von Stadt, durch die Inszenierung und Verbreitung von Bildern der umgestalteten Gor’kijstrasse. Diese Bilder wurden Teil eines ganzen Systems von Bildern idealer Orte, an denen der Sozialismus bereits verwirklicht war. Die Ausstellung von Architekturmodellen, die bildlichen Repräsentationen von städtischen Räumen hatten Einfluss auf Raumbilder und Raumvorstellungen und schufen Akzeptanz. Das Bild der Gor’kijstrasse wurde wichtiger als der Ort selbst, verlieh ihm erst seine Bedeutung. Die Akzeptanz dieser Bedeutung zeigt sich daran, dass die Gor’kijstrasse die beliebteste Flaniermeile war und blieb. Sie bot Identifikation an, die hier dargestellte Macht hatte Anziehungskraft, die Menschen konnten daran teilhaben. Wie auch die Metro verkörperte die Gor’kijstrasse in diesem Sinn die Fürsorge des Staates für den Einzelnen, indem sie schöne öffentliche Räume schuf. Die Höfe und die neuen Strassen, Plätze und Parks boten den Menschen die Möglichkeit, an beiden Orten zu leben, aber eigentlich lebten sie in der alten Welt und statteten der Welt von morgen nur ab und zu einen Besuch ab.
Lebensweltliche Gegensätze als Konstanten Das Nachtleben war ein durchgehendes Element, besonders lebhaft während der NĖP-Zeit mit ihren zahlreichen Kellerbars und dann wieder um 1935. Die Prostitution war gleichfalls konstant vorhanden und schuf mit Bettelei und Schwarzhandel ökonomische Räume von unten.
145
Das Nachtleben bot die räumliche und zeitliche Auflösung von Grenzen, es war ein Fluchtraum, der immer erhalten blieb, aber immer auch ein Raum der Gegensätze. Am Beispiel des Nachtlebens und der Bars zeigte sich, dass im Spätstalinismus eine Abfolge von Sozialisationskohorten mit nur wenigen Jahren Abstand – frontoviki, stiljagi, novaja volna – aus ihren unterschiedlichen Erfahrungsräumen heraus sich am selben Ort und zur selben Zeit, nachts auf der Gor’kijstrasse, völlig gegensätzliche Räume konstituierten: Die „Tavernenöffentlichkeit“ der Nachkriegszeit, für die einen anonymer Fluchtraum, bot den anderen die Möglichkeit, sich als Gruppe und Gegenmode zu konstituieren. Das Erleben des Fluchtraums Nachtleben und seine Bedeutung hingen von den altersbedingten Erfahrungen ab, besonders von der Gewalterfahrung. Andere bleibende Institutionen wie Felsen in der Brandung waren das Hotel „National“, das „Eliseev“, das „Filippov“ und das georgische Restaurant „Aragvi“. Sie überstanden die ganze Sowjetzeit und wurden als Symbole sozialistischen Wohlstands gehegt. Die Nutzungen der Ritualachse an Festtag und Feierabend, aber auch am Tag und in der Nacht waren streng getrennt. Der common space des Alltags wandelte sich zu bestimmten Zeitpunkten zum public space.
Die Gor’kijstrasse frontoviki, stiljagi, novaja volna, inakomyslie (Andersdenkende) – Eigensinn produziert Räume von unten Die zentrale Zeremonialachse erschien auch als Ort, an dem Eigensinn der zwischen 1930 und 1940 geborenen Generation manifest wurde: auffällige Kleidung und lässiges Benehmen, ein englisch durchsetzter und somit „feindlicher“ Jargon und „unsowjetischer Geschmack“, Hedonismus und Nachtleben. Seit 1958 formulierten die Dichter am „Majak“ alternative Vergangenheitsversionen und individuelle Zukunftswünsche. Die Mittel, kollektives Andersdenken und Eigensinn zu zeigen, wandelten sich: von der Kleidung – die exzentrisch blieb – zum Wort, aber vor allem zur Versammlung an einem zentralen, sichtbaren Ort. So konnte auch ein Begräbnis einer Symbolfigur wie dasjenige Boris Pasternaks 1960 zur politischen Manifestation geraten. Die Teilnahme daran war ein kommunikativer Akt, man kommunizierte den anderen Teilnehmern die Teilhabe an einer Gemeinschaft, der Obrigkeit indirekt die Solidarität mit der Symbolfigur und den anderen Teilnehmern. Die Dichtertreffen wurden von Vertretern verschiedener Staats- und Parteiorganisationen eingegrenzt: Aufforderungen und Ermahnungen am Studien- oder Arbeitsplatz, Miliz auf der Gor’kijstrasse , eine Pressekampagne gegen die „Schmarotzer” und „literarischen Giftpilze”, zivile Vertreter des KGB unter den Zuhörern, Gerangel beim Versuch, die Veranstaltungen gewalthaft zu sprengen und schliesslich Verhaftungen belegen das zunehmende Interesse der Obrigkeit an den Dichtertreffen. Direkte Kommunikation wagte bei den ersten Verhaftungen 1961 noch niemand. 1965 forderten am Puškin-Denkmal erstmals Demonstranten die Obrigkeit öffentlich sichtbar durch das Zeigen von Transparenten direkt heraus. Das war ein Tabubruch. Aus der ersten Gegendemonstration entwickelte sich ein Wechselspiel von Verhaftungen, Prozessen und Demonstrationen, die Betroffenen reagierten mit Protestbriefen und mit dem Rückzug in Privatwohnungen und in den samizdat. Die Kommunikation fand horizontal und vertikal statt. Die stiljagi und die Dichter wurden sowohl in der Presse angegriffen, wie auch auf der Strasse von Mitbürgern248 und den druženniki des Komsomol. Die offiziellen Pressekam248 Hedrick Smith: Die Russen. Bern usw. 1976, S. 352 schildert eindrücklich die gesellschaftliche „vigilante“ Funktion
pagnen arbeiteten gegen stiljagi und Neue Welle mit denselben Mitteln des Spotts. Diese Taktik entsprach einer allgemeinen Tendenz der Chruščev-Zeit: Während unter Stalin allein die Parteiorgane und der Komsomol zur Kontrolle der Bürger ermächtigt waren, verlagerte sich die Kontrolle unter Chruščev in die Horizontale: Freiwilligengruppen, Hauskomitees und Laiengerichte übten mehr oder weniger sanften Druck aus. Lehrerinnen, Sozialarbeiter, lokale Bürokraten oder Nachbarn waren aufgerufen, die „kommunistische Moral“ zu bewachen und sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Eine Schlüsselrolle als Leitwert spielte dabei die „kommunistische Moral“: Arbeit, Ehrlichkeit, Loyalität und der Vorrang des Kollektivs über persönliche Interessen waren der Kern dieser Moral, die in den Fünfzigerjahren intensiv propagiert wurde und am XXII. Parteitag 1961 im „Moralkodex der Erbauer des Kommunismus“ in das Parteiprogramm einging.249 Die wertelastige Einbindung weiter Kreise in die horizontale Kontrolle bedeutete auch eine Mobilisierung und die Teilhabe an Macht. Die Lyriker und später die Dissidenten nutzten häufig gerade die Argumentationskraft der hoch gehaltenen „Moral“ für sich. Indem sie die Menschenrechte und die Verfassung wie auch die kommunistische Moral zum Kriterium für die Beurteilung der Behörden machten, eigneten sie sich eine Herrschaftstechnik der Obrigkeit für ihre Zwecke an. Damit wandten sie eine ähnliche Strategie an wie die Stiljagi: Diese hatten die Gor’kijstrasse eigenmächtig in „Brodvej“ umbenannt. Der Aushandlungsprozess wechselte nach der Ablösung Chruščevs bald einmal die Öffentlichkeitsebene und die Mittel: Aus struktureller Gewalt durch verschiedene Medien und Institutionen wurde langsam, aber sicher physische Einschränkung und Gewalt.
Neue und alte Codes Die Akte der Kommunikation wurden im Laufe der Auseinandersetzung um die Freiräume immer direkter, bis sie im Gerichtssaal endeten. Die Gerichtsverhandlungen waren als Schauprozesse inszeniert. Die Angeklagten verweigerten jedoch die Kooperation, indem sie die vorgegebenen Regeln der Kommunikation, das „Skript“ im Sinne eines institutionalisierten Handlungsablaufs, absichtlich durchbrachen. Der Militarismus und – zynischerweise – auch die Gewalterfahrung von Terror und Krieg als gemeinsamer Erfahrungsraum brach schon bald nach dem Krieg als verbindendes Element zwischen den Generationen weg. Dieser Bruch zeigte sich bereits in den gegensätzlichen Erfahrungsräumen, Wahrnehmungs- und Deutungsmustern sowie Erwartungshorizonten von Jampol’skijs Held und den stiljagi 1952. Die Entstalinisierung erleichterte die Artikulation dieser Unterschiede und eröffnete neue Handlungsräume, weil sie eine Spannung zwischen Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten herstellte. Der Erfahrungsraum ist die Summe der gemachten Erfahrungen.250 Aus ihm leitet sich die Erwartung der Zukunft ab. Während die Erfahrung abgeschlossen ist (auch wenn sie sich wie die Erinnerung durch neue Erfahrungen laufend verändert), bildet die Erwartung des Zukünftigen einen unbegrenzten Raum. In der Gegenwart sind Erfahrung und Erwartung aufeinander bezogen. Doch gibt es immer eine Differenz zwischen Erfahrung und älterer Frauen als „öffentlich Erziehende”, die auf der Strasse wildfremde Menschen zurechtweisen. Edele bringt auch ein Beispiel. 249 Deborah A. Field: Irreconcilable Differences: Divorce and Conceptions of Private Life in the Khrushchev Era. In: Russian Review 57 (1998) Nr. 4, S. 599–613, hier S. 602–603. 250 Im Sinne Kosellecks. Dieses Konzept ist verwandt mit dem Bild der Aufschichtung des Erlebniswissens in der Wissenssoziologie und in der Wahrnehmungsforschung als Aufschichtung von Erfahrungswissen und in Schemata-Modellen bekannt. Vgl. hierzu auch das Kapitel Begriffe, Kategorien, Methoden.
147
Erwartung. Nur die Durchbrechung des Erwartungshorizontes stiftet neue Erfahrung. Für Walter Benjamin war der Erste Weltkrieg ein solcher Bruch: „Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“251 In der Nachkriegszeit und nach dem Tod Stalins unterschieden sich nicht nur die Erfahrungsräume verschiedener Altersgruppen, sondern die Erwartungshorizonte öffneten sich, weil deutlich wurde, dass sich die Zukunft weniger aus den gemachten Erfahrungen ableiten liesse: Die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung vergrösserte sich.252 Dies traf nicht nur für einzelne Gruppen als Erfahrungsgemeinschaften zu, sondern für die Gesellschaft als Ganzes. Die Codes des als erstarrt empfundenen Establishments wurden ganz allgemein in frage gestellt: Rituale und Formeln boten dieser Generation kein Identifikationspotenzial mehr. Die „neue Ehrlichkeit“ sollte die Worte mit Inhalten füllen und denunzierte die leeren Worthülsen. Inoffizielle Publikationen des samizdat verDie Gor’kijstrasse breiteten die neuen Codes. Auch direkte Konfrontation wurde mit der Zeit in Kauf genommen, die Teilnahme an Ritualen der Unterwürfigkeit verweigert. Die Gor’kijstrasse wurde zu einem Ort, an dem die Akteure mehrere unterschiedliche Räume konstituierten: Einen politischen Kommunikationsraum für die „offizielle Öffentlichkeit“ der Repräsentation durch Architektur, Rituale und Schaufenster sowie der Losungen, aber auch Räume für Gegenöffentlichkeiten. Die ökonomischen Räume der Schaufenster und Geschäfte für die Privilegierten koexistierten mit den illegalen Ökonomien der Prostitution und des blat. Die Schaufenster bildeten keinen Konsumraum, denn die ausgestellten Güter waren nicht käuflich. Sie waren Teil der Verlautbarungsöffentlichkeit und bildeten einen utopischen Raum, der als Raum der Konsummöglichkeiten gestaltet war und den kollektiven Erwartungshorizont darstellen sollte. Partizipationsangebote ergaben sich aus der Ästhetik der Macht und des Luxus, als Identifikation mit der Macht und dem „Schönen“.
Räume der Kommunikation Kommunikationsräume konstituierten sich in verschiedenen Medien, die Kommunikation hatte keinen direkten Interaktionscharakter, sondern geschah eher in Verlautbarungen, die in diese Räume abgegeben wurden. Die Räume waren das Medium. Daraus ergibt sich ein differenziertes Gefüge von Kommunikationsräumen. Losungen, Architektur, Masseninszenierung, Gewalt und Milizpräsenz waren Träger von Botschaften. Die Monumentalpropaganda, die Feste, die Besetzung des Mossovet sollten Moskau zur Hauptstadt machen. Mossovet und Sovetplatz waren die ersten Orte, die von den neuen Machthabern besetzt und mit neuer Bedeutung erfüllt wurden. Neu waren nach der Revolution der Festtagskalender und der aufwändige Schmuck der zentralen Strassen und Plätze. Rote Banner, grüne Girlanden, bunte Bemalungen und Poster schmückten die Tverskaja am 1. Mai und am 9. November. 251 Walter Benjamin: Der Erzähler. In: Ders.: Illuminationen. Frankfurt a. M. 2001, S. 385–410, hier S. 386. 252 Koselleck: Erfahrungsraum, S. 358–359.
Ein Begegnungsraum war demnach die Strasse selbst an Feiertagen, während der Paraden. In den ersten Jahren war der Festkalender noch weniger von Reglementierungen begleitet, die Festzüge der Zwanzigerjahre waren spontaner und offener als diejenigen der dreissiger Jahre. Wie das Zitat von Jampol’skij zeigt, wurde die Reglementierung in der Erinnerung mit der Umgestaltung der zentralen Ritualachse in Verbindung gebracht, obwohl sie bereits zu Beginn der dreissiger Jahre einsetzte.253 Zu jeder Zeit gab es Orte, an denen sich Eigensinn manifestierte und Freiräume schuf, an den „Schnittstellen“ ebenso wie in den Zwanziger- und dreissiger Jahren in den Kellerbars oder in der Tavernenöffentlichkeit der Nachkriegszeit und in den Höfen. Die Gor’kijstrasse, so monumental sie auch auf den ersten Blick scheinen mochte, liess solche Räume zu. Ein spezifisches Merkmal dieses Ortes ist die zeitliche Abgrenzung zwischen unterschiedlichen Regeln, Funktionen und Nutzungen, die sich nicht nur am Unterschied zwischen Festtagen und Alltagen zeigte. Denn auch das Nachtleben hob die Gesetze des Tages teilweise auf, bot anonyme Fluchträume und Freiheiten zur Selbstdarstellung. Die Grenzen der Nutzung testeten die jugendlichen Gegenmoden, die sich wie alle anderen auf der Gor’kijstrasse zum Flanieren trafen und damit vorhandene Konventionen nutzten, um Grenzen des Möglichen zu erproben.
Raumbilder, Raumvorstellungen, Verinselung Die sozialen, symbolischen und kommunikativen Räume der Ulica Gor’kogo hatten sehr unterschiedliche Bedeutungen, Lebenszeiten und Reichweiten. Die Gor’kijstrasse war wegen ihrer zentralen Lage „nahe der Macht“ und ihrer Repräsentationsfunktion einer der wichtigsten Kontakt- und Kommunikationsorte zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat. Am Beispiel der Tverskaja/Gor’kogo kommt eine spannungsvolle Schichtung von planerischer Utopie und gebautem Raum, architektonischer und bildlicher Repräsentation, von Stadterfahrung und Reden über Stadt ins Blickfeld. Die Monumentalität der gebauten Achse erzählt zunächst von Pomp und Machtinszenierung, aber auch von unterschiedlichen Formen der Identitätsstiftung, sei es als Partizipation und Bewunderung, sei es als jugendliche Gegenkultur oder Strassenstrich. Die Modernisierung der Achse brachte ihren globalen Bedeutungsanspruch und auch die Hierarchisierung mit sich. Globale, nationale und lokale Räume und Bedeutungen überlagerten sich hier. Die Strasse verfehlte ihren Eindruck nicht, sie pulsierte und wurde ihrer zentralen Funktion vollauf gerecht. „Wieder gehe ich die Gorkistrasse hinab. Die Luft zittert vor Hitze, ein kräftiger Regenschauer, der vorhin niederging, als ich erwachte, ist längst abgetrocknet. Ich lasse mich treiben. Ich sehe die Busse, die Bänke mit den alten Leuten, den Bäumen über ihnen. Ich sehe die zarten blassen Kinder auf den Armen ihrer Mütter, ihre Sonnenmützchen. Ich sehe die Läden, die Magazine, die Schaufenster. Ich sehe die geblümten Kleider, die Einkaufstaschen der Frauen. Ich sehe den Stadtsowjet, das Revolutionsmuseum. Breit ist die Strasse, breit die Fahrbahn, breit der Fussweg. Drei komplette historische Gebäude hat die Sowjetmacht um etliche Meter nach hinten versetzen lassen, um die Strasse so breit zu machen. Ich umkreise das Dolgoruki-Denkmal, betrachte den Stadtgründer im Schuppenpanzer mit dem seltsamen Spitzhelm. Ich sehe das Gebäude der ISWESTIJA, das Haupttelegrafenamt, das Hotel INTOURIST. Ich studiere die Fotos 253 Haumann, Guski: Revolution und Fotografie, S. 125–126. Stommer, Dalügge: Masseninszenierungen, S. 349, 355.
149
von TASS. Schon sehe ich den Roten Platz vor mir, da wende ich mich um. Ich bin vertraut mit dieser Strasse. Wie lange wird sie noch die Hauptavenue Moskaus sein? Schon lockt, breiter und neuer, vorläufig aber noch weniger profiliert, der Kalinin-Prospekt. Am Perechod überschreite ich pfeifend die Strasse. Und was drängt sich da vorn beim Tschaikowski-Konzertsaal? Ich laufe hin. Eine ältere Dame sitzt auf deinem Hocker, vor sich ausgebreitet hat sie Noten und Schallplatten. Musikalien auf der Strasse – ich werde das nur heute sehen, in dieser Mittagsstunde. Und wieder prüfen die Menschen, diskutieren, kaufen. Ich stehe unter einer Linde. An mir vorbei ziehen sie, die Bürger Moskaus, die Besucher, Hunderte. Ich stehe auf einer Strasse, die ich nie mehr vergessen werde.”254
Die Gor’kijstrasse
254 Wolfgang Hädecke bereiste Russland 1972 und veröffentliche „Eine Russlandreise”. München 1974. Zit. nach Reise nach Moskau. Aufzeichnungen und Berichte, 1526–1972. Hg. von Klaus Kuntze. Frankfurt a. M. usw. 1980, S. 86.
151
Die Lubjanka
Lubjanka, von 1926 bis 1991 Ploščad’ Dzeržinsogo
32. Panorama um 1910 (Ščusev OC–1972) Auch nach dem Bau des grossen Gebäudes der Versicherungsgesellschaft „Rossija“ während der Gründerzeit, das rechts im Bild zu sehen ist, diente die Lubjanka noch als Stammplatz der Droschkenkutscher. In der Bildmitte erkennt man die helle Ummauerung des runden Brunnens, links die Mauer und das Tor von Kitajgorod, die 1934 abgerissen wurden. ”Auf dem Platz, wo einst mit Bastwaren gehandelt wurde, einem der vier zentralen Plätze der Stadt, steht die Statue des Ritters der Revolution. Vom Wort ‚lub’ (Bast) leitet sich der Name Lubjanka ab. Seit dem Jahr 1926, nach dem Ableben des Ritters, führt der Platz ihm zu Ehren den Namen Dserschinskij-Platz. Die von ihm gegründete Behörde, die im offiziellen Sprachgebrauch (der überhaupt einen Hang zur Poesie hat) Glorreiche Organe heisst, machte in den sieben Jahrzehnten ihrer Existenz eine gewisse Evolution durch und wechselte eine Reihe von Namen und Spitznamen. Doch das Wort ‚Lubjanka’ verschwand nicht aus der Sprache und nimmt im semiotischen System ‚Moskau’ bis zum heutigen Tag keinen geringeren Platz ein als Kreml, Mausoleum, Arbat, Boulevard- oder Gartenring. Was ist Moskau? ‚Der Rote Platz’, sagt der Moskauer, der Kreml, die Lubjanka – das ist Moskau.’”
Zwischen Schrecken, Konsumkultur und Lyrikkult Beim Namen „Lubjanka“ kommt einem zuallererst das berüchtigte Gefängnis der sowjetischen Geheimpolizei in den Sinn. Diese Bedeutung dominierte jahrzehntelang den ganzen Platz. Sie verdeckt jedoch eine Vielfalt älterer und neuerer Bedeutungen und Nutzungen. Die Lubjanka ist einer der zentralen Plätze Moskaus und Teil des urbanen Subsystems oder Netzwerkes „zentrale Magistralen und Plätze” im Generalplan zur Rekonstruktion Moskaus von 1935. Ausserdem lagen Ploščad’ Dzeržinskogo und Kolchoznaja Ploščad’ beide auf der im Generalplan von 1935 vorgesehenen Achse nach Norden, dem Prospekt Mira, der 1935 von Mosproekt 4 bereits im Detail geplant wurde. Diese Magistrale von 3800 Metern Länge sollte sich von der Ploščad’ Dzeržinskogo bis zum Kamer-Kolležskij Val’ erstrecken und, beginnend bei der Malaja Lubjanka, von 19 auf 42 Meter verbreitert werden. 1935 wurde an der Lubjanka eine der Stationen der ersten Metrolinie eröffnet.
Wladimir Giljarowski: Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen. Sittenbilder aus dem alten Moskau. Berlin 1988 (Moskva i moskviči, 1934), S. 164–177; Foto in Timothy Colton: Moscow. Governing the Socialist Metropolis. Cambridge, Mass. 1995, S. 266. Boris Chasanow: Moskau als Zeichensystem. In: Merkur 2 (1988) S. 85–98, hier S. 95. Architektura SSSR (1935) Nr. 1, S. 16–19.
153
Planungs- und Baugeschichte der Lubjanka Um 1910 erlebte Moskau einen Bauboom, bei dem besonders die grossen Versicherungsgesellschaften investierten. Nun entstanden bis zu zehn Stockwerke hohe steinerne Apartmenthäuser, dochodnyj dom genannt, mit mechanischen Liften. Der Verstädterungsprozess hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem raschen Anstieg der Bevölkerung geführt, mit dem die städtische Infrastruktur nicht Schritt hielt. Der auf dem Land lebende Adel hatte es lange Zeit versäumt, hier zu investieren. Öffentlicher Verkehr war deshalb lückenhaft und für die niedrigen Löhne der Arbeiter und Dienstboten zu teuer. Sie waren darauf angewiesen, in Laufdistanz zum Arbeitsort zu wohnen. Das führte zu einer ausserordentlichen Dichte im Zentrum Moskaus und dazu, dass alle sozialen Schichten mit ihren gegensätzlichen Lebensstilen nahe aufeinander lebten. Nicht nach Stadtvierteln, sondern innerhalb der Häuser herrschte eine klare soziale Segregation: In den Kellern und Schuppen wohnten Arbeiter, Händler und Dienstboten. Die Familien mit dem höchsten Status lebten in der Beletage, und die übrigen Stockwerke waren von Angestellten und Bürokraten bewohnt. In den schönen Wohnungen der neuen Mietshäuser lebten gutbetuchte Russen und Ausländer. Die prosperierenden Gegenden der Innenstadt beherbergten auch die meisten Banken und Bürogebäude, viele davon in Kitajgorod, besonders an der Ulica Il’inka und der Staraja Ploščad‘ oder rund um die Lubjanskaja Ploščad‘. Die Lubjanka Als Moskau nach der Oktoberrevolution zur Hauptstadt wurde, fehlten die öffentlichen Gebäude, um eine Verwaltung, einen Staatsapparat aufzunehmen. Die Regierung wählte sich aus Sicherheitsgründen den ummauerten Kreml als Sitz. Hier richteten sich auch die Spitzenfunktionäre häuslich ein. Der Moskauer Sowjet begann im März 1920 mit der Enteignung von Hotels und der Ausweisung von „parasitären Elementen” aus Moskau, um Büroräume zu requirieren. Die Verwaltung schwappte vom Kreml auf die umliegenden Gebäude, besonders in Kitajgorod, über. In diesem Zusammenhang steht die Requirierung der Jakor-Versicherungsgesellschaftsgebäude und Lloyd’s Russland an der Bol’šaja Lubjanka 11 durch die Čeka, die dann im Dezember 1920 in das 1890 erbaute Gebäude der Versicherungsgesellschaft „Rossija” an die Bol’šaja Lubjanka 2 umzog. Seither ist das ockergelbe, achtstöckige Gebäude mit dem Übernamen „Lubjanka” der Inbegriff des Schreckens. Der Begriff „Lubjanka“ ist zugleich Synonym für die Čeka (auch VČK oder ČK: Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija, Allrussische ausserordentliche Kommission) und ihre Nachfolgeorganisationen GPU, NKVD, KGB und FSB. Wenige Moskauer wissen, dass bereits Katharina die Zweite das Hauptquartier ihrer Geheimpolizei hier hatte: Dieses Wissen wurde im 19. Jahrhundert getilgt, als der Platz von Ställen und Scheunen für die Pferde der Droschkenkutscher umringt war, bis 1890 die Versicherungsgesellschaften hier investierten.
Colton: Moscow, S. 46; French: Plans, pragmatism and people, S. 23. Colton: Moscow, S. 44. Colton: Moscow, S. 98ff. Giljarowski: Kaschemmen, S. 173.
33. Hochhaus-Projekt 1922 1922/23 plante ein Mitglied der rationalistischen Architektengruppe um Ladovskij, Vladimir Krinskij, einen Hochhaus-Turm an der Lubjanka, von dem eine Fotomontage existiert. Der Wolkenkratzer neben dem Gebäude der Geheimpolizei an der Ecke der Mjasnickaja Ulica war für den Obersten Volkswirtschaftsrat bestimmt, das Projekt wurde aber von den Konstruktivisten als „formalistisch” angegriffen. Mit dem Ausdruck war der Vorwurf „westlich-bürgerlicher Einflüsse“ verbunden.
1928 begann die OGPU (Obeninenoe gosudarstvenoe političeskoe upravlenie, Vereinigte staatliche politische Verwaltung) mit dem Bau zweier Bürotürme an der Bol’šaja und Malaja Lubjanka Strasse. An der Bol’šaja Lubjanka befindet sich noch heute im 1929 nach Plänen von Ivan Fomin erbauten Gebäude des Dinamo-Clubs der Central Gastronom, der zunächst als geschlossenes Geschäft für die Angestellten der GPU gegründet worden war und nach dem Krieg für weitere Kreise geöffnet wurde. Daneben, im selben Gebäude an der Bol’šaja Lubjanka 12, war der Club des KGB untergebracht. 1934 wurde die Mauer von Kitajgorod, ein altes Wahrzeichen der Stadt am Lubjankaplatz, abgerissen.
Bedeutungen „Weltanschauung am Kuznetskij Most Wir kamen zu einem kleinen Platz bei der Kusnetzkij-Brücke. Er war ersichtlich ganz neu angelegt. Das Gras begann eben zu sprossen auf den Rasenflächen. Die Sitzbänke waren neu, und der Kies der Wege war noch rau und kaum betreten. Aber jeder Sitzplatz war besetzt, und es spielten schon Kinder auf den Wegen. „Sehen Sie diesen kleinen Platz?” fragte mein Freund. „Ja. Es ist ein hübscher kleiner Platz. Es macht mir grosse Freude, zu sehen, wie Menschen auf Bänken im Herzen der Stadt ausruhen und Kinder herumspielen. Moskau ist eine reizende Stadt, ganz anders als London.” „Ah! Aber ich muss Ihnen sagen, dass dieser Platz auf dem Grund und Boden einer früheren Kirche angelegt ist.” „Wie erfreulich!“ rief ich begeistert. „Das stimmt ganz mit meiner Vorstellung von Zivilisation überein.“ „Ich freue mich, das zu hören. Sie haben in England natürlich von der Religionsverfolgung in Sowjetrussland gehört.“ Abb. des Hochhaus-Projektes von Krinskij in Alexander Ryabushin, Nadia Smolina: Landmarks of Soviet Architecture 1917–1991.Berlin 1992, S. 13; Anatole Kopp: Constructivist Architecture in the USSR. London usw. 1985, S. 130; Schlögel: Moskau lesen, S. 85. Colton: Moscow, S. 179.
155
„Ich war erfreut, davon zu hören. Ich habe mein Leben lang unter dem Druck der organisierten Religion gelitten. Mein Rachedurst ist menschlich.“ (…) „Was ist das für ein prächtiges Gebäude, das man da drüben errichtet?” fragte ich und wies auf ein interessantes Haus aus rotem Backstein, das bereits zehn Stockwerke hoch war und aussah, als sollte es noch höher werden. „Ist das eine neue kommunistische Kirche, die an die Stelle der alten christlichen Kirche treten soll? Ich habe eine Theorie über Religion: der eine Gott wird immer durch einen anderen Gott ersetzt. Niemals entsteht an seiner Statt eine Leere oder Atheismus.” „Das ist eine romantische Theorie, die in diesem Fall entkräftet wird durch die Tatsache, das jenes Gebäude nicht das geringste mit Religion zu tun hat, sondern es ist für die sehr nüchterne Aufgabe bestimmt, den Staat und die Revolution zu schützen. Das neue Haus ist für die Arbeiter der G.P.U. bestimmt, unsere nationale Polizei.” „Wirklich?” „Ganz bestimmt.” „Aber dann hat es doch religiöse Bedeutung.” „Wieso?” „Was ist denn das andere grosse, hässliche Gebäude da links?” „Das ist das Kommissariat des Auswärtigen.” „Und die Statue dort?” Die Lubjanka „Das ist ein Denkmal zur Erinnerung an Dershinskij, den früheren Leiter der G.P.U.” „Es ist ein hässliches Denkmal und erinnert mich merkwürdig an den frühchristlichen Kunstgeschmack, genauso, wie das G.-P.-U.-Gebäude mich an die Kaserne der Schweizergarde in Rom erinnert und das Auswärtige Amt an das Kollegium der Kardinäle. Ich würde wirklich sehr überrascht sein, wenn die Geschichte nicht beweisen sollte, dass Gott, statt durch die russische Revolution vernichtet zu sein, lediglich russische Nationalität angenommen hat. Schon seit zehn Jahren bin ich überzeugt, dass Dostojewski der Vater der Russischen Revolution gewesen ist.”10 Liam O’Flaherty war ein irischer Sozialist und Schriftsteller, der 1922 bei der Besetzung des Dubliner Regierungsgebäudes durch linke Aufständische eine führende Rolle spielte. Auf der kleinen Insel Inis Mor als Sohn einer Bauernfamilie geboren, sollte er dem Wunsch seiner Eltern entsprechend Priester werden. Nach seinem Einsatz als Soldat im Ersten Weltkrieg bereiste er die Türkei und den amerikanischen Kontinent, bevor er nach Dublin zurückkehrte. 1930 fuhr er nach Russland, weil, wie er meinte, Autobiographien und Bücher über das bol’ševistische Russland in Mode seien und er Geld brauche. Dem Alltag gegenüber war er sehr kritisch. Sein scharfer Blick erkannte bereits 1930 in den „Trägern der Aktenmappen“ die neue herrschende Klasse der Bürokraten.11 Der irische Autor nahm den Platz als irritierenden Bruch im Stadtgefüge wahr. Er versuchte, ihn zu deuten, indem er ihn in Bezug zu etwas Bekanntem setzte, also in Schemata einordnete, die er bereits im Kopf hatte: Die Bauten der GPU und des auswärtigen Amtes zu Bauten des Vatikans. Auf der symbolischen Ebene setzte er das totalitäre System der katholischen Kirche mit dem sowjetischen System gleich. Beide waren so idealistisch wie zentralistisch und nahmen
10 Liam O’Flaherty (1897–1984): Ich ging nach Russland. Ein Reisebericht. Zürich 1971 (I went to Russia, New York 1931), S. 167–169. 11 O’Flaherty: Ich ging nach Russland, S. 142–156. Ausserdem hob er immer wieder hervor, die meisten seiner bol’ševistischen Gesprächspartner seien jüdisch und kolportierte zahlreiche weitere die Juden betreffende Klischees.
politisch-weltanschaulich und in ihren internationalen Beziehungen Sonderrollen ein. Der katholische Internatszögling wird gewusst haben, wovon er sprach. Gewalterfahrungen waren ihm wohl nicht fremd. Geärgert hat er mit dem obigen Dialog wohl beide Seiten, und das lag durchaus in seiner Linie.12 Als im selben Jahr die Schweizer Abenteurerin Ella Maillart (1903–1997) mit anderen Moskauern an den Mauern des Gebäudes der Geheimpolizei Schutz vor einem der wasserfallgleichen sommerlichen Regengüsse suchte, schickte ein Milizionär sie weg. Als sie als einzige blieb, holte er einen Vorgesetzten, der sie abführte. „Peut-être me conduit-il à l’intérieur du bâtiment de la célèbre police secrète, me soupçonnant de vouloir jeter une machine infernale dans un soupirail? Non, nous contournons la maison, passons devant une haie de miliciens; je me trouve dans le bureau du commissaire de police.“13 Als dieser hörte, warum sie am Gebäude der GPU stehen geblieben war, entliess er sie mit einer Handbewegung. Sie war eher enttäuscht darüber, für so ungefährlich gehalten zu werden. Für sie, die Ausländerin, war alles ein aufregendes Spiel. Die in Genf geborene Ella Maillart war eine Ausnahmeerscheinung. Sie segelte seit ihrer Jugend, fuhr Ski und heuerte auf englischen Segelyachten an. In Berlin traf sie neben russischen Emigranten auch die Witwe Jack Londons, die ihr eine Reise nach Moskau finanzierte. Sie kam im Frühjahr 1930 nach Moskau, um hier zu leben und als Sportlehrerin zu arbeiten. Ihre 1932 erschienene Reiseschilderung verursachte in Genf einen Skandal wegen ihrer betont offenen Haltung. Zugleich brachte ihr das Buch Geld ein und war der Auftakt zu einem Leben als Reiseschriftstellerin und Abenteurerin. Ella Maillart mokierte sich in „Parmi la jeunesse Russe“ über die Ausländer, die nach einigen Tagen enttäuscht abreisten, weil sie nicht wie erwartet auf Schritt und Tritt überwacht und beschattet wurden und ihre Klischees über die Sowjetunion nicht bestätigt fanden. Ella Maillart versuchte bewusst, in ihrer Wahrnehmung keine vorhandenen Muster zu bedienen, sondern die dem Fremden eigene Logik zu erfassen. „Dès cette première journée, je ne sais plus définir nettement mes impressions; prise dans un tourbillon, je ne peux plus m‘en abstraire: lorsque j‘essaierai de m‘isoler, il y aura toujours à coté de moi une présence multiple, ‚la Russie‘. Impossible de classer, d‘ordonner mes réactions: déjà trop nombreuses, elles augmentent sans cesse. De même, on se perd dans les photos amoncelées d‘un album jamais mis à jour. Au début, période de huit à dix jours pendant laquelle on prend possession de la ville inconnue; plus justement, la ville entre en vous: les yeux, l‘ouïe, l‘odorat sont en continuelle alerte; ils accaparent les forces de l‘être. La faculté de déduire, de raisonner en est affaiblie.“14 Besser lässt sich ein Vorgang der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen, die vorhandenen Erfahrungen und Wahrnehmungsschemata nicht entsprechen, kaum schildern. Die Unmöglichkeit, Wahrnehmungen in Schemata einzuordnen, macht auch ein systematisches Erinnern der Vorgänge schwierig.15 An anderer Stelle reflektierte Ella Maillart die Schwierigkeit, angesichts unterschiedlicher Erfahrungsräume zu kommunizieren: „Souvent, avec des jeunes ou des communistes, j‘ai eu le sentiment de me mouvoir sur un plan différent du leur, sans perméabilité ou correspondance possible. Combien de fois des étrangers posent-ils des questions qu‘ils croient fondamentales? Ils ne reçoivent qu‘une réponse polie d‘un Russe qui n‘a certainement pas compris ce qu‘on cherchait à savoir. Nos valeurs n‘ont plus cours ici. Nos définitions, emballage pratique de nos idées, ne sont à Moscou que caisses vides obstruant la vue.“16 Hier 12 James M. Cahalan: Liam O’Flaherty. A Study of the Short Fiction. Boston 1991, S. 3–11. 13 Ella Maillart: Parmi la jeunesse russe. Paris 2003 (1. Ausg. Paris 1932), S. 45. 14 Maillart: Jeunesse russe, S. 31. 15 Volkhard Fischer: Ausländerstereotype und Gedächtnis. Hamburg 1992, zu Schemata S. 82. Verwandte Bezeichnungen im englischen Sprachraum sind frames, beta structures, scripts, oder mops. 16 Maillart: Jeunesse russe, S. 86–87.
157
stellt sich eine fundamentale Frage der Toleranz und der Relativierung. Gibt es Grundwerte, die universelle Geltung haben und sich als Massstab überall anlegen lassen? Heiligt der Zweck alle Mittel, auch Gewalt? Ella Maillart liess sich vom Enthusiasmus des Aufbaus anstecken, der gerade die städtische Jugend in den Jahren des Ersten Fünfjahrplans beflügelte.17 Die Szene an der „Lubjanka“ zeigt jedoch, dass eine Belagerungsmentalität herrschte: Die Eliten fühlten sich bedroht und verbarrikadierten sich hinter Sicherheitskordons. Wer an diesem Ort stehen blieb, machte sich schon verdächtig. Maillart schilderte zwar die Rationierung und die Schlangen, auch die Leder-Krise, 18 ohne jedoch kritisch über die Hintergründe nachzudenken. Gewalthaftigkeit blendete sie aus, und im Vergleich zu Berlin, wo sie sich vorher aufgehalten hatte, schien ihr in Moskau das Leben der Arbeiter besser: Wer Arbeit hatte, lebte gleich gut, doch gab es in Moskau das Elend der Arbeitslosigkeit nicht. Was Maillart vor allem anderen bezauberte, war das anti-bürgerliche, und letztlich lief ihre Weigerung, das Gesehene in Schemata einzuordnen darauf hinaus, dass ihr alles gefiel, das negativ besetzten Schemata zuwiderlief, etwa die freie Liebe. „La vie est belle! La vie est simple! Combien différente de chez nous! …“19 In den Eindrücken städtischer Räume von Liam O‘Flaherty und Ella Maillart blitzen die zwei Seiten des stalinistischem Systems auf: Auf der einen Seite Aufbau-Enthusiasmus und eine gefällige Massenkultur, die mit Tänzen, Liedern und Sportveranstaltungen gefiel.20 Die von Maillart weniger wahrgenommene PrunkentfalDie Lubjanka tung, die Statussymbole, der Personenkult und die Privilegien versprachen Teilhabe und Integration. Auf der anderen Seite herrschten Indoktrination, Kontrolle und Ausschluss aus politischen Entscheidungsprozessen bis hin zum Terror.21 Die Widersprüchlichkeit von Anspruch und Wirklichkeit kam beim politisch besser informierten O‘Flaherty eher zum tragen. Ganz auf die Gegensätze zwischen Propaganda und Alltag spezialisiert war die bis 1925 in der Sowjetunion lebende Eulalie Piccard.22 In „Lettres de Moscou“ schildert sie die katastrophalen Lebensverhältnisse anhand von Korrespondenzen und Ausschnitten aus der sowjetischen Presse zwischen 1929 und 1932. Rationierungen, nächtelanges Anstehen um Brot und eine Rattenplage, die zur Veranstaltung von „Rattenlotterien“ führte: Unter denjenigen, die 5000 tote Ratten ablieferten, wurde eine Prämie von 250 Rubeln verlost.23 Auch die Kinder wurden mobilisiert: Sie sollten 17 Vgl. Auch das Zitat von Boris Jampol‘ski im Kapitel über die Gor‘kijstrasse: „ Ach, du mein Gott! Ringsum strahlte und funkelte Moskau als helles, festlich frohes Lichtermeer, leuchtete rührend und anheimelnd aus Tausenden von Fenstern. Ich aber wollte in die Tundra, in die Wüste Karakum, an den Nordpol, um etwas Schweres, ungemein Schweres zu vollbringen, etwas, das alle meine Kräfte, all meine unstillbare Gier nach Leben fordern würde.“ Jampolski: Kommunalka, S. 119. Zum Zukunftsoptimismus s. auch Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 3: Sowjetische Moderne und Umbruch. Zürich 2005, S. 188. 18 Maillart: Jeunesse russe, S. 28, S. 35. 19 Maillart: Jeunesse russe, S. 80. 20 Maillart: Jeunesse russe, S. 43, 53. 21 Zu diesem Gegensatz s. auch Goehrke: Sowjetische Moderne, S. 188–189. 22 Eulalie Piccard geborene Güée (1879–1957), stammte aus einer französischen Hugenottenfamilie und war mit dem Waadtländer Eugène-Ferdinand Piccard (1868–1927) verheiratet. Die Familie lebte in Russland, wo Eugène um die Jahrhundertwende physische Geographie und Meteorologie an der Universität Smolensk unterrichtete. Die Familie lebte mit drei Kindern in St. Petersburg. Die Revolution stürzte die bisher privilegierte Familie in soziales Elend. Eine Tochter starb mit 20 Jahren an den Folgen von Hunger und Kälte. Der Sohn, Aleksander, Student an der Polytechnischen Hochschule in Novočerkassk, verschwand in den Bürgerkriegswirren. Die jüngste Tochter, Sophie, 1904 geboren, unterrichtete in den Alphabetisierungskampagnen und studierte in Smolensk Mathematik. Nach ihrem Doktorat 1925 beschloss die Familie, in die Schweiz zurückzukehren. 23 Eulalie Piccard: Lettres de Moscou. Paris 1963.
Hühner halten um durch die Eier den Mangel an Milch und Fleisch zu lindern.24 Ausserdem waren sie aufgerufen, antisowjetische Äusserungen in der Familie und der Nachbarschaft zu melden.25 Das Zentrum dieses Kontrollsystems war die „Lubjanka“. Bei der Lektüre stellt man sich unwillkürlich die Frage, warum die Menschen das alles ertragen haben. Genau darauf geben die Beobachtungen von O‘Flaherty und Maillart teilweise Antworten: Die einen profitierten vom System und konnten in frei werdende Positionen aufsteigen, erhielten eine Ausbildung und Privilegien. Andere waren enthusiastisch am Aufbau beteiligt und glaubten an die bessere Zukunft und ihre eigenen Gestaltungsmöglichkeiten dabei. Nach aussen konnte die prunkvolle und zukunftsoptimistische Seite um 1930 leicht die Oberhand gewinnen, daher stammte auch O‘Flahertys Bemerkung, Berichte aus Russland seien in Mode. Denn im Wettstreit der Systeme, der seit der Oktoberrevolution von 1917 herrschte, schnitt das kapitalistische System Anfangs der dreissiger Jahre schlecht ab. Der Börsencrash von 1929 hatte das Vertrauen nachhaltig erschüttert, Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit zermürbten die Gesellschaften nicht nur in den USA, sondern gerade auch in Europa. Da schien die siegesgewiss vorwärts stürmende Sowjetunion mit ihren Industrialisierungsanstrengungen umso verlockender, zumal die Folgen der Kollektivierung zumindest nach aussen hin vor 1932 noch kaum in Erscheinung traten. Eine zentrale Rolle unter den Repräsentanten von Fortschritt, Effizienz und kollektiver Anstrengung spielte die Moskauer Metro, deren erste Linie auch an der Lubjanka eine Station hatte.
Ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt Der Platz als alter Verkehrsknotenpunkt wurde von Anfang an in das neue unterirdische Transportsystem der Metro integriert. Die Metrostation an der Lubjanka wurde 1935 eröffnet. Die Station wurde in ein bestehendes Gebäude am Platzrand gegenüber der ehemaligen Versicherungsgesellschaft integriert. Die auffälligen runden Trichteröffnungen erinnern an die Gestaltung der Station „Krasnye Vorota”, deren Äusseres ebenfalls der dem Rationalismus verpflichtete Architekt N. Ladovskij entworfen hat. Die runden Öffnungen spiegelten eine funktionale Grundeigenschaft der Metro, die zylindrische Tunnelform in der Tiefe, nach aussen. In zweiter Linie kann man sie auch als Anlehnung an ältere Formen der sakralen russischen Architektur interpretieren. Dies im Zusammenhang mit ikonografischen Elementen, die in allen Metrostationen der Stalinzeit zu finden sind und in Bezug zu den gewaltsamen Antireligionskampagnen standen, die mit Kriegsbeginn 1941 eingestellt wurden.26 Dazu gehörten etwa die Darstellungen des idealisierten Revolutionsführers als Trinität oder die Bronzeskulptur einer Mutter mit Kind von Manizer in der Station Ploščad’ Revolucij. Die Station an der Lubjanka selbst nahm die stark gekrümmten Tunnelquerschnitte auf, statt sie zu kaschieren, und unterstrich sie durch geneigte Säulen. Zu Beginn der siebziger Jahre wurde die Mittelhalle verlängert und dabei der ursprüngliche Ausbau weitgehend zerstört.27
24 Piccard: Lettres, S. 79. 25 Piccard: Lettres, S. 104. 26 Alessandro De Magistris: La costruzione della città totalitaria. Il piano di Mosca e il dibattito sulla città sovietica tra gli anni venti e cinquanta. Milano 1995, S. 117. 27 Werner Huber: Hauptstadt Moskau. Zürich 1998, S. 129.
159
Hochhauspläne der Nachkriegszeit 1946 vergrösserte der Architekt Ščusev durch die Überbauung der Einmündung der Kleinen Lubjankastrasse das Hauptgebäude des NKVD. Der Rossija-Altbau von 1890 sollte dabei aufgestockt und mit einer neuen Fassade ausgestattet werden. Dazu kam es aber erst 1982–1985. Der Nachkriegspatriotismus drückte sich in Moskau im Wunsch aus, zusätzlich zum zentralen „Palast der Sovets“ ein System von weiteren monumentalen Hochhäusern zu errichten. Als vertikale Akzente sollten sie die neue Skyline von Moskau dominieren und dem Selbstbewusstsein der Siegermacht Ausdruck verleihen. Heute stehen sieben solcher Hochhäuser, ein Achtes war, als Stalin 1953 starb, noch nicht begonnen und wurde auf Eis gelegt. An seiner Stelle entstand in den sechziger Jahren das Hotel Rossija. Geplant waren aber ursprünglich wesentlich mehr als nur acht Hochhäuser. In einer Mappe des Moskauer Planarchivs finden sich Präsentationstafeln mit aufgezogenen Planfotografien und einem Gesamtschema für die Verteilung der Hochhäuser von 1947. Damals waren ausser dem Palast der Sowjets 15 Hochhäuser geplant: An der Ploščad’ Dzeržinskogo, an der Arbatskaja Ploščad’, am Kursker Bahnhof, an der Smolenskaja Ploščad’ , an der Novo-Doromilovskaja Ploščad’ , an der Novo-Arbatskaja Ploščad’, an der Ploščad’ Vosstanija, an der Puškinskaja Ploščad’, an der Samotečnaja Ploščad’, an den Kirovskie vorota, an den Krasnye vorota, an den Jauznye vorota, an der Taganskaja Ploščad’, an der Paveleckaja Ploščad’ und an der Oktjabrskaja Ploščad’. Das Die Lubjanka Gesamtschema zeigt eine isometrische Darstellung der geplanten Hochhäuser 28 auf dem Stadtplan im Massstab 1:10 000. Ein immer wiederkehrender Begriff ist derjenige der „vertikalen Planung” der Stadt, was sich auf die Stadtsilhouette bezog. Für mehrere dieser Projekte gab es damals bereits genauer ausgearbeitete Pläne, so auch für einen Verwaltungspalast am Dzeržinskij-Platz.29 Auf dem spitzwinkligen Eckgrundstück zwischen Metrostation und Nikol’skaja Ulica, wo heute das Geschäftshaus „Nautilus“ steht, war ein Sockelbau mit einem 30 Stockwerke hohen Turm und 18 000 Quadratmetern Nutzfläche geplant. Das Hochhaus an der Novo-Arbatskaja Ploščad’ sollte am Standort des späteren RGW-Gebäudes zu stehen kommen, in dem sich heute die Stadtverwaltung befindet. An der Puškinskaja Ploščad’ war ein 50 Meter hohes „Univermag” mit einer Kubatur von 450–500 000 Kubikmetern geplant. Das an der Arbatskaja Ploščad’ vorgesehene Gebäude war zwar höher, aber im Umfang etwas bescheidener dimensioniert – 35 Etagen und 350 000 Kubikmeter – und sollte hinter den Pavillon der Metrostation gegenüber vom Restaurant Praga zu stehen kommen. Das Praga selbst sollte allerdings auf dem Plan der Einmündung des Neuen Arbat weichen. Die Pläne für die Majakovskaja Ploščad’ entsprechen ungefähr dem später realisierten Hotel „Peking“. Kitajgorod sollte einem Kranz von Gebäuden gegenüber dem Kreml weichen, das GUM abgerissen werden. Dieser Plan versetzt den Palast der Sowjets nach Zarjad’e, an die Stelle des späteren Hotel „Rossija“. Das Gesamtkonzept umfasste als „Ordnungskonzept” neben den Hochhäusern auch die Magistralen und Plätze mit ihrer Randbebauung. Die nächste Planungsstufe, ebenfalls aus dem Jahr 1947, stellte bereits eine reduzierte Folgevariante dar. Auf der Ploščad’ Dzeržinskogo war kein Hochhaus mehr geplant.30 Dieser Folgeplan
28 CANTDM Fond 2, opis 2, delo 158. 29 CANTDM Fond 2, opis 1, delo 159. 30 CANTDM Fond 2, opis 1, delo 161. Abbildung des Schemas der Verteilung der 8 Hochhäuser im Katalog zur Ausstellung Konzeptionen in de sowjetischen Architektur 1917–1988 in der Staatlichen Kunsthalle Berlin vom 10. März bis 9. April 1989. Hg. vom Comenius-Club, Berlin 1989, S. 103, abgebildet im Kapitel „Moskauer Orte“.
schlug vielmehr zwei Varianten für die Platzierung eines Dzeržinskij-Denkmals vor, das dann elf Jahre später an Stelle des Brunnens in der Platzmitte zu stehen kam. Damit war nach der Mauer von Kitajgorod auch der Brunnen beseitigt, der an die ehemalige Funktion des Platzes als Treffpunkt der Kutscher und als Pferdetränke erinnerte. Die erste Variante beliess das Denkmal auf dem Platz der ehemaligen Kirche vor dem Polytechnischen Museum, wo es O’Flaherty 1930 gesehen hatte. Die zweite versetzte es neben die Metrostation, an die Ecke der Il’inka Ulica. Dem Grundrissplan ist zu entnehmen, dass die Fassade des 1946 erweiterten KGB-Gebäudes symmetrisch vereinheitlicht werden sollte. Deutlich sind die Innenhöfe des KGB-Komplexes zu erkennen. Am Ort des späteren „Detskij mir“ war anstelle der abzureissenden Altbauten ein geschlossenes Ensemble als Blockrandbebauung mit Innenhöfen und Passagen geplant, das als „Lubjanskij Passaž” bezeichnet wurde. Die Nutzung ist nicht näher bezeichnet. Zur Neudefinition des Platzes sollten auch drei kleinere Gebäude an der Ul. Kirova (Mjasnickaja) beitragen. Das Sicherheitsministerium musste sich jedoch mit seiner Erweiterung der „Lubjanka“ durch Ščusev begnügen.31 In den achtziger Jahren entstanden die Neubauten beidseitig des Hauptsitzes des FSB. 1979– 1982 wurde ein Verwaltungsgebäude für den KGB an der Ecke der Grossen Lubjanka/Kuzneckij most gebaut. 1985–1987 entstand an der Ecke Mjasnickaja/Kirovskaja nach einem Entwurf derselben Architekten (Paluj und Makarev) das Rechenzentrum des KGB. Es befindet sich über der heutigen Buchhandlung „Biblio-Globus“.
161 Bauten von Bedeutung Im Innern des KGB-Gebäudes Colton schätzt die Zahl der in der „Lubjanka“, gegenüber im Exekutionskeller der Militärakademie des Obersten Hofes am Dzeržinskij-Platz und an anderen Orten ermordeten Moskauer für die dreissiger Jahre auf sechsstellig.32 Sonja Margolina wurde in den achtziger Jahren selber zum Verhör vorgeladen und erinnert sich an ihre Wahrnehmung des Ortes. „In der Mitte des Platzes stand bis vor kurzem noch der Eiserne Felix – der berühmt-berüchtigte Oberhenker des Roten Terrors, die Bronzefigur Felix Dserschinskis im Ledermantel. Der Platz selbst war ein achtspuriger Verkehrsknotenpunkt, so dass es nicht möglich war, sich dem Denkmal zu nähern. Felix richtete seinen Blick auf die KGB-Zentrale, vom Volksmund „Lubjanka“ genannt: Als Untersuchungsgefängis erlangte sie besonders in der Stalinzeit wegen der Misshandlungen und Exekutionen von Häftlingen unheilvollen Ruhm. Das war ein Ort, wo die Stadt ihr Bewusstsein endgültig verlor. Man munkelte, dass es zwischen dem Dserschinski-Denkmal und dem KGB einen Geheimgang gab und dass im hohlen Felix ein Spitzel sass, der durch einen verborgenen Spalt die Passanten beobachtete. Der Platz lag immer wie ausgestorben da – man mied ihn wie die Pest.” Giljarovskijs idyllisches Bild „eines untergegangenen Platzes wirkte um so grotesker, je unheimlicher seine spätere Gestalt wurde.”33 Von der „Lubjanka“ aus kontrollierte das NKVD (Narodnyj kommissariat vnutrennich del, Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) vor allem das Sklavenimperium des Gulag, dessen Zwangsarbeiter es dem sowjetischen Staat erlaubten, eine regelrechte Parallelwirtschaft zu
31 Colton: Moscow, S. 329. 32 Colton: Moscow, S. 286. 33 Sonja Margolina beschreibt den Platz in: Bauwelt (1999) Nr. 12, S. 614, 616. GPU: Gosudarstvennoe političeskoe upravlenie; Staatliche politische Verwaltung.
Die Lubjanka
34. Foto der „Lubjanka“ von Barabanov, 1980 (Ščusev XI-38243) Die Zahl der in der „Lubjanka“, gegenüber im
Exekutionskeller der Militärakademie des Obersten Hofes an der Ploščad’ Dzeržinskogo und an anderen Orten ermordeten Moskauer wird allein für die dreissiger Jahre auf sechsstellig geschätzt. Das folgende Zitat war von einer Zeichnung begleitet, welche das Gebäude im selben Zustand zeigte wie diese Aufnahme von 1980: „Das alte Gebäude (d.h. das linke) weist in seinem Innenhof ein vierstöckiges Gefängnisgebäude auf. Das neue Gebäude auf der rechten Seite beherbergt in seinem oberen Stockwerk das Gefängnis (Sie erkennen auf der Zeichnung den obersten Stock ohne Fenster). Das Gefängnis nimmt auch die unterirdischen Stockwerke für sich in Anspruch, die unter dem Dserschinskij-Platz liegen, so dass die Passanten oberhalb der Köpfe von Gefangenen vorübergehen. Innenhöfe für die Gefangenen befinden sich auf dem Dach des KGB-Gebäudes. Sie sind mit einem hohen Geländer und architektonischen Verzierungen bekleidet, die die Wachtürme mit MG-bewaffneten Soldaten vor zufälligen Blicken von unten verborgen halten. Das genaue ‚Fassungsvermögen‘ dieses Gefängnisses ist nicht bekannt. Wir wissen jedoch, dass es 200 Zellen hat, von denen ungefähr die Hälfte 4-Mann-Zellen und die andere Hälfte Einzelzellen sind. Es ist in der ganzen Welt unter dem Namen ‚Lubjanka‘ bekannt. In diesem Gefängnis sind Gefangene inhaftiert, die für das KGB von besonderem Interesse sind. In diesem Gefängnis sind der amerikanische Pilot Powers, der berühmte russische Schriftsteller A. Solschenizyn, die Ärzte, die der Teilnahme an der so genannten ‚Doktoren‘-Verschwörung beschuldigt wurden sowie die ‚Feinde des Volkes‘, darunter unter anderem der ehemalige KGB-Chef Beria, gefangengehalten worden.” (Reiseführer durch die Gefängnisse und Konzentrationslager der Sowjetunion, 1980)34
führen. Der KGB (Komitet gosudarstvennoj bezopastnosti, Komitee für Staatssicherheit) erwies sich als dauerhafter als die Kommunistische Partei, ging aber aus der Jelzin-Aera in zwei Teile gespalten hervor. Der FSB kümmert sich um die innere Sicherheit, während der SVR für die Auslandspionage zuständig ist.35 1990 wurde vor der „Lubjanka“ ein Gedenkstein an die Millionen Opfer des totalitären Regimes enthüllt, gesponsert vom Mossovet und Memorial. Hunderte von Gulag-Überlebenden nahmen an der Zeremonie teil.36 34 Avraham Shifrin: UdSSR Reiseführer durch die Gefängnisse und Konzentrationslager in der Sowjetunion. 3. Auflage. Uhldingen/Seewis 1987 (1. Aufl. 1980), S. 52–53. 35 Torke: Historisches Lexikon Sowjetunion, Stichwort „Geheimpolizei”, hier auch weitere Literaturangaben. 36 Colton: Moscow, S. 637.
Der gefürchtete Ort dominierte zwar den Platz, aber es gab auch Anziehungspunkte für ein anderes Publikum: Das grosse Kinderkaufhaus und das Polytechnische Museum.
„Detskij mir“
163
35. Fotograf unbekannt. „Detskij mir“, 1958 (Ščusev XI–20772) Im Juni 1957 übergaben Chruščev und Bulganin in einer feierlichen Zeremonie das Kaufhaus „Detskij mir“37 (Welt des Kindes) der Bevölkerung.
Das „Detskij mir“ vervollständigte 1957 die Platzbegrenzung. Stilistisch lehnt sich der Bau an die Umgebung an, axialsymmetrisch, mit zum Platz hin geöffneten Rundbögen.38 Man kann es als eine der letzten Manifestationen des sozialistischen Realismus bezeichnen. Es war eines der grossen „Konsumparadiese” in Moskau, neben GUM und CUM Ziel aller Besucher aus der Provinz. Der Moskauer Architekturführer von 1960 wartet mit Zahlen auf: Das „Detskij mir“ hat sechs Etagen an der Ploščad’ Dzeržinskogo und acht Etagen an der Ulica Ždanova. Das Gebäude fasst ein Volumen von 309 000 Kubikmetern und 44 175 Quadratmeter Verkaufsfläche. Es bot 1 062 Arbeitsplätze, 2,2 Kilometer Korridore und bediente über 20 000 Kunden täglich. Die Frage, die sich angesichts der Raumknappheit der Verwaltung nebenan stellt, ist die nach der Funktion des Kinderkaufhauses an diesem spezifischen Ort. Warum baute man hier ein Kinderkaufhaus und kein Verwaltungsgebäude?
37 Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1957) Nr. 2 und 7. 38 Alessandra Latour: Mosca 1890–1991. Bologna 1992, S. 91; siehe auch Projekt in Architektura i stroitel‘stvo Moskvy (1957) Nr. 7und Akten über die Schaufenstergestaltung aus dem CMAM.
Der „Eiserne Feliks” Das neue Denkmal zu Ehren von Feliks Dzeržinskij wurde 1958 an die Stelle des Brunnens gesetzt.39 Es schuf eine makabre Verbindung zwischen dem 1957 eröffneten Kaufhaus „Welt des Kindes” und dem daneben stehenden KGB-Gebäude, im Volksmund „Lubjanka” genannt. Dzeržinskij hatte sich nach dem Bürgerkrieg in den 1920er Jahren für die zahlreichen verwahrlosten Kinder eingesetzt. Auf Geheiss Lenins gründete er am 20. Dezember 1917 die Čeka, deren Leiter er bis 1922 war. Von 1922 bis zu seinem Tod 1926 stand er der Folgeorganisation GPU vor. Im August 1991 belagerte eine Menge von 50 000 Demonstranten erst die Staraja Ploščad‘, zog dann aber zur „Lubjanka“. Die Angestellten hatten sich verbarrikadiert und bewaffnet. Das und die Mahnungen von eilig delegierten Vertretern der Stadt verhinderten einen Sturm des Gebäudes. Der Unmut wendete sich daraufhin dem Eisernen Felix zu, den mit Drahtseilen zu stürzen nicht gelang. Auch die Krane der Stadtverwaltung konnten ihn nicht heben. Schliesslich wurde er spät abends von zwei Krupp-Kranen auf einen Anhänger gelegt. In der gleichen Woche fielen andere Denkmäler.40 Sie alle ruhten anschliessend im „Park Skulptury”. Im September 2002 ging die Nachricht um die Welt, Moskaus Bürgermeister Iurij Lužkov wollte ihn anlässlich des 100. Geburtstags des Bildhauers wieder auf seinen Sockel auf dem Lubjanka-Platz stellen. Lužkovs Argumentation lautete, Dzeržinskij habe schliesslich auch viel Die Lubjanka Gutes getan, sich um die Waisenkinder gekümmert und die Eisenbahn auf Vordermann gebracht. Er vergass allerdings zu erwähnen, dass die Waisenkinder ihre Eltern häufig auch durch Deportationen der Čeka verloren hatten und die eisenbahnerische Leistung darin bestand, Lokomotivführer verspäteter Züge wegen „konterrevolutionärer Umtriebe” erschiessen zu lassen.
Das Polytechnische Museum Das Polytechnische Museum befindet sich gegenüber dem „Detskij mir“, an der Novaja Ploščad’ 3–4. Das Gebäude wurde 1875–77 im „pseudo-russischen Stil” erbaut. Das Museum dokumentiert die technischen Fortschritte, es verfügt beispielsweise über eine grosse Sammlung an Fotoapparaten. Berühmt wurde es wegen seines grossen Auditoriums, in dem in den zwanziger Jahren Anna Achmatova (1889–1966) und Vladimir Majakovskij lasen.41 Als am Allunionstag der Poesie im September 1956 im Saal eine Dichterlesung stattfand, versammelten sich dreissigtausend Menschen auf dem Platz vor dem Museum. In den folgenden Jahren traten in diesem Saal regelmässig junge Dichter auf, die sich im folgenden die šestidesjatyie (Sechziger) nannten. Dazu gehörten Bella Achmadulina, Andrej Vosnessenskij, Evgenij Evtušenko, Bulat Okudžava und Robert Roždestvenskij.42 Das Polytechnische Museum wurde zu einem Ort kritischer Vorlesungen
39 Berichte in Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1958) Nr. 1, S. 35 und (1959) Nr. 1, S. 2. 40 Colton: Moscow, S. 656–657. 41 Svetlana Boym: Graphomanie. Literarische Praxis und Strategie ihrer Sabotage. In: Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hg. von Jurij Murašov und Georg Witte. München 2003, S. 39–58, hier S. 44. 42 Nike Bätzner, Andrej Sorin: Chronik 1949–2002. In: Berlin-Moskva, Moskau-Berlin 1950–2000. Ausstellungskatalog. Chronik. Hg. von Pawel Choroschilow u.a., Berlin 2003, 261–387, hier 281.
und Diskussionsveranstaltungen mit Vorträgen von frontoviki und ehemaligen Lagerinsassen. So entstand hier in den sechziger Jahren ein diskursiver Raum, eine kleine Versammlungsöffentlichkeit. Diese Teil- und Gegenöffentlichkeit war mit dem kommunikativen Raum der Dichterlesungen am Majakovskij-Platz, verknüpft. An beiden Orten lasen in den sechziger Jahren die Dichter der „vierten Generation“. Es ist erstaunlich, dass eine solche Entwicklung in unmittelbarer Nachbarschaft der berüchtigten „Lubjanka“ geduldet wurde. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, warum die Menschen sich ausgerechnet hier trafen. Ein Erklärungsmuster für die Verortung dieser Gegenöffentlichkeit im Polytechnischen Museum ist der Technikkult der sechziger Jahre in der Sowjetunion. Die Wissenschaft als Trägerin absoluter Gewissheiten entsprach dem Wunsch nach Wahrheit und Ehrlichkeit nach dem Ende der Stalinzeit. Hier besteht eine enge Verbindung zwischen dem Lyrikkult43 und dem Technikkult jener Jahre. Es war die Zeit des „Kalten Krieges“, und die Sowjetunion hatte mit dem Sputnik der Gegenseite erfolgreich einen Schock versetzt. Um den Westen nun auch im Bau der Atombombe und im Maisanbau zu überholen, wie es Chruščev prahlerisch angekündigt hatte, brauchten die Wissenschaftler Freiheiten – und bekamen sie auch. Sie wurden zur privilegierten Klasse. Die Freiheiten im Austausch auch mit westlichen Forschenden bescherten der Sowjetunion 1958, 1962 und 1964 Physik-Nobelpreise. Waren frühere Heldentypen Revolutionäre, Tunnelbauer, Neulanderoberer und Kriegshelden gewesen, kam nun der Physiker als Held der neuen Zeit hinzu. Die genaue Tätigkeit dieser Volkshelden entzog sich allerdings dem allgemeinen Verständnis. Umso menschlicher fielen die Darstellungen der Helden und ihrer Charaktereigenschaften aus. Die Wissenschaft wurde beinahe zur Religion, sie war es nun, die die Gesellschaft der Zukunft und den Kommunismus erschaffen sollte. Es entstand sogar eine spezifische sowjetische Gattung der Science-Fiction-Literatur, die sich an ein Insider-Publikum richtete und die Entwicklung begleitete.44 Bald begannen die Wissenschaftler, im Namen der Demokratie unabhängige Institutionen sowie die Unabhängigkeit der Forschung zu fordern und auch gesellschaftliche Interessen wie den Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Menschenrechte wahrzunehmen.45 Der Akademie der Wissenschaften wurde jedoch eine Stellung an der Spitze der Machtpyramide verwehrt und sie wurde zum Raum für Gegenöffentlichkeit.46 Fortan wirkten die Wissenschaftler, eingeschlossen in ihren akademischen Raum „wie die Popen in der Kirche”,47 als gesellschaftliche Auguren. Einige wurden als „Menschenrechtler” vom Wissenschaftler zum Dissidenten. Sobald sie den eng gesteckten wissenschaftlichen Rahmen verliessen, etwa bestimmte Kommunikationsmuster unterliefen, indem sie sich allgemeinverständlich ausdrückten, entsakralisierten sie die Wissenschaft und wurden verfemt. Die Kommunikationsschranken betrafen hier die sprachlichen Codes ebenso wie die Inhalte. Wissenschaft und Lyrik traten jedoch in den Austausch: Die wissenschaftliche Terminologie drang in den Alltagsdiskurs ein und nährte auch die Poesie. Die Akademie war Ort von Liederabenden der Gitarrenlyriker und Nonkonformisten-Ausstellungen. Als sich die Hoffungen auf die Erlösung durch die Wissenschaft nicht erfüllten und nach dem Schock durch den Einmarsch in Prag 43 Der Lyrikkult und die russische „neue Welle” sind im Kapitel über die Gor’kijstrasse ausführlich behandelt. Zur russischen Literaturlastigkeit oder „Graphomanie“ und den Schriftstellern als „zweiter Regierung“ vgl. Boym: Graphomanie. 44 Ingrid Oswald: Sowjetische Science-fiction-Literatur als soziologisches Erkenntnismittel. Literarische Plattform und öffentliches Medium der wissenschaftlich-technischen Intelligenz. In: Osteuropa 41 (1991) Nr. 4, S. 393–405. 45 Dietrich Beyrau: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985. Göttingen 1993, S. 187–188. 46 Petr Vajl, Aleksandr Genis: 60-e. Mir sovetskogo čeloveka. Moskva 1998 (1988), S. 104 ff. 47 Vajl, Genis: 60-e, S. 104.
165
36. Platzpanorama aus Nikolaj Rachmanov: Moskovskie motivy. Moskau 1969 Das in einem Bildband über Moskau 1969 auf
Die Lubjanka
einer Doppelseite publizierte Panorama zeigt die Lubjanka ohne die „Lubjanka“ (das KGB-Gebäude). Es lässt sich als Gegeninszenierung deu-
ten: Der Platz ist nicht menschenleer, sondern bevölkert, denn der Fotograf hat durch die Menschen auf dem Gehweg vor dem „Detskij mir“ fotografiert. Das KGB-Gebäude als Symbol der Schreckensherrschaft und des Terrors bleibt ausgeklammert. Dzeržinskij stört nicht weiter, denn hinter ihm ragt imposant das Polytechnische Museum auf, als Symbol einer Gegenöffentlichkeit der sechziger Jahre. Es bleibt offen, ob das KGB-Gebäude ausgeklammert bleibt, weil es mit dem städtischen Ort eigentlich gar nichts zu tun hat, oder ob schlicht das unangenehme Gefühl ausgeblendet werden sollte, das die Betrachter des Gebäudes beschlich. Wenn ja, fragt sich, ob dies in „offiziellem Auftrag“ geschah, oder aus der Perspektive des Fotografen. Möglicherweise ging es „den Stadtvätern“ darum, den Platz in die Stadt einzubinden und positiv zu besetzen und somit das Sehen zu kontrollieren. Die Perspektive auf das Museum könnte auch bedeuten, dass von den Herausgebern des Buches oder dem Fotografen der Eigen-Sinn demonstriert werden sollte, der Mut, neben diesem Ort des Schreckens unabhängige Gedanken zu formulieren. Doch es wirkt immer noch irritierend, dass das Gebäude, das dem Platz seinen Namen gibt und ihn auch symbolisch, wenn auch negativ, dominiert, einfach nicht im Bild zu sehen ist. Es verleiht der Fotografie aus heutiger Sicht etwas Absurdes.
1968 die bürgerrechtlichen Neigungen der Wissenschaftler mit ihrem wissenschaftlichen Selbstvertrauen abnahmen, „gaben sie sich auf den Ruinen der Teilchenbeschleuniger der Romantik hin”48 und frönten der Untergrundkultur. Obwohl die „Kirche der Wissenschaft” ihre Anhänger verlor, blieb die privilegierte wissenschaftliche Gemeinschaft bestehen. Der Technikkult und die damit verbundenen Freiheiten sind also mögliche Erklärungen für die Auswahl des Ortes für Versammlungen. Geduldet wurden sie anfangs vermutlich ebenfalls wegen des institutionellen Rahmens, den das Polytechnische Museum bot. Der Bau des Kinderkaufhauses weist ausserdem darauf hin, dass der Platz ein Stück „Normalität“ bekommen sollte, und dazu gehörte das Museum mit seinen Veranstaltungen.
48 Vajl, Genis: 60-e, S. 105.
Bedeutungsräume Manche Orte hatten auf der geistigen Landkarte der Sowjetbürger ihren festen Platz: Die Bedeutungen des Geschehens übertrugen sich auf die Orte, und ihre Beschreibungen mischten sich mit menschlichen Hoffnungen und Ängsten, Werten und Absichten.49 Die Heterogenität unterscheidet diesen Ort von der Schauseite der ganzheitlich sowjetisch überformten Gor‘kijstrasse. Deren intendierter Sinn und ihre Gestaltung als Ritualachse und Repräsentationsraum war eindeutig. Planung und Bau an der Ploščad‘ Dzeržinskogo dagegen fielen über die Jahre gegensätzlich aus. Am Anfang stand die „Besetzung“ des Versicherungsgebäudes durch die Verwaltung, als Moskau 1918 zur Hauptstadt wurde. Die Verwaltung expandierte in den folgenden Jahren auch in umliegende Hotels. Die Mauer von Kitaijgorod und die Kirche wurden abgerissen, so dass das Polytechnische Museum an den Platz zu liegen kam. Die Metrostation integrierte den Platz 1935 in das moderne Subsystem. 1946 wurde das KGB-Gebäude wesentlich vergrössert. Zugleich liefen die Planungen für ein ebenfalls die ganze Stadt umfassendes System von Hochhäusern. Auch hier sollte eines zu stehen kommen und den Platz in dieses System einbinden. Doch die Abbruch- und Neubaupläne für Kitajgorod und den Dzeržinskij-Platz wurden nicht umgesetzt. 1957 öffnete stattdessen das „Detskij mir“ seine Tore und 1958 verdrängte der „Eiserne Felix“ den runden Brunnen im Zentrum des Platzes. In der Zeit zwischen 1917 und 1964 überlagerten sich an der Lubjanskaja Ploščad‘ mehrere, sehr gegensätzliche Bedeutungsräume. Der Platz hatte kaum alte Bedeutungen, die man hätte verdrängen müssen. Er bekam aber durch das Hauptquartier der Geheimpolizei eine negative Bedeutung, die es einzudämmen galt. Die „Lubjanka“ verweist auf den Raum der Gefängnisse und Lager, den „Archipel GULag“ und den ihn umgebenden Angstraum, aber auch die Subkultur der Lager, deren Sprache und die von der Masse der Häftlinge ausgehende latente Gefahr für das System. Das Gebäude war enger mit diesem Netzwerk verknüpft als mit seiner unmittelbaren Umgebung, dem Platz. Es stand jahrzehntelang in einem Niemandsland, umgeben von einem angsterfüllten Vakuum. Die „Lubjanka“ wurde zum metaphorischen Ort. Zugleich mit der Angst konfrontierte die „Lubjanka“ die Menschen mit ihrer eigenen Haltung. Jeder war vom Terror in irgendeiner Form betroffen. Jeder hatte aber auch das Terrorsystem hingenommen, wenn nicht gar in der einen oder anderen Form unterstützt, sei es am Arbeitsplatz, sei es durch Denunziation, sei es durch Schweigen oder als Familienmitglied von Angehörigen des Systems. Diese Konfrontation wurde besonders deutlich, als nach 1956 Millionen von Lagerhäftlingen zurückkehrten. Das „Detskij mir“ war als „Welt des Kindes“ Teil der Konsumträume in der Provinz und belebte den Platz mit Publikum. Von weit her kamen die Kundinnen und Kunden, um sich in der Hauptstadt mit defizitären Gütern einzudecken. Das „Detskij mir“ bildete mit dem CUM und dem GUM ein „Bermudadreieck” des Konsums, einen ökonomischen und symbolischen Raum. Im Gegensatz zum immer leeren Gehweg vor der streng bewachten „Lubjanka“ drängte sich hier das Publikum. Das Kaufhaus fand Akzeptanz und wurde rege genutzt. Es war somit als Aushängeschild des besseren Lebens ein Erfolg und setzte der „Lubjanka“ einen positiven Akzent gegenüber. Die Dzeržinskij-Statue, der „Eiserne Feliks“, sollte als Helfer der Kinder stilisiert werden, weil er die ČK immer wieder auch eingesetzt hatte, um Kinder zu retten. Er war als verbindendes Element zwischen beiden Welten, der Welt der Kinder und der Welt der Erwachsenen konstruiert. Er war aber den Menschen vor allem als grausamer Chef der Geheimpolizei bekannt. Die Le49 Nicholas J. Entrikin: The Betweenness of Place. Towards a Geography of Modernity. Basingstoke 1991, S. 11.
167
gende um den versteckten Posten der Geheimpolizei im Sockel zeigt, dass er mit der „Lubjanka“ assoziiert blieb. Das Polytechnische Museum zeigte einerseits dem „Technikkult” gemäss Errungenschaften der sowjetischen Wissenschaft und Technik, andererseits bildete sich hier mit den Dichterlesungen im Auditorium ein diskursiver Freiraum in der unwahrscheinlichen Nachbarschaft des KGB-Hauptsitzes. Der Gegenraum war mit der Stadt Moskau – mit dem Majak und der Untergrundkultur der Privatwohnungen – verknüpft. Das KGB-Gebäude stellte dagegen einen abgekapselten Raum dar und war nicht mit der unmittelbaren Umgebung oder dem Ort verbunden. Die Metrostation mit den von Ladovskij gestalteten auffälligen Torbögen, welche die Tunnelform der Metroschächte nach aussen spiegelten, blieb das einzige Manifest der Planungen der Rationalisten der zwanziger Jahre an diesem Ort. Im Falle der Lubjanka trafen ganz unterschiedliche und widersprüchliche Bedeutungen aufeinander: Die Lubjanka als Ort hatte einen zwiespältigen und zerrissenen Charakter. In seiner Widersprüchlichkeit entspricht er den zahlreichen Widersprüchen, welche das sowjetische System kennzeichneten und ist eine Variante zum Gegensatz zwischen Schauseite und Hofseite an der Gor‘kijstrasse. Bis heute ist der Platz nicht neu gestaltet worden. An der Stelle in der Mitte, wo früher der Brunnen und später der „Eiserne Felix“ standen, prangt noch immer der leere runde Sockel. Der Platz ist heute eine Verkehrsinsel und ein Die Lubjanka Erinnerungsort.
Macht, Kommunikation und Lebenswelt Machtverhältnisse wurden auf mehreren Ebenen sichtbar: Die geheimnisumwitterte totale Machtausübung durch die Geheimpolizei verbreitete Angst und Schrecken und erstickte das Leben auf dem Platz. Um die „Verhandlungen” im Inneren zu beschreiben, fehlen die Worte. Die Menschen mieden den Platz „wie die Pest” und wollten wohl auch nicht auf den Köpfen der Gefangenen im Keller der „Lubjanka“ herumgehen. Das Wissen um diesen geheimen Ort war Allgemeingut. Es war ein metaphorischer Ort, die Metapher für staatlich ausgeübte Gewalt. Das „Detskij mir“ löste Konsumversprechen der Chruščev-Riege an die Bevölkerung teilweise ein, stand jedenfalls symbolisch für deren Erfüllung. Es zog Käuferscharen aus der ganzen Union an. Wahrscheinlich war es genau aus diesem Grund an diesen Ort gebaut worden. Der KGB hätte sicher noch ein weiteres Verwaltungsgebäude brauchen können, wie die später verwirklichten Projekte verdeutlichen. Doch offenbar ging es der Chruščev-Regierung darum, an diesem Platz ein positives Zeichen im Zuge der Entstalinisierung zu setzen. Die Bedeutung der Kinder war mit der Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft besetzt, die Gestaltung des öffentlichen Raumes war hier also direkt mit der gesellschaftlichen Utopie verbunden. Das Gebäude demonstrierte eine Eingrenzung der den Terror beherrschenden Institution an deren Hauptsitz, der Ploščad’ Dzeržinskogo. Ein Warenhaus im Zeichen des Kindes, das privilegiert versorgt wurde und deshalb viel Publikum anzog, sollte dem Platz so etwas wie Normalität abringen. Das nur ein Jahr später errichtete Dzeržinskij-Denkmal dagegen wirkt wiederum wie eine Relativierung. Das Polytechnische Museum war der Ort einer politischen Gegenöffentlichkeit, die jedoch eingeschränkt und kontrolliert wurde. Das Nebeneinander von alternativer Gegenkultur und KGB verweist auf den Grad der Loslösung des KGB und seiner Tätigkeit vom konkreten Ort „Lubjanka“. Der KGB verhielt sich gewissermassen inkognito und verleugnete seine eigene Präsenz,
indem er Widerspruch direkt nebenan duldete. Hier wurden Dinge ausgesprochen oder zumindest deutlich angedacht, für die andere früher oder vielleicht sogar jetzt noch in den Zellen der „Lubjanka“ büssen mussten. Auffällig ist auch die Zeitgleichheit von Kinderwelt der Waren und Beginn der Dichterlesungen. 1956 war die Geheimrede am XX. Parteitag bereits gehalten, das Tauwetter angebrochen, das „Detskij mir“ im Bau, die Gefangenen amnestiert. Der zentrale Platz erhielt tatsächlich in seinen Bedeutungen eine Differenzierung. Es gab neben der Terrorzentrale noch etwas anderes hier. Nur der Gehweg vor der „Lubjanka“ wurde gemieden. Darunter wusste man die Zellen. Und inzwischen war auch mehr über den GULag bekannt, zu dem der Komplex gehörte. Symbolisch gesehen vereinte der Platz in seiner Ambivalenz zeiträumliche Gegensätze, die auch die Lebenswelten, die Erfahrungen, Erinnerungen, Handlungs- und Deutungsmuster der Menschen prägten: Ort des Terrors. Ort des Kindes. Ort des Konsums. Ort des Eigen-Sinns und Widerspruchs. Ort der technischen Errungenschaften. Ort literarischer Fantasie.
169
Gegenwelt Sucharevka
Gegenwelt Sucharevka: Moskaus größter Trödelmarkt 37. Postkarte mit Sucharev-Turm und Markt, um 1900 Der Sucharev-Turm war ein Torturm, der auf Befehl Peters I. zwischen 1692 und 1695 zu Ehren des Torwächters Lavrentij Pankrat’ev Sucharev gebaut wurde, der beim Streit um die Thronfolge zwischen Peter I. und seiner Schwester treu zu ihm gehalten hatte. Er enthielt ein Wasserreservoir und wurde zu einem der bekanntesten weltlichen Denkmäler Moskaus. Der Turm war lange Zeit der höchste Bau Moskaus. Seit der Zeit Peters des Grossen war er Stadttor, Schule und astrologisches Observatorium, Wasserturm und nach der Revolution befand sich hier das Museum der Stadt Moskau.
Ein Beispiel eines für Moskau in seinen Funktionen besonders fesselnden Platzes ist die am Gartenring gelegene Sucharevskaja Ploščad‘. Den Namen hatte dieser Platz vom SucharevTurm. Das wichtigste Merkmal des Platzes auf der geistigen Landkarte der Moskauer war jedoch nicht der Turm, sondern der Markt zu seinen Füßen. Vladimir Giljarovskij gab folgende Gründungsgeschichte des Marktes: „Nach dem Kriege von 1812, als die Moskauer nach Moskau zurückzukehren und ihr geplündertes Hab und Gut zu suchen begannen, erließ der Generalgouverneur Rostoptschin einen Befehl, in dem es hieß, dass alle Sachen, gleich, woher sie stammten, unveräußerliches Eigentum dessen seien, der sie gerade besitze, und jeder Besitzer sie weiterverkaufen könne, aber nur einmal in der Woche – am Sonntag – und nur an einem Ort – auf dem Platz gegenüber dem Sucharew-Turm. Am ersten Sonntag türmten sich Berge von geplündertem Hab und Gut auf dem riesigen Platz, und ganz Moskau strömte auf den ungewöhnlichen Markt. Das war die feierliche Eröffnung der hundertjährigen Sucharewka.” Giljarovskij erzählt weiter Legenden, die sich um den Sucharev-Turm rankten: „Der ‚Zauberer‘ Brjus habe darin aus Blei Gold gemacht, und das ‚schwarze Buch‘, das vom Teufel selbst geschrieben worden sei, soll in seinen Verliesen aufbewahrt worden sein.” „Sonntags herrschte um den Turm geschäftiges Treiben, ganz Moskau kam hierher wie zu einem Fest – der Bauer, der in der Umgebung der Stadt wohnte, ebenso wie der durchreisende Kleinstädter. Gegenüber dem prunkvollen Palast des scheremetewschen Krankenhauses wurden über Nacht Hunderte Verkaufszelte aufgebaut, die nur für einen Tag bestimmt waren. Vom Morgengrauen bis zum Anbruch der Dunkelheit wogte auf dem Platze ein Meer von Köpfen, nur
Abb. in: Antonina Manina: Der Generalplan zur Stadterneueung Moskaus 1935. In: Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit. Hg. von Peter Noever. München usw. 1994, S. 165–169, hier S. 167. Details zur Geschichte des Turmes finden sich in Petr Vasil’evič Sytin: Sucharevskaja Bašnja (1682–1926). Narodnye legendy o bašne, ee istorija, restovracija i sovremennoe sostojanie. Moskva 1993, hier S. 12. Timothy Colton: Moscow. Governing the Socialist Metropolis. Cambridge, Mass. 1995, S. 265; auf S. 163 behauptet er aber, hier sei zwischen 1921 und 1925 das von Petr V. Sytin geleitete Moskauer Kommunalmuseum gewesen. Puširev datiert das Museum auf „Anfang Jahrhundert” (B. I. Puširev: Vospominanija starogo moskviča. Moskau 1998, S. 24). Wladimir Giljarowski: Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen. Sittenbilder aus dem alten Moskau. Berlin 1988 [Moskva i Moskviči, 1934], S. 54–55.
171
einen schmalen Weg zu beiden Seiten der hier erweiterten Sadowaja-Strasse für die Durchfahrt lassend.” In der Hauptsache wurde hier antiquarisch mit Büchern und mit Antiquitäten gehandelt. Der Markt war zugleich ein Hauptumschlagplatz für Diebesgut. Boris Ivanovič Puširev lebte am Ende der Zarenzeit als Kind im Rayon Truby um die Trubnaja Ulica. Die Gegend habe wegen der zahlreichen, bei Giljarovskij beschriebenen Bordelle bei den Moskauern einen schlechten Ruf gehabt, berichtet er in seinen Memoiren. Zu seiner Zeit waren bereits viele der alten Häuschen mehrstöckigen Mietshäusern gewichen, und es gab nirgends rote Lämpchen in den Fenstern, die Hauswarte hielten Ordnung. Dennoch haftete das Image an der Gegend. Hier lebten zahlreiche Chinesen, die als Wäscher arbeiteten, aber auch bunte Papierfigürchen oder Opiumpfeifen fertigten. Fremdartig waren auch die Tataren, die man gerne als Dvornik einstellte. Der Handel blühte, auch der Schwarzhandel. Die Hauptgeschäftsstrasse war die Sretenka, die in den Sucharev-Platz mündete. Puširev bezeichnet das Angebot an Waren auf der Sucharevka als unbeschreiblich vielfältig. Hier spazierte er mit seinen Freunden durch die Reihen und freute sich am Marktleben. Er beschreibt den Vogelmarkt auf der Trubnaja Ploščad’ als seinen Lieblingsmarkt und verweist auf Anton Čechovs Erzählung „V Moskve na Trubnoj Ploščadi” von 1883. Der Größte Markt aber sei derjenige auf dem Roten Platz gewesen. Diese Beschreibung macht deutlich, dass der Sucharev-Markt Teil einer ganzen Landschaft von Märkten auf allen öffentlichen Plätzen Moskaus war. Die beiden Pole des Systems von Märkten waren der Rote Platz und die Sucharevka: Der erste als legaler, kontrollierter, der zweite als illegaler, unkontrollierter Markt. Beide Märkte waren symbiotisch ineinander verzahnt und umgeben von den kleineren Lebensmittelmärkten wie demjenigen auf Gegenwelt Sucharevka dem Ochotnyj Rjad und der Smolenskaja Ploščad’, wo ebenfalls viel illegaler Handel getrieben wurde. Die Sucharevka erlangte ihren Sonderstatus als wichtigster Moskauer Schwarzmarkt während des Bürgerkrieges. Im Mai 1919 wurden auf der Sucharevka täglich 10 Millionen Rubel umgesetzt. Der deutsche Kommunist Arthur Holitscher (1869–1941) besuchte den Markt 1920, bevor er geschlossen wurde. „Sucharewka heißt der Markt, auf den ich bisher des öfteren in geheimnisvoller Weise hingewiesen habe. Es ist ein ehemaliger Sonntagströdelmarkt und befindet sich auf dem äußeren Boulevardgürtel Moskaus in der Nähe des Roten Tores. Hier kann man von früh bis spät eine dicht gedrängte Menge, Tausende tauschen, feilschen, kaufen, verkaufen, sich gegenseitig bewuchern und bestehlen sehen. Es ist der geduldete Markt der großen Stadt, der, da ja alle Läden zugesperrt sind, die Verteilung von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen aber bei weitem nicht den Bedarf des verarmten Städters decken kann, unter den Augen der Sowjets besteht und blüht – wenn auch zuweilen grimmige Razzien und Verhaftungen von Käufern und Verkäufern vorgenommen werden und die außerordentliche Kommission Gefängnisse, Klöster und Konzentrationslager mit Spekulanten neu auffüllen kann. Bauern kommen aus der Umgebung hierher und halten Lebensmittel aller Art feil; Buden mit Gebrauchsgegenständen reihen sich einige Werst lang aneinander; Schleichhändler stopfen sich Giljarowski: Kaschemmen, S. 55. B. I. Puširev: Vospminanija starogo moskviča. Moskau 1998, S. 21. Der Dvornik war ein Zwischending zwischen Hauswart, Knecht und allgemeinem Aufpasser, der den Hof in Ordnung hielt und sich um das häufig hier gehaltene Kleinvieh und Geflügel kümmerte, Holz hackte und in einem Verschlag wohnte. Mauricio Borrero: Hungry Moscow. Scarcity and Urban Society in the Russian Civil War, 1917–1921. New York usw. 2003, S. 167–172.
die Taschen mit Gegenständen voll, die die Bourgeoisie, an einem geschützten Teil der Sucharewka in Doppelreihen aufgestellten, an den Mann zu bringen sucht. (…) Es waren zumeist Bauern, die ihre Lebensmittel vorteilhaft losgeworden waren und nun mit handdicken Tausendrubelbündeln, die sie aus ihren Stiefeln zogen, von einem zum andern gingen, Standuhren, Parfümfläschchen, Ringe, Seidenschals, Operngläser, Samoware und emaillierte Löffel, kurzum alles, was zu einer erhöhten Lebensführung unerlässlich ist, erstanden. Zu beiden Seiten dieser bürgerlichen Doppelreihe standen und saßen Verkäufer von Eiern, Obst, Speck, Weißbrot (von dessen Beschaffenheit sich Tausende im vorübergehen durch einen Fingerabdruck zu überzeugen suchten), Zucker, Hefe, Käse, Fleisch; Buden mit Wurststücken, geschmorten Gurken, prasselten und zischten in der Wintersonne; da gab‘s Grammophone, Stiefel, Kinderwagen, Mandolinen, Lehrbücher der Chemie, Gounods ‚Faust’, Bandzeug, Bleistifte, altes Papier, Fahrräder, Küchengerät, Heiligenbilder; auch konnte man bemalte Schüsseln und Schöpfkellen, Siebe, Spielzeug und Bürsten erstehen, Zeuge einer heute fast vollständig verschwundenen Hausindustrie, deren Überbleibsel abnorm teuer bezahlt werden. (…) Panik auf der Sucharewka! ! Mit einem Schlage, geheimnisvoll aufflackernd, verbreitet sich das Gerücht irgendwoher: die Roten seien im Anmarsch! In wilder Hast beginnen die Verkäufer, ihre Waren zusammenzuraffen, die Käufer ihre Taschen zuzuhalten; alles duckt sich, um in der Menge möglichst unbemerkt zu verschwinden, schiebt sich, stolpert übereinander hinweg. Ich stehe neben einem Burschen, der drei eiserne Bettstellen in einer Reihe aufgestellt hat und auf Käufer wartet. Der Bursche hat einen Strick als Gürtel um die Hüften geschlungen: rasch wie der Blitz windet er sich diesen Strick vom Leibe, zieht ihn wie eine Schlange durch die Gitterstäbe am Kopfende aller drei Betten, spannt sich dann als Pferd vor dieses sonderbare Gefährt und beginnt, in wilder Hast einer Seitenstrasse zuzugaloppieren. Hinter ihm hüpfen die drei Bettstellen über das Eis. Einige Minuten später stellt es sich heraus, dass die Furcht, die die Sucharewka im Handumdrehen gesäubert und entvölkert hatte, unbegründet war, und bald darauf steht alles wieder auf seinem Platz, feilscht, handelt, bewuchert und bestiehlt sich gegenseitig… Die blinde Angst vor den Roten, d. h. der Kommission! Der Bleichmeister sagte mir so: ‚Nun ja – er hat das Hündchen, ich aber habe keines. Darum darf er mich verhaften und darum darf ich nicht spekulieren. Er hat einen besseren Pajok als der Soldat an der Front. Ich aber habe kein Recht zu leben. Wenn ich meine letzten Löffel verkauft habe, dann wird mein Koschmar zu Ende sein, dann werde ich mit niederlegen und nicht mehr auf die Sucharewka gehen müssen, auch meine Frau nicht. Er hat das Hündchen und wird weiterleben.’ Ich fragte nach einer Weile, was denn das ‚Hündchen’ sei? Darauf wies er an seiner Hüfte die Stelle, wo die Leute von der Wetscheka ihren Revolver am Gurt tragen. Für den Bleichmeister bestand die Menschheit aus solchen, denen das Hündchen verliehen worden war, diese hatten alle Rechte, und aus solchen, die kein Hündchen haben durften und darum im Koschmar unterzugehen verdammt waren.“ Die Quelle macht deutlich, dass „die Roten“ als „die anderen“ betrachtet wurden, und zu ihnen gehörten die bewaffneten Ordnungshüter. Der Markt erscheint als das totale Chaos, in dem jeder um sein Überleben kämpfte. Die Bauern versorgten die Stadt mit Lebensmitteln, verlangten Wucherpreise und erkauften sich Teilhabe am symbolischen Kapital der „gehobenen Lebensführung“. 1920 wurde die Sucharevka geschlossen, jedoch 1922 wieder geöffnet. Die Städter waren auf den Markt angewiesen, weil alle Läden geschlossen waren. Es war die Zeit des Bürgerkrieges, nachts brannten Moskaus Vorstädte, es herrschten Hunger und Typhus und viele Menschen ver1 Pajok: Zuteilung, Ration. 1 Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland. Berlin: Fischer 1921, S.183–187.
173
38. Sucharev-Markt aus Alexys A. Sidorow: Moskau. Mit Originalaufnahmen von Eremin, Grünberg, Klepnikow u.a. Berlin 1928, S. 78. Osip Mandel’štam beschrieb die Sucharevka als
Gegenwelt Sucharevka
Dschungel: „Russische Basare wie die Sucharevka sind ganz besonders grausam und bedrückend in ihrem tobenden Menschenauflauf.”
Deutlich sichtbar sind auf der Aufnahme die Käfige mit Singvögeln und das dichte Gedränge. Die Fotografie zeigt den Markt als Form städtischen Lebens, des autonomen, eigensinnigen Alltags.
ließen die Stadt.10 Während der Neuen Ökonomischen Politik (NĖP) zwischen 1921 und 1929 wurden die Märkte auf Moskaus öffentlichen Plätzen legalisiert, um die Versorgungslage der Bevölkerung zu verbessern. Die Sucharevka war ein „Barometer der NĖP-Zeit”.11 Die Sucharevka bot in den zwanziger Jahren ganzen Heerscharen von obdachlosen Jugendlichen, so genannten besprizornye, Unterkunft und Verdienst: Sie konnten unter dem alten Turm übernachten und auf dem Markt allein oder in Gruppen betteln, klauen, Kleinhandel treiben oder Diebesgut verhökern.12 Osip Mandel’štam beschrieb die Sucharevka als Dschungel: „Russische Basare wie die Sucharewka sind ganz besonders grausam und bedrückend in ihrem tobenden Menschenauflauf. Einen russischen Menschen zieht es nicht nur in den Basar, weil er etwas kaufen oder verkaufen will, sondern auch deshalb, weil er sich ins Volk wälzen, seinen Ellbogen, die in der Stadt gegen ihren Willen untätig sind, Arbeit verschaffen will; um den Rücken dem Rutenbesen des Gezänks, der üblen Schwüre und der Unflätigkeiten auszusetzen. Er liebt die händlerischen Hahnenkämpfe und das derbe, schlagfertig losgelassene Wort. 10 Vgl. den apokalyptisch angehauchten Bericht von Fedor Stepun: Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution. Aus meinem Leben 1884–1922. München 1961, S. 375. Zitiert im Kapitel über die Gor’kijstrasse. 11 Colton: Moscow, S. 172; Alan Ball: Russia’s last capitalists: The Nepmen, 1921–1929. Berkeley, Cal. 1987, stellt die Sucharevka ebenfalls als typischen NĖP-Markt dar, S. 97 f. 12 Alan Ball: And Now My Soul is Hardened. Abandoned Children in Soviet Russia, 1918–1930. Berkeley, Cal. usw. 1994, S. 30,36, 43, 48, 55, 58,70, 118.
In der Stadt selber spricht man nur träge. Hier jedoch ist die herrschende Sprache – der Redeschwall, 39. 4 Abb. Marktstände von Mel’nikov13 Zwischen 1924 und 1925 plante der berühmte Moskauer Architekt Konstantin Mel’nikov die Rekonstruktion des Sucharev-Platzes. Er entwarf einen neuen Masterplan und einheitlich gestaltete hölzerne Buden. Vergleicht man die Aufnahmen mit der Abb. 30, fällt der Kontrast zwischen Rationalisierungs- und Ordnungsbestreben und dem Marktleben selbst auf. Die Aufnahmen sind retuschiert und betonen die Gleichförmigkeit der Marktstände. Es sind Pläne für ein künftiges, geordnetes Marktgeschehen, die Bilder dokumentieren einen obrigkeitlichen Eingriff, einen Prozess des räumlichen Verhandelns von Alltag.
ein Instrument der Verteidigung und des Angriffs, als liefe ein Iltis unter den Verkaufsständen hin und her. Die Basarsprache ist wie ein kleines Raubtier, das seine weißen Zähnchen bleckt. Basare wie die Sucharewka sind nur auf dem Festland möglich – auf trockener Binnenerde, auf der man herumzustapfen gewohnt ist, wird dieser tobende, auseinanderfließende Markt möglich, der die Erde mit seiner matten Tünche überdeckt. Ein paar durchdringende Pfiffe – und alles wird versteckt, verpackt, weggeschleppt, und der Platz leert sich mit jener hysterischen Hast, mit der die Baumstammbrücken sich leerten, wenn der Dornenbesen der Angst über sie hinwegfegte.”14 Mandel’štam unterstrich den Gegensatz zwischen der trägen Stadt und dem schnellen Markt, der einen abgeschlossenen Raum mit eigenen Gesetzen, eigener Zeit und eigener Sprache bildete: Einen „anderen Ort” der Stadt, eine metaphorisch beschriebene Wildnis, deren Hauptmerkmal die fehlende Zivilisation war. Mandel’štam gehörte gemeinsam mit Anna Achmatova (1889–1966) und deren Mann N. S. Gumilev (1886–1921) dem Dichterkreis der Akmeisten an, einer modernistischen Strömung, die in Russland zwischen 1910 und 1920 als Reaktion auf den Symbolismus entstanden war.15 Nach der Revolution wurde diese Gruppe, die Genauigkeit des Ausdrucks, Klarheit der Formen und Gegenständlichkeit forderte, als bürgerlich und „dekadent“ angegriffen. Der zitierte Abschnitt bezieht sich auf eine Verwilderung und Verrohung, die auch
13 Quelle der Abb.: http://home.iae.nl/users/wie/melnikov/proj/soecharevmarkt/eng1 14 Osip Mandel’štam (1891–1938) Mitternacht in Moskau, Das Rauschen der Zeit. Zit. nach Reise Textbuch Moskau. Ein literarischer Begleiter auf dem Weg durch die Stadt. Hg. von Klaus Kuntze. München 1990, S. 221–224. 15 Zur „Poetik und Praxis des Akmeismus“ vgl. Felix Philipp Ingold: Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913. Kultur – Gesellschaft – Politik. München 2000, S. 199–210.
175
andere Dichter und Intellektuelle der vorrevolutionären Zeit anprangerten, so etwa Marina Cvetaeva und Fedor Stepun. Die Metaphorik der Sauberkeit und Ordnung war so stark, dass sie von den Anhängern der Revolution ebenfalls beansprucht wurde. Alfons Goldschmidt, der deutsche Marxist, der 1920 Moskau besuchte, wies in seinem „Tagebuch“ immer wieder darauf hin, die saubere Kleidung der Arbeiterinnen und Arbeiter sei eine Leistung der Revolution, die Strassen seien sauber und auch das Arbeiterwohnheim der Prochorow-Werke. Die Sucharewka bezeichnete er hingegen als „Schleichhandelsbasar“ und „Schieberwarenhaus“.16 Auch Mandel’štam beschreibt die Begegnung der Marktleute mit der Staatsgewalt. Sie verhandelten nicht, sondern flohen. In beiden Berichten erscheinen die Vertreter der Staatsgewalt als bewaffnet und auch gewaltbereit. Bei Holitscher und Mandel’štam scheint die Brisanz der sozialen Gegensätze durch, die hier aufeinander trafen: „Ehemalige” und „Jetzige”, Bauern und Städter. Das Marktwesen wurde streng kontrolliert. Die Händler pachteten Stände, mussten Buch führen und Abgaben zahlen. Eine erste Händlerliste der Sucharevka von 1922 liegt vor.17 Es gab auf jedem Markt ein Händlerkomitee, das zentral die Buchhaltung der einzelnen Stände zu verwalten hatte. Die Händlerkomitees wurden von Revolutionskomitees kontrolliert: Die Verhältnisse waren hierarchisch: Die Händlerkomitees waren den die Obrigkeit repräsentierenden Revolutionskomitees Rechenschaft schuldig. Ende 1924 wurde der Markt erneut geschlossen, 1925 jedoch wiedereröffnet. Mel’nikov entwarf außer dem Gesamtplan für die Anordnung der Marktstände auch ein dreieckiges Hauptgebäude mit einer Bierhalle, einer Kantine für die Händler und Büros für die Verwaltung im oberen Stockwerk. Die Gegenwelt Sucharevka Bar wurde zum heißesten Treffpunkt der NĖP-Unterwelt. Die hölzernen Marktstände waren um eine dynamische Ellipse angelegt. Eine Aufnahme von Alexander Rodčenko zeigt den Markt 1924.18 Walter Benjamin besuchte den Markt im Januar 1926: „Ich wollte den berühmten Sucharewspark sehen. Der ist mit seinen mehr als hundert Buden der Nachfahre einer großen Messe. Vom Viertel der Alteisenhändler geriet ich hinein. Es liegt als nächstes an der Kirche (NikolajewskKathedrale) deren blaue Kuppeln sich über den Markt heben. Die Leute haben hier ihre Ware einfach im Schnee liegen. Man findet alte Schlösser, Meterstäbe, Handwerkszeug, Küchengerät, electrotechnisches Material u.a.m. An Ort und Stelle führt man auch Reparaturen aus; ich sah über einer Stichflamme löten. Sitze gibt es hier nirgends, alles steht aufrecht, schwatzt oder handelt. Der Markt zieht sich bis zur Sucharewskaja hinunter. Beim Schreiten über die vielen Plätze, Alleen aus Buden, wurde mir klar, wie diese Anordnung von Markt und Messe, die hier herrschte, auch große Teile der Moskauer Strasse bestimmte.” Der Reisende mit dem Blick von außen beschrieb die Sucharevka im Gegensatz zu Mandel’štam als Modell der Stadt im Kleinen, also wohl organisiert und kontrolliert, wie die Fortsetzung zeigt: „Es gibt Uhrmachergegend und Konfektionsviertel, Zentren für den elektrotechnischen Bedarf und den Maschinenhandel und dann wieder Straßenzüge, in denen nicht ein Laden sich findet. Hier auf dem Markt lässt die architektonische Funktion der Waren sich erkennen: Tücher
16 Alfons Goldschmidt: Moskau 1920. Tagebuchblätter. Hg und eingel. Von Wolfgang Kiessling. Berlin (Ost) 1987, S. 140, 130, 176, 201. 17 Central’nij Municipal’nij Archiv goroda Moskvy (CMAM), F. 1275, op. 1, d. 334. 18 S. Frederick Starr: Melnikov. Solo Architect in a Mass Society. Princeton, N.J. 1978, S. 53, 67–69.
und Stoffe bilden Pilaster und Säulen, Schuhe, Walinki, die an Schnüren gereiht überm Verkaufstische hängen werden zu Dächern der Bude, große Garmoschkas bilden tönende Mauern, Memnonsgemäuer gewissermaßen. Hier fand ich, in der Gegend der Spielzeugbuden, endlich auch meinen Samowar als Weihnachtsbaumschmuck. Zum ersten Male sah ich in Moskau Stände mit Heiligenbildern. Die meisten sind nach alter Weise mit Silberblech überzogen, in das die Falten des Madonnenmantels gestanzt sind. Nur Kopf und Hände allein sind farbige Flächen. Es gibt auch kleine Glaskästen, in denen das Haupt des heiligen Joseph (?) mit leuchtenden Papierblumen garniert zu sehen ist. Dann diese Blumen, große Sträuße, in Freiheit. Sie leuchten mehr als bunte Decken oder rohes Fleisch über den Schnee. Weil aber dieser ganze Verkaufszweig zum Papier- und Bilderhandel gehört, kommen diese Buden mit Heiligenbildern neben die Stände mit Papierwaren zu stehen, so dass sie überall von Leninbildern flankiert werden, wie ein Verhafteter von Gendarmen. Weihnachtsrosen auch hier. Sie allein haben keinen bestimmten Platz und tauchen bald zwischen Lebensmitteln, bald zwischen Webwaren oder Geschirrbuden auf. Aber sie überstrahlen alles, rohes Fleisch, bunte Decken und glänzende Schüsseln. Gegen die Sucharewskaja verengt der Markt sich zu einem schmalen Gang zwischen Mauern. Da stehen Kinder; sie verkaufen hauswirtschaftlichen Bedarf, kleine Bestecke, Tücher u. dgl., zwei sah in an der Mauer stehen und singen. Hier traf ich auch zum ersten Male seit Neapel einen Zauberverkäufer. Er hatte eine kleine Flasche vor sich in der ein grosser Affe aus Stoff saß. Man begriff nicht, wie er hineingefunden hatte. In Wirklichkeit hatte man nur ein kleines Stofftier, wie dieser Mann es zum Verkaufe anbot, in die Flasche zu setzen. Das Wasser ließ es aufschwellen. Ein Neapolitaner verkaufte Blumensträuße von der gleichen Art.”19 Vergleicht man diese Beschreibung mit denjenigen von Holitscher und Mandel’štam, so wird die grössere Ordnung deutlich, die vermutlich mit der baulichen Maßnahme zusammenhing. Der Markt hatte Viertel, die Stände waren nach Produkten geordnet. Die Armut klingt höchstens bei den singenden Kindern an, es gibt keine Vertreter der Staatsgewalt und keine Razzien in dieser Beschreibung. Benjamins Beschreibung kommentiert nicht, sie zeichnet die sichtbare Oberfläche nach. Der Markt erscheint als Ornament, ähnlich wie auf Konstantin Mel’nikovs Projektzeichnungen. Wo Benjamin von „mehr als hundert Buden“ berichtete, meinte Egon Erwin Kisch, der Moskau ebenfalls im Winter 1925–1926 besuchte, es seien 2600 Stände gewesen. Statt Leninbildern gab es vor allem Stalinbilder zu kaufen. „Auf den Märkten Bude an Bude, zweitausendsechshundert Stände hat der Sucharewskij Rynok allein, man kann nicht nur all das kaufen, was man in analogen Basarbetrieben Westeuropas kaufen kann, sondern noch vieles, vieles andere. Russisches, Allzurussisches, handgestickte Hemdblusen, Heiligenlämpchen, alte Ikonen, Filzstiefel, die bis zur Wade, und solche, die bis zum Schritt reichen, Kamelhaarwolle zum Ausstopfen der Federbetten, schwarzgolden lackierte Holzdosen zur Aufbewahrung von Tee, Kinderwagen ohne Räder, jedoch mit Schlittenkufen, Puppenschlitten, Pelze und Pelzabfälle, handgewebte Matten, Ledermützen mit Pelzbesatz und Pelzkappen mit Lederbesatz, Teppiche, Fäustlinge, Schlittschuhe mit je zwei Schneiden, die gezackt sind, Spielzeugschachteln, Stalin-Bilder, Frauenzöpfe, helle, runde Handköfferchen aus Birkenholz (für Frühstück und Ausflugsproviant), ganze Milchkälber und Fleisch, das der Metzger zu Hause zerhacken muss, denn auf dem Markt friert es zu Stein, aus Delikatessenläden stammende gemischte Warenreste von Kaviar, Käse, Wurst, Butter, Fleisch, Fisch und Obst, antiquarische Bücher wie ‚Istwostschik Gentschel’ von Gergart Gauptmann, Kleiderhaken aus Ziegenhorn und hauptsächlich die vier ewigen Seiten der russischen Quadratur: Samowar, Gummischuhe, Son19 Walter Benjamin: Moskauer Tagebuch. Frankfurt a. M. 1980, S. 99–101.
177
nenblumenkerne und Rechenmaschine. Gebrüll, Gekreisch erfüllt die Märkte, am schlimmsten dort, wo Grammophone einander überschreien wollen, dort, wo Harmonikas und Balalaikas und Blasinstrumente ihre Preiswürdigkeit gleichzeitig in den diskrepantesten Melodien betonen. Durch das Gewühl drängt sich der Polizist und prüft den Marktschein, den der Befragte mit seinen dicken Handschuhen nur mühselig aus der Fell- und Wollverpackung seines Körpers zu holen vermag, charascho. Hie und da flüchtet ein Dieb, der Beute an den Mann bringen oder Beute holen wollte. Lachend enteilen unbefugte Obstverkäuferinnen auf die andere Straßenseite, wenn sich der Schutzmann naht – allzu sehr fürchten sie ihn nicht (‚Milotschka’ heißt der Milizionär im Volksmund, also ein Diminutiv, während man den zaristischen Polizisten als Tyrannen und Rächer sah, indem man ihn ‚Pharao’ oder ‚Erzengel’ nannte). Würste und Fleischstücke und Pasteten brodeln im Fett. Seltsam, im Schnee zwischen einem Spalier einladender Kanapees zu spazieren.”20 Kisch bemerkte zwar die Stalinbilder im Angebot, nahm aber die gewalthafte Seite der Herrschaftsverhältnisse nicht wahr und deutete die Rituale der polizeilichen Kontrolle als harmloses Spiel. Der Markt war wieder Gewühl, es gab Gauner, Diebe und Gemüsehändlerinnen ohne Marktschein, immer noch aber war der Markt in ordentliche Viertel aufgeteilt. Diese Wahrnehmung hing mit Kischs deutschem Erfahrungsraum zusammen. Kisch gehörte zur Gruppe linker Liberaler in der Weimarer Republik, gemeinsam mit anderen Sympathisanten und Kommunisten wie Ludwig Renn, Arthur Holitscher, Alfons Paquet, Alfred Wegener, Lion Feuchtwanger oder Erich Mühsam. Diese unterstützten die Kommunisten moralisch und publizistisch durch öffentliche Bekenntnisse und standen der revolutionären Entwicklung im bol’ševistischen Russland grundsätzlich Gegenwelt Sucharevka positiv gegenüber.21 Diese Haltung ging zurück auf Modernisierungsängste und Erneuerungssehnsüchte des Fin de siècle, die mit megalomanischen Phantasien und Heilserwartungen sowie einem romantischen Imperialismus verknüpft waren. Die Verlust- und Gewalterfahrungen des Weltkrieges sowie die nachfolgenden Wirtschaftskrisen schufen ein weiteres Bedürfnis nach Lösungsmodellen. Alfons Paquet sprach vielen aus dem Herzen, als er 1919 formulierte: „Die Idee des Völkerbundes, der Rätegedanke, der Sinn des Sozialismus beschäftigen die Herzen, und da die westlichen Formulierungen so schwach sind, fragt man ernsthaft nach den östlichen.“22 Der Bogen der Heilserwartungen und -Bewegungen lässt sich weit spannen: von der Reform- und Kunsterziehungsbewegung über die „Wiederentdeckung des Ostjuden“23 und den Zionismus als jüdische Spielarten, bis hin zur Anthroposophie und zum theosophisch-spiritistisch orientierten Ehepaar Roerich.24 Gemeinsam war mehreren dieser Bewegungen das Ziel, einen „Neuen Menschen“ zu schaffen.25 Auf Russland bezogen bewirkte die Oktoberrevolution von 1917 eine gespannte Erwartungshaltung und das revolutionäre Russland zog zahlreiche zeitge-
20 Egon Erwin Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken. 2. Aufl. Berlin (Ost) 1977, S. 41–42. 21 Vgl. zuletzt: Der Rasende Reporter Egon Erwin Kisch. Eine Biographie in Bildern. Hg. von Marcus G. Patka. Berlin 1998. 22 Zitiert nach Gerd Koenen: Ein „Indien im Nebel“. Alfons Paquet und das revolutionäre Russland. In: Osteuropa 55 (2005) Nr. 3, S. 80–100, hier S. 94. 23 Sander Gilman: The Rediscovery of the Eastern Jews. German Jews in the East, 1890–1918. In: Jews and Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis. Hg. von David Bronsen. Heidelberg 1979, S. 338–367; Steven E. Aschheim: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish consciousness, 1800–1923. Madison, NY 1982; Jack Wertheimer: Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany. New York usw. 1987. 24 Klaus Ammann: Nikolaj K. Roerich. Ein Händler von Spirituellem. In: Moskau. Menschen, Mythen, Orte. Hg. von Monica Rüthers und Carmen Scheide. Köln usw. 2003, S. 131–139. 25 Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Hg. von Nicola Lepp, Martin Roth, Klaus Vogel. Ostfildern 1999.
nössische Beobachter in seinen Bann.26 Sie alle projizierten ihre Hoffnungen und Wünsche auf die russische Revolution, ihre Wahrnehmung war gesteuert und partiell. 1930 wurde die Sucharevka endgültig aufgelöst, der letzte Aktenbestand sind die 208 Liquidationsbilanzen der einzelnen Stände.27
Zur Planungsgeschichte: Der Abriss des Turmes als Diskursereignis
179
40. Sucharev-Turm während des Abbruchs. Autor unbekannt, Privatbesitz. 1933 wurde bekannt, dass der Turm, der in der Stadtsilhouette mächtig in Erscheinung trat, wie zuvor die ebenfalls die Skyline dominierende Christus-Erlöser-Kathedrale – Symbol des Moskaus der Goldenen Kuppeln – abgerissen werden sollte, diesmal als „Symbol für Wucher und Betrug”, aber wohl auch Wahrzeichen des „kaufmännischen Moskau”. 1934 wurde er geschleift, eine „ordentliche” Grünanlage geschaffen und der Platz in Kolchoznaja Ploščad‘ umbenannt. Die Aufnahme zeigt den Moment des Abbruchs, den Moment eines „umkämpften Raumes“, der asymmetrischen Macht-„Verhandlung“ oder besser: der obrigkeitlichen Durchsetzung von Herrschaft über diesen Raum. Es handelt sich um einen Schnappschuss, der offensichtlich gemacht wurde, um genau diesen Moment festzuhalten: Der Fotograf macht die Aufnahme von der Fahrbahn aus, aus der Menge, die dort zirkulierte. Die Gehwege beiderseits der Fahrbahn sind schwarz vor Menschen, zwei Trambahnen kreuzen sich gerade vor dem Turm, ein Auto fährt auf uns zu.
Puširev berichtet, bekannte Wissenschafter wie I. E. Grabar’ und A. M. Efros hätten an Stalin geschrieben, um den Turm zu erhalten.28 Selbst ein Protest namhafter Architekten und ausgear-
26 Vgl. hierzu Gerd Koenen: Indien im Nebel. Die ersten Reisenden ins „Neue Russland“. Neun Modelle projektiver Wahrnehmung. In: Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924. Hg. von Gerd Koenen und Lew Kopelew. München 1998 (West-östliche Spiegelungen, Reihe A, Bd. 5), S. 557–616. 27 CMAM F. 1275, op. 1. 28 Puširev: Vospominanija, S. 25.
41. CMADSN 2–3849. Autor unbekannt. Dreißiger Jahre. Die Aufnahme zeigt den Blick auf den Kolchosplatz nach Abriss des Turms. Bemerkenswert sind die Perspektive vom Dach eines Gebäudes aus sowie die Dynamik der die Aufnahme dominierenden Diagonale. „Wir haben den Sucharewski-Turm abgebrochen
Gegenwelt Sucharevka
und rekonstruieren den Sucharewski-Platz, legen dort eine Grünfläche an und bringen den Platz in Ordnung“, verkündete Lazar’ Kaganovič 1934
stolz.29 Deutlich sichtbar ist das Denkmal für die Kollektivierung mit der Aufschrift „Doska početa kolchozov Moskovskoi oblasti“ – Ehrentafel der Kolchosen des Bezirks Moskau. Die Strasse ist jetzt asphaltiert. Auffällig ist die große Anzahl der Lastwagen und Fuhrwerke. Der Markt ist unsichtbar geworden.
beitete Pläne Ivan Fomins, wie die Tramschienen durch das Tor zu legen seien, nützten nichts.30 Der Abriss des Turmes wurde zwar öffentlich bekannt und zum Diskursereignis, indem sich in verschiedenen Medien Menschen dazu äußerten. Die Debatte um den Abriss des Turms blieb jedoch auf die Teilöffentlichkeit der Fachleute und Planer beschränkt. Der Vorgang ist ein schönes Beispiel dafür, wie eine städtebauliche Maßnahme kombiniert mit der Umbenennung disziplinierend wirken sollte. Mit dem Turm sollte ein sozialer Raum beseitigt werden. Damit war die Sucharevka auf die geistigen Landkarten und in die Erinnerung verbannt. Der Platz ist den Moskauern aber immer noch als Marktplatz, als sozialer Ort, in Erinnerung.
Teil des Systems der sternförmigen Magistralen Die Ploščad’ Dzeržinskogo und die Kolchoznaja Ploščad’ lagen beide auf der im Generalplan von 1935 vorgesehenen Achse nach Norden, dem Prospekt Mira, der 1935 von Mosproekt 4 bereits 29 L(lazar’) M. Kaganowitsch: Der Bau der Untergrundbahn und der Stadtplan Moskaus. Rede auf der Plenartagung des Moskauer Sowjets unter Teilnahme der Stossarbeiter des U-Bahnbaus und der Moskauer Betriebe. 16. Juli 1934. Moskau usw. 1934, S. 55–56. 30 Tyrannei des Schönen, S. 65, 167, 168; Colton: Moscow, S. 265.
181
42. Kolchosplatz 1973. Autor unbekannt, Privatbesitz. Der ehemals bedeutungsreiche Platz ist nur noch eine große Straßenkreuzung.
im Detail geplant wurde. Diese Magistrale von 3800 Metern Länge reichte von der Ploščad’ Dzeržinskogo, der „Lubjanka“, bis zum Kamer-Kolležskij Val’. Die Achse sollte von 19 auf 42 Meter verbreitert werden. Die Kolchoznaja Ploščad‘ lag auf der wichtigen Kreuzung mit dem Gartenring und wurde als Platz „ganz neu projektiert”.31 Die Architektur sollte der Bedeutung dieses vom Verkehrsaufkommen her wichtigen Platzes gerecht werden. Der Platz sollte eine Fläche von 4 Hektaren aufweisen und mit 6 bis 7 Stockwerke hohen Gebäuden umgeben sein. Richtung Sadovaja-Sucharevskaja Ulica sollten zwei Ausstellungspavillons entstehen, mit Durchgängen zu den Wohnbauten, die den Platz umfassten.32 Vor dem Krieg gab es neben einer Reihe weiterer Großprojekte in ganz Moskau, die nach 1945 nur teilweise verwirklicht wurden, auch Pläne für einen Palast der Körperkultur an der Kolchoznaja Ploščad’.33 Der Platz wurde als Teil eines Systems von Magistralen, die sternförmig vom Kreml wegliefen, entworfen. Geplant waren übrigens auch der Ausbau der Roždestvenka und der Neglinnaja als Magistralen – die erste als Teil der geplanten Durchgrünung Moskaus parkähnlich, die zweite für den Verkehr.
31 Architektura SSSR (1935) Nr. 1, S. 16–19. 32 Ebda. 33 Colton: Moscow, S. 329.
Die Pläne für den Ausbau des Platzes blieben nach dem Krieg auf dem Papier. In der Zeit der Perestrojka zeigte sich, wie wenig die Abrisse städtebaulicher Symbole unter Stalin akzeptiert waren. Nun durfte offen darüber nachgedacht werden: 1988 entwarfen Architekturstudierende aus Moskau und New York in einem gemeinsamen Sommerkurs Vorschläge für einen Turmneubau an der Kolchoznaja Ploščad’.34 Ein Hinweis auf die nach wie vor wichtige Funktion dieses zentrumsnahen Platzes am Gartenring – und darauf, dass der Turm als Wahrzeichen der Stadt im Gedächtnis immer noch präsent ist.
Bedeutungen Der Markt als Gegenwelt und Reagenzglas Nach der Revolution von 1917 wurde die Sucharevka zum Inbegriff für Schwarzmarkt und Schattenwirtschaft in der Sowjetunion.35 Der Ort behielt somit auf der geistigen Landkarte der Sowjetbürger seinen festen Platz: Wie im mythischen Denken sind Ereignisse und die Orte, wo sie stattfinden, untrennbar verbunden. Die Bedeutungen des Geschehens übertragen sich auf die Orte, und ihre Beschreibungen mischen sich mit menschlichen Hoffnungen, Werten und Absichten. 36 Die Sucharevka blieb als Erinnerungsort Teil des kollektiven Gedächtnisses. Der Markt erscheint in allen Beschreibungen als „Welt im Kleinen”, sei es nun als Gegenwelt zur Stadt oder als deren Abbild. Wie unter dem Brennglas werden hier soziale Konflikte der Zeit sichtbar. Die Märkte waren der Ort, an Gegenwelt Sucharevka dem die Menschen ihre neuen sozialen Rollenidentitäten und Interaktionsmuster, ja auch Machtverhältnisse durch den Tausch von Waren aushandelten. Besonders gut deutlich wird aus den Berichten der Zeitgenossen, dass sie die Märkte gezielt aufsuchten und sich dort ein „Bild” machten – wovon, das war vom jeweiligen Betrachter abhängig. Doch sie versuchten, den Markt zu „lesen”, ob als Welt im Kleinen oder als „Barometer“ der wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Lage des Landes.
Kommunikation Der Markt macht exemplarisch deutlich, wie ein Raum zugleich Ort und Medium von Kommunikation sein kann. Auf Märkten wurden nicht nur Waren, sondern auch Nachrichten und Meinungen umgesetzt, es waren soziale Räume, Lebensräume für Obdachlose, Waisen, Bettler, Diebe, Orte verdichteter Kommunikation. Der teilweise rechtsfreie Raum des Marktes war ein Lebensraum für Randständige. Märkte waren informelle „Abbilder der Gesellschaft” und wurden von den Zeitgenossen auch als solche wahrgenommen und interpretiert. Neben dem erlaubten wurde immer auch „unerlaubter“ Handel getrieben – ob nun wurde Diebesgut gehandelt wurde oder die Händlerinnen hatten keine Lizenz hatten. Die gewachsenen Märkte mit ihrem Menschengewühl schienen als
34 Andrej Nekrasov: Primo laboratorio progettuale estivo „marchi-columbia”. In: Metamorfosi 3 (1988), S. 68–74. 35 Heiko Haumann: Beginn der Planwirtschaft. Elektrifizierung, Wirtschaftsplanung und gesellschaftliche Entwicklung Sowjetrusslands 1917–1921. Düsseldorf 1974 (Studien zur modernen Geschichte Bd. 15), S. 46, S. 97. 36 J. Nicholas Entrikin: The Betweenness of Place. Towards a Geography of Modernity, Basingstoke 1991, S. 11.
autonome Orte öffentlichen Lebens. Verzichten konnte man nicht auf sie, aber regulieren und die „schlimmsten“ auflösen.
Verkehrte Welt: Das Land herrscht über die Stadt. Deutlich wird aus dem Schilderungen unter anderem, wie eng die Stadt auf die Gemüsebauern und Milch- oder Eierfrauen angewiesen war, die im Umland wohnten und allmorgendlich ihre Produkte auf den Moskauer Märkten und in den Strassen verkauften oder ihre Kunden direkt belieferten.37 Zwischen Verkäufern und Kunden bestand um 1920 ein Machtgefälle ganz besonderer Art: Auf dem Schwarzmarkt bündelte sich der Konflikt zwischen den Bauern, die über Lebensmittel verfügten, und den Städtern, denen das Geld fehlte, um das Nötigste zu kaufen, so dass sich ihre Töchter dafür prostituierten. Zugleich bot der Markt Raum für alle möglichen Formen von Handel, Korruption und Bereicherung zu einer Zeit des Mangels.38 Holitscher beschreibt eindrücklich, wie die Bauern mit ihren Gewinnen aus dem Lebensmittelverkauf den alten bürgerlichen Eliten die Parfümflacons und Operngläser abkauften. Der Markt wurde zum Ort, an dem sich nicht nur die sozialen Hierarchien umkehrten und symbolisches Kapital gehandelt wurde. Auch im Hinblick auf das Stadt-Land-Verhältnis war der Markt eine Gegenwelt, auch hier kehrten sich die etablierten Hierarchien um. Das Land diente der Stadt, diese Hierarchie war ökonomisch klar gegeben: Es lieferte Arbeitskräfte und stellte die Versorgung sicher. Die universelle Hierarchisierung des Verhältnisses von Stadt und Land war selten so deutlich wie einige Jahre später zur Zeit des Ersten Fünfjahrplans und der Zwangskollektivierung, genau zu dem Zeitpunkt, als der Markt aufgelöst wurde.39 Besonders deutlich drückte die stalinistische Ikonografie die hierarchische Beziehung von Arbeiter und Bäuerin aus. Hammer und Sichel waren männlich und weiblich besetzt. Das Dorf war in den sowjetischen Vorstellungswelten weiblichen Geschlechts, vertreten durch die abergläubische Baba im Kopftuch.40 Die auf Plakaten der Stalinzeit gefeierten Traktoristinnen verletzten alle gängigen Stereotype und hatten im Alltag gegen große Widerstände zu kämpfen. Als Propagandafiguren waren sie wohl gerade wegen des „verkehrte Welt“–Effektes entworfen worden. Sie demonstrierten die Macht des Sozialismus, der selbst „Naturgesetze“ wie die weibliche Schwäche umkehren konnte. Denn die technisierten Bereiche der Landwirtschaft waren den Männern vorbehalten, Frauen blieben typischerweise Melkerinnen.41 Technik und Industrialisierung verkörperten den (männlichen) Fortschritt und die Kraft, das Land galt als rückständig. Arbeiter galten mehr als Bauern.
37 Ein eindrückliches Beispiel aus der Nachkriegszeit ist beschrieben bei Edmund Stevens: This is Russia – Uncensored. New York 1950: Der Sommerurlaub bei „Tante Dascha”. 38 Haumann: Planwirtschaft, S. 153; L. Galin: Sowjet-Russland in der Wirklichkeit, Stuttgart 1920, S. 37f und S. 61. 39 Mit der starken Zuwanderung durch Zwangskollektivierungen und Landflucht sowie durch die Proletarisierungskampagnen Ende der 20er Jahre wurden die Städte bäuerlich. David L. Hoffmann: Peasant Metropolis. Social Identities in Moscow, 1929–1941. Ithaca usw. 1994. 40 Vgl. auch Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. III. Band: Sowjetische Moderne und Umbruch. Zürich 2005, S. 102–103. 41 Goehrke: Sowjetische Moderne und Umbruch, S. 318–319.
183
Tod den Bauern – Es lebe die Kolchose Der Markt fiel der Stadt-Land-Hierarchie während des Ersten Fünfjahrplans zum Opfer: Die Sucharevka diente auch der städtischen Versorgung durch die Gemüse-, Milch- und Eierproduzenten im unmittelbaren Umland. Die staatliche Planwirtschaft strebte mit der Kollektivierung ein ganz anders dimensioniertes ökonomisches Modell an. Die Schließung der Märkte nahm den Kleinbauern ihre Lebensgrundlage, den Städtern aber auch. Der neue Name „Kolchoznaja Ploščad’“ spielte symbolisch auf diese Komponente an, indem er den Platz quasi in sein Gegenteil umbenannte. Die industrialisierte Landwirtschaft blieb jedoch Zukunftsmusik. Die Hungersnot gelangte in die Städte. Auf den 1932 zur Behebung der schlimmsten Engpässe eingeführten Kolchosmärkten durften ausschließlich Bauern ihre zu Hause erzeugten Waren selber verkaufen. Wiederverkäufer galten als „Spekulanten“. Zwischenhandel war streng verboten, wurde in der Realität aber immer auch praktiziert. Der Markt repräsentierte das „Land“ in der Stadt, wenn die Bauern hier ihre Produkte verkauften. Die Abschaffung des Marktes tilgte den Ort des Landes in der Stadt und markierte symbolisch die Wende der Stadt-Land-Beziehungen während des Ersten Fünfjahrplans und die Hegemonie der Stadt über das Land, die neben der Kollektivierung der Landwirtschaft auch in der forcierten Industrialisierung und den Großprojekten ihren Ausdruck fand. Die sowjetische Zivilisation definierte sich als urbane Kultur.
Machtverhältnisse
Gegenwelt Sucharevka Das Beispiel illustriert, wie verschiedene Ebenen von Machtverhandlungen aussehen konnten. Die Obrigkeit schloss den Markt auf der Sucharevka und ließ ihn wieder zu, errichtete ein Verwaltungsgebäude und feste Buden, reglementierte die Märkte durch die Organisation von Komitees, kontrollierte sie durch gewaltbereite Milizionäre und Razzien. Regiert wurde hier ausschliesslich „von oben“, Mitbestimmung gab es praktisch keine: Nicht nur die Händlerinnen waren auf den Markt angewiesen, sondern auch die Kunden. Razzia als Ritual Die von Arthur Holitscher geschilderte Szene einer Razzia auf der Sucharevka weckt Assoziationen zu Clifford Geertz‘ Schilderung einer Razzia, die er bei der Beobachtung eines Hahnenkampfes auf Bali miterlebte.42 In wilder Flucht retten sich die Händler mit ihrer Ware in die Nebenstrassen und der Berichtende mit ihnen, bis nur noch einige Papiere über den leergefegten Platz wehen. Falscher Alarm. Kurze Zeit später setzt das Markttreiben wieder ein, wie wenn nichts geschehen wäre. Die Razzien und Milizkontrollen gehörten zum Inventar der Marktbeschreibungen bei Holitscher, Mandel’štam und Kisch, ebenso wie der illegale Handel, Diebstahl und Betrug. Sie erscheinen als ritualisierte Form, in der sich Miliz, Händler, Käufer, Diebe und Bettler die Machtbeziehungen gegenseitig in ihren Rollen bestätigten. In der Fluchtszene vor der dann doch nicht stattfindenden Razzia und der sofortigen Rückkehr des Marktvolkes drückt sich das Verhältnis von Staatsmacht und Gesellschaft aus. 42 Clifford Geertz: Deep Play. Notes on the Balinese Cockfight. In: Ders.: The Interpretation of Cultures. Selected essays. London 1993, S. 412–453, hier S. 414–415.
Ausmerzen: Aus dem Auge, aus dem Sinn? Auf der Alltagsebene war der Umgang mit den Vertretern der Staatsgewalt ein Stück weit ritualisiert. Um die Schließung des Marktes und ein neues ökonomisches Modell in einer Zeit von Hunger und anhaltender Mangelwirtschaft durchzusetzen, war aber offenbar die städtebauliche Veränderung, oder besser: Vernichtung des Platzes notwendig, einschließlich des symbolisch besetzten Turmes und seines Namens. Der Abriss des Turmes sollte sowohl den Turm wie auch den Markt als Symbole der alten Ordnung aus dem Gedächtnis der Stadt und als Handlungsplattform für die Menschen löschen. Der neue Name verkündete das neue Modell, mit dem Turm schwand das alte, „kaufmännische” Moskau. Durch die Vernichtung von Orten sollten gesellschaftliche Verhältnisse verändert und Probleme behoben werden. Der komplexe Vorgang erhielt durch provokante Nacht-und-Nebel-Aktionen einen propagandistischen Effekt Welche Erkenntnisse bringt die Frage nach dem Verhältnis von Planung, Bau, Nutzung und Bedeutung des Ortes? Dabei fällt zunächst auf, dass der erste Versuch eines ordnenden Eingriffs durch Konstantin Mel’nikovs Planung und Bau von Ständen und Verwaltungsgebäude aus dem Jahr 1925 keine Spuren im Gedächtnis der Stadt hinterlassen hat. Die Beschreibungen beharren auf dem chaotischen Charakter des Marktes und seinem hohen Alter. Die Bauten vermochten das zeitgenössische „Bild“ des Marktes nicht zu verändern. Sie verschwanden mit der Schließung des Marktes und sind heute nur noch in Mel’nikov-Monographien anzutreffen. Im Gegensatz zum Abriss des Turmes ist nirgends vom Abriss des Verwaltungsgebäudes mit seiner Bar die Rede. Der Abbruch des Turms war ein weiterer Teil von Stalins „Abbruchplan“, der Teil des Generalplans war. Es blieb beim Abbruch und der Beseitigung des Marktes. Die grandiose Magistrale erreichte den Platz baulich nie, lediglich in Form von Verkehrsströmen. Erinnert werden immer noch der Turm und der Markt. Denn nach dem Abriss des Turmes und der Umbenennung ist an dem Ort nur noch geplant, aber nicht mehr gebaut worden.
185
Mythos Arbat
Mythos Arbat Arbat – Der alte und der neue Arbat Der alte Arbat war eine traditionsreiche Geschäftsstrasse, die sich durch das Arbat-Viertel mit seinen alten Häusern und seinen verwinkelten Gassen zog. Aber der Arbat war auch Kult: „Arbat, das ist für die Moskauer von jeher nicht nur eine geographische Bezeichnung, der Arbat steht als Symbol für die Tradition einer Metropole europäischen Zuschnitts, für ein Moskau, dessen Dichter, Künstler und Kaufleute in engem Verkehr mit Berlin und Paris standen und dennoch ihre eigene Lebensart bewahrten.“ Auf dem alten Arbat lebten zahlreiche bedeutende russische Künstler und Dichter, er hat heute zwar musealen Charakter, spielt aber als Erinnerungsort für die Moskauer Identität eine wichtige Rolle. Manche behaupten sogar, die gesamte Geschichte Russlands lasse sich an einem Kilometer Arbat zeigen. Im 14. bis 16. Jahrhundert befand sich hier eine „Vorstadt“. Im 16. Jahrhundert führte die große Handelsstrasse nach Westen, nach Smolensk, durch den Arbat. Großfürstliche Handwerker lebten hier vor den Toren der Stadt, aber auch Dienstleute und Strelitzen. Gutspaläste des Moskauer Adels entstanden. Autarke Güter reihten sich aneinander, hin und wieder unterbrochen von kleineren Häusern des Nicht-Dienstadels und der Handwerker. Die Strassen und Gassen folgten den Krümmungen der Flüsschen, die lange Zeit nicht unterirdisch kanalisiert waren: So auch der Čertoryij. Die nahe gelegene Gasse heißt auch heute noch Čertol’skij Pereulok. An dem hohen Ufer erhoben sich die Festungsmauern, die die Weiße Stadt gegen die Vorstadt abgrenzten. In den Čertoryij floss das Flüsschen Sivka: Der Straßenname Sivcev Vražek erinnert an das einst freie und nun kanalisierte Gewässer. Zur Moskva hin gab es weite Äcker und Schwemmwiesen. Der Name Ostoženka (Heumiete) erinnert an die Wiesenlandschaft am linken Moskvaufer. Das berühmte Gemälde von Polenov aus dem Jahr 1878 mit dem Titel „Moskauer Hof“ gibt einen Eindruck davon und ist eine Ikone dieses idyllischen Genres. Im 18. Jahrhundert setzte sich der Name Arbat für eine einzige Strasse durch. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts galt der Arbat als eine der aristokratischsten Strassen Moskaus. Beim großen Feuer, das die Stadt im Jahr 1812 verwüstete, brannte das Viertel ab und wurde im Empire-Stil wieder aufgebaut. Später im 19. Jahrhundert ließ sich das Grossbürgertum hier nieder, reiche Kaufleute bauten sich Jugendstilhäuser. Seit dem 18. Jahrhundert gab es zwei große Märkte, einen an jedem Ende der Arbatstrasse: Den Markt auf dem Arbatplatz und den Smolensker Markt. Der Chronist des „alten Moskau“ Vladimir Giljarovskij hat diesen Markt folgendermaßen beschrieben: „Sucharevka ist eine Tochter des Krieges, der Smolensker Markt ist ein Sohn der Pest. Er ist fünfunddreißig Jahre älter als Sucharevka und wurde 1777 geboren. Nach der Moskauer Pest gab die Obrigkeit die Anordnung heraus, dass gebrauchte Sachen lediglich auf dem Smolensker Markt verkauft werden durften, und das auch nur sonntags, um die Ansteckungsgefahr zu vermindern.“ Hans-Henning Schröder: Die Spiele der Kinder des Arbat, oder: „Wohin schaut eigentlich die Miliz?“, in: Osteuropa 38 (1988) Nr. 1, S. 81–86; Sigurd Smidt: Arbat v istorii i kul’ture Rossii. In: Arbatskij archiv. Istoriko-kraevedčeskij al’manach. Vypusk I. Hg. von Sigurd Šmidt. Moskau 1997, S. 17–121, hier S. 17 und S. 30. Immanuil’ Levin: Arbat. Odin kilometr Rossii. Moskva 1997; Šmidt: Arbatskij Archiv. Šmidt: Arbatskij Archiv, S. 26–27. Sigrun Bielfeldt: Moskau. Der literarische Führer. Frankfurt a. M. 1993, S. 139. Abb. im Kapitel „Höfe und Heterotopien“, S. 283. Schröder: Spiele, S. 81. Wladimir Giljarowski: Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen. Sittenbilder aus dem alten Moskau. Berlin 1988 (Moskva i moskviči, 1934), S. 54.
187
Im 19. Jahrhundert lebte in diesem Gebiet auch der verarmte und nicht am Hof in Petersburg dienende Adel. Das Viertel galt als Brutstätte reformerischer Ideen, hier lebten die Revolutionäre und Schriftsteller Aleksandr Ivanovič Herzen (1812–1870) und Nikolaj Platonovič Ogarev (1813– 1877), welche zwischen 1857 und 1868 die Zeitschrift „Kolokol“, die Glocke, herausgaben sowie der Anarchist und Forscher Fürst Petr Alekseevič Kropotkin (1842–1921). Die heimlichen Moskauer Zirkel von Schellinganhängern, Pietisten und Rosenkreuzern trafen sich in privaten Salons. Am „Hundeplätzchen“ fanden in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre im Haus der Sverbeevs freitags stadtbekannte literarische jours-fix statt. 1832 wohnte Puškin im Haus Nr. 53 der Arbatstrasse, und Andrej Belyj lebte um die Jahrhundertwende im Haus Nr. 55. In seiner Wohnung traf sich der literarische Zirkel der Symbolisten.10 Heute befindet sich hier ein Museum. Einen Einschnitt bedeutete um 1900 der Bau zahlreicher grosser Jugendstil-Mietshäuser im ganzen Viertel. Die Wohnungen boten allen Komfort und vor allem eine gute Heizung. Hier ließen sich Ärzte, Ingenieure und Gymnasiallehrer nieder: Eine solide, bildungsbürgerliche Mittelschicht mit einem an einheitlichen Werten orientierten Lebensstil, Spiegel der sich verändernden Zeiten. Nach 1917 begann die „Auffüllung“ (uplotnenie) der großen Mietwohnungen. Die überwiegende Lebensform wurde nach der Revolution und dem Ende des Bürgerkrieges 1921 die kommunal’ka, die Gemeinschaftswohnung: In den großen Wohnungen der verstaatlichten Jugendstilhäuser lebten nun jeweils mehrere Familien, die sich Bad und Küche teilten. Eine hervorragende Beschreibung solcher Wohnverhältnisse liefert der amerikanische Journalist William C. White, der 1929 bis 1932 im Arbatviertel lebte. Er mietete sich ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung und schildert das Universum der kommunal’ka. Die Familien lebten zusammengedrängt in ihrem Zimmer. Weil die Hausarbeit ohne die heute selbstverständlichen technischen Hilfsmittel viel Zeit und Arbeit in Anspruch nahm, hatten die Familien Dienstboten, häufig eine Verwandte vom Dorf. Diese Dienstboten Mythos Arbat schliefen im Korridor, in dem manche der Bewohner auch tagsüber ihre Matratzen abstellten.11 Angesichts dieser Wohnverhältnisse hielten sich die Menschen oft draußen auf, auf der Strasse oder in den öffentlichen Parks, deren Bänke immer gut besetzt waren. Eine Innensicht der Erfahrung von Enteignung geben die Tagebücher Marina Cvetaevas aus den Jahren 1917–1922. Marina Cvetaeva (1892–1941) war seit 1912 mit dem Offizier der Weißen Armee Sergej Efron verheiratet. Beim Versuch, ihre beiden Kinder im Oktober 1917 in den Tagen der Revolution aus Moskau nach dem Süden zu holen, war Marina Cvetaeva in Moskau stecken geblieben. Sie schildert, wie sie im Dachzimmer ihres nach der Revolution in eine Gemeinschaftsunterkunft verwandelten Hauses am Borisoglebskij pereulok Nr. 6 mit ihren beiden Kindern Alja, geboren 1912 und Irina, geboren im April 1917, lebte.12 Um zu heizen, sägte sie Balken aus dem Dachboden und hackte sie klein. „Ich lebe von den kostenlosen Mittagessen (für die Kinder). Die Frau des Schusters Granskij – mager, dunkeläugig, mit einem schönen Lei1 Bielfeldt: Moskau, S. 140. 1 Šmidt: Arbatskij Archiv, S. 61. 10 Bielfeldt: Moskau, S. 140–141; Levin: Arbat, S. 173; Beschreibung eines Treffens bei Belyj 1906 von Johannes von Guenther: Ein Leben im Ostwind. München 1969, zitiert in: Reise nach Moskau, S. 239–240. 11 William C. White: So lebt der Russe. Köln 1932, S. 8 ff., ähnlich auch Egon Erwin Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken. Berlin (Ost) usw. 1977, S. 54 ff. Für weitere Literatur zur Kommunal’ka vgl. Philipp Pott: Zu Hause nie allein. „Kommunales“ Wohnen. In: Moskau. Menschen, Mythen, Orte. Hg. von Monica Rüthers und Carmen Scheide. Köln usw. 2003, S. 92–99. 12 Irina wird im Februar 1920 in einem Kinderheim in Kuncevo an Unterernährung sterben.
densgesicht – Mutter von fünf Kindern – schickte mir vor kurzen durch ihre älteste Tochter Essensmarken (eine ihrer Töchter war in die Ferien-Kolonie gefahren) und ein süßes ‚Hefebällchen’ für Alja. Frau G-man, die Nachbarin von unten, schickt den Kindern von Zeit zu Zeit Suppe und ‚lieh’ mir heute mit aller Gewalt den dritten Tausender. Sie selbst hat drei Kinder. (…) Sie hilft mir anscheinend hinter dem Rücken ihres Mannes, dem als Juden und Erfolgsmenschen ich – in deren Haus alles, außer der Seele, erstarrte und nichts, außer den Büchern – erhalten blieb -, dem ich natürlich nichts anderes als ein Ärgernis sein kann.“13 Die neuen Nachbarschaften bildeten neuartige soziale Netzwerke, neue soziale Räume, auch für Konflikte. In den zwanziger Jahren lebten zahlreiche Angehörige der Parteiintelligenz im Arbatviertel, viele davon waren lettischer und jüdischer Herkunft.14 Doch die herrschende Elite wohnte nicht hier, sondern in anderen Teilen des Zentrums und im Kreml. Der Arbat blieb der gebildeten Mittelschicht vorbehalten, es gab nur einige wenige Häuser, die gänzlich von Angehörigen des Partei- und Regierungsapparates bewohnt waren – so etwa das dom komandirov am Bol’šoj Rževskoj Pereulok. Hier hatte jede Familie eine Wohnung für sich allein. Zur Zeit des Ersten Fünfjahrplans (1928–1932) lebten zahlreiche so genannte „Spezialisten“ auf dem Arbat: Ingenieure und Wissenschaftler, eigentlich Angehörige der alten Mittelschicht, die mit den kommunistischen Machthabern zusammenarbeiteten. Ein Teil der alten Einwohnerschaft hatte sich mit dem neuen System arrangiert, und die jüdische Intelligenz zog das neue Regime den Pogromen, Ansiedlungs- und Ausbildungsbeschränkungen der Zarenzeit vor.15 Der hohe Anteil von Juden in der Verwaltung hing mit der Freizügigkeit und der Statusverbesserung zusammen, die ihnen die Revolution brachte, sowie mit ihrem hohen Alphabetisierungsgrad und ihren beruflichen Fähigkeiten. Sie waren im Russischen Reich die eigentlichen „Stadtbewohner“ gewesen, die Adelsgüter verwaltet, Handel getrieben, Unternehmen gegründet und sich gebildet hatten. Wegen der Ansiedlungsbeschränkungen hatten sie bis 1917 bis auf wenige Ausnahmen (Kaufleute der Ersten Gilde) nur in den Städten der westlichen, litauischen, weißrussischen und ehemals polnischen Gouvernements wohnen dürfen. Der Wohnungsmangel traf nicht alle gleichermaßen. Wegen der aristokratischen und intellektuellen Prägung der vorrevolutionären Zeit hatte das Arbatviertel in den zwanziger Jahren eine große Anziehungskraft auf intellektuelle Moskauer. Es galt als tichyj centr, „zentral, doch ruhig gelegen“. Eine Adresse hier war äußerst prestigeträchtig. Die auffälligste davon findet sich am Krivoarbatskij Pereulok Nr. 10: Das Atelierhaus des konstruktivistischen Architekten Konstantin Mel’nikov, 1929 erbaut. Das einzige Einfamilienhaus im Zentrum Moskaus wurde durch seine eigenwillige Form weltberühmt. Es besteht aus zwei ineinander geschobenen Zylindern und hat rautenförmige Fenster, die sich über die runde Fassade verteilen. Heute lebt Mel’nikovs Sohn, ein Maler, in dem sanft renovierten Gebäude, das als Ikone der Avantgarde der zwanziger Jahre gilt. Eine weitere Ausnahme von der Lebensform Gemeinschaftswohnung bildeten die Bauten des ersten Fünfjahrplans. Für die Eliten aus Partei, Wirtschaft und Kultur entstanden in den ruhigen Gassen des Arbatviertels luxuriöse Wohnblöcke, komfortable Hotels und eigene Polikliniken und Schulen. Der Arbat wurde für sie zum vornehmen Schlafquartier.16 Doch der Schlaf war nie 13 Marina Zwetaewa: Auf eigenen Wegen. Frankfurt a. M. 1991, S. 111–112. 14 Vgl. Hierzu die Auswertungen der Volkszählungen von 1936 und 1939 durch Alain Blum: Changer la ville, changer l’homme. In: Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 73–92, hier S. 86–89. Vgl. auch Zwetaewa: Auf eigenen Wegen, S. 59. 15 G.S. Knabe: Arbatskaja Civilizacija i arbatskij mif. In: Moskwa i moskovskij tekst russkoj kultury. Hg. Von G(regorij) S(tepanovič) Knabe. Moskau 1998, S. 137–197, hier S. 163. 16 Levin: Arbat, S. 25. G. Vešninskij: Sockul’turnaja topografija moskvy ot 1970-ch k 1990-m. In: Moskva i moskovskij
189
sorglos. Im kooperativ gebauten Wohnheim am Naščokinskij Pereulok 3–5 quartierte Stalin die „Ingenieure der Seele“ ein, die Schriftsteller. 1933 bekam Osip Mandel’štam (1891–1938) hier die einzige richtige Wohnung, die er je hatte. Von hier wurde er in der Nacht zum 14. Mai 1934 abgeholt. Nach der Verbannung kehrten die Mandel’štams 1937 zurück, bevor er zum zweiten Mal verurteilt wurde. Mandel’štam starb 1938, wahrscheinlich in einem Durchgangslager. Auch Michail Bulgakov (1891–1940), der Autor des satirischen Moskau-Romans „Der Meister und Margarita“, lebte hier bis zu seinem Tod.17 Der Roman wurde erst 1966 in gekürzter Form veröffentlicht und erlangte in den achtziger Jahren Kultstatus, als eine Auseinandersetzung mit der sowjetischen Realität der zwanziger und dreißiger Jahre möglich wurde. Das Haus der Schriftsteller wurde in den siebziger Jahren abgerissen. Damit wurde unter Brežnev auch ein potenzieller Erinnerungsort aus dem Gedächtnis der Stadt gelöscht.
Eine Geschäftsstrasse, Plätze und Märkte Die Geschichte des Marktwesens ist von Interesse, weil es im Arbatviertel gleich zwei wichtige Märkte gab, und weil das Viertel eine klassische Einkaufsgegend war und ist. Auf Märkten werden aber nicht nur Waren, sondern auch Nachrichten und Meinungen umgesetzt, es sind soziale Räume, Orte verdichteter Kommunikation. Neben dem erlaubten wurde immer auch unerlaubter Handel getrieben, Märkte sind schwer zu kontrollieren. Der Arbat war nicht nur Wohnquartier, sondern die Arbatstrasse selbst galt als eine der zentralen Geschäftsstrassen Moskaus, wo man sehr gut einkaufen konnte. Levin, der am Arbat aufwuchs, berichtet, man habe in den dreißiger Jahren das Viertel gar nicht verlassen müssen um alles Lebensnotwendige einzukaufen. Es habe vier Bäckereien gegeben, den „Gastronom“ an der Smolenskaja sowie Mythos Arbat weitere Lebensmittelgeschäfte etwa für Fisch oder Wurstwaren. Einzigartig und stadtbekannt sei das Geschäft mit orientalischen Süßwaren gewesen, dessen Interieur nach den Geschichten Scheherazades aus 1001 Nacht gestaltet war. Es gab eine Parfümerie, ein Juweliergeschäft, das erste dieta-Geschäft der Stadt,18 zwei Fotografenateliers, einige Volksküchen, Imbisstuben, Cafés, das Restaurant „Praga“, zwei Apotheken, einen Getränkeladen, zwei Schreibwarengeschäfte, einige Polikliniken, drei oder vier Frisörsalons, zwei Sparkassen, einige Gemüseläden, ein Elektrogeschäft, eine Galanterie, verschiedene Handwerksbetriebe, eine chemische Reinigung und Reparaturwerkstätten für Schuhe, Uhren oder Kleider.19 Die soziale Ausdifferenzierung der dreißiger Jahre, die das Restaurant und die Polikliniken nur einer privilegierten Bevölkerungsschicht zugänglich machte, geht in dieser Schilderung interessanterweise unter. Das ist wohl eine der Folgen der späteren Stilisierung des Viertels. Während der NĖP-Zeit gab es in den vielen Sälen des Restaurant „Praga“ ein Nachtlokal mit Spieltischen und tagsüber eine Volksküche. In den dreißiger Jahren wurde es zur „geschlossenen Kantine“ für die Angehörigen umliegender Institute. tekst russkoj kultury. Hg. von G. S. Knabe. Moskau 1998, S. 198–225, hier S. 203–204. O. E. Truščenko: Prestiž centra. Gorodskaja social’naja segregacija v Moskve. Moskva 1995. 17 Alexis Berelowitch: Peredelkino: le village des écrivains. In : Moscou 1918–1941. De „ l’homme nouveau “ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 199–212, hier S. 206–207. 18 Dieta-Läden waren Feinkost-Geschäfte. Die Produkte hier waren etwas besser und auch teurer als in normalen Lebensmittelläden. 19 Levin: Arbat, S. 22.
43. Smolensker Markt Anfang 1920er Jahre, Ščusev-Architekturmuseum II–1730. Märkte wie auf dem Arbatplatz und der Smolenskaja gab es auf den meisten innerstädtischen Plätzen, sie dienten der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Gebrauchsgütern. 1922 wurden die Moskauer Märkte legalisiert und von da an auch kontrolliert.
Eine Szene aus dem Roman „Doktor Živago“ von Boris Pasternak, für den er 1958 den Literatur-Nobelpreis erhielt, blendet die Revolutionszeit ein, in der die Lebensverhältnisse in der Stadt so schwierig wurden, dass viele Menschen wieder in ihre Dörfer zurückkehrten: „In der Erinnerung kam es ihm vor, als hätten sich damals, im Herbst 1917, die Menschen nur aus Gewohnheit auf dem Smolensker Markt zusammengedrängt. Es gab nämlich nicht den geringsten Grund, sich dort aufzuhalten: die Läden waren geschlossen, die Schaufensterauslagen leer, und auf dem schmutzigen Platz, wo die Abfälle sich häuften, gab es nichts, was man hätte kaufen können. Dennoch hatte er – so schien es ihm später – zum ersten Mal auf den Trottoirs jene sauber gekleideten alten Frauen und Männer bemerkt, die den Vorübergehenden mit einem stummen Vorwurf im Blick wortlos etwas zum Verkauf anboten, das niemand brauchen konnte und haben wollte: künstliche Blumen, runde Spirituskocher zum Kaffeekochen mit Glasdeckeln und kleinen Dampfpfeifen, Abendkleider aus schwarzer Gaze, Uniformen ehemaliger Behörden und Ministerien. Das einfachere Publikum handelte mit Dingen, die man nötiger brauchte: mit harten Schwarzbrotrinden, mit schmutzigen, feuchten Zuckerstücken, und mit kleinen Tabakpäckchen, die man in Hälften aufteilte, dem so genannten Machorka. Auf dem ganzen Markt verkaufte man einen unsagbaren Plunder, dessen Preis immer mehr anstieg, da die Ware von Hand zu Hand ging.“20 Das symbolische Kapital der gehobenen Lebensführung fand damals offenbar noch nicht wie 1920 auf der Sucharevka seine Abnehmer, oder der Autor bemerkte sie nicht und nahm nur die scheinbare Absurdität der von den „Ehemaligen“ angebotenen „nutzlosen“ Dinge wahr. In diesem Angebot und in den Anbietenden selbst, ihrer Haltung und ihren Blicken spiegelte sich der Machtverlust der ehemaligen Eliten durch die Revolution. 20 Boris Pasternak: Dr. Schiwago, zit. nach: Reise Textbuch Moskau, S. 94–95.
191
Die schlechte Versorgungslage zehrte an den Kräften. Marina Cvetaeva schrieb 1918: „Ich laufe ins Kommissariat. Um neun Uhr müssen wir dasein, – es ist schon elf: ich stand in der Kudrinskaja nach Milch an, in der Powarskaja nach Stockfisch und auf dem Arbat nach Hanföl“, und 1919: „Die Marschroute: in den Kindergarten (Moltschanowka 34), das Geschirr hinbringen, – über die Starokonjuschennyj in die Pretschistenka (die ‚erhöhte’ abholen), von dort in die Prager Speisehalle (auf die Marken von den Schusterleuten), aus der Prager (der sowjetischen) in die ehemalige Generalowa – geben sie wirklich Brot aus? -, von dort wieder in den Kindergarten, das Mittagessen abholen – von dort – durch den Hintereingang, behängt mit Krügen, Einsatzschüsseln und Blechbüchsen – keinen Finger frei! und noch dazu die Angst: die Tasche mit den Essensmarken ist doch nicht etwa aus dem Korb herausgefallen?! – durch den Hintereingang nach Hause. – Sofort an den Ofen. Die Kohlen glimmen noch. Ich fache sie an. Wärme das Essen wieder auf. Alle Mittagessen – in eine Kasserolle: eine Suppe so ähnlich wie Kascha. Wir essen. (War Alja mit mir fort, binde ich als erstes Irina vom Stuhl los. Ich begann sie anzubinden, seit sie einmal in Abwesenheit von Alja und mir einen halben Kopf rohen Kohl aus dem Schrank aufgegessen hatte).“21 Die maršrut vermass das Wohnviertel der ehemals privilegierten, gebildeten Schriftstellerin unter den neuen Lebensbedingungen völlig neu. In einem anderen Eintrag schildert sie, wie sie einen Schlitten mit erfrorenen Kartoffeln von ihrer Arbeitsstelle nach Hause schleppte. „Ich habe Angst vor den Plätzen. Am Arbatplatz führt kein Weg vorbei. Ich könnte von der Pretschistenka aus durch die Gassen gehen, aber da würde ich mich verirren. (…) Alles, bis hin zum Gesicht, ist bespritzt. Ich sehe nicht besser aus als mein Sack. Die Kartoffeln und ich, wir sind jetzt eins. (…) ‚Ja wohin re-ennst du denn? Ist denn so was möglich – mitten in die Leute rein?! Bourgeoise, ungeschwänzte!’ ‚Ja natürlich ungeschwänzt, – nur Teufel haben Schwänze!’ Gelächter rundherum. Der Soldat gibt Mythos Arbat keine Ruhe: ‚Da schau her, die Bourgeoise, ein Hütchen hat sie sich übergestülpt! Aber sich das Gesicht waschen…’ Ich, im selben Tonfall, auf seine Wickelgamaschen zeigend: ‚Da schau her, Fußlappen hat er sich umgehängt!’ Das Gelächter schwillt an. Ich möchte mir den Wortwechsel nicht entgehen lassen und bleibe stehen, so als ob ich den Sack zurechtrückte. Der Soldat gerät außer sich: ‚Oberklasse nennt sich das! Intelligenzija! Ohne Diener können sie sich nicht mal das Gesicht waschen!’ Eine Bauersfrau, kreischend: ‚Da gib du erst mal Seife her! Wer hat denn die ganze Seife aufgewaschen? Weißt du, was sie auf der Sucharevka kostet?’ Einer aus der Menge: ‚Woher soll er das wissen? Er kriegt ja staatliche! Und Sie, mein Fräulein, ziehen Kartoffeln?’ ‚Ja, gefrorene. Auf der Arbeitsstelle haben sie welche ausgegeben.’ ‚Versteht sich, gefrorene,- die guten brauchen sie ja für sich selbst! Kann ich ihnen helfen?’ Er schiebt an, die Riemen spannen sich, ich gehe los. Hinter mir die Stimme der Bäuerin – zum Soldaten:
21 Zwetaewa: Auf eigenen Wegen, S. 62 und S. 114.
‚Was ist dabei, dass sie einen Hut trägt, ist sie deshalb vielleicht kein Mensch, wie?’ Er rä-so-ni-iert!“22 Der Kartoffeltransport macht sehr schön deutlich, wie die Strasse, vor allem die Plätze, Orte kleiner Öffentlichkeiten waren. Das Kommunikationsmuster erinnert an den Dorfplatz, wohl nicht von ungefähr, waren doch die meisten Bewohner erst kürzlich vom Land zugewandert. Wie der Nachbarschaftsklatsch oder der Freundeskreis waren die öffentlichen Plätze Orte kleiner Interaktionen, an denen die Leute ihre Meinung bilden und äußern konnten, und zwar einander gänzlich unbekannte Rollenträger, Vertreterinnen unterschiedlicher sozialer Schichten: Die „bourgeoise“ Intelligenzlerin, der Soldat, die Bauersfrau, der „Kavalier“. Hier interagierten Individuen und vertraten die „Gesellschaft“ gegenüber einem Vertreter der Staatsmacht, dem Soldaten. Marina Cvetaeva musste sich nicht nur die sozialen Netzwerke in der Nachbarschaft und am Arbeitsort neu erschaffen, sondern auch ihre Handlungsräume innerhalb des Viertels veränderten sich tief greifend. Neue individuelle Überlebensstrategien wurden notwendig, der Tag hatte neue Wege, die Verhältnisse von Raum und Zeit hatten sich gewandelt. Die Suche nach Nahrung bestimmte die Wege und den Tagesablauf. Die Krätze ging um in Moskau. Marina Cvetaeva reflektierte den Prozess der Umwälzung und Neufindung der Rollenidentitäten, der alle Bevölkerungsschichten erfasste und versuchte, ihn in ihrem Tagebuch in Worte zu fassen. Der Schriftsteller und Publizist Alfons Paquet, der 1918 als einer der ersten deutschen Korrespondenten ins nachrevolutionäre Moskau kam, schrieb darüber: „Moskau ist durchströmt von Proletariat. Niemand ahnte früher, dass das Proletariat so zahlreich sei. Revolutionen aber scheinen Proletariat förmlich zu erzeugen. Auch Großkaufleute, Grafen, Offiziere, Staatsräte nämlich werden Proletarier; sie verarmen oder treiben Mimikry, tragen die Bauernmütze und das blaue Kragenhemd, gehen im rauhen Soldatenmantel mit bärtigen fahlen Gesichtern.“23 In Anlehnung an heutige theoretische Modelle von Grenzen, Performanz und Hybridität kann man hier mit der Frage nach den Prozessen der Grenzüberschreitungen und Identitätsformungen anknüpfen. Der gesellschaftliche Umwälzungsprozess im nachrevolutionären Russland riss die Menschen aus ihren Verhältnissen. Der Wandel, der sich unmittelbar in den Lebenswelten vollzog, überstieg das Fassungsvermögen vieler. Ihnen gelang es nicht, sich neue Rollen anzueignen. Marina Cvetaeva traf eines Tages eine ehemalige Lehrerin: „Hungriges Gedränge auf der Ochotnyj-Zeile. Sie verkaufen Karotten und himbeerfarbene Zwergtrappen, widerliche, auf Kartonuntersätzen. Die, die sich noch nicht aufgegeben haben, rennen hin und her, die hoffnungslosen schleppen sich herum. Plötzlich – ein bekannter Hinterkopf: etwas Seltenes, Dunkelblondes…Ich hole auf, sehe näher hin: milchige Augen, eine traurige, rötliche Adlernase – das Fräulein. Meine Deutschlehrerin aus meinem letzten Gymnasium. ‚Guten Tag, Fräulein!’ – Ein erschrockener Blick. – ‚Erkennen Sie mich nicht? Zwetaewa. Aus dem Brjuchanenko-Gymnasium.’ Und sie, besorgt: ‚Zwetaewa? Wo setze ich Sie bloß hin?’ Und, stehen bleibend: ‚wo setze ich Sie bloß hin?’ (…) Das hatte er nicht ausgehalten – der deutsche Verstand!“24 Diese ältere Frau konnte die neuen Erlebnisse nicht verarbeiten und ordnete ihre Wahrnehmungen früher gültigen, jetzt aber „abgelaufenen“ Schemata zu.
22 Zwetaewa: Auf eigenen Wegen, S. 86–87. 23 Alfons Paquet: Gesammelte Werke. Stuttgart 1970. Zitiert nach: Reise nach Moskau, S. 53–54. Zu Alfons Paquet vgl. Gerd Koenen: Ein „Indien im Nebel“. Alfons Paquet und das revolutionäre Russland. In: Osteuropa 55 (2005) Nr. 3, S. 80–100. Hier auch weitere Literaturangaben. 24 Zwetaewa: Auf eigenen Wegen, S. 179–180.
193
Wenige Jahre später, während der NĖP im Winter 1926, schien der Smolensker Markt dem Besucher Walter Benjamin ganz normal. „Ich ging den ganzen Arbat entlang und kam auf den Markt am Smolensk-Boulevard. Es war an diesem Tage sehr kalt. Ich aß im Gehen Schokolade, die ich unterwegs mir gekauft hatte. Der Markt war mit Weihnachtsbuden, Spielzeug- und Papierständen in seiner ersten Reihe bestanden, die an der Strasse entlanglief. Dahinter Verkauf von Eisenwaren, Wirtschaftsartikeln, Schuhen u.s.w. Er ähnelte etwas dem Markte an der Arbatskaja Ploschtad, nur waren glaube ich keine Lebensmittel hier. Noch ehe man aber an die Buden gelangt ist, säumen den Weg so dicht, dass man beinahe nicht vom Fahrdamm auf das Trottoir gelangen kann, Körbe mit Esswaren, Baumschmuck und Spielsachen. An einer Bude kaufte ich eine Kitschpostkarte ein, anderswo eine Balalaika und ein papiernes Häuschen. Auch hier begegnete ich den Strassen mit Weihnachtsrosen, Gruppen heroischer Blumen, die aus Schnee und Eis kräftig herausleuchten.“25 William C. White beschreibt die Ökonomie der meist jüdischen Kleinhändler auf der Smolenskaja im Jahr 1929 oder 1930, kurz vor der Auflösung des Marktes: „Auf einem kleinen Teil des Smolenskischen Marktes in Moskau haben sich Leute eingenistet, die mit alten Schuhen handeln. Ich ging an ihren Auslagen vorbei, die sie auf dem holperigen Pflaster ausgebreitet hatten, und kam an die lange Reihe der Verkaufsstände, welche den privaten Händlern gehören; hier wurde Fleisch, Butter und Mehl feilgeboten, die in den Regierungsläden so selten sind. ‚Spekulanten, Tschastniki,26 Privatleute’ – das sind die herabsetzenden Bezeichnungen, die die Amtssprache für diese bescheidenen Händler geprägt hat. (…) Es war ein Jude mittleren Alters mit einem langen geteilten Bart. (…) Vor ihm türmten sich Fässer von frischer und gesalzener Butter, Kübel mit geschmolzener Butter und Eierkörbe. Über seiner Bude hing die Aufschrift: „A. M. Silbersohn-Butter“ (…) Rechts von ihm war der Stand von Samuels, einem Schlächter, und links von ihm hatte Goldmann seine Bude, wo er Nüsse, Reis und Buchweizen vertrieb. Der Smolenskische Markt Mythos Arbat ist ein Dorfidyll, das in die Hauptstadt verlegt ist. Bauern kommen aus den Dörfern der Moskauer Umgebung, und im Sommer gibt es hier genug Kohl, Beten und Kartoffeln, um den täglichen Suppentopf für die ganze Bevölkerung zu füllen. Die ‚Panjewagen’ der Bauern stehen zusammengedrängt in einer Ecke des Platzes, und die Bauern, in ihren Sandalen aus Birkenrinde und in zerlumpten Fußlappen warten auf die Moskauer Hausfrauen. Der Spektakel des Marktes vom Handeln und Feilschen, von Streit und Widerstreit steigt und fällt mit dem Lärm der vorbeifahrenden Straßenbahnen, dem Surren der Autobusse und dem dröhnenden Rollen der schweren Lastwagen auf dem holperigen Straßenpflaster. Die Menge schart sich um einen chinesischen Taschenspieler, und schaut einem tanzenden Bären oder ein paar tanzenden Zigeunermädchen zu; aber kurz bevor der Hut die Runde macht, strömt alles auseinander. Da gibt es Barbiere, deren Stuhl der Seifenkasten ist, den sie mit sich schleppen, und wandernde Schuhflicker mit ihren Leisten unter dem Arm. Auf den Smolenskischen Markt kamen früher sonntags auch die ‚Ehemaligen’27 und veräußerten die wenigen jammervollen Wertsachen, die ihnen geblieben waren, um davon wenigstens noch eine Woche ihr Hungerleben zu fristen. Hierher kamen die Fremden immer, in der Hoffnung, rare Juwelen oder wertvolle Ikonen zu finden; 25 Benjamin: Moskauer Tagebuch, S. 54–55. 26 Častnyj war das Gegenstück zu obščestvennyj: Der Einzelne und seine Partikularinteressen standen im Gegensatz zu den Kollektivinteressen, die nach der Revolution Vorrang hatten. Častniki waren diejenigen, die dennoch auf eigene Rechnung arbeiteten. 27 „Ehemalige“ (byvšie) wurden die vorrevolutionären bürgerlichen Schichten und Eliten genannt; kurz: alle, die vorher etwas zu melden hatten und jetzt nicht mehr.
gewöhnlich fanden sie nur alte Postkarten und zusammengewürfeltes schadhaftes Porzellan. Diese Besonderheit des Marktes besteht jetzt nicht mehr. Aber der alltägliche Geschäftsbetrieb geht weiter und ist der letzte Halt der Tschastniki.“28 Die Absurdität der Gleichzeitigkeit von Gegenwärtigem und Vergangenem und das menschliche Drama fiel zahlreichen Zeitgenossen auf und wurde zum festen Bestandteil der Beschreibungen des postrevolutionären Moskau, so dass viele Besucher dieses Bild im Kopf hatten und auf den Märkten ganz gezielt suchten: „J’ai vainement cherché, parmi ces marchands, l’émouvante silhouette si souvent évoquée du vieux général ou de la princesse, proposant avec timidité les ultimes débris de leur splendeur. Sont-ils morts ou n’ont-ils plus rien à vendre?“29 Auf den Märkten gab es immer auch illegalen Handel. In den Akten des Finanzinspektorats aus den zwanziger Jahren finden sich Listen von Gegenständen, die man Händlern abgenommen hatte, die ohne Erlaubnis auf dem Smolensker Markt handelten.30 Auffallend häufig wurde Weißbrot und Fleisch schwarz gehandelt, während Obst und Gemüse nicht vorkommt. Eine Liste weist eine Reihe nicht verderblicher Waren aus (vor allem Galanteriewaren und Kleider), die einer Versteigerungsstelle zugeführt wurden.31 1930 wurden die meisten innerstädtischen Märkte geschlossen und 1932 aus Not die Kolchosmärkte eingeführt. Am Arbatplatz entstand gegenüber dem „Praga“ eine große Halle für den Kolchosmarkt „Arbatskij rynok“, während der Markt auf dem Smolensker Platz von einem Liquidationskomitee aufgelöst wurde.32 1936 und 1937 wurden im Zuge einer Kampagne „gegen die Spekulation auf den Märkten“ die restlichen Märkte auf den öffentlichen Plätzen der Stadt Moskau aufgelöst oder reorganisiert.33 Zu überhöhten Preisen gehandelt wurden damals namentlich Wollsachen, Seiden- und Leinenstoffe, Grammophone und Schallplatten, also ausgesprochene Luxusgüter.34 1940 wurde der Handverkauf von Industriegütern und Gebrauchtwaren auf den Märkten der Stadt Moskau vom Rat der Volkskommissare und dem ZK gänzlich untersagt.35 Ein Kommissionsbericht36 gab zwei Gründe an: Die Gebrauchtwarenmärkte dehnten sich laufend aus und schwappten auf die umliegenden Plätze, Gassen und Hinterhöfe über, dabei versperrten die Händler die Zugänge zu den Metrostationen. Außerdem wurden die Gebrauchtwarenmärkte zum Aufenthaltsort „krimineller Elemente“. Der Entscheid, sie zu schließen, führte dazu, dass sie sich, begünstigt durch den Krieg, in Schwarzmärkte verwandelten. Im Januar 1945 bat der Ispolkom des Mossovet den Rat der Volkskommissare, den Gebrauchtwarenhandel in der Stadt Moskau zu erlauben, um die Versorgungslage der Bevölkerung zu verbessern.37 Eine Erhebung zeigte, dass viele Familien auf den Tauschhandel angewiesen waren, um sich dringend benötige Schuhe, Kleider oder Lebensmittel zu verschaffen und auch ihre Angehörigen an der Front damit zu versorgen. 1947 wurde der Handel mit Gebrauchtwaren auf dem Lubininsker Markt legalisiert und reguliert.38
28 White: So lebt der Russe, S. 65–67. 29 Andrée Viollis: Seule en Russie. Paris 1927, S. 163. Zit nach Alain Blum: Changer la ville, changer l’homme. In: Moscou 1918–1941. De „ l’homme nouveau “ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 73–92, hier S. 84. 30 CMAM F. 1240 (Komitet torgovcev Verchne-Smolenskogo rynka), op. 1, d. 43. 31 CMAM F. 1240, op. 1, d. 43, l. 195. 32 CMAM F. 1240, op. 1, d. 118. 33 CMAM F. 46 (Upravlenie rynkami goroda Moskvy), op.1, d. 5, l. 5 und 6. 34 CMAM F. 46, op.1, d. 8. l. 21. 35 CMAM F. 46, op.1, d. 8, l. 57. 36 CMAM F. 46, op.1, d .8, l. 79. 37 CMAM F. 46, op.1, d. 8, l. 101. 38 CMAM F. 46, op.1, d. 8, l.1.
195
44. Rekonstruktion der Smolenskaja 1933, Privatbesitz Der Smolensker Markt wurde 1930 aufgelöst und der Platz 1933 umgestaltet.
Doch auch die Schließungen von Märkten Mythos Arbat waren immer relativ. Einige Buden blieben nämlich auch nach der Liquidation der Warenmärkte auf den öffentlichen Plätzen auf dem Arbatplatz stehen. Eine Liste von 1937 belegt 11 Stände, die vorläufig bleiben durften. Zoowaren, Drogeriewaren, Haushaltartikel, Möbel, Metallwaren, Stoffe und Trikotagen wurden hier verkauft, und eine Imbissstube gab es auch. Damals stand bereits die 1932 errichtete tonnenförmige Markthalle „Arbatskij rynok“ hinter dem Pavillon der Metrostation auf dem Arbatplatz.39
Sozialtopographie Durch die „Auffüllung“ trafen in den Kommunalwohnungen völlig gegensätzliche Lebensweisen aufeinander: Die ehemaligen Bewohner, Frontsoldaten, Rotarmisten, Provinzler, die sich während der Revolution Verdienste erworben hatten, zugezogene Angehörige vom Dorf. In den Gemeinschaftsküchen brodelten die Konflikte zwischen den Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, doch zu eigentlichen Verbrechen kam es selten. Einiges deutet darauf hin, dass in den Jugendstil-Mietshäusern mit der architektonischen Eigenart auch ein Teil des Lebensstils oder des den Räumen eingeschriebenen „Habitus“ bewahrt blieb. In den Zimmern der kommunal’ki wohnten weiterhin zahlreiche Familien der Mittelschicht, die in den zentralen Verwaltungen ar45. CMADSN 2–4269, Arbatstrasse in den dreißiger Jahren. Fotograf unbekannt.
39 Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1932) Nr. 8–9, S. 32–22 zeigt Pläne der Halle, auch der Verteilung der Stände.
Die Aufnahme zeigt eine Alltagsszene mit Fußgängern, Autos und Trolleybussen im Regen. Weit vorne links ist das Schild des Vachtangov-Theaters auszumachen. Das Grosse Gebäude auf der rechten Seite am Arbat Nr. 35 wurde 1912 erbaut (Architekten V. E. Dubovskij und N. A. Archipov). Es war ein luxuriös ausgestattetes Mietshaus mit großzügigem Vestibül, breiten Marmortreppen und Wohnungen mit mehr als fünf Zimmern. Im Mietshaus Arbat Nr. 35 vollzog sich die Geschichte des Arbats im Kleinen: Nach der Revolution wurden die herrschaftlichen Wohnungen in Gemeinschaftswohnungen – kommunal’ki – umgewandelt. Ein Anwohner erinnert sich, in den dreißiger Jahren als Kind ehrfürchtig mit dem Käfiglift das Treppenhaus emporgeschwebt zu sein. Einige Wohnungen waren nicht „aufgefüllt“ worden, in ihnen wohnten leitende Angestellte von Ministerien. Tagsüber wurden sie von chromglänzenden Limousinen der Marken Lincoln, Buick oder Rolls-Royce abgeholt. 1937 und 1938 kamen dann nachts die dunklen ëmki und voronki, die „Raben“ genannten Fahrzeuge der OGPU. Dieses Schicksal ereilte auch den Leiter des Sojuzpromeksport, Kolmanovskij, und seine Frau Valentina Grigor’evna Vagrina, eine Künstlerin am gegenüberliegenden Vachtangov-Theater. In den fünfziger Jahren wurde sie und auch ihr ermordeter Mann rehabilitiert. Ihre große Zeit war vorbei, und sie beendete ihre Karriere mit kleinen Nebenrollen.40
beiteten. Eine Innensicht von einer solchen Arbeitsstelle im Arbatviertel nach der Revolution gibt Marina Cvetaeva in ihren Tagebüchern: Sie arbeitete ab November 1918 im Volkskommissariat für Nationalitätenfragen (narkomnac) im Haus der Rostovs, Ecke Povarskaja und Kudrinskaja. Ihre Aufgabe bestand darin, Zeitungsartikel zusammenzufassen und auszuwerten, in ihren Augen eine völlig sinnlose Papierschnipsel-Kleberei. Sie nutzte die Arbeitszeit, um zu schreiben.41 In Erhebungen wurden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der staatlichen Institutionen als „Angestellte“ (služaščie) bezeichnet. Diese bildungsbürgerlich geprägte Schicht blieb bei aller Durchmischung bestimmend: Bis zum Zweiten Weltkrieg galt der Arbat als gepflegtes, aristokratisch angehauchtes Intellektuellenviertel. Dieser Ruf hängt ihm als „goldenes Zeitalter“ bis heute an. 40 Levin: Arbat, S. 100. 41 Zwetaewa: Auf eigenen Wegen, S. 57 ff.
197
Die Besonderheit dieser Wohngegend lag in der relativen Homogenität ihrer Bevölkerung in einer Zeit, als die Zuwanderung in die Städte, Kollektivierung und forcierte Industrialisierung Moskau kräftig durchschüttelten. Die Erinnerung an die Zeit, in der jeder jeden kannte, und an eine besondere kulturelle Identität des Arbat wurde prägend für den späteren Mythos um das Viertel. Dazu trug nicht zuletzt die stalinistische Kulturpolitik der dreißiger Jahre bei: Die Rückbesinnung auf das klassische kulturelle Erbe kam der Bevölkerung auf dem Arbat entgegen, die zu einem großen Teil den vorrevolutionären gebildeten Mittelschichten entstammte. Ein Beispiel dafür waren die zahlreichen, ehemals privaten Bildungsinstitute, deren Schülerinnen und Lehrer ebenfalls den Arbat bewohnten. Dazu gehörte neben dem Mädchengymnasium auch das berühmte „Musikpädagogische Institut“ der Gnesins im Haus Nr. 5 am Hundeplätzchen. Hier unterrichtete eine regelrechte Dynastie von Musiklehrerinnen, bis das Haus 1948 in ein Museum der Musikschule verwandelt und 1962 beim Bau des Kalinin-Prospektes abgerissen wurde.42 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und besonders nachdem 1964 die Praxis begrenzter Aufenthaltsgenehmigungen für auswärtige Arbeiter einsetzte, kamen neue Bewohner in das Arbatviertel: Eine große Zahl von limičiki drängte in die Stadt und auch in dieses Wohnviertel.43 Demobilisierte Soldaten, die von Kriegserfahrungen geprägt waren, benötigten einen Teil des knappen Wohnraums. Die Menschen waren sich plötzlich fremd und die neuen sozialen Gegensätze im Quartier machten sich in den überbelegten Gemeinschaftswohnungen und in den Schulen am stärksten bemerkbar.44 Den Alltag und die Ängste der Bewohner einer solchen Nachkriegswohnung auf dem Arbat, in der sich alle gegenseitig belauern, beschreibt Boris Jampol’skij in seinem Roman „Kommunalka“: Der Ich-Erzähler lebt in einer kommunal’ka am Arbat, und er lebt in der stalinistischen Nachkriegszeit, der Zeit, als Heimkehrer aus Krieg und Gefangenschaft aus Furcht vor westlichen Einflüssen als „Kosmopoliten“ und Spione verfolgt wurden. An jeder Ecke steht ein Aufpasser, in der Wohnung bespitzelt jeder jeden, Mythos Arbat Jampol’skij’s Held fühlt sich ständig beobachtet und beschattet. Nie wird ganz klar, ob die Bedrohung eingebildet ist oder echt. Genau diese Ungewissheit trifft ein Hauptmerkmal des stalinistischen Terrors. Der Erzähler streift bei Tag und bei Nacht durch das Moskau des Winters 1952–1953.45 „Heute, wo man den breiten, in den Himmel mündenden Kalininprospekt angelegt hat, ist der Arbat nur noch ein vergessenes, abseitig stilles, enges Sträßchen, das die Fußgänger überqueren, wo sie wollen, als wären sie in Krähwinkel oder Posemuckel, einmal aber war es eine streng offizielle Strasse, durch die Stalin auf seine nahe gelegene Datsche gefahren sein soll. Der alte Arbat mit seinen Quer- und Seitenstrassen, der Moltschanowka und dem kleinen Sobatschaja-Platz, der Siwzew-Wrashek-Gasse und der Boris-und Gleb-Kirche, mit seinen Villen, herrschaftlichen Luxuswohnungen, verwitterten Baracken der ersten Fünfjahrpläne, Betonkästen, typischen Gerüchen, alten Frauen in altmodischen Mänteln und Hüten und jungen Pionieren in roten Halstüchern – der alte Arbat lebte ein dem Auge nicht sichtbares, verborgenes, kontrolliertes Leben, wo jedes Haus, jeder Hauseingang, jedes Fenster inventarisiert war, alle beobachtet und beschattet wurden. 42 Zahlreiche Fotos aus dem Nachlass der Familie Gnesin CMADSN, Ličnye fondy: Fond Gnesnych, Neg. Nr. 4–801 ff. 43 Truščenko, S. 92–93, spricht sogar von einer „Proletarisierung“ des Zentrums. 44 Knabe: Arbatskaja Civilizacija, S. 181. 45 Das Buch des 1972 verstorbenen Autors schildert eine Atmosphäre der Bedrückung, in der alle in Angst und Schrecken wie gelähmt sind. Der Text konnte erst 1988 in der Zeitschrift Znamja veröffentlicht werden und machte in Russland Furore.
Vom berühmten ‚Praga’, das längst nicht mehr das ‚Praga’ war, sondern ein mit Kontoren und Kontörchen vollgestopfter Bau mit fest vernageltem Portal und verwaistem Flachdach, auf dem noch lange nach dem Krieg Flakgranatenhülsen lagen – und eine Generation wuchs heran, die gar nicht wusste, dass hier einmal das legendäre ‚Praga’ gewesen war –, vom ‚Praga’ also bis zum Feinkostgeschäft am Metrobahnhof Smolenskaja hatte die Strasse gleichsam ein zweites Gesicht. Das lustige Hut-Geschäft an der ‚Praga’-Ecke, das Schreibwaren-Geschäft Ecke Serebrjany-Gasse, das nach Schule, Reißzeug und sauberem liniiertem Papier roch, das Kinderkaufhaus ‚Detski mir’ mit den dickbäuchigen bunten Matrjoschkas und die Zoohandlung mit den orangefarbenen Fischen in den Aquarien und dem Kot- und Flaumgeruch geplagter Vögel, die Antiquitätenhandlung mit den goldenen Vasen, darauf ägyptische Pharaonen und römische Legionäre abgebildet waren, das nach der Bombardierung wiederaufgebaute Wachtangow-Theater mit dem Plakat ‚Die beiden Veroneser’ und das ‚Kino der Jugend’ mit der Reklame zum Film ‚Der Schwur’ – über alledem aber eine der Strasse gleichsam übergeworfene Schattensilhouette, eine strenge, geheimnisvolle, schweigsame Kette, die sich, einer bald hervortretenden, bald verschwindenden Maske gleich, die Strasse entlangzog: winters in Biberplüsch und Überschuhen, sommers in Hemden mit offenen Kragen und durchlöcherten Sandalen. Bei Schneetreiben und bei Regen, bei Nebel und wenn der Flieder blüht, wenn der Jasmin blüht und beim Blätterfall, im Morgengrauen, wenn die ersten Trolleybusse fahren, zur Hauptverkehrszeit und abends, wenn die Theater schließen, in der Stunde der Kassierer und in der Neujahrsnacht, der Osternacht und der Nacht zum Ersten Mai, gestern, heute, morgen – immer stand die schweigsame Kette am Arbat. Sie standen die ganze Strasse entlang, das Laternenlicht meidend, an Straßenecken und Hauseingängen, gaben sich wie Hausbewohner und sahen auf die Fahrbahn. Sie standen merkwürdig abgesondert, für sich allein, unberührt von allem, und versuchten sich scheinbar an irgend etwas zu erinnern, den ganzen Tag und die ganze Nacht standen sie so da und erinnerten sich nicht. Aber plötzlich befiel sie ein Fieber. An allen Ecken ging gleichzeitig rotes Licht an, in großen Metallkästen schrillten Miliztelefone, die Kette trat an den Rand des Trottoirs, mitten auf der Strasse schien plötzlich eine blanke Leitung offengelegt zu sein, und der ganze Arbat mit all seinen Schaufenstern, Modellpuppen, ondulierten Köpfen, Weckern, Attrappen, Goldfischen und Kanarienvogelbauern stand unter Hochspannung.“46 Die Besetzung durch das Überwachungspersonal entlang Stalins Route zur „nahen dača“ ging mit einer interessanten Art der Zeitmessung einher. Die Wächter symbolisierten Macht über Raum und Zeit, indem sie immer dastanden. Sie folgen nicht dem Wechsel von Tag und Nacht, keinem Kalender und nicht dem Rhythmus der Jahreszeiten. Sie konstituierten einen Raum für sich, einen Raum der Kontrolle, aber auch des direkten Kontaktes zwischen der Macht, die sie repräsentierten, und den Bewohnern des Viertels. Eine weitere Beschreibung findet sich in einem Bericht des amerikanischen Korrespondenten Edmund Stevens von 1948: „A sudden hush has settled on Moscow’s busy Arbat Street. The sleek asphalt roadway, emptied of its traffic, threads between two lines of white-uniformed, white-gloved police spaced at ten-meter intervals along either curb. The police are on tenterhooks, their eyes strained toward the far end of the street. One of them darts out, bodily lifts up an old peasant woman who has strayed into the road, and deposits her back on the sidewalk. The tension rises to its climax. With a sudden swoosh a shiny black sedan flashes down the fairway, then an open car full of bodyguards follows in close pursuit. The tension is over in a trice, and the Arbat turns to noisy normal. 46 Boris Jampolski: Kommunalka. Ein Moskauer Roman. Leipzig 1991, S. 9–11.
199
Bystanders exchange knowing nods. ‚Hozyain proekhal’ (There went the boss).“47 Der Achse nach Westen maß bereits der Generalplan von 1935 eine große Bedeutung zu. Der Grund dafür, dass der Ausbau des Neuen Arbat schließlich so konsequent durchgeführt wurde, dass sie zu einem der geschlossensten Straßenzüge im Stil des sozialistischen Realismus wurde, lag nicht in der Bedeutung von Minsk oder Warschau, sondern war im Dorf Kuncevo, heute ein Stadtquartier von Moskau, zu finden. Hier hatte Stalin seine dača. Wenn Stalins Konvoi zur dača rollte, war es nicht erlaubt, die Strassen (Vozdviženka, Arbat, Drogomilov-Strasse, Možaijsker Chaussee) zu betreten oder sich am Fenster zu zeigen. Immanuil’ Levin, der Auf dem Arbat aufwuchs, berichtet einmal mehr von den Posten, die alle 50 oder 100 Meter Wache standen und „Hände in den Taschen“ genannt wurden. Bei kaltem Wetter zogen sie sich in die Hauseingänge zurück, aber wenn Stalin vorbeifuhr, standen sie auf ihrem Plätzen. Die Frauen beklagten sich angesichts der ständigen männlichen, „offiziellen“ Präsenz, sie könnten ihre Wäsche nirgends trocknen.48
Stalins Privatmetro Der Untergrund erzählt eine weitere Geschichte über das dačen-Viertel Kuncevo, oder hält sie geheim. Es gibt zwei parallel verlaufende Metrolinien unter dem Arbatviertel, und je zwei gleichnamige Stationen Arbatskaja und Smolenskaja, die jedoch untereinander nicht verbunden sind. Die erste Linie war eine Abzweigung der allerersten Metrolinie von 1935 und wurde auch damals eröffnet. Sie führte vom Aleksandrovskij Sad zur Station Smolenskaja, die ihren Ausgang jenseits des Gartenrings hat. 1953 wurde diese Linie geschlossen, weil damals eine zweite, tiefer liegende Linie zwischen Ploščad’ Revolucij und Smolenskaja Ploščad’ (Eingang hinter dem Supermarkt am Gartenring auf der Arbatseite) Mythos Arbat eröffnet wurde.49 Es heißt, ursprünglich sei eine Privatmetro zu Stalins naher dača geplant gewesen. Nach den ersten Tunnelbauten habe man dieses Projekt aufgegeben und die Linie mit Stationen versehen. 1958 wurde die alte Linie mit der Verlängerung nach Fili wieder in Betrieb genommen. Die Metrostation auf der Arbatskaja Ploščad’ ist ein auffälliger, freistehender Pavillon, dessen Grundriss die Form eines fünfzackigen Sterns aufweist. Die Station ist in ihrer ursprünglichen Ausstattung im schlichten Art-deco-Stil erhalten.50
Pläne zur Umgestaltung der Arbatskaja und Smolenskaja Ploščad’ nach dem Krieg 1947 gab es große Pläne zur Umgestaltung der Arbatskaja und der Smolenskaja Ploščad’, an denen Hochhäuser entstehen sollten.51 Das an der Arbatskaja Ploščad’ geplante Hochhaus hatte 35 Etagen und fasste 350 000 Kubikmeter. Es sollte hinter den Pavillon der Metrostation gegenüber dem „Praga“ zu stehen kommen.52 Hinter der Metrostation war ein kleiner französischer 47 Edmund Stevens: This is Russia uncensored. New York 1950, S. 28 48 Levin: Arbat, S. 48. 49 Bilder der Stationen in Huber: Hauptstadt, S. 140. 50 Grundriss in Huber: Hauptstadt, S. 132–133 51 Die Planung der Hochhäuser kommt im Kapitel über die Lubjanka zur Sprache. 52 Central’nyj archiv naučno-techničeskoi dokumentacii (CANTDM) Fond 2, Upravlenie po delam architektury g. Moskvy
46. Smolenskaja Ploščad’, 1970er Jahre, Fotograf unbekannt, Privatbesitz. Seit 1952 steht an der Smolenskaja eines der sieben Hochhäuser, das Außenministerium (MID), ein 170 Meter hoher Stalinpalast. Das Gebäude des Außenministeriums (V. Gel’frejch, M. Minkus, 1948–1953) sollte die Perspektive der Achse vollenden, die vom Borodinskij Most’ zum Gartenring ansteigt. 53 Das Hochhaus für das Außenministerium (MID) wurde nicht zuletzt deshalb an der Smolenskaja Ploščad’ errichtet, weil Stalin hier auf dem Weg zur nahen dača in Kuncevo vorbeikam. Die Architekten schlugen eine vollständige Erneuerung der Smolenskaja Ploščad’ vor, in deren Zentrum das MID stehen sollte. Dazu sollte die Zufahrt zur Borodinskij-Brücke „bereinigt“ (aufgeräumt, gelichtet) werden, um dem Hochhaus mehr Raum zu geben. Links vom Hochhaus öffnete sich die Achse des alten Arbat, und rechts sollte um der Symmetrie willen eine breite Magistrale geradewegs zum Palast der Sowjets führen, dem virtuellen Zentrum des Neuen Moskau.54 Die beiden Türme des ehemaligen Hotels Belgrad aus den späten sechziger Jahren vollendeten die Platzgestaltung so, wie sie städtebaulich seit Jahrzehnten vorgesehen war.55 Unausgeführt blieb die Achse zum nie gebauten Palast der Sowjets.
Park vorgesehen, dahinter der massive Gebäudekomplex. Das „Praga“ sollte der Einmündung des Neuen Arbat weichen. Die Arbatskaja Ploščad’ wäre gemäß einem fertig ausgearbeiteten Gesamtplan um ein Vielfaches vergrößert worden.56 Ausgearbeitet wurden auch die Projekte an der Novo-Arbatskaja Ploščad’ und an der Smolenskaja. Am Standort des späteren RGW-Gebäudes war ein Dienstleistungskomplex geplant (obščestvennoe zdanie), an der Smolenskaja ein Verwaltungsgebäude. Gegenüber dem Hochhaus sollte anstelle des ehemaligen Smolensker Marktes ein dreieckiges Rasenstück mit einem Kutuzov-Denkmal darauf entstehen.57
Interieurs Wie lebten die Menschen im Arbatviertel in den sechziger Jahren? Zeitzeugenberichte weisen auf eine Kontinuität bildungsbürgerlicher Werte und Lebensweisen hin, die sich in den Interieurs der Wohnungen und Restaurants niederschlug. Harald Hamrin, ein schwedischer Student, verbrachte 1960 zwei Gastsemester in Moskau. Er beschreibt die elterliche Wohnung eines Kommilitonen in einer Gemeinschaftswohnung auf dem Arbat:
„Mosproekt“, 1922–1951 (ehem f. 655, Upravlenie po delam architektury Mossoveta) opis 1, delo 159: Schemy razmeščenija vysotnych zdanii v Moskve 1947. 53 Andrej Ikonnikov: Storicismo e utopie retrospettive nell’architettura di Mosca. In: Mosca. Capitale dell’utopia. Hg. Von Vieri Quilici. Mailand 1991, S. 65–77, hier S. 75. 54 Moskovskij Archiv I, S. 369–371. 55 Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1956) Nr. 10, S. 3–7; Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1962) Nr. 8, S. 29–32. 56 CANTDM Fond 2 (ehem. F. 655, Upravlenie po delam architektury Mosgorispolkoma, Masterskaja GenPlana), op. 1, d. 162: Eskizy razmeščenija vysotnych zdanii v gorode Moskve 1947. 57 CANTDM Fond 2 (ehem. F. 655), op. 1 d. 161.
201
„Sie wohnten in einer kleinen Gasse inmitten des Stadtteils, der nach der Arbatstrasse benannt ist, in einem Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende, an dessen Ecken Karyatiden auf starken Schultern kleine Erker trugen. Diese ist eine der hübschesten Gegenden Moskaus, freilich dazu verurteilt, in zehn oder zwanzig Jahren modernen Wohnvierteln Platz zu machen, aber noch hat sie viel vom Charakter des neunzehnten Jahrhunderts bewahrt. (…) Hier bewohnten Fjodor und seine Eltern gemeinsam mit drei anderen Familien eine Sechszimmeretage, die einst als Einfamilienwohnung gedacht war. Die große Gemeinschaftsküche, in der jede der vier Hausfrauen ihr Holzregal mit Töpfen und Pfannen hatte und ihre eigne Streichholzschachtel, um den gemeinsamen Gasherd anzuzünden, zeugte von der Distanz, die trotz des täglichen Umgangs zwischen den vier Familien gewahrt wurde. Die unvermeidlichen Ordnungsregeln und ungeschriebenen Gesetze des Kollektivs verloren ihre Gültigkeit, sobald man die beiden privaten Räume betrat. Ein größeres Zimmer, das zugleich als Elternschlafzimmer, Esszimmer und Gemeinschaftsraum für die ganze Familie diente, und ein kleines Studierzimmer für den Sohn. An den Wänden jene beliebten Tapeten, wie man sie oft in russischen Wohnungen sieht: ein stilisiertes Lilienmuster, das an das florentinische Stadtwappen der Renaissancezeit erinnert. Über dem breiten Doppelbett ein schwerer Wandbehang, auf dem eine feurige Troika unter Schellengeläut durch eine winterliche Landschaft mit schneebedeckten Tannen sprengt. Ein grosser, schwerer Esstisch in einer unbestimmbaren, dunklen Holzart, ein Schrank mit Glastüren für das gute Porzellan, ein Sofa und vier schöne Empirestühle, die man irgendwann gegen Ende der zwanziger Jahre auf einer Auktion ersteigert hatte (…) Dann Fjodors Zimmer. Neben dem kleinen, schmalen Bett und dem Schreibtisch ein Bücherregal, dessen Inhalt den ausgefallenen Geschmack seines Besitzers verriet (Vosnessenskij und Jewtuschenko …) Und in beiden Zimmern – auf Bücherregalen, Schränken und Fensterbrettern – Dutzende jener kleinen, farbenfrohen PorzellanfiMythos Arbat guren, mit deren Hilfe die Russen gern die Höhe ihres Einkommens demonstrieren: kleine kokette Ballerinen, maunzende Katzen, Rokokodamen mit Sonnenschirmen, ein stolz blickender Elch, ein paar russische muschiks – Bauern mit schwarzen Stiefeln und Kittelblusen.“58 Sehr schön deutlich werden in diesem Bericht die räumlichen Hierarchien, das Regelwerk der Regionalisierung. Nicht umsonst bezeichnete man den Korridor in solchen Wohnungen als „Strasse“, was seinen Öffentlichkeitscharakter hervorheben sollte. Auch der Zeichencharakter der Dinge findet seinen Ausdruck. Hamrin dekodiert die typischen Elemente sowjetischer Mittelschicht-Interieurs: Glasvitrine, Wandteppich, Nippes und ordnet die Einrichtung, auch die Bücher, in ihren kulturellen Kontext ein. Er liefert bereits eine verdichtete Beschreibung des Interieurs der kommunal’ka.
Der alte und der Neue Arbat Der Generalplan sah bereits 1935 vor, zur Entlastung des Arbat eine neue Verbindung vom Kreml nach Westen durch das Arbat-Quartier zu schlagen. Man verzichtete auf eine Verbreiterung des bestehenden Arbat, weil die Bebauung dieser Geschäftsstrasse recht dicht und noch relativ neu
58 Harald Hamrin: Zwei Semester Moskau. Franfurt a.M. usw. 1962, S. 14f.
47. Arbatskaja Ploščad’ mit Restaurant „Praga“ 1956, Fotograf unbekannt, Privatbesitz. Das Restaurant „Praga“, in den zwanziger Jahren als Volksküche genutzt, machte in den dreißiger Jahren eine Karriere als stolovaja (Kantine) der umliegenden wissenschaftlichen Institute, deren Mitarbeiter über den passenden Ausweis verfügen mussten. Das nach dem Krieg dem Untergang geweihte und als Verwaltungsgebäude genutzte Hotel „Praga“ wurde 1955 als normales Restaurant wiedereröffnet und avancierte wiederum zum Treffpunkt der Angehörigen der umliegenden wissenschaftlichen Institute. Hierher lud man ausländische Gäste zu einer Zeit ein, als es noch nicht klug war, sie zu sich nach Hause zu bitten.59 1958 glänzte es im alten Pomp. Wolfgang Koeppen berichtet: „Moskau ist konservativ. Das Restaurant ‚Praga’ hatte schon mein Onkel besucht. Das war vor dem Ersten Weltkrieg gewesen, und noch lange hatte der Alte davon geschwärmt. Was waren das für Bankette gewesen, die Tafel war unter der Speisenlast zusammengebrochen. Balalaika-Orchester hatten gespielt, Kosaken hatten getanzt, Tänzerinnen die Röcke gehoben, Sängerinnen gejubelt. Heute wollten viele ins ‚Praga’ hinein und wurden abgewiesen. Als Ausländer kam ich hinein, der Goldbetresste öffnete spaltweit die Tür, und da stand ich dann. Das ‚Praga’ war kein Festsaal, es war ein Festhaus, in drei Stockwerken saß man dicht zusammengepresst und feierte. Was feierte man? Geburtstage, Jubiläen, Amtsfreuden, Beförderungen, bestandene Examen, Betriebsglück. Fünf, sechs Orchester spielten. Sie spielten gleichzeitig. Eine Sängerin jubelte, eine gewaltige Frau, langgewandet, wogenden Busens, die schwarzen Haare straff gescheitelt. Es war wie zu meines Onkels grosser Zeit.“60
war. Der Bau wurde jedoch erst Mitte der sechziger Jahre in Angriff genommen.61 Der Neue Arbat wurde zum Prestigeobjekt der Chruščev-Zeit.62 Mit dem Kalinin-Prospekt wurde eine Magistrale als Paradebeispiel des Städtebaus der Nach-Stalin-Ära durch einen zentralen Moskauer Stadtteil gelegt: Für den Bau dieser Magistrale musste zwischen dem Arbat und der Povar‘skaja Ulica ein grosser Teil des alten Arbat-Quartiers dem Erdboden gleichgemacht werden. Über den städtebaulichen Eingriff entbrannte Ende der fünfziger Jahre eine lebhafte Debatte. Bis heute durchzieht die Kritik daran die Literatur über die Moskauer Stadtentwicklung.63 59 Šmidt: Arbatskij Archiv, S. 45–46. 60 In: Reise nach Moskau, S. 144–145. 61 Huber: Hauptstadt, S. 100. 62 Andrej V. Ikonnikov: Architektura Moskvy XX vek. Moskau 1984, S. 146–153. 63 z.B. E. Taranov: Gorod Kommunizma. Idei liderov 50–60-x godov i ich voploščenie. In: Moskovskij Archiv. Istorikokraevedčeskij Al’manach. Vypusk I, Moskva 1996, S. 372–390.
203
48. Chruščev 1962 mit dem Modell des Neuen Arbat.64 Er zeigt auf das 1961 errichtete Fernmeldeamt „Dom svjaz“. Bildlegende: „N. S. Chruščev, F. R. Kozlov, P. N. Demičev oznakomilis’ s proektam dal’nejšej rekonstrukcii stolicy. (… informierten sich über das Projekt der weiteren Rekonstruktion der Hauptstadt). 49. Walter Ulbricht 1953 mit dem Modell von Dresden. Der in Abänderung des Generalplans „Kalinin-Prospekt „ genannte Abschnitt zwischen westlichem Gartenring und Kreml wurde zum Symbol von Chruščevs Regierungszeit, obwohl dieser noch im Jahr des Baubeginns 1964 gestürzt wurde, während die Bauphase bis 1969 dauerte. Ein Foto zeigt Chruščev als Bauherrn in Feldherrenpose, mit ausgestreckter Hand auf ein Detail des Modells, das „Dom Svjaz“, deutend. Die Bildlegende informiert die Betrachter, dass sich die Führung mit dem Projekt vertraut machte. Die im Bild
Mythos Arbat festgehaltene Geste hat durchaus einen „eingreifenden“ Charakter. Die im Stadtbild markant in Erscheinung tretenden Hochhäuser werden im Volksmund zuby Chruščeva, Chruščevs Zähne, genannt. Die Pose am Modell als Herrscher über den Raum war beliebt: Eine Aufnahme von 1953 zeigt Walter Ulbricht am Modell von Dresden, und auch Stalin ließ sich gerne vor der Silhouette Moskaus oder beim Gegenzeichnen grosser Projekte an der Landkarte portraitieren.65 Die Aufnahme mit Chruščev ist besonders sorgfältig aufgebaut: Das Modell und Chruščev selbst sind hell und dominieren den Vordergrund. Die Haltung des Generalsekretärs und die Ausrichtung des Modells ergänzen sich zu spitz zulaufenden, dynamischen Perspektiven. Das Publi-
64 Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1962) Nr. 6, S. 1 65 Das politische Plakat „Unter der Führung des großen Stalin“ von B. Beresovkij aus dem Jahr 1931 zeigt Stalin vor einer gerasterten Landkarte, auf der grosse Wasserkraftwerke erkennbar sind. Ein Ölgemälde von D. A. Nalbandjan: „Für das Glück des Volkes. Sitzung des Politbüros des ZK der WKP(b) von1949“, zeigt Stalin im Kreise seiner Zuhörer. Auf dem Tisch eine Landkarte, die Männer im Halbkreis darum herum. Stalin zeichnet leicht vorgebeugt etwas auf der Karte ein. Alle lauschen ihm gebannt. Ein weiteres politisches Plakat „Im Namen des Kommunismus“ von V. Govorkov aus dem Jahr 1951 ist ein Doppelplakat, das links Lenin, rechts Stalin in derselben Pose zeigt: Leicht vorgebeugt mit Rotstift über einer Landkarte, Lenin mit dem Plan der Elektrifizierung, Stalin ebenfalls, jedoch geht es hier auch um die Bewässerung der Wüste Karakum: Er streicht das Wort Wüste auf dem Plan durch. Beider Haltung ist ein Echo derjenigen von Chruščev und Ulbricht über ihren jeweiligen Stadtmodellen. Plakate in: Klaus Waschik, Nina Baburina: Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts. Bietigheim-Bissingen 2003, S. 118. Ölgemälde in: Agitation zum Glück. Sowjetische Kunst der Stalinzeit (Ausstellungskatalog). Hg. von Hubertus Gaßner, Irmgard Schleier, Karin Stengel. Bremen 1994, S. 100.
kum im Hintergrund sieht aufmerksam zu. Diese Inszenierungen folgten denselben Regeln der Sinnkonstitution. Sie zeigen die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Machtverteilung und den Möglichkeiten, Räume anordnend zu gestalten oder zu verändern. Die „Bilder“ davon reduzierten komplexe gesellschaftliche Verhältnisse und langwierige Planungsprozesse mit vielen Beteiligten auf einen Moment, auf die Geste einer Person.
Im Moskauer Stadtarchiv wird eine umfangreiche Bilddokumentation über den alten Arbat und den Abriss aufbewahrt. Die alten Strassen und die Phase von Abriss und Neubau wurden filmisch und fotografisch festgehalten, es entstanden Lieder und Gedichte, die Anwohner formierten sich zum Bürgerprotest, hielten Versammlungen ab und verfassten Protestschreiben. Zentrales Motiv dieses Diskurses war der Kampf des „Alten“ gegen das „Neue“. Das „Hundeplätzchen“ wurde zum Sinnbild des Alten, das dem Neuen geopfert wurde.66 Es wurde zum Ort der Erinnerung stilisiert.
Das „Hundeplätzchen“ als Sinnbild des „alten Moskau“ Walter Benjamin beschrieb 1926 das „Hundeplätzchen“: „Bei herrlichem Tauwetter früh ausgegangen, um die Strassen rechts vom Arbat kennenzulernen, wie ich es schon längst vorhatte. Ich kam also auf den Platz, wo früher der Hundezwinger der Zaren gestanden hatte. Er wird von niedrigen Häusern gebildet, die teilweise säulengetragene Portale haben. Dazwischen stehen aber auf einer Seite hässliche hohe Häuser, die neuer sind. Hier ist das „Museum der Lebensweise der vierziger Jahre“ – kurz ein niedriges dreistöckiges Haus, dessen Räume sehr geschmackvoll im Stile der Wohnung eines reichen Bürgers aus der Zeit gehalten sind.“67 Erstes Zeichen der Modernisierung war 1954 die einzige Autofahrschule Moskaus, die sich offenbar unterirdisch am „Hundeplätzchen“ befand.68 Das „Hundeplätzchen“, das später zum Inbegriff des zerstörten Eckchens wurde, sah 1962 für den Amerikaner Maurice Hindus so aus: „Aus sentimentalen Gründen ging ich in die Borisoglebskijgasse nördlich des Arbat. In den zwanziger Jahren und zu Beginn der dreißiger Jahre hatte eine ganze Reihe von englischen und amerikanischen Zeitungskorrespondenten in einem ursprünglich von den englischen und amerikanischen Quäkern, die charitative Arbeit in Russland geleistet hatten, gepachteten Hause Zimmer und Wohnungen gemietet. Auch ich hatte einen Sommer dort gewohnt und dachte gerne an die frohen Stunden im sogenannten Quäkerhaus zurück. Ich kannte die Borisoglebskijgasse als schlecht beleuchtet, schlecht gepflastert und von Pfützen glänzend. Jetzt war das Sträßchen asphaltiert und von einem Ende zum anderen mit hohen Bäumen bepflanzt, aber die niedrigen Backsteinbauten und Holzhäuser krümmten sich vor Alter und Vernachlässigung. Der Verputz fiel von den Mauern, die Fensterläden hingen schief, und die Dächer schienen in der Mitte durchzusacken. Es ist erstaunlich, wie baufällig Moskau aussehen kann, sobald man einmal die Hauptstrassen verlässt. Nicht einmal das neue Grün kann über den traurigen Zustand der zerfallenden Häuser hinwegtäuschen; sie sind schon zu alt für Reparaturen und viel zu nötig, als dass man es sich leisten könnte, sie abzureißen, was allerdings für die nicht allzu ferne Zukunft geplant ist. Am unteren Ende der Strasse befand sich ein kleiner Park, der den eigenartigen Namen ‚Hundeplatz’ trug. Hier gab es Reihen von Linden, Pappeln und Ulmen, Grasflächen und Blumen66 So etwa in Šmidt: Arbatskij Archiv, S. 79. 67 Benjamin: Tagebuch, S. 156–157. 68 Lazareff: Die Stunde Moskaus, S. 256.
205
50. „Hundeplätzchen“, CMADSN 0–66198 Ein Ort in der Erinnerung: Geht es um den „Verlust des alten Moskau”, steht gerade das „Hundeplätzchen” an erster Stelle der Erinnerung an ein verlorenes Idyll und an das „kulturelle Kapital“ der Intelligencija mit „unsowjetischem Charakter“.
beete. Die kiesigen Pfade, die den kleinen Park kreuz und quer durchzogen, waMythos Arbat ren mit Bänken besetzt. Alte Frauen mit Kopftüchern und alte Männer mit zerknitterten Kappen saßen dort, starrten gelangweilt ins Nichts oder unterhielten sich mit leiser Stimme. Offensichtlich waren es Rentner, für die der peinlich saubere und schattige Park eine Oase in einer überfüllten Wohngegend bildete.“69 Auch nach dem Baubeginn des Kalinin-Prospekts lebte der Gegensatz von Dorf und Stadt im Arbat fort. Paul Thorez schildert das Viertel 1964 folgendermaßen: „Wir überqueren den Platz, biegen in die Arbatstrasse ein und fahren am Wolkenkratzer des Außenministeriums vorbei. Der Arbeitstag ist seit langem beendet, die Büros sind leer und die Fenster dunkel, aber Scheinwerfer beleuchten die Fassade des Zentralgebäudes, das die übrigen um 200 Meter überragt, und verleihen ihm ein gespenstisches Aussehen. Erste Strasse rechts, ein schon schlafendes Sträßchen, und ich bin angekommen. Habe ich geträumt? Mir schien, als hörte ich im Morgengrauen Hähne krähen. Aber ich wohne doch ganz in der Nähe der Sadowaja, deren Lärm dank dem Außenministerium nicht bis zu mir dringt, und nur 100 Meter von der Arbatstrasse entfernt, wo es undeutlich rumort. (…) der Blick aus meinem Fenster bestätigt mir, dass ich vorhin nicht geträumt habe: Das Stadtviertel besteht aus Gärten und hübschen Häusern aus dem 18. Jahrhundert, die sich hinter dem riesigen Wolkenkratzer verbergen. Gegenüber befindet sich ein vornehmes Haus, das heute in mehrere Wohnungen aufgeteilt ist (…) Vom Hinterhof schlängelt sich ein Fußweg eine Hecke
69 Hindus: Haus ohne Dach, S. 54.
51. Abbruchbirne CMADSN 1–27059, „Abriss alter Häuser im Gebiet des zukünftigen Neuen Arbat. 1964. Foto: Ponomarev. Die beiden Aufnahmen sind Teil einer Serie, die Abbruch und Neubau dokumentiert. Im Fokus steht der Aufbau, der Abbruch ist Teil des Neubaus. Auf den Aufnahmen sind bezeichnenderweise keine Menschen zu sehen. Die Häuser erscheinen unbewohnt, die Umsiedlungen bleiben ausgeblendet. Der Widerstand lässt vermuten, dass sich die Sichtweise nicht im gewünschten Ausmaß kontrollieren ließ.
207 entlang bis zur Sadowaja, der Bus- und Untergrundbahnhaltestelle. Hinter den wurmstichigen, losen Brettern wachsen Johannisbeer- und Stachelbeersträucher und Gurken, darüber hängt schüchtern und bebend das Blattwerk einiger Birken. In einer Ecke ein eingezäunter Hühnerstall, aus dem leises Gegacker dringt, und zwischen den Brettern und einem wunderlichen Verschlag ist eine Wäscheleine aufgespannt, auf der Unterwäsche hängt, wie man sie nur in der Sowjetunion sieht: schwarze oder blaue Unterhosen, die auch als Shorts oder Badehose dienen. Im Hintergrund erinnern Hochhäuser immer wieder an die Wirklichkeit: die windschiefen Zäune, Werkzeugschuppen und die Holunderbüsche müssen bald das Feld räumen. Im Plotnikow Pereulok fangen die Bagger schon mit dem Niederreißen an, und das geht in Moskau rasch und schmerzlos vor sich.“70 Die Beschreibung hebt die Durchlässigkeit hervor, die Fußwege zwischen den Höfen, den Kontrast von Urbanität und dörflicher Atmosphäre mitten in der Stadt. Die Höfe trugen zur Selbstversorgung bei und trotzten eigensinnig den Neuerungen des Stadtumbaus. Beeren, Hühner und Unterhosen stehen für den Alltag, das Privatleben der Menschen, die sich mitten in der Stadt ihre Nischen bewahren.
70 Paul Thorez: Moskau. Lausanne 1964, S. 22–25.
52. Neuer Arbat bei Frost, CMADSN 1–26539, Fotograf Ponomarev. Arbat! Ich gehe aufs Geratewohl. Alles ist aufgerissen Abgezäunt,
Mythos Arbat
umgegraben und versperrt. Bagger, Bulldozer, kahle Seile kreischen auf dem Frost. Was war hier? Ruhe. Was schwindet? Die alte Zeit. (Ėl’mira Kotljar)
Die Aufnahme zeigt den Neuen Arbat mit den Kreml-Türmen im Hintergrund, teilweise verdeckt vom Magazin der Lenin-Bibliothek. Rechts dahinter das Hochhaus an der Kotel’ničeskaja Naberežnja.
Der Arbat-Kult Zwischen 1959 und 1962 zeichnete sich der bevorstehende Eingriff in die alte Struktur des Arbat immer deutlicher ab. Ein Bürgerkomitee um den Sänger Bulat Okudžava und den Maler Boris Birger, die im Arbatviertel lebten, versuchte, das „alte Moskau“ zu retten. Angesichts der einsetzenden Zerstörung entstand ein regelrechter „Arbat-Kult“. Der Kult um den Arbat und die arbatstvo als spezifische Lebensweise entstand genau in dem Moment, als sich das Viertel grundlegend zu verändern begann. Bestimmend für den elegischen Ton war der Liederzyklus, den Bulat Okudžava 1959 verfasste. Okudžava (1924–1997) wurde im Haus Nr. 43 der Arbatstrasse geboren. Sein Vater war Georgier, seine Mutter Armenierin,
beide arbeiteten für die Kommunistische Partei. Okudžavas Vater wurde 1937 als „Volksfeind“ hingerichtet. 1938 wurde seine Mutter verhaftet und für 18 Jahre ins Lager deportiert. Okudžava kehrte zu Verwandten nach Georgien zurück. Mit 17 wurde er Soldat im Zweiten Weltkrieg, danach studierte er in Tbilisi und lebte als Lehrer in Kaluga. 1957 wurde die Mutter rehabilitiert, und Okudžava kehrte nach fast zwanzig Jahren Abwesenheit nach Moskau zurück, wo er in einem Verlag arbeitete und im Arbatviertel wohnte. Am berühmtesten und populärsten, aber auch am kämpferischsten ist Bulat Okudžavas „Liedchen über den Arbat“. Er singt von den Hinterhöfen und vom Asphalt der Strassen.71 Du fließt dahin wie ein Fluss. Welch sonderbarer Name! Und dein Asphalt ist so klar wie Flusswasser. Ach Arbat, mein Arbat, du bist mein Schicksal. Meine Freude bist du und mein Leid. Deine Fußgänger sind keine großen Leute, mit den Absätzen klappernd, gehen sie eilig ihren Geschäften nach. Ach Arbat, mein Arbat, du bist meine Religion, dein Pflaster liegt unter mir. Von der Liebe zu dir kann man nie genesen, auch wenn man vierzigtausend andere Pflaster liebt. Ach Arbat, mein Arbat, du bist mein Vaterland, Nie kann man dich ganz durchmessen. (1959)72
Okudžava schrieb dem Ort in seinem Lied magische Kräfte zu, die den sowjetischen Verhältnissen trotzten. Dabei stellte er den Kontinuitäten, die als „kulturelles Erbe“ mit den zahlreichen Museen von offizieller Seite gepflegt wurden, die lokale Kontinuität des Eigensinns der „kleinen Leute“ entgegen.73 Der sowjetische „Neue Mensch“ habe auf dem alten Arbat nichts zu suchen, lautete die Botschaft, der Arbat sei eine Religion, er sei unsterblich, drohte Okudžava in seinem „Liedchen“. Dem hielt die Führung den durch und durch sowjetischen Kalinin-Prospekt mit seiner Festbeleuchtung entgegen. Okudžavas Lieder trugen viel zur Mystifizierung des Viertels bei. Diese Stilisierung durch Okudžava war fest in der kritischen Szene der sechziger Jahre verankert. Ihm und seinen Zuhörern war die stilisierende Natur seiner Darstellung des Arbat bewusst. Es waren die Höfe der Kindheit, die er besang, einen Mythos des kollektiven Gedächtnisses seiner Generation und nicht die Realität. Gewalt und Terror der dreißiger Jahre fanden darin keinen Platz.74 Diese Erfahrung der „Kinder des Arbat“ beschrieb erst Anatolij Rybakov in seinem gleichnamigen Roman.75 Der Wandel in der Wahrnehmung und die Stilisierung des „Arbat“ zum kulturellen Zentrum und Erinnerungsort der Moskauer Intellektuellen fand in der aufblühenden künstlerischen Gegenkultur der sechziger Jahre statt. Bis dahin wurde der Arbat in der autobiografischen Literatur als ganz normales Viertel mit ganz normalen Menschen nicht weiter hervorgehoben. Ein Beispiel 71 Schröder: Spiele, S. 81, 72 Zitiert nach: Russische Liedermacher. Wyssozkij, Galitsch, Okudschawa. Russisch/Deutsch, Stuttgart 2000, S. 143. 73 Zum Konzept des Eigensinns vgl. Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte: zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 139–153. 74 Knabe: Arbatskaja Civilizacija, S. 187. 75 Anatolij Rybakov: Die Kinder des Arbat. Zürich 1990.
209
dafür sind die Tagebücher Marina Cvetaevas. Sie lebte am Borisoglebskij Pereulok Nr. 6, ohne jemals irgendeine Besonderheit des Arbatviertels zu erwähnen. Eines Nachts im Jahre 1919 wurde sie auf dem „Hundeplätzchen“ überfallen.76 Doch Ende der sechziger Jahre prägte der Arbat plötzlich die Persönlichkeit, erhielt eine Aura, wurde mit Bedeutung aufgeladen und verkörperte das „alte Moskau“. Hier wehte nun der „Geist des Arbat“, atmete man die besondere Luft der Heimat.77 Dabei diente die Erinnerung an die Zirkel der Schriftsteller und Revolutionäre, die im 19. Jahrhundert hier (aber mindestens ebenso häufig auch an anderen Orten der Stadt!) gelebt hatten, als Legitimierung und zur Konstruktion der arbatstvo als Individualismus der Intellektuellen wie auch der häufig beschworenen „kleinen Leute“, der Alteingesessenen. Diese Mystifizierung des Arbatviertels ist eng mit dem Selbstbild und der kollektiven Erinnerung der zahlenmäßig sehr kleinen, durch ihre künstlerische und mediale Präsenz das Gedächtnis an diese Zeit jedoch prägende Gesellschaftsgeneration der šestidesjatniki, der „Sechziger“, verbunden.78 Der Arbat bildete nun im kollektiven Bewusstsein eine für Moskau einzigartige soziokulturelle Einheit. Er war mehr als eine Ortsbezeichnung, er wurde zum „kulturellen Zeichen“. Es gibt sogar die These, deshalb sei dieses zentrale Moskauer Viertel im Gegensatz zu anderen zu Sowjetzeiten nie umbenannt worden.79 Das träfe allerdings ebenso für Kitajgorod zu und die These klammert überdies die Benennung des „Neuen Arbat“ als Kalinin-Prospekt aus.
Der Neue Arbat als Vorbote der Zukunft
Ich bin stolz auf Dich Ich bin stolz auf Dich
Mythos Arbat
Auf eine solche Wandlung … Ich schaue in den blauen Himmel Und, wie in einem aufgeschlagenen Buch Lese ich Den Kalinin-Prospekt Ich steige hinauf, Wie über eine Treppe Über die Zeilen Neuer Etagen, Und ich sehe, Wie mit jedem Monat Moskau
76 Zwetaewa. Auf eigenen Wegen, S. 174. 77 Knabe: Arbatskaja Civilizacija, S. 180–183. 78 Auf deren Selbstverständnis wird im Kapitel „Novye Čeremuški“ im Zusammenhang mit den ebenfalls mystifizierten „Moskauer Küchen“ näher eingegangen. Zur „imagined community“ der urbanen intelligencija s. auch Svetlana Boym: From the Russian Soul to Post-Communist Nostalgia. In: Representations 49 (1995), special Issue: Identifying Histories: Eastern Europe Before and After 1989, S. 133–166, hier S. 147–149. 79 Vgl. beispielsweise Šmidt: Arbatskij Archiv, S. 29–31.
211
53. Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1963) Nr. 4, S. 18, Abb. 11 und 12. Um 1960 erfolgte ein deutlicher Bruch in der bildlichen Darstellung von Räumen, in der Fotografie, aber auch in der Gebrauchsgrafik, in der Dekoration der Schaufenster und im Schnitt der Kleider. Die Zeitschrift Stroitel’stvo i architektura Moskvy bekam Einkleber, farbig aquarellierte Visualisierungen von Projekten. Der visuelle Bruch entsprach dem Unterschied zwischen Gor’kijstrasse und Kalinin-Prospekt. Die sowjetische visuelle Kultur der sechziger Jahre war vom Weltraum, Sputnik, Technik- und Wissenschaftskult geprägt. Im Rahmen des SiebenJahr-Plans von 1959–1965 wurde eine intensive Bildpropaganda betrieben. Der Kalinin-Prospekt, mitten im altehrwürdigen Stadtviertel Arbat gelegen, drückte all dies in seiner Formensprache aus, in seiner vertikalen Architektur, seiner Materialität, Beleuchtung und nicht zuletzt in den Schaufensterdekorationen und dem Design der neuen Automodelle, denen Flügel wuchsen. Schon diese Darstellungen aus der Moskauer Architekturzeitschrift weisen in die Zukunft. die dynamischen, modisch gezeichneten Skizzen sind von vielen Menschen belebt, Autos, Möbel und Kleidung sind betont modern und unbelastet von schweren Einkaufstaschen.
Heller wird. …Welch Elan Im Atem des Gedröhns… Nachdem die irdische Stagnation Überwunden wurde, Sieh mal an! Wohin das Land Geschritten ist: Vom Sturm Des Winterpalastes – Zum Kosmos!80 (Aleksandr Laškevič)
Der neue Arbat war buchstäblich als Text gestaltet, hatte Zeichencharakter, war ein einziges Kommunikationsgeschehen, das die „neue Zeit“ medial, sinnlich, optisch, akustisch und kulinarisch-kommerziell vermittelte, denn neben den festlich erleuchteten Fenstern der Hochhäuser spielten Schaufensterdekorationen, Ladengestaltungen und ihre Sputnik- und Weltraum-Symbolik sowie Neonbeleuchtung und Restaurants eine wesentliche Rolle. Symbolisch stand der Kalinin-Prospekt auch für eine Abkehr vom Ornament der Stalinzeit, vor allem aber für eine rasante Modernisierung in den sechziger jahren, für den Fortschritt bis hin zur Eroberung des Weltraums. Außerdem stellte er sich als sowjetischer Times Square dar. Auffallend sind der großzügige Einsatz von Neonbeleuchtung und die vereinheitlichte Schaufenstergestaltung. Offenbar sollte die Stadt bunter, heller und fröhlicher werden. Bereits 1958 gab es „Vorschläge zur Verbesserung der Versorgung der Stadt Moskau Mythos Arbat mit Handelsreklame“ und eine internationale Konferenz zum Austausch mit anderen sozialistischen Ländern.81 In der Folge wurden immer wieder tschechische Spezialisten für Neonreklame nach Moskau geholt.82 1960 löste das „Amt für städtische Gestaltung und Reklame“ die Stelle für Innengestaltung und Reklame der Hauptverwaltung des Ispolkom ab. Es hatte sechs Abteilungen und 2160 Angestellte unter sich.83 1963 wurden in der Stadt Moskau über 560 verschiedene Neonbeleuchtungen gefertigt und montiert, gab es insgesamt bereits 4500 Neonanlagen. Für Schaufenster wurden typisierte Fertigteile hergestellt, Fotos, Schriftzüge und Poster bildeten einheitliche Gestaltungs elemente. In den fünf 24-geschossigen Türmen der rechten Seite des Kalinin-Prospekts fanden je 280 Wohnungen Platz. Im Erdgeschoss und in den zweigeschossigen Bauten zwischen den Türmen waren Läden und Restaurants untergebracht. Das Kino „Oktjabr“ fasste in zwei Sälen 3000 Zuschauer und war das größte der Hauptstadt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ragen vier 26-geschossige Bürohäuser auf, in denen ursprünglich vor allem Ministerien untergebracht waren. Die Gebäude, deren Form an aufgeschlagene Bücher erinnert, sollten sich ursprünglich
80 Moskva liričeskaja. Antologija odnogo stichotvorenija. Hg. von Mark Lisjanskij und Nikolaj Tarasov. Moskau 1976, S. 206. 81 CMAM F. 1864 (Upravlenie gorodskovo oformlenija i reklamy), op. 1, d. 38–42. 82 CMAM F. 1864, op. 1, d. 63 und 99. 83 CMAM F. 1864, op. 1, d, 136, l. 1–9.
54 Aquarellierte Skizze farbig aus Stroitel’stvo i Architektura Moskvy (1961) Nr. 12, S. 12 „Blick in Richtung Gartenring“, aus einer Reihe ähnlicher Visualisierungen des Neuen Arbat.
nicht gegen den Gartenring, sondern in Richtung des Kremls öffnen. Ein über 850 Meter langer, zweigeschossiger Sockelbau mit Läden und Restaurants bindet die Hochhausscheiben zusammen. Erschlossen werden die Gebäude durch einen Tunnel, der unter dem Trottoir der Fassade entlangführt. Beim Bau der Komplexe kamen industrielle Baumethoden mit einem „offenen Elementkatalog“ zum Einsatz. Der Prospekt erhielt 1966 mit dem Grand Prix des Pariser „Centre de recherches architecturales“ internationale Anerkennung. Der Neue Arbat wurde und wird von der Bevölkerung als Einkaufsstrasse rege genutzt, er galt als eines der wenigen Beispiele großmaßstäblicher Eingriffe, das „funktioniert“.
Der Kalinin-Prospekt als Garten des Sozialismus Symbolisch inszeniert war die neue Achse vor allem als Konsummeile in einer Gesellschaft, die sich langsam zur Konsumgesellschaft wandelte: großzügige Schaufensterfronten, Geschäfte und Restaurants säumten den Prospekt, der bei den stiljagi bald den Beinamen brodvei erhielt, der zuvor der Gor’kijstrasse vorbehalten war. Hier befand sich neben zahlreichen Restaurants und Cafés auch Moskaus prestigeträchtiges Friseurgeschäft „Čarodejka“ (Zauberin). Zwischen den nunmehr zwei Hauptstrassen des Zentrums, der Gor’kijstrasse und dem Kalinin-Prospekt, gab es weitere Parallelen. Mit beiden setzten sich die Herrscher ein Denkmal, beide sollten neu und modern sein und das Stadtbild grundlegend erneuern. Bei beiden wurde für die Anlage einer breiten Achse ein altes Stadtviertel brutal verändert. Beide sollten durch ihre idealen Räume ein neues Bild von Stadt schaffen und wurden in Fotografien und aufwändigen Bildbänden visuell verbreitet. Sie markierten jede in ihrer Zeit einen Bruch in der visuellen Kultur und repräsentierten Macht über die sichtbare Welt. Der Kalinin-Prospekt unterscheidet sich von den stalinschen Magistralen im architektonischen Ausdruck und der Zielrichtung der Repräsentation, nicht aber in der Dimension. Letztlich bildet auch der Neue Arbat nur eine Kulisse, die das dahinter liegende Viertel verdeckt. Der Neue Arbat dreht dem alten den Rücken zu, Querstrassen, die eine Verbindung herstellen könnten, enden als Sackgasse an der Rückwand eines Konferenzsaales oder an schmalen Treppenaufgängen,
213
die zum höher gelegenen Prospekt führen.84 Es gibt keinerlei räumliche Durchlässigkeit, die das umliegende Viertel mit einbezieht. Die Magistralen hatten ganz verschiedene Funktionen und Bedeutungen. Die sternförmige Ausrichtung vom Zentrum der Macht im Kreml aus stand symbolisch für den Anspruch auf die Herrschaft über das ganze, riesige Reich. Überall erwähnt ist aber auch der Umstand, dass diese neue Achse nach Westen den Kremlherrn einen direkten Weg zu ihren dačas freimachte. Das ist eine völlig andere Ebene der Inszenierung von Macht. Die Art und Weise, wie brutal der neue Arbat dem alten Arbat den Rücken kehrt, wirft ebenfalls die Frage nach der Bedeutung eines solchen städtebaulichen Konzeptes auf, das einen Bruch mitten in einem traditionsreichen Stadtteil hervorruft. Gedichte der Klage über den Verlust der „alten Zeit“ und des Ruhms auf den Fortschritt begleiteten den Bau des Kalinin-Prospekts.85 Moskaus erste Fußgängerzone In den achtziger Jahren bemächtigte sich das offizielle Moskau des Arbat. Die Stilisierung zum „Alten Moskau“ äußerte sich in einer Flut von Zeitungsartikeln und Publikationen. Nun entstanden an ehemaligen Wohnorten von Künstlern und Schriftstellern „Wohnungsmuseen“: Ein Puškin-Museum, eines für Marina Cvetaeva, eines für Andrej Belyj, das Herzen-Museum und das Asakov-Museum legen sich als Kulturtopografie über das Viertel. Die Vereinnahmung durch die Obrigkeit nahm dem Arbat den dissidenten Charakter: Sie zähmte ihn durch die Überführung in die Massenkultur. Die alte Arbatstrasse selbst wurde schließlich 1986 zur ersten Fußgängerzone Moskaus umgebaut.86 Viele beklagten daraufhin diese Europäisierung einer traditionellen russischen Strasse.87 Die Geschäftsstrasse, durch die sich vorher Autos, Lastwagen und eine Tramlinie wanden, wurde zur ersten Flaniermeile Moskaus. In Nachahmung westlicher Vorbilder stellte man Kugellampen auf, die alte GaslaMythos Arbat ternen imitieren. Der Umbau der Strasse erhielt von den Moskauern sogleich den Übernamen „Porzellanstil“. Reiche Zuzüger ließen sich in den teilweise zu teuren Einzelwohnungen sanierten Kommunalwohnungen nieder. Doch nach der Umwandlung, noch zu sowjetischen Zeiten, wurde der Arbat auch zum Tummelfeld jugendlicher Gegenkulturen. Das war wohl kaum geplant gewesen. Hier boten Portraitzeichner ihre Dienste an, hier imitierten Jugendliche Gitaristen Vladimir Vysockij, andere übten sich in breakdance, die Touristen zogen Schwarzhändler an. Die Reaktionen in der Presse waren gemischt. Die Miliz schaute dem bunten Treiben höchstens zu, griff aber nur selten ein. In der Presse riefen manche nach Ordnung, andere sahen im Auftreten unterschiedlicher Strömungen unter den sowjetischen Jugendlichen den Trend der Zeit.88 Schockiert waren vor allem die alten Intellektuellen, die Anhänger des Arbat-Kultes, für die das Arbatviertel ein gepflegtes Rückzugsgebiet gewesen war. „Das ganze Assortiment der vaterländischen mat’-Kultur“ versammle sich nun hier, wie sich ein Kritiker äußerte.89
84 Huber: Hauptstadt, S. 100–110. 85 Moskva liričeskaja. Darin die Gedichte von Ėl’mira Kotljar und Aleksandr Laškevič. 86 Projektierungsvisualisierung in Mosca. Città dell’utopia. Gegensätze zwischen Planung und Nutzung werden hier gut sichtbar: Im Projekt gibt es nur Flaneure, in Wirklichkeit ist der Strassenraum von Buden verstellt, Straßenkünstler beanspruchen ihn, Jugendliche „lungern herum“. 87 Schröder: Spiele, S. 82. Levin: Arbat, S. 28. 88 Schröder: Spiele. 89 Vešninskij: Sociokul’turnaja topografija, S. 204.
Während der Perestrojka wurde die Strasse gerade wegen dieser Nutzung des öffentlichen Raums als Bühne der Selbstdarstellung durch jugendliche Gegenkulturen zum Austragungsort von sozialen Konflikten. Jugendliche vigilante Bewegungen entstanden, in Moskau vor allem die Ljubery aus der südöstlich von Moskau gelegenen Arbeitervorstadt. Sie zogen aus, um mit „westlichen“ Einflüssen aufzuräumen, die sie besonders in Punks und anderen auffällig gekleideten Jugendlichen Gruppierungen zu erkennen meinten. In diesem Zusammenhang wurde gerade die Arbatstrasse zum Schauplatz von Schlägereien, bei denen sich die Polizei auffallend zurückzuhalten schien.90 Heute ist der Arbat einerseits Touristenattraktion, die von Souvenirständen, Museen und Cafés geprägt ist. Im Gegensatz zu den neueren, von teuren Boutiquen gesäumten Fußgängerzonen, trifft sich auf dem Arbat jedoch immer noch die Jugend- und Drogenszene, gibt es Buden, Stände und Straßenkünstler, verkaufen Leute Kätzchen oder Windspiele aus Kartonschachteln. Hier bummelt das Volk. Es gibt etwas zu sehen, es herrscht Jahrmarktatmosphäre.
Bedeutungen Am Arbatviertel zeigt sich beispielhaft die Vielfalt von sich überlagernden Räumen und Bedeutungen an einem Ort. Die Märkte als Zentren der Kommunikation waren mögliche Keime einer Gegenöffentlichkeit und entzogen sich der Kontrolle ebenso, wie die verwinkelten Gassen und Höfe des Arbatviertels. Die Märkte wurden reguliert oder geschlossen. Das gelang nur durch rabiate bauliche Maßnahmen, die den topographischen Ort zum verschwinden brachten durch Strassen und Tunnels oder Grünflächen und zusätzlich symbolisch durch Umbenennung. Die Bedeutungen der täglichen Wege veränderten sich nach der Revolution durch die neuen Wohnverhältnisse und die schwierige Versorgungslage. Die Bewältigung des Alltags absorbierte viel Zeit und Kraft und führte zu neuen Wahrnehmungsmustern der Räume und zu neuen sozialen Netzwerken, wie Marina Cvetaevas Tagebücher zeigen. Der Arbat als ganzes Viertel vereinte verschiedene Funktionen und war auch auf der repräsentativen Ebene immer mehrdeutig. Er war kultureller Ort, sozialer Raum des Intellektuellenmilieus, und wurde politisch instrumentalisiert. Alt kämpfte hier gegen Neu, eine Polarisierung, die dem früher viel durchlässigeren und flächigeren Viertel in Gestalt der beiden Hauptadern bis heute erhalten geblieben ist. Der Bau des Kalinin-Prospektes beanspruchte topographisch, aber auch in der Namengebung die Herrschaft über das alte Viertel. Dagegen war in den sechziger Jahren bereits Protest möglich. Heute heißt die Strasse wieder Neuer Arbat. Der alte Arbat, geplant als Museum und Flaniermeile, wurde anders besetzt, allerdings in erster Linie von trash-Kultur, also im Gegensatz zur postulierten intellektuellen Tradition des Viertels.
Macht, Kommunikation, Lebenswelten Wichtige Orte von Öffentlichkeiten waren im Arbatviertel vor 1930 die Plätze, auf denen auch die Märkte stattfanden. Wie die Tagebucheintragungen von Marina Cvetaeva zeigen, sprachen hier völlig Unbekannte öffentlich miteinander, trugen soziale Konflikte aus oder gaben zumindest ihre Kommentare dazu. Parallel zur Kollektivierung wurden um 1930 die meisten Märkte 90 Jim Riordan: Teenage Gangs, „Afgantsy“ and Neofascists. In: Soviet Youth Culture. Hg. von Jim Riordan. Bloomington, Ind. 1989, S. 122–142, hier S. 123 und 126.
215
auf den Plätzen der Stadt Moskau geschlossen: Sie waren soziale Knotenpunkte, Umschlagplätze für Neuigkeiten und Waren. Erst wurden hier neben Lebensmitteln nutzlos gewordene symbolische Güter der alten Eliten feilgeboten. Später wurden die Märkte selbst zu Symbolen des vorrevolutionären Wirtschaftssystems. Bereits 1933 wurde der Smolensker Platz zur Grünfläche umgestaltet, nach dem Krieg entstand hier das Außenministerium als eines der sieben Hochhäuser. Allerdings hinterließ dieses Ereignis keine Spuren als Diskursereignis. Das Gebäude lag am Rand des Viertels, und der Markt auf dem Platz war schon 1930 aufgelöst worden. In den zwanziger Jahren blieb auch das „Praga“ mit seinen Speisehallen, Restaurants, Bars und Spieltischen ein öffentlicher Raum des Vergnügens und des Nachtlebens, ein Freiraum. In den dreißiger Jahren änderte sich das: Die Hierarchie der Preise wurde von der Hierarchie der Zulassungsbeschränkungen abgelöst, als das „Praga“ zur geschlossenen Kantine der umliegende Institute wurde. Die Arbatstrasse blieb zentrale Achse des Viertels, an der sich ein Geschäft an das andere reihte. Die Höfe standen im Gegensatz zur durch die Posten kontrollierten Strasse. Die Posten verkörperten buchstäblich die staatliche Gewalt. Die tägliche Durchfahrt Stalins schuf einen Raum der Macht, der die lokalen Räume überlagerte und das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten symbolisierte. Nach der Revolution bedeutete die Auffüllung der Wohnungen und ihre Umwandlung in Kommunalwohnungen ein Mittel horizontaler sozialer Kontrolle, das aber wegen der weit reichenden Homogenität der Bewohner, die meist gebildeten Schichten angehörten, vor dem Krieg im Arbatviertel nur bedingt zum Tragen kam. Im Bewusstsein einer gewissen quartiereigenen „kulturellen Identität“ drückte sich Eigensinn aus. Viele Arbatbewohner waren Angehörige der vorrevolutionären bildungsbürgerlichen und teilweise auch aristokratisch geprägten Schichten. Sie hielten an ihrem kulturellen Habitus, Geschmack und Lebensstil, an Werten und Idealen wo möglich fest. Das belegt beispielsweise Mythos Arbat Marina Cvetaevas ausgeprägter Eigensinn, der sich auch in ihrem alten Freundeskreis manifestierte. Sie fürchtete die Krätze nicht und bekam sie auch nicht, was sie auf eben ihre Furchtlosigkeit zurückführte. Solche Haltungen wurden durch mehrere Entwicklungen bestärkt: Während der NĖP schlossen die neuen Machthaber einen Pakt mit den „Spezialisten“, von denen viele im Arbatviertel lebten und so auch hier bleiben konnten oder neu hinzuzogen. Zur Zeit der ersten Fünfjahrpläne entstanden Wohnhäuser für bestimmte Gruppen der Bildungselite, beispielsweise 1933 für die Schriftsteller. Zahlreiche Angehörige der zentralen Verwaltung lebten im Arbatviertel, es gab privilegierte Schulen und Krankenhäuser. All dies trug weiter zum Prestige des „Intellektuellenviertels“ bei. 1934 wurden schließlich mit der Gründung des Moskauer „Instituts für Literatur und Philosophie“ (IFLI) genau die traditionellen Bildungsideale wiederbelebt, die sich die zahlreichen den vorrevolutionären Bildungseliten angehörenden Arbatbewohner bewahrt hatten.91 Sie konnten sich gewissermaßen in ihrem „Eigensinn“ bestätigt fühlen. 1937 prägten die nächtlichen Abholungen auch das Leben des Arbatviertels. Hinzu kam die gemäß Jampol’skij allgegenwärtige, unsichtbare und umso furchterregendere Kontrolle des Viertels durch Stalins Wachposten. Dieses Gefühl wich nach 1953. Nun konnten sich neue Räume bilden. Die besondere Identität des Viertels wurde nochmals bestätigt durch die Entstehung des „Arbat-Kults“ – oder vielmehr: Das Bewusstsein einer besonderen Identität machte den Kult 91 Frances Nethercott: Une école pour l’élite. In : Moscou 1918–1941. De „ l’homme nouveau “ au bonheur totalitäire. Hg. von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 213–224.
55. Das Schaufenster des Modegeschäftes Sintetika auf dem Kalinin-Prospekt um 1970. In: G. V. Makarevič: Prospekt Kalinina. Moskau 1975, S. 148. Das Schaufenster des Modegeschäftes „Sintetika“ auf dem Kalinin-Prospekt um 1970. Die ethnisch gemischten Schaufensterpuppen verleihen der Auslage internationales Flair. Am auffälligsten sind die kräftigen Farben, die dem Klischee vom sowjetischen Einheitsgrau widersprechen. Die Aufnahme ist einem großformatigen Bildband über die neue Magistrale entnommen. Die Achse ist ein Prestigeobjekt mit internationaler Ausstrahlung und als solches ins Bild gesetzt.
erst möglich. Der Bau des Kalinin-Prospekts zwischen 1964 und 1969, für den 1962 der Abriss eines Teils des Viertels inklusive „Hundeplätzchen“ begann, wurde zum Gegenstand öffentlicher Debatten. Der „Arbat-Kult“, der sich parallel dazu entwickelte, konstruierte die Vergangenheit des „gepflegten Intellektuellenviertels“ als politisches Ziel. Okudžava betonte den Eigensinn der Bewohner. Die Debatte verlief stark polarisiert, das „alte Moskau“ stand gegen die „neue Zeit“. Die Debatte des Alten und des Neuen drehte das revolutionäre Narrativ radikal um. Dass dies möglich war, ist erstaunlich. Die Bürgerproteste nährten sich aus dem Milieu des künstlerischen Untergrunds, der Maler Boris Birger und der Barde Bulat Okudžava engagierten sich hier. Es gab linientreue Lyrik zum Lob auf die neue Magistrale und elegische Klagelieder über den Verlust des alten Moskau. Aber es gab kein alternatives Programm, es ging nur gegen den Abriss, deshalb fühlte sich die Führung wohl auch nicht gefährdet. Der Name Kalinin-Prospekt, den die Magistrale der sechziger Jahre erhielt, die ursprünglich „Neuer Arbat“ heißen sollte, weist – neben der Gewalthaftigkeit des städtebaulichen Eingriffs – auf eine versuchte Umbenennung des Viertels hin. Die neue Magistrale war als demokratisch verglaste, futuristisch beleuchtete Konsummeile inszeniert und fand mit ihrem breiten Angebot an Ladengeschäften und Restaurants und dem größten Kino Moskaus durchaus begeisterte Akzeptanz bei der Bevölkerung. Allerdings richtete sich die neue Magistrale in ihrer Maßstäblichkeit gar nicht an die Bewohner des Viertels, denen sie auch formal den Rücken kehrte und mit dem sie städtebaulich durch nichts verbunden war. Die Magistrale hatte vielmehr symbolischen Wert für die Öffnung nach Westen, aber auch als Teil der perfekten Gegenwelt der Heterotopien: Diese „anderen Orte“, topografisch eigentlich losgelöst von ihrer Umgebung, entschädigten die Bürger für die Defizite des Alltags.92 Die neue Magistrale zeigte das Selbstbewusstsein nach dem Sputnik-Erfolg und richtete sich an die sowjetischen Konsumenten. Damit wurde ein weiteres Narrativ, nämlich das bisherige Narrativ der Zeremonialachsen als Paradewege und somit die „In-Marsch-Setzung“, nicht figürlich, sondern nur symbolisch bedient, als Weg in die leuchtende Zukunft. Das dürfte der Kernpunkt des Unterschiedes zwischen der Gor’kijstrasse und dem Kalinin-Prospekt sein.
92 Michel Foucault: Andere Räume. In. Stadt-Räume. Hg. von Martin Wentz. Frankfurt a. M. usw. 1991, S. 65–72.Dazu ausführlich im Kapitel „Folgerungen“.
217
Novye Čeremuški
Novye Čeremuški Nr. 9 und Nr. 10 56. Plan Moskvy: kartoschemy, ukazateli spravočnye svedenija. Hg. von M. V. Balabanov. Moskau 1968, Plan 14 (Ausschnitt, Beschriftung durch die Autorin) Dieses „Kartenschema“ ist ein Beispiel für den scherenschnitt artigen und ungenauen Charakter der sowjetischen Stadtpläne nach dem Beginn der großen Geheimhaltung 1936. Die Metrostation in der Mitte des unteren Kartenrandes ist die 1962 eröffnete Station Akademičeskaja. sie befindet sich unmittelbar neben dem kvartal Novye Čermuški Nr. 9. Dieses zwischen 1956 und 1957 errichtete kvartal liegt im Dreieck zwischen
Nr. 9
Nr. 10
der Profsojuznaja, der Ulica Televidenija und der (hier nicht angeschriebenen) Ulica Grimau, an der
Akademičeskaja
sich das Kino Ulan Bator befindet. Das kvartal Nr. 10 wurde oberhalb der Ulica Televidenija geplant. Das „Haus neuen Lebens“ liegt an der Ecke zur Bol’šaja Čeremuškinskaja Ulica. Die Ulica Televidenija wurde in den siebziger Jahren in Ulica Švernika umbenannt.
Der Südwesten als Entwicklungsgebiet Der Südwesten war im Generalplan von 1935 als das wichtigste Entwicklungsgebiet der Stadt ausgezeichnet. Die zentrale Entwicklungsachse war der als breiter Grünstreifen parkähnlich geplante Prospekt des „Palastes der Sowjets“, der auf den geplanten Palast der Sowjets zulief. Von dieser zentralen Sonne strahlten die neuen Magistralen fächerförmig aus. Einer von fünf Planungs-Rayons im Südwesten hieß „Raion Čeremušek“. Nach dem Krieg entstanden im Zusammenhang mit dem Bau der Universität ausgedehnte Neubauviertel entlang der Entwicklungsachse des Leninskij Prospekt. Allein im Jahr 1950 wurden in Čeremuški 27 Häuser mit rund 28 000 Quadratmetern Wohnfläche gebaut. Die neuen Wohngebiete im Südwesten sollten das Zentrum entlasten und den Abbruch baufälliger Häuser ermöglichen, um Boulevards und Parks zu schaffen. Bereits in den dreißiger Jahren gab es Experimente mit der Großblockbauweise und standardisierter Massenbauweise, nachdem das ZK der Kommunistischen Partei am Juniplenum 1931 beschlos L. Bumažnyj: Planirovka jugo-zapadnogo raiona v moskve. In: Architektura SSSR (1936) Nr. 9, S. 3–8, hier S. 6. Eine frühere und verkürzte Version dieses Kapitels erschien unter dem Titel: Schneller wohnen in Moskau: Novye Čeremuški Nr. 9, das erste Viertel in industrieller Massenbauweise, 1956–1970. In: Städteplanung – Planungsstädte. Hg. von Bruno Fritzsche. Zürich 2006. Bumažnyj: Planirovka jugo-zapadnogo raiona, S. 6. Central’nyj archiv naučno-techničeskoi dokumentacii (CANTDM) Fond 41 (Naučno-issledovatel’skij i proektnyj institut General’nogo plana g. Moskvy, 1932–1979), opis 1, delo 285 (Architekturno-planirovočnye masterskie upravlenija po delam architektura Mossoveta. Pljasnitel’naja zapiska k svodnomu planu razmeščenija žiliščnogo stroitel’stva po g. Moskve v 1950–1951 gg. I otvennym učastkam dlja stroitel’stvo posledujuščich let), lic 82. Moskva. Architerkturnyj Putevoditel’. Moskva 1960, S. 24.
219
57. Südwesten aus Sovetskaja Architektura, 1917–1957, Moskau 1957 Der Südwesten Moskaus war im Generalplan von 1935 als Wohnzone ausgewiesen. Nach dem Krieg entstanden im Zusammenhang mit dem Bau der Universität ausgedehnte Neubauviertel entlang der Entwicklungsachse des Leninskij Prospekt. Die neuen Wohngebiete im Südwesten sollten das Zentrum entlasten und den Abbruch baufälliger Häuser ermöglichen, um Boulevards und Parks zu schaffen. Sie zeigen aber auch, dass die Hinwendung zum Massenwohnungsbau nach 1954 kein völlig unvorbereiteter Bruch war. Allerdings waren diese Wohnungen noch Gemeinschaftswohnungen, während das zentrale Versprechen Chruščevs die Familienwohnung war. Im Vordergrund sind die Superblöcke mit den großen, geschlossenen Innenhöfen zu erkennen. Im Hintergrund die Moskauer Staatsuniversität MGU.
sen hatte, neue Baustoffe und die Standardbauweise einzuführen. Vor allem der Architekt Andrej Burov entwickelte vorgefertigte Elemente. 1937 nahm die KPdSU die Typenbauweise ins offizielle Programm auf, und 1944 entstand das erste Wohnhaus aus vorgefertigten Elementen in Moskau
L(azar) M. Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus und anderer Städte in der Sowjetunion. Moskau usw. 1931, S. 142. Die Zeitschrift Architektura SSSR berichtete in (1933) Nr. 5, S. 42–47 ausführlich über neue Konstruktionstechniken und –Materialien. Auf S. 46–47 sind Fotos von Baustellen mit Großblockbauweise zu sehen.
am Leningradskij Prospekt Nr. 27. Die Standardisierung des Wohnungsbaus galt als egalitär und war eines der städtebaulichen Prinzipien der zwanziger Jahre, die Eingang in den Generalplan von 1935 fanden. Nun lagen die Prioritäten jedoch beim Stadtbild und nicht bei der Nutzung. 1941 stellte eine Architekturzeitschrift Wohnhäuser mit Grundrissen vor, die entlang der Magistralen geplant waren. Unerwähnt blieb der Umstand, dass es Einzelwohnungen nur für hohe Funktionäre gab. Die großen Wohnblocks mit typisierten Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnungen, die im Südwesten entstanden, dienten als Gemeinschaftswohnungen. Der Traum von der eigenen Wohnung für eine Familie war noch fern. Der deutsche Kommunist und Schriftsteller Ludwig Renn besuchte 1931 einen Kollegen in einem von Moskaus Neubauvierteln. „Die Treppe war hell. Er schloss seine Tür auf und drehte das elektrische Licht an. Ein quadratischer weißer Vorsaal. Aus einer Tür kam seine Frau. „Habt ihr denn die ganze Wohnung?” „Nein, hier wohnen noch ein Ehepaar und zwei Jungarbeiter. Da ist unser Zimmer.” Am Fenster war Zentralheizung. Über dem Bett hing eine bunte ukrainische Bauernstickerei. Ein Büchergestell, Schreibtisch, Kommode, Esstisch. Mehr war nicht darin. „Jetzt bekommen wir zwei Zimmer, auch hier in der Siedlung, weil ich Schriftsteller bin. Die meisten von uns hatten bisher nur ein Zimmer. Die ganze Familie und alles in einem Zimmer, da kannst du schwer arbeiten.” „Und wie wohnt das andere Ehepaar? Sind das Arbeiter?” „Ja. Gehen wir doch mal hinüber!” In der Küche stand eine alte Frau mit Kopftuch. Ein kleiner Junge mit einer riesigen Schafspelzmütze sah staunend zu mir auf. Links ein grosser eiserner Herd, dahinter der Ausguss mit einem Wasserhahn. Alle diese Einrichtungen gab es ja bisher noch nicht in Arbeiterwohnungen. Unter dem Fensterbrett war ein Wandschrank zum Kaltstellen. „Gefällt es Ihnen hier?” fragte ich die Frau. „Schön ist’s! So hell!” Sie zeigte nach der elektrischen Birne die ohne Lampenschirm von der Decke hing. „Kann ich mal Ihre Stube sehen?” „Aber gewiss!” Sie ging voraus, der kleine Junge hinterher, die hohe Pelzmütze weit im Nacken. Alte verschnörkelte Möbel standen in der Stube. Auf den Boden war ein Zeugstreifen gelegt. Ich hütete mich danebenzutreten, denn da lag nicht ein Stäubchen. „Sauber ist’s bei Ihnen!” „Ja, sauber muss es bei mir sein. Sehen Sie, der Sophabezug ist ein Stück übers andere geflickt. Wir haben’s nicht besser. Aber sauber ist alles.” „Sogar ein Badezimmer ist da!” sagte der Schriftsteller. „Und ein Wandschrank auf dem Vorsaal für die Besen und Scheuersachen!” „Und was ist das für eine Tür?” „Da wohnen die beiden Jungarbeiter.” Er klopfte an. „Sie sind wohl nicht zu Hause. Ein Muselmane und ein Ukrainer.” „Und was sind das für Leute?” „Fleißige Burschen! Die wissen, was sie wollen!” Beispiele für den Südwesten finden sich in Architektura i Stroitel’stvo Moskvy (1936) Nr. 9, S. 9–14. Zur Entwicklung der standardisierten Typenbauweise vgl. auch Christine Hannemann: Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR. Wiesbaden 1996, S. 49–51. Architektura SSSR (1941) Nr. 4, S. 30–35. Ludwig Renn: Russlandfahrten. Berlin-Ost o.J. (verfasst 1931), zit. nach Reise nach Moskau. Aufzeichnungen und Berichte, 1526–1972. Hg. von Klaus Kuntze. Frankfurt a. M. usw. 1980, S. 158–159.
221
Umsiedlungen Die Frage nach den Umsiedlungen bei Stadterneuerungen stellt sich in Moskau bis heute. Auch an der Stelle der Neubauviertel in Novye Čeremuški gab es vorher Häuser. Die Gegend hieß Viertel der Faulbeerbäume und war bis zur Stadterweiterung ganz und gar ländlich geprägt. Dazu gehörten kleine Holzhäuser mit Gärten und Staubstrassen, die sich bei Regen in Schlammrinnen verwandelten. Vor und während dem Abbruch dokumentierte das städtische Hochbauamt „Mosgorstroi“ (Moskovskoe gorodskoe stroitel’stvo) den Prozess und die Altbauten in Fotoserien und Filmen, die im Stadtarchiv bewahrt werden. Ein kurzer Film aus dem Jahr 1962 zeigt niedrige Holzhäuschen zwischen blühenden Büschen, alte Leute sitzen auf Bänken davor, ein Lastwagen versucht vergeblich, aus einem Schlammloch herauszukommen. Vor der so genannten „Rekonstruktionsperiode” wurde hier traditionell die typische stadtnahe Landwirtschaft betrieben: Obst, Gemüse und Beerenanbau in Gärten für die Versorgung der Stadt Moskau. Während der „Aufbauphase” weitete sich diese Funktion noch aus, so dass hier 10 Prozent des Moskauer Bedarfs an Gemüse produziert wurden. Die alten Beerengärten sollten bei der Rekonstruktion des Südwestens als Parkzonen oder in den Innenhöfen der Blöcke erhalten bleiben. An Tierhaltung gab es vor allem Schweinemästereien, die bei der Ausdehnung der Stadt verlegt werden sollten. Milchwirtschaft spielte im Südwesten eine untergeordnete Rolle. Die Gesamtbewohnerzahl der vom Zehnjahresplan betroffenen Gebiete wird auf ca. 8 000 beziffert, was jedoch angesichts der Ausdehnung der Neubausiedlungen als wenig erscheint.10 Für die Unterbringung der Moskauer Familien, deren Häuser während der „Rekonstruktion” Moskaus gemäß Generalplan von 1935 abgerissen wurden, gab es eine Zwischenlösung. Im Moskauer Zentralarchiv für wissenschaftlich-technische Dokumentation wird ein großes Präsentationsalbum mit Planfotografien aufbewahrt: Planungsarbeiten für die Umgebung der Stadt Moskau (prigorodnaja zona).11 Die Pläne aus dem Jahr 1934 entwerfen sternförmig Naherholungsgebiete im Grüngürtel, die durch die die Stadt verlassenden Eisenbahnlinien erschlossen werden. Romantische Tuscheskizzen zeigen Feriendörfer (gorod-otdycha), die sich um ehemalige Adels-Landsitze gruppieren, Pionierlager und Parkanlagen mit zentraler InfrastrukNovye Čeremuški tur (kul’tbazy) als Ausgangspunkt für Wanderungen oder Bootsfahrten. Vor allem aber waren zahlreiche Datschensiedlungen geplant: Ein Typen-Grundriss zeigt eine Datscha mit 1500 Quadratmeter Landanteil. Der „Opalinskij dačnyj kompleks” umfasst 1000 ha, der „Schodninskij dačnyj kompleks” 2500 ha. Weitere Siedlungen sollten in Chovrino, Perovo-Novogirevo, Zagorjanka, Losinostrovskij, Rastorgiev, Vjazovka, Michelson, Ramenki, Lianozovo und Ol’gino entstehen. Interessant ist die Legende zum Plan einer Siedlung bei Butovo. Diese Datschensiedlung war explizit für Bewohner von Häusern geplant, die im Zuge der Rekonstruktion Moskaus abgerissen werden sollten. Unklar bleibt lediglich, ob es sich um eine Übergangslösung handelte und die Familien später Wohnraum in städtischen Neubauten zugewiesen bekamen, oder ob die Stadtbewohner aufs Land umgesiedelt wurden. Die fehlende Infrastruktur (Schulen, Läden) und die Planung im Grüngürtel weist jedoch auf eine Zwischenlösung hin.
1 Central’nyj moskovskij archiv dokumentov na special’nych nositeljach (CMADSN), Video Nr. 5, Film Nr. 335. 10 Bumažnyj: Planirovka jugo-zapadnogo raiona, S.8. 11 CANTDM Fond 41, opis 1, del’ 11.
Nach Stalins Tod: Wohnungsbau als Waffe im Machtkampf um seine Nachfolge Die neue Regierung nahm vorsichtig Abstand von Stalins Terrormethoden. Mit dem Ende des Terrors wandelten sich die kulturellen Codes.12 Die Menschen wagten, Wünsche und Ansprüche an die Regierung zu äußern. Die Führungsriege um den neuen Machthaber Chruščev handelte informell, durch Rücksichten auf verbreitete Bedürfnisse und Forderungen, einen neuen ‚Gesellschaftsvertrag‘ mit der Bevölkerung aus. Dieser ungeschriebene Vertrag ließ den Regierenden das Monopol politischer Macht, die Kontrolle über die Medien und die Reisefreiheit. Dafür verbesserten sie die Versorgung mit Wohnraum und Konsumgütern und garantierten Vollbeschäftigung sowie ein funktionierendes soziales Netz. In diesem Zusammenhang ist die Mustersiedlung Novye Čeremuški in Moskau zu sehen.13 Der Mangel an Wohnraum war eines der drängendsten Probleme. Bei Stalins Tod 1953 war die Wohnungsnot in Moskau größer als vor dem Krieg. Um 1950 betrug die durchschnittlich verfügbare Wohnfläche pro Kopf in Moskau in etwa 4,2 Quadratmeter.14 Die Prunkbauten im Zentrum waren für die Stadtsilhouette und die Parteifunktionäre bestimmt und dienten in erster Linie der Repräsentation. Die Menschen lebten in vielfach unterteilten Gemeinschaftswohnungen, in Schlafsälen oder in Baracken am Stadtrand.15 Die Wohnungsfrage spielte eine zentrale Rolle sowohl im Kampf um die Macht als Mittel der Herrschaftslegitimation, als auch bei der Neuordnung der Gesellschaft infolge der Abkehr vom Terrorsystem. Zum politischen Programm Chruščevs gehörte deshalb eine Wohnbaupolitik mit dem Ziel, die Mehrheit der Familien endlich in eigenen Wohnungen unterbringen zu können. Das sollte sein größtes politisches Kapital werden. Chruščev war in den dreißiger Jahren Assistent des Leiters der Neuplanung Lazar’ Kaganovič in der Moskauer Bauverwaltung gewesen. Er hatte Andrej Burovs Experimente mit der Großblockbauweise – aufeinander geschichteten genormten Zementblöcken – und später mit Stahlbeton gefördert. Stalin hatte er zunächst davon überzeugen müssen, dass Beton kein kapitalistischer Baustoff sei.16 Auch die großen Neubauviertel im Südwesten sollten mit genormten Fassaden ausgestattet werden. An der Bol‘šaja Kalužskaja war schon in den dreißiger Jahren die Typisierung solcher Randbebauungen an der Peripherie erprobt worden, die im Massenwohnungsbau der Nachkriegszeit im Südwesten Moskaus ihre Fortsetzung fanden. Ivan Žoltovskij (1867–1959) experimentierte damals mit Varianten von vereinheitlichten Fassaden, die jedoch als zu eintönig empfunden wurden. Chruščev forcierte nun die Typenbauweise anstelle individueller Entwürfe und instrumentalisierte zugleich das Wohnbauprogramm im Machtkampf gegen seine Rivalen an der Parteispitze. Am Baukongress im Dezember 1954 bezogen die Architekten Schelte von Chruščev persönlich.17 Nicht schön sollten die Häuser sein, sondern schnell zu bauen, praktisch und kostengüns-
12 Nancy Condee: Cultural Codes of the Thaw. In: Nikita Khrushchev. Hg. von William Taubman, Sergej Khrushchev und Abbott Gleason. New Haven etc. 2000, S. 160–176. 13 David Christian: Imperial and Soviet Russia. Power, Privilege, and the Challenge of Modernity. London 1997, S. 365; N. Lebina: Žil’e. Kommunizm v otdel’noj kvartire. In: N(atalija) B(orisovna) Lebina, A(leksandr) N(ikolaevič) Čistikov: Obyvatel’ i reformy. Kartiny povsednevnoj žizni gorožan. St. Petersburg 2003, S. 162–194, hier S. 175. 14 Timothy Colton: Moscow. Governing the Socialist Metropolis. Cambridge, Mass. 1995, S. 798. 15 Sheila Fitzpatrick: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s. New York usw. 1999, S. 46 ff. 16 Colton: Moscow, S. 354. 17 Albrecht Martiny: Bauen und Wohnen in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg : Bauarbeiterschaft, Architektur und Wohnverhältnisse im sozialen Wandel. Berlin 1983, S. 91 ff. und S. 167 ff.
223
58. CMADSN 1–25875 „Eine Strasse in Novye Čeremuški”. Fotograf unbekannt, Aufnahme von Mosgorstroi (städtisches Bauamt) 1957 Mitte der fünfziger Jahre vermitteln die Fotodokumentationen von Mosgorstroi den Eindruck, dass in zwei architektonischen Epochen gleichzeitig gebaut wurde. Die 1956 und 1957 fertig gestellten Ensembles am Leninskij Prospekt und am Lomonosovskij Prospekt im Süd-Westen wiesen noch die Planungsmerkmale der Stalinzeit auf: Geschlossene Blockrand-Gevierte im neoklassizistischen Stil mit bogenförmigen Durchgängen und großen Innenhöfen säumten als „Superblöcke” die Magistralen und schufen Sichtachsen. Dokumentarische Amateuraufnahmen der Baubehörde Mosgorstroi dokumentierten die jeweils fertig gestellten Bauten.18
tig. Gestalterisch bedeutete die Entstalinisierung eine Abkehr von den reich mit Ornamenten verzierten Prunkfassaden und den Übergang von der geschlossenen Blockrandbebauung zur offenen Bauweise. Von nun an arbeiteten man daran, Planung, Bauorganisation und Wohnungsgrundrisse zu rationalisieren und erprobte neue Technologien. Der Schwerpunkt verlagerte sich bald von der ersten Generation von Häusern aus Backsteinmauerwerk mit vorgefertigten Decken und Innenwänden zur Großtafelbauweise (krupnopanel’noe stroitel’stvo): Die berühmte „Platte” war geboren. Bei der Bauorganisation standen Serienproduktion und Montage der Elemente im Vordergrund. Zunächst waren die Gebäude drei-, vier- und fünfgeschossig. So ist es noch auf den Modellfotos der kvartale 9, 11, 12, 13 und 14 in Novye Čeremuški zu sehen.19 Das hing damit zusammen, dass bis zu dieser Höhe keine Lifte eingebaut werden mussten. Einige Jahre später, als der Mangel an Liften behoben war, kamen jedoch acht- bis vierzehngeschossige Einheiten hinzu. Im Experimentalviertel Novye Čeremuški Nr. 10 besonders hervorgehoben wurde der weit reichende Einsatz vorfabrizierter Elemente. Im Verlauf der Entwicklung kamen unterschiedliche Materialien und Elemente zum Einsatz. Mit etwas Erfahrung lassen sich deshalb die Neubauviertel zeitlich ziemlich genau einordnen.
Novye Čeremuški
18 CMADSN Neg. Nr. 1–26197, Novye Čeremuški. 19 Architektura i stroitel’stvo Moskvy 8 (1956), S. 3.
Auch die räumliche Anordnung veränderte sich. Ab 1956 lässt sich langsam eine Lockerung der Platzierung der fünf- bis achtgeschossigen Wohnblöcke verfolgen. Gruppen frei stehender Mietshäuser in zunehmend asymmetrischen Anordnungen lösten gegen Ende des Jahrzehnts die symmetrischen und geschlossenen Gevierte der „Superblöcke” ab. Die offene Bauweise symbolisierte auch die gesellschaftliche Öffnung. Durch die Aufgabe des Konzeptes der geschlossenen Innenhöfe verschoben sich Grenzen. Das Leben in den neuen Vierteln sollten nicht hermetisch und im Privaten, sondern offen und kollektiv gelebt werden.20 Die experimentellen Viertel Novye Čeremuški Nr. 9 und 10 waren nach innen orientiert, die Wohnhäuser zu losen Gevierten angeordnet, zwischen denen sich parkähnliche Grünflächen, Spielplätze und die niedrigeren Kindergärten, Kinos, Läden und anderen Servicebauten befanden.
Novye Čeremuški Nr. 9
225
59. Ščusev Museum 21522: Novye Čeremuški Nr. 9, dom Nr. 6. Fotograf Tartakovskij, ohne Datum. Zu sehen ist ein Innenhof mit Schatten spendenden Bäumen, Bänken, einem Teich und spielenden Kindern. Eine junge Frau im Sommerkleid schiebt einen Kinderwagen. Die Szene spielt vor der Fassade eines vierstöckigen Klinkerbaus mit Balkonen. Die Aufnahme dürfte um 1959 entstanden sein. Das Planschbecken war ein beliebtes Motiv der Fotografen. Das Bild sollte die Lebensqualität in den Neubauvierteln zeigen. Die Bepflanzung wurde dabei besonders hervorgehoben. Die Bäume in den Grünanlagen wurden schon groß gepflanzt. Die Grünzonen knüpften an frühere Gedanken der Auflösung des Gegensatzes von Stadt und Land an. Tatsächlich waren die Umgebungen der Häuser stets bevölkert und die Bänke besetzt, weil die Wohnungen so klein waren. Zu den Planschbecken und den Bänken, von denen aus die Großmütter die Kinderchen bewachten, gesellten sich bald Schachfelder aus Zement für die Männer. Aufnahmen wie diese trugen dazu bei, dass sich im experimentellen Viertel Nr. 9 im Neubaugebiet Novye Čeremuški zwischen 1956 und 1958 für die Moskauer die Hoffnungen auf eine glücklichere Zukunft bündelten.
20 Iurii Gerchuk: The Aesthetics of Everyday Life in the Khrushchev Thaw in the USSR (1954–64). In: Style and Socialism. Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe. Hg. von Susan E. Reid und David Crowley. Oxford usw. 2000, S. 81–100, hier S. 87.
60. Plan aus Sovetskaja Architektura. Ežegodnik 1956– 1957. Moskau 1961, Kapitel über Novye Čeremuški Nr. 9, ohne Paginierung, Legende: Abb. 18 Schema general’nogo plana kvartala 1–14 Experimentalhäuser A Kinderkrippe mit 100 Plätzen Б Kindergarten mit 125 Plätzen B Speisehalle mit 250 Plätzen und Garküche im Haus Г Schule polytechnischer Ausrichtung Д Univermag (Kaufhaus) mit Dienstleistungsabteilung E ATS (Heizung) Ж Kino für 875 Zuschauer (heute: Kino „Ulan Baator“) И Wirtschaftsblock Л Geschäft „Fleisch – Fisch – Gemüse“ М Geschäft „Bakaleja – Gastronomija“ Н Einzelgaragen Die Häuser 13 A-B waren achtstöckig, die Häuser 1–12 vierstöckig.
Das „experimentelle“ Viertel Nr. 9 im Neubaugebiet Novye Čeremuški verkörperte zwischen 1956 und 1957 für die Moskauer die Aussicht auf eine eigene Wohnung. Hier entstanden ganze Fotoserien, die in der Architekturzeitschrift Architektura i stroitel’stvo Moskvy zu bewundern sind.21 Halbnackte Kinder baden in einer Parklandschaft zwischen den Wohnblöcken in malerischen Planschbecken, Mütter schieben Kinderwagen zwischen blühenden Rabatten.22 13 viergeschossige und drei achtstöNovye Čeremuški ckige Wohnhäuser boten Raum für rund 3000 Menschen.23 Das Besondere war, dass in Novye Čeremuški Nr. 9 Wohnungen für ganz normale Familien, nicht für Funktionäre entstehen sollten. Konsequent verwendet wurde der Zusatz „experimentell“ in den Publikationen, nicht nur bei einzelnen Gebäuden oder Wohnvierteln, sondern auch bei Möbelausstellungen. Dieser Zusatz stellte eine Art Rückversicherung dar. Er sollte ausdrücken, dass es sich um einzelne Musterexemplare handelte, die – einstweilen – nicht für alle verfügbar waren. Zugleich zeigte die Führung mit diesen „Experimenten“, dass sie um das Wohl ihrer Bürger besorgt und zukunftsorientiert tätig war. Das Wort hatte vertröstenden Charakter, denn Neuerungen auf breiter Basis mussten sorgfältig entwickelt und geprüft werden. Dagegen konnte niemand etwas einwenden.
21 In Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1957) Nr. 12, S. 3–10 kam ein ausführlicher Beitrag über das soeben fertig gestellte Viertel Nr. 9 mit einer Fotoserie des prominenten Stadtfotografen Naum Granovskij . 22 Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1960) Nr. 7, S. 3; Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1960) Nr. 12, S. 11, 12 und13. 23 Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1956) Nr. 5, S. 14.Colton: Moscow, S. 376.
227
61. Innenräume, Zeichnungen in Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1956) Nr. 6, S. 6. Das erste gebaute kvartal, Novye Čeremuški Nr. 9, hatte ähnlich utopische Züge wie die Metro: Es galt als Versprechen einer besseren Zukunft. Die Aussicht auf eine abschließbare Wohnungstür für eine Familie mit eigener Küche und einem Bad, das man nicht wie in der kommunal’ka mit dem ganzen Stockwerk teilen musste, beflügelte die Phantasie der Moskauer. Hinzu kamen eine Reihe von bislang für den Normalbürger kaum erreichbaren Annehmlichkeiten: Einbaumöbel und –Küchen in den Wohnungen und eine Infrastruktur mit Schulen, Kindergärten, Krippen, Parkanlagen, Kino, Cafeteria und Ladengeschäften darum herum. Da störte sich niemand daran, dass die Wohnungen winzig und eng waren.
Die Grundrisse und Perspektiven auf der linken Seite der Darstellung zeigen eine Einzimmerwohnung mit Alkoven für zwei bis drei Personen. Der Alkoven konnte mit einer Faltwand abgetrennt werden. Auf der rechten Seite sind zwei ähnliche Grundrisse mit Varianten von Einbauschränken ausgeführt. Einbaumöbel galten als besonders Platz sparend. Die Zeichnungen heben die Funktionalität und optimale Raumausnutzung der Kleinwohnungen hervor. Besonders liebevoll und detailreich sind die begehbaren Schränke gezeichnet. Im Gegensatz zu den Fotos werden auf den Möblierungsskizzen die Mehrfachnutzung und die Transformierbarkeit der Räume deutlich. Das verweist auf den Unterschied in der Aussage zwischen den Planskizzen und den Fotoreportagen über Familien in ihren Neubauwohnungen. Die Planskizzen und Fotos in der Architekturzeitschrift richteten sich an ein Fachpublikum und zielten darauf, die Funktionalität darzustellen. Die Fotoreportagen waren für ein breites Publikum bestimmt und stellten Repräsentationen eines sorgfältig inszenierten „Alltags“ in den fertigen Wohnungen dar.
Die typisierten Wohnungsgrundrisse Die Grundrisse der ersten Wohnungen waren so konzipiert, dass sich auf engstem Raum möglichst viele Menschen unterbringen ließen. Die Küche war keine Wohn-, sondern eine Arbeitsküche. Der Hauptwohnraum bildete das Zentrum der Wohnung. Um ihn herum gruppierten sich winzige Schlafzimmer oder Alkoven, die teilweise nur durch einen Vorhang abgetrennt werden konnten.24 Das Schema für mögliche Belegungen der Wohnungen macht deutlich, dass im Wohnraum immer auch geschlafen wurde. Obwohl für die Kernfamilie zugeschnitten, war das Zusammenleben von drei Generationen häufig, denn kleine Kinder wurden oft durch die Großmutter versorgt. Das erklärt die Vorliebe für offene Grundrisse gegenüber den größeren Wohnungsgrundrissen der Stalinzeit mit geschlossenen, funktional klar zugeordneten Räumen. Doch auch in der Stalinzeit waren Kleinwohnungen (malometražnye kvartiry) Zimmer mit Alkoven und Nischen gewesen. Die Ähnlichkeit der Grundrisse der größeren Wohnungen mit Mädchenkammer hinter der Küche und Herrenzimmer mit Kamin mit bürgerlichen Wohngrundrissen der vorrevolutionären Zeit ist auffällig. Sie verweisen auf den Umschwung der dreißiger Jahre hin zu Geschmacksmustern und Werten wie Autorität, Disziplin und Kompetenz. Dieser Geschmack orientierte sich an traditioneller Hochkultur einerseits und etwas Folklore Novye Čeremuški andererseits und war kurz zuvor noch 25 als „bourgeois“ beschimpft worden. Der damit verknüpfte Lebensstil inthronisierte die Familie als Keimzelle des stalinistischen Staates. Für die neue sowjetische Mittelschicht war dies eine willkommene Verschmelzung von Zukunftsvisionen mit vertrauten Wertmaßstäben. Die neue, sowjetische „Intelligencija“ der dreißiger Jahre schloss neben der „alten Intelligenz“ die vydvyžency, die Aufsteiger, ebenso mit ein, wie die Angehörigen der Bürokratie. In der Verfassung von 1936 bezeichnete Stalin diese soziale Gruppe neben Arbeitern und Kolchosbauern als einen der Grundpfeiler der sowjetischen Gesellschaft. Diese Gruppe legitimierte sich zunächst durch Bildung und kul’turnost’.26 Sie war relativ umfangreich an der Zahl, hatte an der Macht teil und hegte Wünsche und Bedürfnisse, die sie sich auch erfüllte. Dabei spielten die Wertmassstäbe der „alten Intelligenz“ eine Rolle, ebenso wie die Projektionen einer glorreichen Zukunft, die von Großprojekten und Aufbau-Enthusiasmus geprägt waren. Die „Mädchenzimmer“ hinter der Küche haben aber über den damit heute assoziierten „bürgerlichen“ Lebensstil hinaus auch den 24 Grundrisse zu Novye Čeremuški Nr. 9 in Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1957) Nr. 6, S. 6, 7, 11; Sovetskaja Architektura. Ežegodnik 1956–1957. Moskau 1961, Kapitel über Novye Čeremuški Nr. 9, ohne Paginierung. 25 Sheila Fitzpatrick: Becoming Cultured. Socialist Realism and the Representation of Privilege and Taste. In: Dies.: The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia. Ithaca usw. 1992, S. 216–237, hier S. 216. 26 Fitzpatrick: Becoming Cultured, S. 217.
Hintergrund, dass es bis in die fünfziger Jahre durchaus üblich war, „Dienstboten“ zu beschäftigen, häufig Verwandte aus dem Dorf. Sie kümmerten sich um den arbeitsintensiven Haushalt und die Kinder, während die Eltern arbeiteten. Sie hießen nun domrabotnicy und hatten Recht auf feste Arbeitszeiten und einen Mindestlohn.27 Bei der Interpretation von Grundrissen aus der Stalinzeit in Analogie zu Grundrissen des industrialisierten Massenwohnungsbaus seit den späten fünfziger Jahren ist größte Vorsicht geboten: Die Grundrisse von Wohnungen aus der Stalinzeit können nicht isoliert anhand ihrer Publikation etwa in einer Architekturzeitschrift betrachtet werden.28 Immer stellt sich auch die Frage nach der Verfügbarkeit und der tatsächlichen Belegung der Wohnung. Abgeschlossene Räume waren nämlich dazu geeignet und wurden auch dazu genutzt, in einer Dreizimmerwohnung drei Familien unterzubringen.29 Einen Tabubruch stellte in den novostroiki nach 1956 die Nasszelle dar: Die Toilette im Badezimmer war für die sowjetische Alltagskultur ungewöhnlich. In den 1941 entlang der Magistralen geplanten Wohnblöcken waren die WC’s immer vom Bad getrennt.30 Spätere Typengrundrisse haben die Trennung wieder eingeführt.31 Dies kann auch als Ausdruck der dichten Belegung der Wohnungen gesehen werden. Der offene Grundriss erlaubte alle möglichen Familienkombinationen und eine multifunktionale „Zonenplanung“ innerhalb der Wohnung.32 Der Mangel an individuellen Rückzugsmöglichkeiten in den Neubauwohnungen lässt sich aber auch als ideologisch begründet interpretieren. Weil der Gegensatz von Individuum und Kollektiv im sozialistischen Modell aufgehoben war, galt die Familie als „Teilkollektiv“, als Teilbereich eines einheitlichen Ganzen.33 Das wird durch die Transformation von Möbeln und Funktionen je nach Tageszeit nochmals unterstrichen. Transformierbare Möbel machten es möglich, dass der repräsentative, „öffentliche“ Charakter der Wohnräume tagsüber erhalten blieb. Verschiedene, imaginär getrennte Funktionen konnten so am selben Ort zu unterschiedlichen Zeiten untergebracht werden.34 Dass in der Arbeitsküche gegessen wurde, unterstreicht die Rationalisierung des Alltagslebens: Der Familientisch galt nicht mehr als sozialer Mittelpunkt, die Nahrungsaufnahme war in eine Arbeitszone verbannt.35
229
27 Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in Neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 3: Sowjetische Moderne und Umbruch. Zürich 2005, S. 254. William C. White: So lebt der Russe. Köln 1932 schildert, wie in seiner kommunal’ka im Arbatviertel die Hausgehilfinnen der Familien im Flur übernachteten. 28 So bei Cooke und Buchli. Cooke unterstreicht den eleganten Charakter der Wohnungsgrundrisse und die Qualitäten der Stalinarchitektur, ohne aber auf die extrem hierarchische Verteilung und die Machtförmigkeit des Wohnraums einzugehen. Gemessen an der Gesamtbevölkerung war der Anteil an Familienwohnungen, die auch tatsächlich von nur einer Familie bewohnt wurden, verschwindend klein. Catherine Cooke: Beauty as a Route to ‚the Radiant Future’: Responses of Soviet Architecture. In: Journal of Design History 10 (1997) Nr. 2. Special Issue: Design, Stalin and the Thaw. Guest Editor: Susan E. Reid, S. 137–160, hier S. 157; Victor Buchli: Khrushchev, Modernism, and the Fight Against petit-bourgeois Consciousness in the Soviet Home. In: Journal of Design History 10 (1997) Nr. 2, S. 161–176, hier S. 165. 29 Vgl hierzu für die Stalinzeit auch Kelly: Refining Russia, S. 243. 30 Architektura SSSR (1941) Nr.4, S. 30–35. 31 Vgl. die verschiedenen Formen in Novye Čeremuški Nr. 10 in Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1961) Nr. 4, S. 4–11. 32 Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1957) Nr. 6, S. 11 über maximale Ausnutzung durch die Möblierung mit und ohne Einbaumöbel, mit Schema und Tabelle für die Anzahl Betten, Schränke usw. 33 Vgl. hierzu auch Christine Hannemann: Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR. Wiesbaden 1996, S. 104. 34 Buchli: Khrushchev, S. 167. 35 Buchli: Khrushchev, S. 166.
62. Einzug CMADSN Nr. 1–21474, Aufnahme von V. Mastjukov für Sovinformbjuro, August 1958: „Portrait des Mitarbeiters der Maschinenbaufrabrik Leonid Medvedev, der mit seiner Familie in eine Zwei-Zimmerwohnung in Novye Čeremuški Nr. 9 einzieht.“ Unter den neugierigen Blicken der Nachbarn laden die Medvedevs Zimmerpflanzen und Möbel aus. Das Gebäude ist typisch für die erste Phase von Chruščevs Wohnbauprogamm: Backsteinmauerwerk mit vorgefertigten Decken- und Wandelementen. Das Bild dokumentiert den Anbruch einer neuen Lebensphase für diese Familie, zugleich aber auch den Beginn einer neuen Phase des Sozialismus. Chruščev prophezeite die „Ankunft im Kommunismus” für das Jahr 1980. Der Einzug in eine neue Wohnung war von einem Ritual, einer Feier, begleitet, der peresel’e. Ein Zeitgenosse beschrieb das Gefühl: „Dann wissen Sie, wie
Novye Čeremuški
glücklich die Menschen sind, wenn sie in ein eigenes Heim ziehen. Sie feiern das, als wäre es eine Hochzeit. Es ist der Beginn eines neuen Le-
bens für sie, frei von der Aufdringlichkeit der Nachbarn. Sie werden zu Herren ihres Haushalts und entdecken Bequemlichkeiten und Freuden, die ihnen bei gemeinschaftlicher Nutzung einer Wohnung mit anderen verwehrt waren.”36 Die Ritualisierung verweist auf die kulturelle Bedeutung des Umzugs in eine Neubauwohnung. Sie hängt möglicherweise mit dem Aufschwung zusammen, den auch staatlich eingesetzte Rituale und „schöne“ sowjetische Feste in den sechziger Jahren erfuhren: 1959 etwa wurden neue Rahmenrituale für wichtige Passagen wie Eheschließungen und die Ausstellung des Inland-Passes mit 16 Jahren festgeschrieben.37 Ein Umzug ist nicht gerade ein typisches Motiv für Berufsfotografen – es sei denn, er hätte ähnliche Bedeutung im Lebensverlauf wie etwa das Passageritual Hochzeit. Im Bildarchiv der Stadt Moskau findet sich eine ganze Reihe von Aufnahmen von Umzügen.38 Darüber hinaus verfestigte sich in den sechziger Jahren die Bezeichnung „Grosser Umzug“ (bol’šoe pereselenie) für die beträchtliche Bevölkerungsbewegung in die wachsenden Neubauviertel. Zwischen 1955 und 1970 bezogen in der Sowjetunion fast 132 Millionen Menschen eine separate Wohnung.39 Da dieses Glück zunächst nur wenigen zuteil wurde, dienten die Fotografien für die Übrigen als Versprechen.
36 Maurice Hindus: Die Enkel der Revolution. Menschliche Probleme in der Sowjetunion. Wiesbaden 1967, S. 111. 37 V. V. Glebkin: Ritual v sovetskoj kul’ture. Moskau 1998, S. 120, 130. 38 Z. B. auch CMADSN 1–17377. 39 Steven E. Harris: Moving to the Separate Apartment. Building, Distributing, Furnishing, and Living in Urban Housing in Soviet Russia, 1950s–1960s. Diss. Univ. of Chicago 2003, S. 1.
63. Ščusev-Museum XI 21468. Profsojuznaja ulica, dom 13, kvartira 25. Wohnung der Kinderärztin A. S. Černaja. Foto A. A. Aleksandrov 1959 Ein lesendes Kind auf dem Sofa. Die Bücher auf dem Hocker sind sorgfältig arrangiert. Unter dem Buch auf den Knien des Mädchens liegen zwei Kissen. Der Teppich an der Wand diente zur Reduktion kalter Luftzüge. Solche Teppiche hängen noch heute über zahlreichen sowjetischen Sofas und Betten. Wiedererkennungswert hat auch die Vitrine im Hintergrund, in der das „Gute Geschirr“ gestapelt ist. Solche Glasschränke standen in den meisten sowjetischen Wohnungen, gefüllt mit Geschirr und Büchern als Zeichen der kul’turnost.40 Die Wahl der ausgestellten Gegenstände war ein Mittel zur Selbstdarstellung über Objekte.
Propaganda im Bild: Die Neubauwohnung Die eigene Wohnung kam einem enormen Bedürfnis entgegen und war ein Machthebel Chruščevs gegen seine Rivalen und Gegner, vor allem gegen Stalins „Kronprinzen“ Georgij Maksimilianovič Malenkov (1902–1988) und die später „Anti-Partei-Gruppe“ genannte Oppositionsgruppe, die ihn 1957 stürzen wollte.41 Die Neubauwohnung war gekoppelt mit dem Versprechen einer besseren Versorgung mit Konsumgütern. Um die Errungenschaften von Novye Čeremuški zu verbreiten, machten bekannte Architekturfotografen Aufnahmen von den Menschen in ihren Neubauwohnungen. Das spezifisch Sowjetische an dem Bild ist das, was man nicht sieht. Nicht zu sehen ist die geringe Verfügbarkeit der neuen Wohnungen: Es war bis über 1960 hinaus schwierig und ein Privileg, eine solche Wohnung zu bekommen. Nicht zu sehen ist außerdem die Gesamtgröße der jeweiligen Wohnungen im Verhältnis zur Bewohnerzahl. Der Umstand, dass in zwei Räumen oft vier und mehr Menschen, die drei verschiedenen Generationen angehörten, zusammenlebten, aßen, schliefen, arbeiteten sich liebten und hassten, wird aus den Bildern nicht ersichtlich. Dazu waren transformierbare Möbel wichtig, wie etwa das Schlafsofa, auf dem das lesende Mädchen sitzt. Die tägliche Transformation der Wohnräume in Schlaf- oder Arbeitsräume war ein fester Bestandteil der sowjetischen Alltagskultur, der auf den Bildern konsequent ausgespart wurde. Die Posen transportieren ganz bestimmte Vorstellungen von Geschlechterrollen. Die Interieurs dieser Reihe sind vor allem mit Frauen besetzt. Dieser Umstand wird bedeutsam vor dem Hintergrund, dass 14 Jahre nach Kriegsende immer noch ein erheblicher Männermangel herrschte: Auf 100 Frauen zwischen 45 und 49 Jahren kamen 1959 nur 62 Männer.42 In den sechziger Jahren 40 Boym: Common Places, S. 102. Zum Konzept der Kul’turnost’ vgl. Vadim Volkov: The Concept of Kul’turnost’. Notes on the Stalinist Civilizing Process. In: Stalinism. New Directions. Hg. von Sheila Fitzpatrick. London usw. 2000, S. 210–230. 41 In der kollektiven Erinnerung sind die Neubauwohnungen direkt mit Chruščevs Aufstieg verknüpft. Vgl. Lebina: Žil’e, S. 162, 175. In der Opposition waren V. M. Molotov, L. M. Kaganovič, G. M. Malenkov, K. E. Vorošilov, N. A. Bulganin, M. G. Peruchin und andere. 42 Deborah A. Field: Irreconcilable Differences: Divorce and Conceptions of Private Life in the Khrushchev Era. In: Russian Review 57 (1998) Nr. 4, S. 599–613, hier S. 612.
231
64. Ščusev-Museum XI 21466. 2oj Čeremuškinskij proezd, dom 14, kvartira 27. Wohnung der Dozentin am Polygrafischen Institut N. A. Orlinskaja. Foto A. A. Aleksandrov 1959. Frau Orlinskaja steckt sich vor dem Spiegel einen Ohrring an. Sie trägt ein Kostüm und Straßenschuhe, so als wolle sie die Wohnung verlassen. Durch die halb geöffnete Tür ist ein Glasschrank mit Büchern im Korridor zu sehen, der auf die Kultiviertheit und Bildung der Wohnungsinhaberin verweist. Der Raum scheint ein Schlafzimmer mit Bett, Schrank und Frisierkommode zu sein. Die Spiegelkommode mit den Parfümflaschen ist ein weiteres Zeichen der kul’turnost’. Der Teppich ist möglicherweise für die Aufnahme hingelegt worden, denn solche Teppiche waren nicht verbreitet. Ein anderes Bild zeigt Frau Orlinskaja, wie sie gerade eine Platte aufs Grammophon legt. Ihre Erscheinung strahlt in den Inszenierungen die Gediegenheit und Kultiviertheit aus, die zur Stalinzeit für die Sozialisation mehrerer Generationen sowjetischer Frauen bestimmend wurde.43
wurden die Frauen auf breiter Basis in die Berufswelt integriert. Sie bekamen jedoch in der Regel weniger qualifizierte Arbeiten und wurden schlechter bezahlt als die Männer. Das lag an ihrer Mehrfachbelastung, denn sie blieben weiterhin für Haushalt und Kinder zuständig und waren deshalb auf flexiblere Arbeitszeiten angewiesen. Sozialpolitisch – in Bezug auf Teilhabe an Macht – waren sie untervertreten. In den „Häuslichkeitsfotos“ erscheinen sie in ausgesprochen weiblichen Posen, Novye Čeremuški häufig als Hausfrauen und Mütter, in der Küche oder vor dem Spiegel. Die wenigen Männer sind in Posen abgebildet, die aktive Erholung beim Lesen oder an einem Schreibtisch einschließen. Die Frauen dagegen sind über ihre Tätigkeiten an die Innenräume gebunden: Über den Stickrahmen, das Bügeln oder den Abwasch. Die häuslichen Arbeiten, aber auch die Gestaltung der Innenräume waren dem weiblichen Zuständigkeitsbereich zugeordnet. Die Bilder konstruierten über das Medium der Häuslichkeit ganz spezifische Geschlechterrollen. Die Fotografen der hier zitierten Aufnahmen waren ausschliesslich Männer.
43 Weitere Nachweise zum Konzept Kul’turnost’ finden sich in Catriona Kelly: Refining Russia. Advice Literature, Polite Culture, and Gender from Catherine to Yeltsin. Oxford 2001, S. 247, 278 ff.
65. Ščusev-Museum XI 21470. Profsojuznaja ulica, dom 15, kvartira 19. Wohnung der Pensionärin I. A. Kuznecova. Foto A. A. Aleksandrov 1959 Die Pensionärin sitzt mit ihrer Enkelin am Tisch. Hinter ihr steht wiederum die Anrichte mit Glasvitrine, in der auf typisch russische Weise die Tassen des „guten Geschirrs“ ineinander gestapelt sind. Die Pensionärin Kuznecova arbeitet am Stick-Rahmen, während ihre Enkelin Bögen mit Papierpuppen vor sich hat. Weitere Aufnahmen aus der Serie über diese Wohnung zeigen ihren Enkel in einem Zimmer beim Lesen, den Enkel, wie er Klavier spielt, während die Oma stickt, sowie die Küche, wo die Tochter der Pensionärin und Mutter der Enkel bügelt. 66. Ščusev Museum XI 21465: „Novye Čeremuški Nr. 9, dom Nr. 12, kvartira 571. Wohnung des Architekten G. P. Pavlov. Kabinet.“ Foto A. A. Aleksandrov 1959. Die Aufnahme zeigt einen der wenigen Männer in seiner Wohnung. Ein Architekt sitzt in einem Sessel hinter einer Zimmerpalme. Er hat Pantoffeln an den Füssen und liest. Der ihm zugeschriebene Raum hat eine berufsbezogene Bezeichnung: Kabinet bedeutet Büro und legt nahe, dass der Architekt ein Arbeitszimmer besaß. Möglicherweise verstärkt der Ausdruck aber auch nur die Zeichenfunktion des Bücherschranks im Hintergrund. Falls es sich wirklich um einen Arbeitsraum in der eigenen Wohnung handelte, war dies ein unvorstellbarer Luxus, der den geistigen Eliten vorbehalten war. Diese formulierten ihren Anspruch auf Arbeitsraum durchaus politisch, indem sie sagten, sie könnten nur unter bestimmten Bedingungen produktiv tätig werden. Den Schriftstellern brachte diese Haltung immerhin die idyllische Waldsiedlung Peredel’kino mit ihren großzügig bemessenen Datschen ein.44 Die Bezeichnung kabinet und die Lektüre des Architekten weisen auch auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei den häuslichen Tätigkeiten hin. Diese werden in den Häuslichkeitsfotos normativ bestätigt: Die Frauen kochen, bügeln, sticken oder stecken sich Ohrringe an. Die Männer lesen oder sitzen am Schreibtisch. Die Aufnahme war Teil einer Serie, eine Variante erschien 1961 in einem Kapitel eines ArchitekturJahrbuches mit einer Gesamtdarstellung von Novye Čeremuški Nr. 9. Die Bildlegende lautet lediglich: Interieur einer Wohnung im Haus Nr. 12.45 Dafür ist G. P. Pavlov unter den planenden Architekten angeführt. Ein Hinweis darauf, dass die Wohnungen zuerst an Privilegierte verteilt wurden, die den Verteilergremien nahe standen?
44 Alexis Berelovitch: Peredelkino: le village des écrivains. In: Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 199–212. 45 Sovetskaja Architektura. Ežegodnik 1956–1957. Moskau 1961, Kapitel über Novye Čeremuški Nr. 9, ohne Paginierung.
233
Zu den latenten Sinnstrukturen der Bilder: Geschlecht, Normalität und Herrschaft Die latenten Sinnstrukturen der Bilder unterscheiden sich von den manifesten Sinnstrukturen. Die manifeste Bedeutung der Bilder ergibt sich semiotisch aus ihren Zeichen. Die latente Sinnstruktur betrifft die vorbewussten Regeln der Bildproduktion und –rezeption. Hier wird das nicht abgebildete wirksam, auf dieser Ebene findet die Herstellung von „Normalität“ durch Bilder statt. Die Entstehungsbedingungen und die Intention der Aufnahmen lassen sich aus Fundorten, Namen der Fotografen und Bildlegenden ableiten: Es sind Propagandaaufnahmen bekannter Fotografen. Bei den im Stadtarchiv aufbewahrten Aufnahmen sind neben den Namen der Fotografen jeweils die Agenturen vermerkt: TASS, Sovinformbjuro. Man kann davon ausgehen, dass die hier analysierten Aufnahmen derselben Fotografen aus dem Architekturmuseum ebenfalls im Auftrag dieser Agenturen entstanden. Es handelt sich um „institutionelle“ Fotografien, die in einer bestimmten Tradition und einem Kontext standen und im Hinblick auf einen Verwendungszweck und ein Zielpublikum hergestellt wurden. Die Menschen auf den Fotos stellten sich nicht für sich selbst im Sinn von Erinnerungsfotos dar. Die Aufnahmen zeigen auch keine „besonderen Momente“ im Lebenslauf. Der Kontext der Wohnungsknappheit und der Wohnbaukampagne lässt darauf schließen, dass es Propagandaaufnahmen waren, die belegen sollten, dass es bald für alle Sowjetbürger Neubauwohnungen geben würde und die zeigten, wie die bereits gebauten Wohnungen aussahen. Leider gibt es aufgrund des Fundortes im Moskauer Architekturmuseum keine Hinweise auf die Verbreitung der Aufnahmen, auf Publikationsorte und Auflagenhöhe. Das Zielpublikum lässt sich somit nur aus dem Inszenierungscharakter und den Bildinhalten rekonstruieren. Die Namen, Berufe und Adressen der Wohnungsinhaber sind verzeichnet und bürgen für Authentizität. Sie sind eine weiterer Hinweis darauf, dass die Fotos ganz „normale“ sowjetische Bürger in ihren Wohnungen zeigen sollten. Es sind scheinbar ungestellte Alltagsszenen. Auffallend ist jedoch, dass die Bewohner fast alle über eine akademische Ausbildung verfügten. Das sollte sich als typisch für den Südwesten Moskaus, in dem die Universität lag, erweisen. Die Motivgeschichte lässt sich aus den Archivbeständen teilweise ableiten. DarNovye Čeremuški über hinaus ist es möglich, die Fotos in eine Tradition einzuordnen. Die Aufnahmen beziehen sich zurück auf ein berühmtes Vorbild aus dem Jahr 1931. Es handelt sich um den von Maks Al’pert und Arkadij Šajchet konventionell fotografierten Foto-Essay „Vierundzwanzig Stunden im Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie”, der 1931 zunächst in der deutschen „Arbeiter Illustrierte Zeitung” erschienen war.46 Wie die Archivbestände mit zahlreichen Beispielen belegen, blieb das Genre der Fotoreportagen über „ganz normale“ Familien beliebt. Besonders deutlich wird das an der ausführlich dokumentierten Fotoreprotage vom März 1957 über den Tagesablauf der Familie Fedoškin, die in der Ulica NovoPesčanaja lebte.47 Maksim Fedoškin und Valentina Fedoškina hatten 12 Kinder. Damit können sie kaum als Durchschnittsfamilie bezeichnet werden. Die Bilder zeigen den Tagesablauf, die Familienmitglieder an ihren Arbeitsstätten, in Krippe und Schule sowie zu Hause. Der Aufbau ist sehr ähnlich wie im berühmten Vorbild. Gemeinsam ist den Reportagen, dass sie eine „Normalität“ herstellten, die es so nicht gab. Sie wurde eigens für die Kamera inszeniert.
46 Nina Klingler: 24 Stunden im Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie. Die Fotoreportage als historische Quelle. Unveröff. Lizentiatsarbeit, Basel 2003. 47 CMADSN, Byt naselenija: Semja, Nr. 1–4909 bis 1–4917.
Die Rückbindung der Frauen an die Häuslichkeit ist wesentlicher Teil der latenten Sinnstruktur der Bilder. Sie zielte auf die Herstellung von „Normalität“ und Stabilität und ist im Zusammenhang mit den Mangelerscheinungen von Krieg und Nachkriegszeit zu sehen. Nach dem Krieg lässt sich dieser Zusammenhang Von Normalisierungsbestrebungen und einer konservativen Erneuerung der Geschlechterordnung auf internationaler Ebene beobachten. Im Westen ging es dabei vor allem um die Verdrängung der Frauen aus der bezahlten Lohnarbeit. Länder wie England und Russland, wo nach Ende des kriegsbedingten Einsatzes mehr Frauen in bezahlten Arbeitsverhältnissen verblieben, wurden etwa in der Schweizer Diskussion explizit als Ausnahmen hingestellt. „Normalisierung“ bedeutete die Rückkehr zu „normalen“ Verhältnissen in der Familie und am Arbeitsort, und diese „Normalität“ war zu einem wesentlichen Teil über klar zugeordnete Geschlechterrollen vermittelt.48 In der Sowjetunion blieben Frauen in die Arbeitswelt integriert. Dafür wurde durch Bilder wie diese eine vertraute Ordnung hergestellt. Als weiterer Aspekt kam hinzu, dass über eine Politik der „Normalisierung“ ein grosser neuer Einflussbereich, ein Imperium stabilisiert werden musste, wenn man nur schon an die baltischen Staaten denkt. In dieselbe Richtung zielten Modernisierungsdiskurse. Chruščevs Wohnbaupolitik war in einen Modernisierungsdiskurs eingebettet, der sich an der internationalen Rivalität mit den westlichen, kapitalistischen Ländern orientierte. Chruščev wollte den „Kalten Krieg“ nicht durch die Armee, sondern durch den besseren Lebensstandard gewinnen. In den fünfziger Jahren begann in der Sowjetunion die Entwicklung zu einer modernen Massengesellschaft, deren Konsumverhalten zur Debatte stand. Die Identität des sowjetischen Konsumenten sollte sich weniger über materielle Güter definieren als über die sozialen Güter – Bildung, Gesundheitssystem, Ferienheime und Sanatorien. Darüber hinaus orientierten sich die Werte nicht am Individuum, sondern am Kollektiv. Das „rationale“ Wohnen in geordneten, hygienischen Verhältnissen war als soziales Gut Teil der modernen sowjetischen Lebensweise. Unter dem Stichwort byt naselenija: semja sind im Moskauer Bildarchiv49 etwa 100 Fotos von Familien in ihren neuen Wohnungen oder einfach „bei sich zu Hause“ abgelegt. Sie stammen meist aus den Jahren 1958–1960, also aus der Zeit kurz vor dem „großen Umzug“ in die novostroiki. Meistens ist der Betrieb genannt, in dem der Haushaltvorstand – das heißt der Mann – arbeitet, häufig „Serp i Molot“ (Hammer und Sichel) oder „Avtosavod“ (Autofabrik). Die Suggestionskraft der Fotos wird vielleicht deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass 1937 noch 60 Prozent der 7500 Arbeiter von „Serp i Molot“ in Arbeiterwohnheimen wohnten, 1000 davon in Baracken.50 Die Bilder haben Unterschriften wie „Die Familie des Moskauer Arbeiters soundso beim abendlichen Tee“ oder: „Der Pensionär Zachar Pešechonov, der zwanzig Jahre als Maschinist in der Fabrik „Serp i Molot“ gearbeitet hat, zieht in eine neue Wohnung.“ 51 Eine Reihe zeigt diesen „besonderen Moment“ im Leben der Menschen, den Umzug selbst und die Menschen beim Einrichten ihrer neuen Wohnung, beim Bilder aufhängen etwa. Dabei werden besonders prestigeträchtige Konsumgüter ins Bild gerückt: Ab etwa 1955 ist auf verschiedenen Aufnahmen ein Fernsehapparat zu sehen. Die Bildunterschriften lauten: „Die Familie des Angestellten M. I. Zacharov schaut das Tagesprogramm am Sonntag“ oder: „Die
48 Regula Stämpfli: Kriegswirtschaft, Militär und Geschlecht. Der Reduitentscheid in Geschlechtergeschichtlicher Perspektive. In: Traverse (1999) Nr. 1, S. 118–130, hier v.a. S. 125–128. 49 CMADSN. 50 Colton: Moscow, S. 343. 51 CMADSN, Byt naselenija: Semja, z.B. Nr. 1–17377, Aufnahme von N. Maksimov 1955.
235
Novye Čeremuški
67. Architektura i stroitel’stvo Moskvy 6 (1956) S. 7 Schema Wohnungsgröße Das gängigste Modell, eine Zweizimmerwohnung von ca. 44 Quadratmetern Grundfläche, bot 27 Quadratmeter reinen Wohnraum – Küche, Bad und Flur wurden üblicherweise nicht mitgezählt. Eine solche Wohnung sollte drei Menschen beherbergen. Zwei Bewohner hatten sich 18 Quadratmeter zu teilen, während eine vierköpfige Familie Anrecht auf 36 Quadratmeter reinen Wohnraum hatte. Der hohe Anteil von Kleinwohnungen ist ein Merkmal der frühen Neubauviertel. Das Schema geht davon aus, dass bis zu drei Generationen in diesen Kleinwohnungen zusammenlebten, die meistens aus einem großen Wohnraum und einer Nische oder Schlafkammer bestanden. Das bedeutete, dass die Räume morgens und abends umgebaut werden mussten, dass man im selben Raum aß, arbeitete, sich tagsüber aufhielt und schlief. Dieser Lebensstil knüpfte an die kommunal’ka an, wo auch alle im selben Zimmer gewohnt hatten. Der Vorteil der Neubauwohnungen war, dass man hier ein Bad und eine Küche für sich hatte und ein ungestörtes Familienleben führen konnte.
Hausfrau Nina Dompačeva freut sich über ihren neuen Kühlschrank.“52 Steht ein Kühlschrank in der Küche, ist er zuweilen sogar geöffnet. Die Bilder verraten auch etwas über die Renitenz des Geschmacks. Die Innenräume sind bis in die sechziger Jahre hinein mit Spitzendeckchen reich dekoriert, das Mobiliar ist älteren Datums. Zwei Aufnahmen aus dem August 1958 zeigen den Pensionär Sergej Karbulakov mit seiner Schwester Varvara und dem Enkel Sergej in „einem der Zimmer seiner Wohnung“ in Novye Čeremuški Nr. 9.53 Allein die Formulierung „eines der Zimmer seiner Wohnung“ hatte einen magischen Klang für alle, die noch in der kommunal’ka oder einem Wohnheim hausten. Auf dem Bild ist ein überaus biedermeierliches Interieur zu bewundern: Der Lampenschirm aus Kunstfaser mit Fransen, die Tapete mit dem Blumenmuster, gleich zwei Büfetts mit Glasvitrinen, in denen Gläser ausgestellt sind. Eine Kristallkaraffe mit Gläsern auf dem Tisch mit passendem Tablett, Spitzendecken mit Fransen auf den Vitrinen, ein Gummibaum auf dem Balkon, den man durch die offene Balkontür sieht. Pokale auf den Deckchen auf den Vitrinen und sonstige Nippes mehr. Der Pensionär – beleibt und höchstens sechzig – sitzt am Tisch und blickt in ein Buch. Seine Schwester liest dem Enkel vor. Deutlich lassen sich an diesem Foto die Elemente erkennen, die zur Konstruktion von „Normalität“ im Bild dienten. Die Möbel und Dekorationen entsprechen in ihrer Anordnung ebenso den vertrauten Mustern gemütlicher Häuslichkeit wie die Posen der Personen, ihre Tätigkeiten und die Konformität mit gängigen Vorstellungen von Geschlechterrollen. Die hohe Belegung geht aus den Bildern ebenso wenig hervor, wie die zeitweise Mehrfachbelegung der Räume. Räume, die tagsüber dem Aufenthalt dienten, wurden abends zu Schlafräumen umfunktioniert. Folgendes Schema zeigt die vorgesehene Belegung der Wohnungen.
Der Küchentisch, ein sowjetischer Erinnerungsort Die fünfziger Jahre brachten mit der politischen Zäsur der „Entstalinisierung” auch im Alltag sichtbare Veränderungen mit weit reichenden gesellschaftlichen Folgen. In den Neubauwohnungen entstanden neue Kommunikationsräume. Sie waren Orte privater Interaktion. Es war nun möglich, mit Freunden zu diskutieren, ohne belauscht zu werden, Untergrundkunst zu besitzen, Kassetten mit Liedern der Barden aus dem magnitizdat zu hören. Die Küchentische sind der kollektive Erinnerungsort der Generation der „Sechziger“ geworden.54 Sie stehen für die Privatisierung und Individualisierung des Wohnens und einen Hauch von Freiheit und Abenteuer, wenn nicht gar des politischen Aufbegehrens, des Ausbruchs aus der offiziell verordneten Unmündigkeit. Wichtige Meilensteine der mit dem Küchentisch assoziierten Aufbruchstimmung waren die Lyrikbegeisterung und Dichterlesungen vor großem Publikum, Gitarrenbarden mit ihren zwischen Melancholie und Aufbegehren schwankenden Liedern, eine russische Hemingway-Ausgabe 1959 und Aufsehen erregende Schauprozesse gegen junge Schriftsteller, die erste politische Demonstrationen und weitere Repressionen nach sich zogen.55
52 CMADSN, Byt naselenija: Semja, Nr. 1–20843, 16. Januar 1956, Fotograf A. Stupsin für die Agentur TASS; Nr. Nr. 1– 21621, 1955, Fotograf M. Jurskij für Sovinformbjuro. 53 CMADSN, Byt naselenija: Semja, Nr. 1–21636 und 1–21581. Fotografen B.Trepetov und V. Mastjukov, Sovinformbjuro, TASS. 54 Petr Vajl, Aleksandr Genis: 60-e. Mir sovetskogo čeloveka. Moskva 1988; Svetlana Boym: Common places. Mythologies of Everyday Life in Russia. Cambridge/Mass. 1994, S. 127. 55 Vgl. hierzu auch die Kapitel zur Gor’kijstrasse (stiljagi und russische beat generation) und zur Lubjanka.
237
Die Küchentisch-Diskussionen wären in Moskau, wo die Mehrheit der Bevölkerung bis in die fünfziger Jahre in kommunal’ki, unter mehrere Familien aufgeteilten Wohnungen, zusammengedrängt lebte, ohne die Wohnungspolitik unter Chruščev gar nicht denkbar gewesen. In der neuen, von der Obrigkeit schwer kontrollierbaren Privatsphäre der winzigen Plattenbauwohnungen, entstand zumindest in Ansätzen ein Raum freier Kommunikation und Meinungsbildung, eine Halböffentlichkeit, die zum Symbol für eine Nischengesellschaft mit einer Vielfalt von Subkulturen wurde. Der Erinnerungsort ist mit Selbststilisierungen verbunden. Raissa Orlova und Lev Kopelev leiteten die Entstehung dieser „Zirkel“ direkt aus den Zirkeln und der Salonkultur des 19. Jahrhunderts ab. Sie wurden „zahlreicher, differenzierter, verwandelten sich in regelrechte Salons. Dieser alte Begriff kam wieder in Gebrauch, zuerst scherzhaft, später auch ernsthaft gemeint.“56 Orlova und Kopelev waren Teil einer eng verflochtenen, „alten“ Moskauer Intelligencija. Eine Untersuchung von 93 autobiografischen Narrativen der Generation der „Sechziger“, die 1994–1995 an der Petersburger Filiale des „Soziologischen Instituts der russischen Akademie der Wissenschaften“ erhoben wurden, erlaubt eine Einordnung dieser Erinnerungen.57 Deutlich treten zwei diskursive Typen oder Erzähl weisen hervor: Die Teilnehmer an der Studie mit Studienabschluss erinnern die sechziger Jahre in ganz anderen Metaphern und Vorstellungen als Angehörige so genannter bildungsferner Schichten. Erstere erinnern die sechziger Jahre als Neubeginn, zentrale Werte sind Individualisierung, „Befreiung“ vom Stalinismus, die Eroberung des Kosmos und des Neulandes. Sie erinnern sich an Aufbruchstimmung, an die Lektüre des 1962 erschienenen „Ivan Denisovič“, an die „Erneuerung der kommunistischen Idee nach Stalin“. Ihre Erinnerungen sind deutlich wertorientiert. Demgegenüber haben die Angehörigen bildungsferner Schichten die sechziger Jahre gar nicht als eigene Epoche oder als „Neubeginn“ im Gedächtnis. Ihre Charakterisierungen der Zeit lassen sich den biografischen Erzählungen nur indirekt entnehmen. Sie verwenden einen völlig anderen Satz von Schlagworten. Im Vordergrund der Nichtakademiker stehen nicht Ideale, sondern konkrete Veränderungen. Diese erinnern sie überwiegend auf der materiellen Ebene: Es gab endlich genug Brot, und die Frauen konnten sich von ihren burenki, den Filzstiefeln, trennen, als der für die Stalinzeit notorische Novye Čeremuški Schuhmangel endlich durch Investitionen in die Konsumgüterindustrie behoben wurde. Ihre Vorstellung der sechziger Jahre ist konsumorientiert. Die Symbole der Epoche, welche die gebildeteren Schichten pflegen, spielen in ihrer Erinnerung keine Rolle.58 Das weist darauf hin, dass sich in der Sowjetunion zwei verschiedene „Erinnerungsgenerationen“ herausgebildet haben, deren Erfahrungsräume unterschiedliche Lebenswelten repräsentieren. Eine wichtige lebensweltliche Trennungslinie verläuft entlang der Bildungsgrenze. Die Erzählungen der „bildungsfernen“ Teilnehmer der Studie teilen sich ferner deutlich in solche, welche am Privilegiensystem teilhatten und solche, die leer ausgingen. Letztere sagen sich in ihren Narrativen deutlicher von ideologischen Dogmen los und verweisen eher auf Probleme, Missstände und notwendige Kompromisse oder Mechanismen der Anpassung an das herrschende System. Unaufgelöst bleibt der Widerspruch zwischen Erinnerungen an Trunksucht, enge Wohnungen, die Mühseligkeiten des Alltags und die Korruption der Vorgesetzten auf der einen Seite, und dem Gefühl, einer „großen Familie“ anzugehören, soziale Sicherheit
56 Raissa Orlowa, Lew Kopelew: Wir lebten in Moskau. Deutsch von Marianne Wiebe. München usw. 1987, S. 30. 57 Nina Nikolaevna Cvetaeva: Biografičeskie narrativy sovetskoj epochy. In Sociologičeskij Žurnal (2000) Nr. 1–2, S. 150– 163. 58 Cvetaeva: Biografičeskie narrativy, S. 152.
und die umfassende Fürsorge des Staates zu genießen auf der anderen Seite.59 Von Bedeutung für die Rolle der Küchentische ist der Unterschied zwischen Akademikern in erster und zweiter Generation: Die Teilnehmer der Petersburger Studie, die in erster Generation eine höhere Ausbildung absolvierten, gewissermaßen die „Aufsteiger“, bewerten die eigene Jugend meist als Phase naiver Schwärmerei und verbinden ihren kulturellen Enthusiasmus mit der Jugend- und Studienzeit. Sie erinnern keine systemfeindlichen Aktivitäten, sondern die Lagerstimmung bei Ernteeinsätzen während der Semesterferien und gesellige Abende, an denen man im Freundeskreis zur Gitarre sang. Diese Phase endete mit dem Eintritt ins Familien- und Berufsleben.60 Informanten aus „alten“ Akademikerfamilien dagegen erinnern diese Zeit nicht als „Phase“, sondern sehen sich eher als konstant nonkonformistisch. So scheint die nachhaltig kritischere Haltung derjenigen, die aus Familien der „alten“ Intelligencija stammten, das „kollektive Gedächtnis“ zu dominieren, in welchem diese Schicht ihre eigene Funktion als Trägerin der „Leitkultur“ bewahrt. Das Beispiel macht deutlich, dass die historische Generation der „Sechziger“ ein Konstrukt ist, das aus bestimmten Kontexten und Bedürfnissen heraus entstand und eine Eigendynamik entwickelte. Es handelte sich um eine von der städtischen intelligencija geteilte Vorstellung einer Gemeinschaft, um eine imagined community.61 Das Generationenbewusstsein der „Sechziger“ beschränkte sich nur auf eine schmale Schicht und dürfte, das wäre zu überprüfen, im nostalgischen Rückblick während der Zeit der Stagnation entstanden sein. Der „Küchentisch“ wurde zum Erinnerungsort des potenziellen Dissenses, die Küche oszillierte zwischen privat und öffentlich. Das „Private“ erschien als die einzig ehrenwerte Alternative zum kompromittierten „offiziellen“ Kollektiv. Das informelle Kollektiv dieser Generation pflegte die Ästhetik des Privaten und Alltäglichen, das Recht auf Einsamkeit und Innerlichkeit.62 Lyrik und Lieder waren ein Verständigungscode für Gleichgesinnte, aber auch ein Ventil: Die meisten Texte waren nicht ganz verboten, durften aber auch nicht veröffentlicht werden. Die Obrigkeit statuierte an einigen Aktivisten ihr Exempel und verhinderte die Entstehung einer Gegenöffentlichkeit. Die Küchentische blieben Teilöffentlichkeiten mit fest installierten Kommunikationsschranken. Übertretungen wurden scharf sanktioniert. Übertrat man die Schranken nicht, wurde man in seiner Nische in Ruhe gelassen. Letztlich wirkte der Küchentisch im Sinne der Nischenbildung stabilisierend. Die Küche ist noch in einem anderen Zusammenhang mit Bedeutungen befrachtet. Sie war im 20. Jahrhundert eines der Zentren der Modernisierung, Inbegriff der reproduktiven Arbeit im Haushalt und definitiv ein „weiblicher Ort“. Die Reihe der Bedeutungen der Küche ist verbunden mit Konzepten wie Häuslichkeit, Geschlecht, Modernisierung, mit Vorstellungen von Normalität und den oszillierenden Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Räumen. Der „Küchendiskurs“ durchzieht die Geschichte des Kommunismus wie ein roter Faden. Die marxistische Auffassung von der Hausarbeit sah diese als „Sklavenarbeit“, die vergesellschaftet werden müsse, um die Frauen letztlich aus ihrer „Rückständigkeit“ zu befreien.63 In Deutschland propagierte August Bebel bereits 1910 die Abschaffung der Einzelküchen, und dafür sprach sich auch Lily Braun aus, als sie ein Kommunehaus ohne Küche als Projekt einer „Wirthschaftsgenos-
59 Cvetaeva: Biografičeskie narrativy, S. 153. 60 Cvetaeva: Biografičeskie narrativy, S. 160–161. 61 Vgl. hierzu Mark Roseman: Generationen als „Imagined Communities“. Mythen, generationelle Identitäten und Generationenkonflikte in Deutschland vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 180–199. zur imagined community der šestidesjatniki vgl. auch Svetlana Boym: From the Russian Soul to Post-Communist Nostalgia. In: Representations 49 (1995), special Issue: Identifying Histories: Eastern Europe Before and After 1989, S. 133–166, hier S. 147–149. 62 Boym: From the Russian Soul, S. 148–149. 63 Reid: Khrushchev Kitchen, S. 291.
239
senschaft“ entwarf. Die reproduktiven und auf die Frauen zurückfallenden Arbeiten des Waschens, Kochens und der Kinderbetreuung sollten darin kollektiv geregelt werden.64 Lily Braun war gut befreundet und stand in engem Austausch mit Aleksandra Kollontaj. Das Thema war in der Sowjetunion der zwanziger jahre aktuell, als es um den Umbau der Lebensweise (byt) ging und die ersten Kommunehäuser gebaut wurden. Die Abschaffung der Küche galt als Akt der Modernisierung, die Verbindung von Weiblichkeit und Rückständigkeit zementierte dabei aber zugleich herkömmliche Hierarchien. Neben der vorläufig für unrealistisch angesehenen gänzlichen Abschaffung der Küche war die Rationalisierung der Arbeitsabläufe in funktionalen Kleinküchen ein Thema, und zwar im Rahmen einer modernen Ökonomisierung und Verwissenschaftlichung des Haushalts. Auch dies war ein internationaler Diskurs, wie am Beispiel der berühmten 1926 von Margarete Schütte-Lihotzky für ein Projekt von Ernst May in Frankfurt am Main entwickelten „Frankfurter Küche“ deutlich wird. Die Küchenmodelle des „Narkomfin“-Hauses mit ihren optimierten Arbeitsabläufen waren der Frankfurter Küche nachempfunden.65 Ernst May plante später für Magnitogorsk Häuser ganz ohne Küchen.66 In Lazar’ Kaganovičs Schrift über „Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus und anderer Städte in der Sowjetunion“, welche im Zusammenhang mit seiner Rede vor dem Juniplenum des ZK der Kommunistischen Partei 1931 stand und die Rekonstruktion Moskaus als politisches Ziel einläutete, nahm die Debatte um die „zwangsweise Liquidierung der Einzelküchen“ und kollektive Wohnformen eine Schlüsselstellung ein. „Die Frage, ob die Einzelküchen abgeschafft werden sollen, ist eine sehr ernste Frage. Gegenwärtig, so lange wir noch nicht Speisehäuser und Cafés errichtet haben, die allen Anforderungen des Arbeiters, der Arbeiterin und der Arbeiterfamilie gerecht werden, dürfen wir eine massenhafte Liquidierung der Einzelküchen nicht durchführen.“ Auch Wohnkommunen befürwortete Kaganovič nur auf freiwilliger Basis. Geplante Kommunehäuser erhielten eine klare Abfuhr. Kaganovič sah eher den Bau attraktiver Restaurants und Cafés vor. Die „Küchenabschaffer“ bezeichnete er im Schlussvotum gar als ‚links’-opportunistische Phrasendrescher.67 Das Votum steht im Zusammenhang mit dem Ende der Experimentierphase der zwanziger Jahre und der „Gleichschaltung“ des Kulturbetriebs im Stalinismus unter der Bezeichnung „sozialistischer Realismus“. Diese Entwicklung Novye Čeremuški fand parallel zum ersten Fünfjahrplan (1928–1932) statt und wird als „kulturelle Revolution“ bezeichnet. Sie war zunächst noch geprägt von Askese und dem Dogma der Gleichheit. Das änderte sich 1934. Die Verkündung der „neuen Fröhlichkeit“, Privilegien und eine allgemeine Hierarchisierung hatten nicht nur mit der „neuen Mittelschicht“ zu tun. Die Wiedereinsetzung traditioneller Werte wie Autorität und Disziplin und von Institutionen wie der Familie sowie die Rückbindung der Frauen an die Häuslichkeit waren Schritte der „Normalisierung“, die auf die Tiefenstruktur der Gesellschaft insgesamt zielten. Im Stalinismus blieb die Küche in der Familie. Chruščevs Wohnbaupolitik thematisierte zwar die Einzelküche als Ort der Rückständigkeit wieder, setzte aber die Rückbindung der Frauen an die Häuslichkeit mit den Mitteln der Wohn-
64 August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. Stuttgart 1910; Lily Braun: Reform der Hauswirthschaft. In: Dies: Frauenarbeit und Beruf. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. Frankfurt am Main 1979, S. 41–51. 65 Sovremennaja Architektura (1929) Nr. 1. 66 Reid: Khrushchev Kitchen, S. 292. 67 L(azar) M. Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus und anderer Städte in der Sowjetunion. Moskau usw. 1931, S. 101–102 und Schlussvotum S. 146.
68. Ščusev XI–21469: Wohnung der Kinderärztin A. S. Černaja, Profsojuznaja ulica d. 13, kv. 25. Foto A. Alexandrov. Eine Frau in ihrer Küche. Die eigene Küche wurde zum zentralen Symbol und auf den Fotos der Interieurs der neuen Wohnungen besonders hervorgehoben. Die Frau im Bild, eine Kinderärztin, ist gut angezogen, sie trägt eine Schürze über ihren Straßenkleidern und neue Pantoffeln. Sie steht in einer perfekt aufgeräumten Küche, scheinbar beim Abwasch – nur fehlt das dazu gehörige Geschirr. Blickfänge sind die Einbauschränke und der Kühlschrank, ein damals neues und begehrtes Konsumgut. Eine Küche, wo die Frau allein Herrin war, bildete einen symbolkräftigen Gegensatz zur kommunal’ka, wo die Küche Ort ungezählter legendärer Konflikte gewesen war: „Vor dreißig Jahren (1958, MR) lebte das Gros der Bevölkerung in alten, größtenteils vorrevolutionären Häusern. Betraten Sie eine Wohnung, so gelangten sie in einen dämmrigen, mit altem Krempel vollgestellten Flur. Hinter fünf oder zehn Türen lagen die Wohnräume, pro Familie einer. Der Flur endete an der Gemeinschaftstoilette und der Gemeinschaftsküche, in der jede Hausfrau einen eigenen kleinen Tisch hatte. Hier bereitete man die Mahlzeiten, kochte und bügelte die Wäsche, wusch sich des Morgens, vertraute einander Geheimnisse an; hier wurden Intrigen geschürt und Komplotte geschmiedet.”68 Auf einer sehr ähnlichen Aufnahme aus der Wohnung der Pensionärin Kuznecova ist ihre Tochter in der Küche beim Bügeln zu sehen. Die Küche stand für die Ausstattung der Wohnung – noch heute messen sich Ausbausstandards an der Qualität der Einbauküche. Ein Badezimmer zu zeigen, galt vermutlich als unfein. Die konnotative Botschaft des Bildes von der eigenen Küche stand also auch für den Komfort eines eigenen Badezimmers mit WC.
baukampagne fort. Das Modell der competing modernities, des sowjetischen Sonderwegs der Modernisierung, aktivierte die Haushaltsökonomie als Teil der Wohnbaukampagne. Die Verwissenschaftlichung traditionell weiblicher Wissensbereiche kann generell als Merkmal sich radikal modernisierender Gesellschaften gelten.69 „Spezialisten“ kolonisieren den häuslichen Bereich, die Grenzen zwischen privat und öffentlich sind umkämpft, geraten in Bewegung. Die Rationalisierung war eine doppelte imperiale Strategie: Die Privathaushalte als letzte Bastionen der Rückständigkeit wurden erobert. Die Modernisierung diente in diesem Fall auch dazu, die neu hinzugekommenen Provinzen des Imperiums wie etwa das Baltikum mit einzubinden. Am 24. Juli 1959 besichtigten Nikita Chruščev und der amerikanische Vizepräsident Richard Nixon das Ausstellungsareal der Amerikanischen Ausstellung im Moskauer Sokolniki-Park. Dabei gerieten sie in ein verbales Geplänkel, das als „Küchen-Debatte“ in die Literatur eingegangen ist. Dies einerseits, weil die Auseinandersetzung zumindest teilweise in der amerikanischen Modellküche stattfand, andererseits, weil es um zentrale Elemente der Modernisierung der Hausarbeit, etwa um die Geschirrspülmaschine, ging. Die „Küche“ als Symbol für die reproduktive Alltagsarbeit hatte die Funktion eines öffentlichen und privaten Statussymbols: Welche Gesellschaft
68 Boris Chasanow: Moskau als Zeichensystem. In: Merkur (1988) Nr. 2, S. 85–98, hier S. 87. 69 Reid: Khrushchev Kitchen, S. 299–301.
241
69. Frau in kommunal’ka-Küche, Fotograf Philipp Pott, Moskau 2001. Dem Ideal der „Neuen Wohnung” stand die Realität der kommunal’ka gegenüber.
konnte „ihren“ Frauen die beste Küche bieten?70 Diese Küche war Teil des Projektes vom voll automatisierten Haushalt. In heutigen westlichen Konsumgesellschaften definiert sich der Lebensstandard typischerweise auch im Privaten über die Ausstattung der Küche. Über die Küche lassen sich auch die jeweils herrschenden Geschlechterbeziehungen beschreiben. Die Rationalisierung der Hausarbeit formuliert die Rolle der Geschlechter in einer Gesellschaft um. Seit Männer in postindustriellen Gesellschaften das Kochen als Hobby entdeckt haben, liegen Novye Čeremuški „Profiküchen“ im Trend. Die Kleinwohnungen der fünfziger Jahre blieben ideologisch gesehen ambivalent: Einerseits symbolisierten sie eine bessere Zukunft. Die eigene Wohnung und die eigene Küche waren zentrale Elemente der Propaganda.71 Die Einzelwohnung kam einem verbreiteten Bedürfnis der „Normalisierung“ entgegen, steigerte die Zufriedenheit und wirkte deshalb politisch stabilisierend. Die „Häuslichkeits“-Fotos zeigen auch die offizielle Wertschätzung der intakten Familie.72 Der Familie fiel die Aufgabe zu, die zukünftigen Kommunisten zu erziehen. Weil der Eigensinn der Jugendlichen gefährlich schien, widmete die Führung dem Thema große Aufmerksamkeit. Die Botschaften waren jedoch widersprüchlich, die Grenzen zwischen „privatem Familienleben“ und „gesellschaftlicher Verantwortung“ blieben umkämpft: Einerseits wurde die Familie in die Pflicht genommen. Schuld am abweichenden Verhalten der stiljagi etwa war in den Augen der 70 Michelle Hill: My Kitchen Is Better Than Yours. Michigan History Magazine 83 (1999) Nr. 4, S. 50–53. Walter L. Hixson: Parting the Curtain. Propaganda, Culture, and the Cold War, 1945–1961. Basingstoke usw. 1997, S. 179–180. Der Verlauf der Debatte wurde protokolliert und erschien am 25.7.1959 in der New York Times. Er ist einsehbar unter www. cnn.com/SPECIALS/cold.war/episodes/14/documents/debate/ (zuletzt eingesehen am 30.5.2005). 71 Susan Reid: The Khrushchev Kitchen. Domesticating the Scientific-Technological Revolution. In: Journal of Contemporary History 40 (2005) Nr. 4, S. 289–316, hier S. 295. 72 Field: Irreconcilabe Differences, S. 599, 605.
Obrigkeit die Gleichgültigkeit ihrer Eltern. Die Aufwertung der Familie und der Erziehung in Form einer die Öffentlichkeit mobilisierenden Kampagne gab dem Staat neue Möglichkeiten der Kontrolle: Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen besuchten die Familien in ihren Wohnungen und mischten sich ein.73 Die Reform des Erziehungssystems gehörte zu den wichtigsten Kampagnen Chruščevs. Die Abschaffung der in der Stalinzeit eingeführten Schulgebühren beschnitt den privilegierten Zugang der Kinder der Funktionseliten zur höheren Bildung. Die Kampagne propagierte Internats- und Tagesschulen und eine erneute Verstaatlichung der Erziehung, wie sie in den zwanziger Jahren gefordert worden war.74 In diese Richtung weist auch der Umstand, dass die Wohnungen höchstens eine „Kinderecke“ hatten. Die Erziehung und der Alltag des Kindes fanden in staatlichen Institutionen statt. Grundsätzlich widersprach die Einzelwohnung in ihrer Familienzentriertheit dem kommunistischen Lebenskonzept der Gemeinschaftlichkeit des Kollektivs. Sie barg die Gefahr des Rückzugs der Familien in ein unerwünschtes Privatleben, ins kleinbürgerliche Spießertum. Diesen Schluss lassen die im Folgenden geschilderten Maßnahmen zu: Die Antikitschkampagne, der „Mikrorayon“ als Lebensmittelpunkt sowie die zukünftige Wohnform im Kommunehaus. Sie alle dienten dazu, die Familienwohnung aus ihrer Isolation zu lösen und ins Kollektiv einzubinden: Die Neubauwohnung, im Bild mächtig inszeniert als Ort der Normalität, galt als Übergangsform.
Die Antikitschkampagne In den frühen sechziger Jahren kam es zu einer Antikitschkampagne, die an die entsprechenden Bemühungen der zwanziger Jahre erinnert.75 Haushaltratgeber und Frauenzeitschriften propagierten einen zeitgemäßen, schnörkellosen Einrichtungsstil. Das Anhäufen von Gegenständen galt als spießig, Häkeldeckchen und gestickte Sofakissen wurden zum Symbol dafür. Insbesondere dem abažur, dem Lampenschirm, wurde der Kampf angesagt.76 Das Wohnzimmer des Pensionärs Karbulakov verkörperte den Albtraum der Funktionalisten. Zur Zeit Stalins waren Handarbeiten wegen der Güterknappheit die einzige Möglichkeit gewesen, der eigenen Umgebung eine persönliche Note zu verleihen. Die neuen Möbel der späten fünfziger Jahre waren Platz sparend und eigneten sich für die Massenproduktion. Das bedeutete vor allem eine Inneneinrichtung, die die Wohnräume rational in Funktionszonen für Essen, Schlafen Arbeit und Ruhe einteilte. Das Wichtigste: Die Einrichtung als Ausdruck des sozialen Lebens sollte sich nicht um einen zentral aufgestellten Familientisch konzentrieren.77 Das Möbeldesign wurde asketisch und funktional.78 Weil die Anschaffung neuer Möbel nicht auf Anordnung von oben stattfand, sondern zu bestimmten Zeitpunkten im Lebensverlauf, gab es Anleitungen, wie die alten Möbel abzuspecken und anzuordnen seien. Frauenzeitschriften wie Rabotnica und Krest’janka propagierten den
73 Field: Irreconcilabe Differences. 74 Donald A. Filtzer: Die Chruschtschow-Ära: Entstalinisierung und die Grenzen der Reform in der UdSSR, 1953–1964. Mainz 1995, S. 45–48. Auch die Berufsbildung und die Möglichkeiten des zweiten Bildungswegs wurden gefördert. Widerstand aus der Intelligencija, den Betrieben und den Schulen führten nach 1964 zur Rücknahme der meisten Reformen. 75 Vgl. hierzu Susan Reid: Cold War in the Kitchen: Gender and the De-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union Under Khrushchev. In: Slavic Review 61 (summer 2002) Nr. 2, S. 211–252, hier S. 245–249. 76 Vgl. auch Lebina: Žil’e, S. 186. 77 Buchli: Khrushchev, S. 166–167. 78 Vgl. etwa die Abbildungen in Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1962) Nr. 1, S. 20–21.
243
guten Geschmack in Wort und Bild.79 Seit 1958 erschien in zahlreichen Neuauflagen ein bereits in den zwanziger Jahren populäres Handbuch zur guten Haushaltsführung: Die Enciklopedija domažnego chozjajstva.80 Grossen Anklang fand auch der Titel Domovodstvo (Haushaltsführung) aus dem Jahr 1957.81 Die Häufung solcher Publikationen weist darauf hin, dass bestimmte Normen durchgesetzt werden sollten. Die Generation des 20. Parteitags trennte sich gerne von den schweren, dunklen Möbeln der Stalinzeit.82 Teilweise war es auch aus praktischen Gründen nicht möglich, die alten Möbel in die Neubauwohnungen mitzunehmen: Sie passten nicht durch die Türen und waren zu hoch. Unter dem Druck der Planerfüllung wurden im weiteren Verlauf der Wohnungsbaukampagne die Korridore immer schmaler und die Decken noch niedriger, als ursprünglich vorgesehen. Eine Zweizimmerwohnung maß 40 bis 45 Quadratmeter, die Decke sank von 2,5 m auf 2,20 m, das Klo wanderte ins Bad.83 In kreativer Flucht nach vorn hängte die Propaganda der Mangelwirtschaft den Mantel des freiwilligen, geschmackvollen, asketischen Minimalismus um. 1958 wurde in Moskau ein Wettbewerb für Platz sparende Möbelentwürfe ausgeschrieben.84 Die Möbel für die winzigen Wohnungen waren transformierbar, das Bett verschwand im Schrank. Das Narrativ der „Übergangsphase“, dem auch der Ausdruck „Experimentalviertel“ zuzurechnen ist, entlastete alle Beteiligten am neuen Gesellschaftsvertrag: Die Führung konnte systembedingte Versorgungsmängel und Wartezeiten entschuldigen. Zugleich half dieses Narrativ, abweichende Praktiken „von unten“ zu ignorieren und zu entschärfen.
Der „Mikrorayon“ Um 1960 setzte ein offizieller Diskurs ein über kommunale Wohnformen mit vergesellschafteten Dienstleistungen für die reproduktiven Arbeiten. Lebensmittelpunkt der Bewohner der Neubauviertel sollte nicht die eigene Wohnung sein. Der „Mikrorayon“ mit seiner gestuften Infrastruktur – Krippe, Schule, Läden, Wäscherei, Kantine – wurde als Vergesellschaftungsform propagiert.85 Auch dieses Konzept ging auf die zwanziger Jahre zurück. Novye Čeremuški Bereits die Raumplanung von kvartal Nr. 11 geriet weniger sorgfältig, und desgleichen die weiteren Wohnsiedlungen in Massenbauweise, die die in Novye Čeremuški begonnene Entwicklung fortführen wollten. In Moskau waren dies Chimki-Chovrino, Novye Kuz’minki, Fili-Mazilovo, Choroševo-Mnevniki oder Volchonka-ZIL. Hier nahm die Monotonie ihren Anfang, die später charakteristisch für solche Wohngegenden werden sollte.86
79 Buchli: Khrushchev; Reid: Cold war in the kitchen, S. 245–249. 80 Kelly: Refining Russia, S. 321. 81 Kelly: Refining Russia, S. 324. 82 Lebina: Žil’e, S. 182, 83 Lebina: Žil’e, S. 175. 84 Lebina: Žil’e, S. 182. 85 Andrej Kaftanov: Zurückdenken an die Aktualität. Architektur 1958/2002. In: Berlin-Moskau, Moskau-Berlin 1950–2000. Hg. Von Pawel Choroschilow, Jürgen Harten, Joachim Sartorius, Peter-Klaus Schuster. Berlin 2003, S. 176–181, hier S. 179. 86 Aleksandr Rjabušin: Il Processo architettonico negli anni 1950–1980. In: Mosca, capitale dell’utopia. Hg. von Vieri Quilici. Milano 1991, S. 78–87.
245
70. Maquette aus dem Bildband Sovetskaja Architektura 1917–195787 Die neuen Viertel an der Peripherie hießen „Mikrorayons“. Die „Mikrorayons“ wurden als autonome Wohnstädte mit kompletter Infrastruktur für 6 000 bis 20 000 Einwohner geplant. Novye Čeremuški Nr. 9 war das Vorzeige- und Experimentalmodell. Hier verwendeten die Architekten große Sorgfalt auf die räumliche Anordnung der rechteckigen Standardbauten. Sie schufen eine kohärente und funktionale Zoneneinteilung innerhalb des Quartiers, proportional sinnvolle Verhältnisse zwischen Gebäudeabständen und deren Höhe, Aussichtspunkte und Raumfluchten, visuelle Rahmen. Die Modellaufnahme zeigt die kvartale Nr. 9, 12, 13, 14 und 15 in einem frühen Planungsstadium. Nr. 9 ist das stumpfe Dreieck ganz links. Kvartal Nr. 10 entstand später oberhalb der kvartale 9, 12 und 14, dort, wo auf diesem Plan noch Sportplätze vorgesehen waren. Die möbliert gezeichneten Grundrisse zeigen, wie knapp der Raum bemessen war. Zu beachten sind die WC’s in den Badezimmern. Dieser Tabubruch wurde später teilweise rückgängig gemacht.
87 Dieser Bildband wird im Kapitel „Höfe und Heterotopien „ eingehend beschrieben und analysiert.
71. Ščusev XI-23230, Foto der Stolovaja in kvartal‘ Nr. 9, Fotograf unbekannt, um 1960. Die neue Führungsriege stellte zwar eigene Wohnungen zur Verfügung, mischte sich aber gleichzeitig mit der „Rationalisierung der Häuslichkeit” massiv in die Formen und Praktiken des Alltagslebens ein. Die Privatisierung des Alltags in der eigenen Wohnung könnte individualistische Lebenshaltungen und den Rückzug der Familien aus dem gesellschaftlichen Leben fördern. Die neuen Normen für das häusliche Leben waren Teil einer Modernisierungskampagne, die sich gezielt an die Frauen richtete. Sie sollten mit ihren Familien die öffentlichen Speisehallen nutzen.
In der Realität hinkte die Versorgung mit den Dienstleistungen dem Wohnungsbau jahrelang hinterher.88 Besonders problematisch war der Umstand, dass die neuen Wohnviertel häufig erst später vom öffentlichen Transportwesen erschlossen wurden. Am 13. Oktober Novye Čeremuški 1962, fünf Jahre nach dem Bezug des kvartals Nr. 9, eröffnete Chruščev feierlich einen neun Kilometer langen Teilabschnitt der neuen Metrolinie Kalužskij Radius.89 Er verbindet die Oktrjabskaja Ploščad’ mit Novye Čeremuški. Die Stationen, die die neue Wohngegend an Moskaus Metronetz anbanden, heißen: Leninskij Prospekt, Akademičeskaja, Profsojuznaja und Novye Čeremuški. Ausserhalb der Stadtgrenzen sollte ein bewaldeter Parkgürtel erhalten bleiben: Die Verkürzung der Arbeitszeit rückte die Fünf-Tage-Woche in absehbare Nähe. Für die Freizeit mussten Naherholungsgebiete geschaffen werden. Jenseits dieses Grüngürtels rund um Moskau waren Satellitenstädte (gorod sputnik) geplant.90 Die erste Satellitenstadt für 65 000 Einwohner, mit deren Bau 1960 begonnen wurde, hieß Krjukovo. Sie lag 38 Kilometer ausserhalb der Stadtgrenzen. Die Satellitenstädte sollten das Stadtwachstum kontrollierbar machen. Moskauer Industriebetriebe sollten hierhin umgesiedelt werden und Arbeitsplätze vor Ort schaffen.91
88 Bater: The Soviet City, S. 117–120. 89 Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1962) Nr. 11. 90 Z. B. Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1961) Nr. 7, S. 8–9. Erste Pläne in Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1959) Nr. 8, S. 2–5. 91 Moskva. Architekturnyj Putevoditel’, S. 25–26.
Propaganda im Dreivierteltakt: Šostakovič komponiert für den „Mikrorayon“ Kein Geringerer als Dmitrij Šostakovič (1906–1975) widmete Novye Čeremuški eine Operette.92 Die politische Haltung Šostakovičs war und ist Gegenstand heftiger Debatten.93 Seine Karriere war von ständigem Auf und Ab gekennzeichnet und ist ein Fallbeispiel für die Widersprüchlichkeit der sowjetischen Lebenswelten. 1936 verließ Stalin demonstrativ die Aufführung seiner „Lady Macbeth von Mcensk”, doch 1937 rehabilitierte sich Šostakovič mit der berühmten 5. Symphonie.94 Während der 900 Tage dauernden Belagerung der Stadt durch die deutschen Truppen schrieb Šostakovič die Leningrad-Symphonie. Damit leistete er einen wesentlichen Beitrag zum Status Leningrads als „Heldenstadt“. Dieser Heldenstatus wurde den Leningrader Eliten nach Kriegsende jedoch zum Verhängnis: Stalin sah sich durch ihre Popularität bedroht und bestrafte sie durch heftige Säuberungen. 1948 wurde auch Šostakovič unter der ždanovščina als „Volksfeind” vom Komponistenverband ausgeschlossen. Insgesamt erhielt er aber im Laufe seiner Karriere sechs Stalinpreise. Seit 1953 stand Šostakovič unter wachsendem Druck, der kommunistischen Partei beizutreten. 1956 hatte sich der Komponist für eine vorsichtige Abkehr vom Sozrealismus in der Musik ausgesprochen: „Es sei kein Kriterium für den Wert eines Werks, ob die Zuhörer beim Verlassen des Konzertsaals die Melodien einer Sinfonie pfeifen könnten oder nicht.”95 Später lobte er dann jedoch wieder die Vorzüge des volksliedhaften Komponierens unter Einbeziehung des sowjetischen Massenliedes. Seine Operette über Novye Čeremuški zitierte eigene frühere Kompositionen und war voller ironischer Anspielungen auf gängige Schlager, aber auch auf populäre klassische Stücke wie „Schwanensee“. Zum Gassenhauer wurde der Čeremuški-Walzer. Die musikalische Komödie war eine Auftragsarbeit für das Moskauer Operettentheater.96 Šostakovič schrieb die Musik in nur zwei Wochen im Herbst 1958. Das Stück wurde im Januar 1959 uraufgeführt. Die Handlung dreht sich um einen ausgewachsenen Korruptionsskandal: Saša und Maša, ein junges Ehepaar ohne Wohnung und die Museumsführerin Lidočka mit ihrem Vater Baburov (der das alte Moskau vorzieht, wo aber sein Dach eingebrochen ist) sollen im neuen Wohnviertel je eine lang ersehnte Wohnung bekommen. Doch der korrupte Hausverwalter Barabaškin will die beiden Wohnungen zusammenlegen und dem Parteibonzen Drebednev für seine junge vierte Frau zuschanzen. Als er den rechtmäßigen Besitzern die Wohnungsschlüssel verweigert, helfen die „werktätigen Massen” in Gestalt der Bauarbeiterin Ljusja und des arbeitslosen Sprengstoff-Technikers Boris, der das Ehepaar per Kran auf den Balkon befördert. Auch die oberen Parteiinstanzen sorgen auf Baburovs Beschwerde hin für Ordnung: Baburov bekommt seine Wohnung ebenso wie Saša und Mascha, der Hausverwalter Barabaškin wird zum dvornik und wischt den Hof. Die Stelle des Verwalters bekommt der Bürokrat Drebednev, worauf ihn seine junge Frau verlässt. 92 Dmitri Shostakovich: Moskva, Cheremushki Op. 105. Russian State Symphonic Orchestra. Residentie Orchestra The Hague. Gennady Rozhdestvensky. Chandos 9591(2). Colchester, Essex 1997. Die Edition enthält das komplette Skript mit Übersetzungen in mehrere Sprachen sowie einer Einführung von Gerard McBurney. 93 Shannon Leigh Wettstein: Surviving the Soviet Era: An Analysis of Works by Shostakovich, Schnittke, Denisov and Ustvolskaya. Ann Arbor, Mich. (UMI Diss.) 2002; Shostakovich revisited. Hg. von Allan B. Ho u. a. London 1998; Schostakowitsch und die Folgen: russische Musik zwischen Anpassung und Protest: ein internationales Symposium / Shostakovich and the consequences: Russian music between adaptation and protest: an international symposium. Hg. von Ernst Kuhn u. a. Berlin 2003 (Studia Slavica musicologica Bd. 32. Schostakowitsch-Studien Bd. 6). 94 Eine Analyse der Rezeption der Lady Macbeth in kulturpolitischer und sozialhistorischer Perspektive bietet Sheila Fitzpatrick: The Lady Macbeth Affair: Shostakovich and the Soviet Puritans. In: Dies.: The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia. Ithaca usw. 1992, S. 183–215. 95 Gerd Ruge: Gespräche in Moskau. Berlin usw. 1961, S. 101. 96 Ruge: Gespräche, S. 103. Das Skript verfassten die bekannten Humoristen Vladimir Mass und Michail Červinskij.
247
Das Stück spielt geschickt mit Versatzstücken der zeitgenössischen Populärkultur: Die eigene Neubauwohnung ist Ziel aller Begierden und wird tatsächlich Realität, die Baufälligkeit des alten Moskau war sprichwörtlich und die Korruption nahm größere Ausmaße an. Der ‚arbeitslose’ Boris ist als stiljaga dargestellt und vereint damit zwei Tabus auf sich. Doch die Geschichte ist auch ein „Märchen“: Die Neumieter in Novye Čeremuški formen angesichts der Ungerechtigkeit spontan ein Kollektiv und bauen unter Ljusjas Anleitung einen „magischen Garten“. Darin kommen vor: Blumen, die nur für die Augen der „Guten“ blühen; ein Springbrunnen, der pompöse Reden sofort übertönt; eine magische „Bank der Wahrheit“, die alle, die auf ihr sitzen zwingt, die Wahrheit zu sagen; schließlich eine Zauberuhr für Liebende. Mit der Zauberkraft dieses magischen Gartens überwinden die Bewohner sämtliche Schwierigkeiten. Auf der Bank der Wahrheit finden am Ende auch alle Liebenden zueinander. Damit deklariert das Stück einerseits Čeremuški selbst zum „magischen Garten“, in dem der Sozialismus bereits Wirklichkeit geworden ist – und andererseits das Ganze wiederum als Märchen, als Traum. Der Refrain des Čeremuški-Liedes heißt: „Čeremuški … in Čeremuški blühen die Vogelkirschbäume. Und die Träume aller Leute, die hier wohnen, gehen in Erfüllung.“ Die schmissige Operette war vermutlich auch eine sowjetische Antwort auf Leonhard Bernsteins 1957 uraufgeführte West-Side-Story, obwohl die Musik eher an Johann Strauss erinnert. So tritt ein modischer, aber im Grunde rechtschaffener stiljaga auf und es wird viel und mitreißend getanzt und gesungen. Verehrer Šostakovičs reden nicht gerne über diese Operette. Die einen sehen sie als deftige Satire, andere als Propagandaklamotte der Chruščev-Zeit. Erfolgreich war in der Sowjetunion vor allem die Filmfassung von 1962, die über Jahre hinweg jeweils am Neujahrsabend im Fernsehen lief.97 Die harmlose Satire mit stiljaga, Arbeiterin und Mieter-Kollektiv passt zur Propaganda-These und in ein Muster harmloser Unterhaltungskomödie. Die Operette propagierte mit den Mitteln der Populärkultur die Institution des „Mikrorayons“. Doch in seinen Selbstzitaten thematisierte Šostakovič auch die Entstalinisierung, weil er zur Einführung der korrupten Bürokraten eine Melodie aufgriff, die in einem seiner früheren Stücke den Auftritt Stalins ankündigte. Auch die – für das Genre damals allerdings typischen – märchenhaften Züge könnte man als Denunziation deuten: Dann wäre die Erzählung vom Neubauviertel Čeremuški ein schönes Propaganda-Märchen.
Novye Čeremuški
Das „Dom Novogo Byta“ in Novye Čeremuški Nr. 10 Neue Lebensweisen: Zurück zu den 20ern! Dom-kommuna und dom-kompleks Seit 1960 war das kvartal Nr. 10 in Planung, das 1967–1970 erbaut wurde. Auch hier stand bei der Präsentation in der Fachpresse die Bauweise mit vorgefertigten Elementen im Vordergrund. Im Experimentalviertel Novye Čeremuški Nr. 10 wurde die Großtafelbauweise erstmals durchgehend eingesetzt. Die sechs- und fünfzehnstöckigen Gebäude waren aus Stahlbetonelementen zusammengefügt und bestanden bis in die Wohnungen hinein aus vorgefertigten Teilen.
97 Im Westen bekannt wurde das Stück erst 1994, als David Pountney es für eine Aufführung an der Londoner PimlicoOpera mit dem Titel „Paradise Moscow” adaptierte, und Gerard McBurney eine kammermusikalische Fassung arrangierte. 2001 folgte eine Aufführung durch Opera North in Leeds und im Juni 2003 fand die Premiere der Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart statt. Mit dem angestaubten Fünfzigerjahre-Chic befriedigen die aktuellen Inszenierungen offenbar auch Ostalgie-Bedürfnisse.
72. Titelblatt der Zeitschrift Stroitel’stvo Moskvy Nr. 10 aus dem Jahr 1929, gestaltet von Solomon Telingater (1903– 1969) Zur Chruščev-Zeit lebten die Konzepte der Rationalisierung des Alltagslebens und kollektiver Wohnformen aus den zwanziger Jahren wieder auf. In den zwanziger Jahren wurde der Lebensstil des „Neuen Menschen” entworfen: Gleichzeitig mit der Antikitschkampagne lancierte man die Athletismus-Kampagne. El Lisickij schrieb, alles, was der Neue Mensch brauche, sei eine Matratze, ein Klappstuhl, ein Tisch und ein Grammophon.98 „Die moderne Wohnung muss durchkonstruiert werden wie der beste moderne Reisekoffer, wobei alles Notwendige, das Platz finden muss, zu beachten und jeder Kubikzentimeter Raum auszunutzen ist.”99 Damals entstanden Kommunehäuser wie das von Ginzburg und Milinis. Wichtig war die Grundlage, dass die Suche nach der räumlichen Struktur eng mit der Suche nach der sozialen Struktur verknüpft war.
Schon die Darstellungsweise des Projektes in Zeichnungen und dynamischen Skizzen der Jahre 1961 und 1962 unterscheidet sich erheblich von der Präsentation der Modelle von kvartal Nr. 9 wenige Jahre zuvor in derselben Zeitschrift. Die visuelle Aufmachung hatte sich in kurzer Zeit völlig gewandelt, hin zu Modernität, Farbe und Geschwindigkeit. Experimentiert wurde innerhalb des Wohnviertels Novye Čeremuški Nr. 10 mit einem Wohnkomplex aus mehreren, neun- bis vierzehngeschossigen Gebäuden für 1500 Menschen, dem „Haus Neuen Lebens”.100 Der dom-kompleks nahm die Idee der Kommunehäuser, dom-kommuna genannt -, aus den zwanziger Jahren wieder auf. Ein Konzept eines künftigen Systems von Wohnkommunen stellte Novyj Mir Nr. 7, 1960 vor, allerdings als Utopie in der Zeit des erreichten Kommunismus.101 Das Kommunehaus diente als Vehikel, um die gesellschaftlichen Utopien der zwanziger Jahre auszubreiten. Die Izvestija brachte am 13. Januar 1960 ebenfalls einen Artikel dazu: „Versuchen wir, in die Zukunft zu schauen und uns einen Wohnblock im entwickelten System der kommunistischen Lebensweise vorzustellen. Offenbar werden die Wohnviertel dann eine Einheit von Häusern mit Einzelwohnungen und Sektoren öffentlicher Dienstleistungen darstellen. Um sowohl die optimale Verbindung zwischen den Wohnungen und den öffentlichen Gebäuden als auch deren Wirtschaftlichkeit zu gewährleisten, wird es zweckmäßig sein, vergrößerte Quartale oder „Mikrorayons“ mit 8 000 bis 10 000 Bewohnern zu schaffen. In einem Wohnviertel werden einige große Wohnhäuser im Hoteltyp mit öffentlichen Speisebetrieben, Kinderkrippen und Kindergärten stehen. Ein solches Haus könnte man Grundwohnzelle mit kollektiver Dienstleistung nennen.”102 1964 erwähnt die Izvestija den „Gebäudekomplex” als Wohnform im Zusammenhang eines Artikels über die Be-
198 Boym: Common Places, S. 38. 199 El Lisickij: Kul‘tura žil‘ja. In: Stroitel’naja promyšlennost’ (1926) Nr. 12, S. 877–881. Zit. nach: Der Architekturstreit nach der Revolution. Zeitgenössische Texte Russland 1925–1932. Hg. von Elke Pistorius. Basel etc. 1992, S. 105. 100 Architektura i stroitel’stvo (1959) Nr. 9, S. 14–20. 101 Vgl. Ost-Probleme 12 (1960) Nr. 21, S. 651–655. 102 Zit. nach Ost-Probleme 12 (1960) Nr. 25/26, S. 800.
249
freiung der Frauen von der Hausarbeit.103 Explizit auf die architektonischen Errungenschaften der frühen Sowjetzeit bezieht sich ein Artikel zur Geschichte der sowjetischen Architektur, der In Novyj Mir Nr. 9, 1967 erschien. Hier wird an die Ideen des Konstruktivismus und der Avantgarde der zwanziger Jahre erinnert. „Hier aber wurde um Jahrzehnte vorausgeschaut. Man nehme nur die ersten Kommunenhäuser Ginsburgs. Das waren Entwürfe, denen tiefe soziale Ideen zugrunde lagen. In ihnen paarten sich Wohnstätte und ausgeklügeltes Dienstleistungssystem. Das war der erste Versuch, von der individuellen Wohnung zur gesellschaftlichen Organisation der Lebensweise überzugehen. Die Entwürfe wurden verwirklicht, geschmäht und…vergessen, wie zum Beispiel das Haus am Nowinskij-Boulevard. (…) und heute – nach vierzig Jahren – bauen wir im zehnten Stadtviertel von Nowyje Tscherëmuschki wieder das ‚erste’ derartige Haus, und es ist noch nicht fertig.”104
Das „Dom Sotrudnikov Narkomfina“ von M. Ginzburg und I. Milinis In den Kommunehäusern, die seit Beginn der zwanziger Jahre durch die Anpassung älterer Gebäude mit kleinen Zimmern entlang langer Korridore und Gemeinschaftsküchen entstanden, sollte nach rationalistischen Prinzipien der „Neue Mensch“ erzogen werden, als Teil eines großen Mechanismus. Das Projekt von V. Kuz’min sah vor, die ganze Bevölkerung nach Alter und Geschlecht in Gruppen einzuteilen, deren Tagesabläufe auf die Minute genau geplant würden.105 Andere wie El Lisickij planten moderate Versionen kollektiver Wohnformen. Angestrebt war die Vergesellschaftung einiger, aber nicht aller Funktionen des Alltagslebens. „Thus, for example, cooking should be transferred from the private single kitchen in to the communal cooking laboratory; the main meal should be consumed in public eating establishments; and the rearing of children should become the responsibility of the kindergarten or the school.”106 Die Zeitschrift der sowjetischen Architektur-Avantgarde, „Sovremennaja Architektura“, widmete 1929 mehrere Hefte der Entwicklung von Kommunehäusern und Wohnzellen unterschiedlichen Typs durch verschiedene Architekten. Auftraggeber für die radiNovye Čeremuški kalen Neuentwürfe des Zusammenlebens und wichtige Planungsstelle für Kommunehäuser war das Baukomitee des Wirtschaftsrates der RSFSR.107 Die meisten Entwürfe waren horizontal ausgerichtet, mit lang gestreckten Wohnflügeln, die durch einen Trakt mit den Gemeinschaftsfunktionen verbunden waren. Wohnzellen der Typen A und E bestanden aus Einzelzimmern und Gemeinschaftseinrichtungen. Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Planer der optimalen Versorgung der Einheiten mit Licht und Luft und den Verbindungen zwischen Individual- und Gemeinschaftszonen. Eine „standardisierte Satzung der Kommunehäuser“ bestimmte das Zusammenleben nach strengen, asketischen Regeln. Den Einwohnern war nicht erlaubt, ihre Möbel und ihr Geschirr mitzubringen. Andenken 103 15. April 1964, zit. nach Ost-Probleme 16 (1964) Nr. 21, S. 612. 104 Zit. nach Ost-Probleme 20 (1968) Nr. 3, S. 55. 105 Vgl. Sovremennaja Architektura 3 (1930), S. 16 f., übersetzt in: Helmut Altrichter: „Living the Revolution“. Stadt und Stadtplanung in Stalins Russland. In: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. Hg. von Wolfgang Hartwig. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 56). München 2003, S. 57–75, hier S. 68. 106 El Lissitzky: Russia. An Architecture for World Revolution. Translated by Eric Dluhosch. Cambridge, Mass. 1970 (Erstausgabe Moskau 1929), S. 36. 107 El Lissitzky: Russia, stellte S. 35–42 unterschiedliche Modelle von Kommunehäusern vor und reflektierte deren Bedeutung und Funktion.
an frühere Zeiten waren unerwünscht. Der Neubeginn sollte einer sozialistischen Wiedergeburt gleichkommen, mit speziell entwickelten, politisch korrekten Kleidern, Möbeln und Geschirr. Doch der Geschmack der Arbeiter, der einstigen Bauern und Kleinbürger, ließ sich nicht so leicht umformen, die Menschen hielten an ihrem vertrauten Einrichtungsstil fest.108 73. „Narkomfin“-Projekt von Ginzburg in Sovremennaja Architektura (SA) (1929) Nr. 5 Die im Projekt des Finanzvolkskommissariates angewendeten Typen von „Wohnzellen“, nämlich K und F, waren auf bestimmte Bedürfnisse abgestimmt. Sie umfassten mehrere Ebenen, die Nutzräume hatten eine niedere Raumhöhe als die Wohnräume. Die raumbildenden Kunstgriffe waren viel raffinierter als im „Haus neuen Lebens“. Sie folgten dem von Le Corbusier entwickelten Prinzip des „fließenden Raums“: Die einzelnen Räume waren nach dem Prinzip der rationellen Organisation des funktionalen Ablaufs miteinander verbunden. Die Arbeitsabläufe in Küche und Wohnräumen wurden zu diesem Zweck ausgiebig studiert.109 Deutlich weniger Wert als auf die Wohnzellen legten zumindest die Publikationen der Fachzeitschrift „Sovremennaja Architektura“ auf die Gemeinschaftsräume und –Einrichtungen. Sie sind nur summarisch gezeigt oder als Zonen ausgewiesen. Im Detail gezeigt sind lediglich die Typen unterschiedlicher Wohnzellen künftiger Kommunehäuser.110 74. „Narkomfin“-Haus, Grundrisse und Schnitte in SA (1929) Nr. 5
251
108 Janina Urussowa: Das Neue Moskau. Die Stadt der Sowjets im Film 1917–1941. Köln usw. 2004, S. 152, S. 176–177. 109 Sovremennaja Architektura (1929) Nr. 1. 110 Unterschiedliche Typen von „Wohnzellen“ von A-K sind vorgestellt in Sovremennaja Architektura (1929) Nr. 1 und 4. In Heft (1929) Nr. 5 wird das „Narkomfin“-Haus im Projekt vorgestellt.
76. Modell Wohnzelle F1. Die „Wohnzellen“ im „Narkomfin“-Haus waren eigentlich separate Wohnungen mit eigener Küche und Bad, die viel mehr Komfort boten als die herkömmlichen Gemeinschaftswohnungen. Sie wurden an privilegierte Funktionäre verteilt. 75. Pläne Typ Wohnzelle F1 im „Narkomfin“-Haus aus SA (1929) Nr. 4
Das Bezugsfeld für eine Einordnung der Kommunehäuser in die zeitgenössischen Verhältnisse der zwanziger Jahre sind neben dem – internationalen – Diskurs über Sozialhygiene und Neues Wohnen andere zeitgenössische Wohnungsgrundrisse, die tatsächlichen Wohnbedingungen sowie die Vorstellungen davon, wie „man“ wohnt, die sich nach sozialer Herkunft, Stadt und Land unterschieden. Hier sei nur an die krasse Wohnungsnot erinnert, daran, dass auch Moskau überwiegend aus niedrigen Holzhäusern bestand und dass die Menschen in BaraNovye Čeremuški cken, Massenlagern, Wohnheimen und kommunal’ki lebten. Die Kommunehäuser sollten die Wohnungsnot lindern, aber auch eine ideale Umgebung für den „Neuen Menschen“, für einen kollektiven Lebensstil bieten.111 Bei der Betrachtung des „Narkomfin“-Hauses, das bereits beim Bau des „Haus neuen Lebens“ als Vorbild angeführt wurde und bis heute in der Literatur als das Kommunehaus schlechthin gilt, fällt auf, dass die Wohnungen des Typs F keine kleinen „Zellen“ waren, sondern großzügige, helle, luftige Studios, kleine Familienwohnungen mit eigener Küche, die der „Frankfurter Küche“ nachempfunden war. Für damalige Verhältnisse waren die Wohnungen luxuriös. Die Architekten der Kommunehäuser folgten den Grundsätzen des Neuen Bauens, verwendeten die modernen Materialien Beton, Stahl und Glas und huldigten rationalen, „industriellen“ Konstruktionsprinzipien. Andere zeitgenössische Wohnungen waren – als Vergleichsgröße, die das „Bild“ von NeubauWohnungen in den Köpfen prägte – die Mietshäuser der vorrevolutionären Zeit mit ihren sehr hierarchischen Grundrissen: Grosse Bürgerwohnungen mit Mädchenkammer hinter der Küche, in den oberen Stockwerken kleinere Wohnungen ähnlichen Zuschnitts für Angestellte, sowie
111 El Lissitzky: Russia, S. 35.
Dachkammern und Souterrains für Arbeiter und Bedienstete. Die Wohnungen wurden nach der Revolution in Gemeinschaftswohnungen umgewandelt. Die kollektiven Wohnprojekte der zwanziger Jahre brachten als Neuheit kleine, praktische Wohnungen. Dennoch blieben sie zu wenige, um sich durchsetzen zu können und waren wegen mangelnder Erfahrungen mit den Baumaterialien von schlechter Qualität. Die Kommunehäuser, die tatsächlich gebaut wurden, waren meist Betrieben oder anderen Institutionen angegliedert. Sie litten unter der hohen Fluktuation der Arbeiterschaft und somit auch ihrer Bewohner, die den Aufenthalt in solch einem Wohnheim nur als Übergangsphase, nicht aber als Lebensform ansahen. Die konstruktivistischen Kommunehäuser wurden nie voll funktionsfähig, weil durch die forcierte Industrialisierung und die Kollektivierung während des Ersten Fünfjahrplans die gesellschaftlichen Systeme dem Zusammenbruch nahe waren. Die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln funktionierte nicht mehr, die Wohnungsnot wurde so schlimm, dass in den Kommunehäusern auch die Gemeinschaftszonen in Schlafplätze umfunktioniert wurden, und die Menschen wollten sich den Hausordnungen nicht fügen. Der nomadisierende Lebensstil des Revolutionärs mit dem Klappbett, der überall und nirgends zu Hause ist, wurde in den dreißiger Jahren von Häckeldeckchen und Sofakissen erstickt. Die egalitären Prinzipien der Revolutionszeit wichen einer hierarchischen Gesellschaftsordnung, Stahl, Beton und Glas einer repräsentativen neoklassizistischen Formensprache. Die Familienpolitik der Stalinzeit knüpfte an Traditionen an, als ab 1934 die Familie wieder als Keimzelle des Staates galt. Der familiäre Zusammenhalt, die Stabilität von traditionellen Werten war angesichts des wachsenden Terrors und der Verunsicherung ein allgemeines Bedürfnis und ein stabilisierender Teil der stalinistischen Kultur.112 Er beruhte aber auch auf anderen Umgestaltungen des Alltagslebens wie der neuen Ehegesetzgebung. Entsprechend bevorzugten die Aufsteiger die hierarchischen Grundrisse, die sich an den vorrevolutionären Bürgerwohnungen orientierten. Die Kommunehäuser blieben für die breite Bevölkerung unverständlich und fremd, während sie für die Privilegierteren nach der kulturellen Revolution der Stalinzeit in den dreißiger Jahren schon nicht mehr prestigeträchtig genug waren. So fielen sie zwischen die Zeiten und dienten schließlich meistens als Wohnheime.113
253 Die Neuauflage des Kommunehauses im Vergleich Interessant ist die Entwicklung des dom-kompleks. Während in der Fachpresse noch 1962 ein Grundriss in Form eines Rechens mit vier Fingern gezeigt wird, besteht das gebaute „Haus neuen Lebens“ aus zwei Scheiben mit je 15 Stockwerken, die im Erdgeschoss durch einen Servicetrakt verbunden sind.114
112 Régine Robin: Stalinism and popular culture. In: The culture of the Stalin period. Hg. von Hans Günther. London usw. S. 15–40. 113 Zu Projekten kollektiver Wohnformen in den 1920er Jahren: Sovremennaja Architektura (1929) Nr. 1, 4 und 5. Zu Novye Čeremuški Nr. 10 vgl. Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1961) Nr.4, S. 4–11, hier S. 11 und Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1962) Nr. 12, S. 2–9, hier S. 8; Nikolaj A. Miljutin: Sozgorod: Die Planung der neuen Stadt. Basel usw. 1992 [Reprint der Ausg. 1930], S. 13. 114 Vgl. Abbildungen in A. Rjabušin, E. Bogdanov, V. Papernyj: Žilaja sreda kak obekt prognozirovanija. Materialy k eksperimental’nomu proektirovaniju oborudovanija žilišča. Moskau 1972, S. 19 und S. 22–23.
77. „Haus neuen Lebens“, erstes Projekt aus Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1962) Nr. 12, S. 6, Abb. 12 Abb. 12: Die Wohnhäuser des „Dom Novogo Byta“ an der Ulica Televidenija mit Wohneinheiten unterschiedlichen Typs waren im Erdgeschoss untereinander und mit einem gemeinsamen Servicepavillon verbunden. Einerseits sollten dadurch die Dienstleistungen des Alltagsbedarfs möglichst nahe an die Wohnungen gebracht werden; wichtiger war jedoch der Wunsch, neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu fördern. 115 Im Servicepavillon waren eine kleine Werkstatt, ein Friseursalon, eine Arztpraxis, in einem anderen Teil eine Cafeteria mit Küche und einem Saal für Familienanlässe, ein kleines Lebensmittelgeschäft neben einer Snack-Bar und einem kleinen Gebrauchsgüterstand geplant. Auf der Galerie lagen die Bibliothek, Gemeinschafts-(Klub)räume, ein Kinderklub und ein Mehrzwecksaal für Gymnastik, Gemeinschaftsabende oder Filmvorführungen. Die Häuser verfügten über „interne Telefonanlagen auch für Verbindungen nach ausserhalb sowie über Briefkästen für jede Wohnung”. Die 1961 und 1962 vorgestellten Pläne sahen Wohnraum für 1500 Menschen vor.
Novye Čeremuški
78. (S. 255) Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1961) Nr. 4, S. 4: Situationsplan Novye Čeremuški Nr. 10 Der Situationsplan zeigt das kvartal Novye Čeremuški Nr. 10. Ganz oben ist der Wohnkomplex des „Haus neuen Lebens“ auszumachen. Die Trakte 28 a, b und c sind jeweils neun Stockwerke hoch und enthalten je ca. 160 Wohneinheiten. Trakt 29 ist vierzehn Stockwerke hoch und enthält 279 Wohnungen für Kleinfamilien, damit sind vermutlich Ehepaare gemeint. Trakt 30 ist ebenfalls vierzehn Stockwerke hoch und enthält 108 Ein- und Zweizimmerwohnungen. Der Verbindungstrakt mit der Nummer 31 enthält die Dienstleistungen und Gemeinschaftsfunktionen. Der Kindergarten befindet sich im Gebäude Nr. 26 neben dem „Haus neuen Lebens“. Die Ulica Televidenija wurde in den siebziger Jahren in Ulica Švernika umbenannt. Ganz links unten ist das kvartal Nr. 9 angedeutet.
115 Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1962) Nr. 12, S. 8.
255
79. Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1961) Nr. 4, Abb. 28, S. 10, „Haus neuen Lebens“, erstes Projekt Das Projekt wurde von einem Architektenkollektiv unter Leitung von N. Osterman mehrfach überarbeitet. Die Projekte von 1962 und 1965 unterschieden sich vor allem durch die Reduktion der Dienstleistungsbereiche.
Novye Čeremuški
80. (S. 257) Dom-kompleks „Dom Novogo Byta“ von N. Osterman mit A. Petruškova, I. Kanaeva und G. Konstantinovskij; zweites, teilweise ausgeführtes Projekt, Grundrisse. Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1965) Nr. 12, S. 10. Zur Ausführung gelangte schließlich ein späteres Projekt, das der leitende Architekt Osterman 1965 vorstellte.116 An verschiedenen Plänen, die andernorts publiziert sind, fällt vor allem der Umstand auf, dass der Gemeinschaftsteil wesentlich abgespeckt wurde.117 Ein ursprünglich vorgesehenes großes Hallenbad und der darüber gelegene Theater- und Kinosaal waren 1965 bereits nicht mehr auf dem Plan zu finden. Das Projekt von 1965 war für 2200 Personen gedacht. Der Grundriss oben zeigt die Dienstleistungen im Gemeinschaftstrakt und den Erdgeschossen der Wohngebäude: Ein Friseur (6), ein Kinderzentrum (1), ein Zentrum für medizinische Versorgung (2), eine Reinigung und Wäscherei (3), ein „Klub“ (5), die Küche (7), Kantine und Cafeteria (8), ein Mehrzwecksaal (9), ein Bastelraum (10), Mehrzweck-Gemeinschaftsräume (12), große Garderoben (13), ein Studienraum (14), die Hausverwaltung (15) und die Gästezimmer (16). (4), (11) sind als Foyer oder Korridor ausgewiesen. Der Grundriss unten zeigt die Wohnebenen. Gut erkennbar sind die Leseräume (1, 8) , die Gemeinschaftsküchen (2, 3, 10, 11) und die Essräume (4, 9) sowie die Kleider- und Schuhreinigungshilfen bzw. Wäschereien (13, 14, 15) auf Stockwerksebene.
116 Stroitel’stvo i architektura Moskvy 12 (1965) S. 10–14. 117 Alessandra Latour: Mosca 1890–1991. Bologna 1992, S. 325; Rjabušin, Bogdanov, Papernyj: Žilaja sreda, S. 22–23.
257
81. Dom-kompleks „Dom Novogo Byta” Modellfoto. Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1965) Nr. 12, S. 12.
Der dom-kompleks war in sich abgeschlossen, aber über die geplante Nutzung von Schulen, Geschäften oder Krankenhäusern in das gestufte Versorgungssystem des „Mikrorayon“ integriert, was bei den Kommunehäusern in den zwanziger Jahren nicht der Fall war. Hier nun sollte die erste Versorgungsstufe im Haus geboten werden, die nächste innerhalb des „Mikrorayons“. Mit dem Wiederaufleben der Idee kommunalen Wohnens war ein erneuertes Interesse an städtebaulichen Fragen verbunden. Die zuvor aus dem Blickfeld geratene „Wohnzelle“ wurde wieder aktuell. Osterman glaubte, dass die flexible Novye Čeremuški Nutzung der individuellen Wohnräume garantiert werden müsse. Sie sollten sich je nach momentaner Nutzung transformieren lassen, etwa in Schlafräume oder um Gäste zu empfangen. Eine starre Zuordnung der Räume als Familienraum und Einzelräume für jedes Familienmitglied hielt er für auf die Dauer unrealistisch. Deshalb entwarf er kleine Einheiten mit offenen Grundrissen; im Gegensatz zu Ginzburg lagen sie nur noch auf einer Ebene. Die drei Typen von Wohneinheiten im „Haus neuen Lebens“ bestanden jeweils aus einem oder zwei Räumen. Sie ähnelten Hotelzimmern. Ein ausgeklügeltes System vergesellschafteter Dienstleistungen und intensive Nachbarschaftskontakte sollte die Isolation der Familien aufbrechen. Im Vergleich mit dem „Narkomfin“-Haus fällt auf, dass die Wohneinheiten viel kleiner sind. Es sind keine Wohnungen oder Studios auf mehreren Ebenen, sondern Hotelzimmer. Überspitzt gesagt zogen die Menschen aus ihrem Zimmer in der Gemeinschaftswohnung, wo sich Küche und Bad alle teilten, in ein Zimmer mit eigenem Bad. Die Familien lebten weiterhin im gleichen Zimmer auf engstem Raum zusammen. Auf den Plänen sind, anders als bei den „Narkomfin“-Plänen, die Gemeinschaftszonen wichtiger, als die Wohnzellen. Die unteren beiden Stockwerke waren solchen Gemeinschaftsfunktionen vorbehalten. Auf jeder Wohnebene gab es einen gemeinschaftlichen Speisesaal. Es war vorgesehen, dass sich auf Stockwerksebene Teilkollektive im Prinzip der Nachbarschaftshilfe bil-
deten.118 Die Versorgungssysteme variierten allerdings in Ostermans unterschiedlichen Projekten: Einmal waren es Kantinen auf Stockwerksebene, dann eher Verkaufspunkte für vorgefertigte Mahlzeiten, dann wiederum Warenlifte, die fertige Mahlzeiten in die einzelnen Wohnzellen transportierten.119 Im Erdgeschoss gab es eine Sporthalle und ein Schwimmbad, über dem Schwimmbad befand sich ein Theater. Erkennbar sind ferner Bibliotheken mit Lesesälen, Klubräume, eine Cafeteria, Läden und sorgfältig gestaltete Gärten. Der Wohnkomplex gleicht einem „Mikrorayon“ in einem Haus. Der Wohnkomfort sollte die Menschen von den Lasten des täglichen Haushaltens befreien und ihnen Zeit geben, um sich gesellschaftlichen Problemen, dem Sport oder der Kunst zu widmen. Vor allem aber sollte das „Haus neuen Lebens“ dem gesellschaftlichen Bewusstsein der Bürger und kollektivistischen Wohnformen dienen. Die Realität gab der Planung nicht Recht. Das „Haus neuen Lebens“ wurde nie ganz fertig gebaut. Heute stehen zwei Wohnscheiben, die wie die Häuser am Neuen Arbat aufgeschlagenen Büchern ähneln. Ein flacher Verbindungsbau ist der Abglanz der geplanten Dienstleistungseinheiten. Der Teilkomplex wurde der Moskauer Staatsuniversität übereignet und unter der Bezeichnung „Dom Aspiranta i Stažera“ (DAS) als Wohnheim für Graduierte und ausländische Gaststudierende genutzt. Er war jedoch nie sonderlich beliebt. Standardisierung, Rationalisierung und Egalitarismus durch typisierte Massenbauweise waren sowohl bei den separaten Wohnungen wie auch beim Kommunehaus die Schlagworte. Kommunehaus, Kantine und Wäscherei sollten ein Stück weit die soziale Kontrolle der kommunal’ka ersetzen. Wichtig: Das ganze Leben wurde gemäß „rationalisierter Arbeitsabläufe“ in Funktionsbereiche aufgeteilt. 1967 stellte N. Osterman in „Architektura SSSR“ die Ergebnisse eines Architektur-Wettbewerbs zum dom-kompleks als „Wohnform der Zukunft“ vor. Am Ende der Reihe von Projekten steht ein längerer Abschnitt zum „Haus neuen Lebens“, das damals im Bau war. Besonders aufschlussreich ist ein kreisförmiges Schema, ein „Modell der Alltagsorganisation“. Die Kreissegmente sind prozentual den Tätigkeiten im Alltag zugeordnet und erklären diese in Beziehung zu den Dienstleistungen im dom-kompleks.120 Die aufwändige Visualisierung des byt suggeriert die Planbarkeit des ganzen menschlichen Lebens.
Bilder des „Neuen Lebens“ „Salons, Säle, Boudoirs, Gästezimmer. (…) Alles ist hinweggefegt – allein die nackte ‚Wohnfläche’ ist geblieben. Doch diese bescheidene, enge Wohnfläche beginnt bereits in die neue sowjetische Wohnform hinüberzuwachsen. Wohnformen sind der materielle Ausdruck des Wesens der neuen Lebensweise und fordern unsere Aufmerksamkeit. Es ist notwendig zu verstehen, dass die Wohnung, ihr Grundriss und ihr System die Grundzelle bildet, aus der sich das Haus zusammensetzt und dass die Häuser sich zu Strasse und Plätzen, das heißt zur Stadt als Ganzes fügen. Das ist die Entwicklung zur ‚großen Architektur’. Doch aus dem System der Wohnung entwickelt sich auch die ‚kleine Architektur’, ihre Inneneinrichtung, ihre Möblierung“ schrieb El Lisickij 1926.121
118 Latour: Mosca, S. 325. 119 Rjabušin, Bogdanov, Papernyj: Žilaja sreda kak obekt prognozirovanija, S. 20. 120 N. Osterman: O žilišče buduščevo. In: Architektura SSSR (1967) Nr. 6, S. 30–41, hier S. 38–39. 121 El Lisickij: Kul‘tura žil‘ja. In: Stroitel’naja promyšlennost’ 12 (1926), S. 877–881. Zit. nach: Der Architekturstreit nach der Revolution. Zeitgenössische Texte, Russland 1925–1932. Hg. von Elke Pistorius. Basel etc. 1992, S. 105.
259
82. Interieur des Dom Novogo Byta, Novye Čeremuški Nr. 10, Ulica Televidenija,.(Heute Ulica Švernika), Ecke Bol’šaja Čeremuškinskaja Ulica. Fotograf Naum Granovskij, 1968. Privatbesitz. Auf der Aufnahme der größten Wohneinheit im „Haus neuen Lebens“ ist der Eingangsbereich zu sehen, wo sich auch der Sanitärblock mit Bad und Teeküche befindet. Die Einbauküche ist winzig – schließlich gab es auf jedem Stockwerk eine Gemeinschaftsküche –, hat aber einen Kühlschrank und einen Elektroherd. Neben dem Bad liegt die Schlafzone, zwei Betten mit schmalem Mittelgang. Der Fotograf steht hinter dem Esstisch gegenüber der Ruhezone mit Sofa, die durch eine mobile Wand abgetrennt werden kann. Die Aufnahme ist Teil einer Serie des bekannten Berufsfotografen Naum Granovskij. Er dokumentierte die Wohneinheit aus allen Blickwinkeln. Welten liegen zwischen der rückwärtsge-
Novye Čeremuški
wandten Ästhetik im Wohnzimmer des Pensionärs Karbulakov und der zukunftsgerichteten, ganz auf Zweckmäßigkeit und Modernität get-
rimmten Inneneinrichtung und dem offenen Grundriss im „Haus Neuen Lebens”. Der genormte Charakter der Möbel suggeriert einen nomadenhaften Lebensstil ohne Vitrinen mit dem „Guten Geschirr”.
Vor dem Hintergrund der Antikitschkampagne und des „Dom Novogo Byta“ repräsentieren die Fotoserien aus Novye Čeremuški der kvartale Nr. 9 und 10 drei Stadien des geschilderten Prozesses: 1. Das Wohnzimmer des Pensionärs Karbulakov aus dem August 1958 ist beispielhaft für den „stalinistischen“ Einrichtungsstil. Die Aufnahme wurde noch vor dem Beginn der neuen Innenraumpolitik aufgenommen. Sie zeigt das spätere Negativ-Klischee schlechthin. 2. Die Aufnahmen aus dem Jahr 1959 zeigen bereits eine Übergangsform von Häuslichkeit in alten Möbeln mit nur teilweise entfernten Häkeldeckchen, auch ein Teppich hängt an der Wand. Die Babuschka ist damit beschäftigt, ein Kissen zu sticken, der Enkel spielt Piano, die Mädchen in verschiedenen Wohnungen lesen oder zeichnen, die Frauen bügeln oder kochen, stecken sich Ohrringe an, kämmen sich das Haar. Die Männer sitzen am Schreibtisch oder bei der Lektüre im Sessel. Die Posen suggerieren den „normalen Alltag“. Denkt man an die Entstehungsbedingungen der Bildserien, kann man sich vorstellen, wie der Fotograf oder das Fotografenkollektiv in der Wohnung empfangen wurde. Deshalb sehen wir die Bewohner
und die Innenräume hergerichtet wie zum Empfang von Gästen: Mit Straßenkleidern und Schuhen, die Bettwäsche verstaut, die Zimmer aufgeräumt. Der offiziöse Charakter der Bilder ist somit ein doppelter: Einmal die Präsentation vor dem Gast und Fotografen, dann die Inszenierung für die Aufnahme. Den Protagonisten war bewusst, dass die Fotos mit Familienszenen Repräsentationsfunktion hatten. Angesichts der ideologischen Legitimation der Kleinwohnungen, die mehrmals am Tag umgebaut werden mussten, ist es allerdings immer noch verwunderlich, dass die Transformierbarkeit der Wohnräume zwar immer auf den Möblierungsplänen, nie aber im Bild gezeigt ist. Für Betrachter des damaligen Erfahrungshorizontes war die tägliche Transformation ebenso wie die dichte Belegung latent im Bild präsent. 3. Die 1969 entstandenen Fotos aus dem „Haus Neuen Lebens” von 1968 zeigen schließlich den sovremennyj stil’ in reinster Form. Im „Haus neuen Lebens“ ist alles offen, nicht nur der Grundriss. Es sind keine Menschen zu sehen in dieser „Wohnzelle“. An den Wänden hängen Grafiken, der Raum ist rational in Funktionszonen eingeteilt: Schlafen, ruhen, essen, arbeiten. Der neue Lebensstil steht für die neue Ära der Weltraumforschung und der räumlichen Entgrenzung, für die bevorstehende Ankunft im Kommunismus. Die Bilder sprechen in Verbindung mit ihren Entstehungsgeschichten, durch die Machtbeziehung zwischen der auftraggebenden Institution und dem abgebildeten Motiv. Auskünfte geben die Identität ihres Fotografen und der abgebildeten Menschen, deren Berufe notiert sind, sowie der Ort der Aufbewahrung oder Publikation. Eine etwas variierte Aufnahme des Architekten mit Zimmerpalme von A. Aleksandrov erschien im Jahrbuch für Architektur über die Jahre 1956–1957, das in Moskau 1961 herauskam.122 Aufnahmen von Granovskij aus dem Städtischen Archiv (CMADSN) erschienen in Architektura i Stroitel’stvo Moskvy.123 Insgesamt ergibt sich ein sehr hoher Aussagewert. So sind bei den im Architekturmuseum aufbewahrten Aufnahmen von Aleksandrov die Wohnungen fast ausschliesslich von Akademikerinnen und Akademikern bewohnt. Die Angabe der Berufe der abgebildeten Bewohnerinnen und Bewohner wirft die Frage nach der sozialtopografischen Lage des „Experimentalviertels“ Novye Čeremuški Nr. 9 auf. Schließlich sind die Aufnahmen zwar inszeniert, doch zeigen sie immer noch wirkliche Menschen in ihren Wohnungen mit ihren Möbeln und Einrichtungsgegenständen. Sie zeigen letztlich, dass der obrigkeitliche Zugriff auf die Inneneinrichtung der Wohnungen seine Grenzen hatte. In Novye Čeremuški Nr. 9, zwischen 1956 und 1959, kaufte noch kaum jemand beim Einzug in die neue Wohnung gleich eine komplett neue Einrichtung. Dies änderte sich erst im Laufe der sechziger Jahre, als die Wohnungen kleiner wurden und die Produktion Platz sparender Möbel im neu propagierten, „zeitgenössischen Stil“ zunahm. Besonders unter angehörigen der kritischen Intelligencija hatte der den Beigeschmack des „internationalen Flairs“ und war daher gewissermaßen trotz der offiziellen Propaganda beliebt.
Alltag im „Mikrorayon“: Individuum, Kollektiv, soziale Hierarchien Sozialtopographisch war der Südwesten gewissermaßen die Verlängerung der Achse des prestigeträchtigen südwestlichen Zentrums, des Arbatviertels mit seinem intellektuellen Ruf. Der Südwesten war geprägt von der MGU und zahlreichen wissenschaftlichen Instituten, deren Angestellte hier
122 Sovetskaja Architektura. Ežegodnik 1956–1957. Moskau 1961, Kapitel über Novye Čeremuški Nr. 9, ohne Paginierung. 123 Architektura i stroitel’stvo Moskvy 12 (1957), S. 3–10.
261
wohnten. Er galt als učebno-naučnyj. Eine Hypothese besagt überdies, dass die Neubaugebiete zu einer sozialen Segregation beitrugen, da zuerst verdiente Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft eine Wohnung erhielten und ihre angestammte kommunal’ka verließen.124 Von jeher bestand in der Gesamtentwicklung der Stadt eine Asymmetrie zwischen dem von Industrie geprägten Osten der Stadt und den Erholungsgebieten im Westen.125 In einem Grundsatzartikel des Planers N. Ullas in der Moskauer Architekturzeitschrift über die Stadtentwicklung im Hinblick auf einen neuen Generalplan bezog dieser den gesamten Südwesten als Erweiterung des historischen Stadtzentrums mit seinen zentralen Funktionen mit ein.126 Das „West-end” gilt bis heute als bevorzugte Wohngegend. Nicht zufällig entstand hier auch das olympische Dorf für die Spiele von 1980. Bereits 1965 wurde anlässlich der Wirtschaftsreform und wachsender Rentabilitätsausrichtung das Konzept kollektiven Wohnens hinterfragt – und damit der „Mikrorayon“ als gestuftes Versorgungssystem mit homogener Vergesellschaftung. Wie Umfragen in den siebziger Jahren ergaben, war der Betrieb oder das Institut, also die Arbeitsstelle der Ort, wo sich sozial homogene Freundeskreise bildeten, und nicht das Wohnviertel. Dies galt insbesondere, weil auch in Familien beide Elternteile berufstätig waren. 1973 und 1974 wurden 470 Kernfamilien in Novye Čeremuški zu Familie und Alltagsleben befragt.127 60 Prozent der Befragten pflegten keine engen Nachbarschaftskontakte. Ausschlaggebend für die sozialen Netzwerke waren vielmehr die Verwandtschaftsbeziehungen und der am Arbeitsplatz gewonnene Kollegenkreis. In 98 Prozent der befragten Familien waren beide Eltern berufstätig, was die Bedeutung des Arbeitsplatzes für die Vergesellschaftung miterklärt. Berufskollegen gehörten derselben sozialen Schicht an und wurden zu Freunden. Außerdem boten die großen Moskauer Betriebe in der Regel Zugangsmöglichkeiten zu knappen sozialen und materiellen Gütern wie Sportclubs, Sozialfürsorge, Wohnraum, Theaterkarten oder Ferienheimen. Die Betriebe bildeten regelrechte Minigesellschaften. Hier lässt sich der halbprivate Charakter sowjetischer Arbeitsplätze einordnen.128 In Notsituationen wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit sprang die Familie ein und ersetzte die mangelhaften staatlichen Fürsorgeleistungen. Der enge Zusammenhalt in der Familie, aber auch im Freundeskreis erhöhte die Geschlossenheit sozialer Milieus. Was die kollektiven Wohnformen anbetrifft, stellte sich heraus, dass für die Novye Čeremuški Pflege verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Kontakte auch längere Wege in Kauf genommen wurden, dass also die schichtspezifische Vergesellschaftung vor derjenigen des Wohnquartiers rangierte: Nur 20 Prozent der Befragten zählten Nachbarn zum Freundeskreis. Außerdem waren die kollektiven Angebote wie Kantine und Wäscherei sowie die Freizeitclubs eher unbeliebt und wurden wenig genutzt. 65 Prozent der Haushalte hatten sich eine eigene Waschmaschine angeschafft. Steigender Wohlstand kürzte die Nachbarschaftsbeziehungen.129
124 Vgl. hierzu den methodisch etwas undurchsichtigen Artikel von V. Semenova: Ravenstvo v niščete. Simvoličeskaja značenie „kommunalok”. In: Sudby ljudej. Rossija XX. vek. Biografii semej kak obekt sociologičeskogo issledovanija. Moskau 1996, S. 373–389. 125 O. E. Truščenko: Prestiž centra. Gorodskaja social’naja segregacija v moskve. Moskau 1995, S. 40. 126 N. Ullas: Nekotorye voprosy perspektivnogo razvitija Moskvy. In: Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1960) Nr. 3, S. 6–11. In (1960) Nr. 6, S. 8–11 folgte die Gesamtplanung für den Südwesten, und in (1960) Nr. 8 der Beschluss des Präsidiums des obersten Sowjet der RSFSR über die Erweiterung der Stadtgrenzen und die Einteilung in neue Verwaltungszonen. 127 Vgl. Teckenberg: Das Leben in sowjetischen Städten II. 128 Richard Stites: Crowded on the Edge of Vastness: Observations on Russian Space and Place. In: Beyond the Limits: The Concept of Space in Russian History and Culture. Hg. von Jeremy Smith. Helsinki 1999, S. 259–269. 129 Vgl. Teckenberg: Mikrorayons.
Hier stehen sich zwei Formen der Raumkonstitution gegenüber: Einmal der ganzheitlich und homogen gedachte Raum des Wohnquartiers, in dem wie in ländlichen Gemeinschaften das soziale Leben stattfinden sollte. Dann die verinselte Realität: Wohnort, Betrieb, Freunde, Freizeit. Diese Modelle finden sich auch in der westlichen Soziologie.130 Während die einen ein homogenes Bild pflegen und Verinselung als Fragmentierung und Desintegration negativ bewerten, begreifen andere soziale Segregation nach Wohnvierteln als Fragmentierung der Gesellschaft: Konzentrieren sich soziale Schichten in Stadtteilen, entstehen Ghettos und soziale Konfliktherde. Die oben zitierte sozialtopografische Erhebung erstellt ein solches Schema für Moskau. Die Ergebnisse solcher Befragungen verweisen auf kognitive Landkarten, die zur Reduktion von Komplexität dienen. Sie bilden nicht die Realität ab: Innerhalb von Novye Čeremuški gab es soziale Hierarchien. Es gab ganze Häuser, die für die Mitarbeiter bestimmter wissenschaftlicher Institute reserviert waren. Das zementierte natürlich den Ruf des Viertels als Intellektuellengegend, obwohl hier auch Arbeiter wohnten. Der von einer eleganten Betonkuppel überwölbte Kolchosmarkt „Čeremuškinskij rynok“ wurde 1963 eröffnet. 131 Er galt als der zweitteuerste Markt Moskaus, gleich nach dem Zentralmarkt. Die Händler sagten dazu nur: Die Intelligenz feilscht nicht.132 Um die Häuser der Wissenschaftler in Novye Čeremuški herrschte gemäß einem Zeitzeugen eine Aura der Ruhe und Serenität, während etwas weiter weg die babuški die Kinder bewachten. Die Grünflächen hatten wichtige Funktionen innerhalb des Wohnviertels. Weil es in den Wohnungen voll und eng war, hielten sich die Menschen viel draußen auf. Die Schachfelder aus Zement waren der Ort, wo „demokratisch“ gesinnte Wissenschaftler durchaus auch mit Vertretern der „Massen“ Schach spielten. Der Grünraum war eine soziale Kontaktzone. Solche Geschichten machen sowohl die soziale Differenzierung innerhalb der sowjetischen Gesellschaft deutlich, wie auch den Umgang damit. Wie es einige Forschungen zur kommunal’ka belegen, so trugen auch die „Mikrorayons“ auf ihre Weise zur spezifischen sowjetischen Gesellschaftsform bei. Für zwei Gruppen funktionierte der „Mikrorayon“: für die Kinder und Alten war der „Mikrorayon“ der Lebensmittelpunkt. Zeitzeugen berichten von glücklichen Kindheitserinnerungen an den „Mikrorayon“, an die parkähnliche Umgebung mit ihrem Kindergarten und ihrer Schule, wo sich alle kannten. Die Bedeutung des Begriffes Novye Čeremuški wandelte sich im Verlauf nur eines Jahrzehnts: Čeremuški wurde bald als Bezeichnung für alle Plattenbauten verwendet,133 die Häuser erhielten Übernamen wie korobki (Schachteln), chruščeby (eine Hybridform zwischen Chruščev und slum – truščeba), oder als Bezeichnung für die erste Generation der Fünfstöcker – pjatietažki –, ein Begriff, der sozialtopografische Implikationen birgt; während Novye Čeremuški in den sechziger Jahren in keinem Bildband über sowjetische Errungenschaften fehlen durfte, war es um 1980 zumindest bildlich im Nebel des Vergessens entschwunden und in der Bildergalerie sowjetischer Architektur nicht mehr vertreten.134 Präsentiert wurden jeweils die neuesten Errungenschaften des typisierten Massenwohnungsbaus. Heute wohnen in den Häusern von Novye Čeremuški Nr. 9, für die ursprünglich eine Lebensdauer von 20 Jahren vorgesehen war, angeblich die „Schwarzen”, das heißt ethnische Minderheiten aus südlichen Republiken. 130 Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001, S. 254 ff. 131 Stroitel’stvo i architektura Moskvy 12 (1963); erste Pläne in Architektura i stroitel’stvo Moskvy 3 (1959), S. 23–24. 132 G. Vešninskij: Sockul’turnaja topografija moskvy ot 1970-ch k 1990-m. In: Moskva i moskovskij tekst russkoj kultury. Hg. Von G. S. Knabe. Moskau 1998, S. 198–225, hier S. 207. Chimelli: 9 mal Moskau, berichtet, der Markt sei in den 1980er Jahren der wichtigste Moskauer Umschlagplatz für Morphium gewesen S. 148. 133 E. Taranov: Gorod Kommunizma. Idei liderov 50–60-x godov i ich voploščenie. In: Moskovskij Archiv. Istorikokraevedčeskij Al’manach. Vypusk I, Moskva 1996, S. 372–390, hier S. 382. 134 Vgl. z.B. Architektura strany Sovetov. Moskau: Strojizdat 1981.
263
Auf den Aspekt des Bedeutungswandels der typisierten Massenbauweise vom sorgfältig durchdachten und propagierten, märchenhaften Musterviertel hin zur landesweiten Umklammerung der Städte durch anonyme und repetitive Landschaften riesiger Plattenbauten wird in den Kapiteln über die „Inseln des Sozialismus“ weiter eingegangen.
Öffentliche Räume, Einzelwohnungen und gesellschaftliche Utopien In Novye Čeremuški wurden zwei gesellschaftliche Utopien gleichzeitig, aber gegenläufig konstruiert und beredet: Einmal die eigene Wohnung für jede Familie als politisches Kapital Chruščevs. Die eigene Wohnung kam einem enormen Bedürfnis entgegen und war ein Machthebel Chruščevs gegen seine Rivalen. Die industrielle Massenbauweise als „Großprojekt“ gesehen mobilisierte noch einmal die „Massen“ für den Aufbau des Sozialismus und bot als Massenprojekt breiten Schichten eine Möglichkeit der Teilhabe: Architekten, Bauarbeitern, der Zulieferindustrie, lokalen Wohnungsverwaltungen und den Bewohnern selbst. Die Plattenbauten waren zugleich konkretes Beispiel wie auch Metapher für den Wandel von Stalin zu Chruščev.135 Doch die Einzelwohnungen bargen Gefahren: Die horizontale Kontrolle der Kommunalwohnungen entfiel und sollte deshalb durch Formen vergesellschafteter Dienstleistungen wie Kantinen und Wäschereien ersetzt werden. Der „Mikrorayon“ sollte zum Lebensmittelpunkt werden. Eine Antikitschkampagne richtete sich gegen einen Rückzug in die private Häuslichkeit. Als Gegenmodell zur Einzelwohnung entstand das „Haus neuen Lebens“ in kvartal Nr. 10, ein Kommunehaus, in dem Gedankengut der zwanzigerJahre wieder aufgenommen wurde. Auf der Diskursebene diente das kvartal Nr. 9 der Propaganda, die den neuen Wohlstand und die verbesserte Versorgung mit Konsumgütern betonte. Das „Haus neuen Lebens“ war Teil eines obrigkeitlichen Parallel-Monologes, der die neuen Wohnungen in das kommunistische Gesamtkonzept integrierte. Vermittelnd wirkte die normative Ratgeberliteratur über das zeitgemäße Interieur und die Debatte über die Entlastung der Frauen von der Hausarbeit. Die Elemente des Diskurses über die Neubauwohnungen zirkulierten in verNovye Čeremuški schiedenen Medien: In der Musik, in der Malerei, im Ausdruck des „großen Umzugs“, in den Umzugsbildern und Fotoreportagen über die Menschen in ihren neuen Wohnungen. Parallel zum „Grossen Umzug“ der städtischen Mittelschichten in die Neubauwohnungen wurden sowjetische Frauen im Rahmen des proklamierten wirtschaftlichen Aufschwungs in großem Ausmaß für die Arbeitswelt mobilisiert. In den sechziger und frühen siebziger Jahren war der statistische Anteil der berufstätigen Frauen der höchste weltweit. Dabei wurden allerdings die Stellenprofile, Qualifikationsansprüche und die Anforderungen etwa bei Pünktlichkeit und Arbeitsdisziplin informell gesenkt und den Bedürfnissen von Frauen mit Kindern angepasst.136 Als Folge davon war Frauenarbeit weniger spezialisiert und schlechter bezahlt als Männerarbeit. Die Doppelbelastung blieb ein „Frauenproblem“. Zwischen 1959 und 1965 verschlechterte sich der berufliche Status der Frauen markant, statt sich zu verbessern.137 Die Mobilisierung für die 135 Harris: Moving to the separate apartment, S. 2–7. 136 Natalia Vinokurova, Central Economics and Mathematics Institute, Akademie der Wissenschaften, Moskau: „Women in the Process of Re-Privatisation of Everyday Life. The Khrushchev Years”. Vortrag gehalten am ICCEES-Kongress, Berlin 25.–30. Juli 2005. 137 Donald Filtzer: Soviet Workers and De-Stalinization. The Consolidation of the Modern System of Soviet Production Relations, 1953–1964. Cambridge, Mass. 1992 (Soviet and East European studies 87), S. 178 ff. Donald Filtzer: Women
Berufstätigkeit steht in einem Spannungsverhältnis zur bildlichen Rückbindung der Frauen an die „Häuslichkeit“. Neben beruflichen Betätigungsfeldern bot die Neubauwohnung neue Möglichkeiten der „Selbstverwirklichung“ und Selbstdarstellung, ihre Handlungsräume erweiterten sich also. Die Bindung an die Häuslichkeit machte die Frauen zur wichtigsten „Versorgerin“ im Haushalt. Weil die propagierten Konsumgüter defizitär blieben, standen besonders die Frauen je nach Versorgungslage unter Erfüllungs-Druck. Spannend ist das Verhältnis der Räume, in denen über die gesellschaftlichen Utopien kommuniziert wurde: Im „öffentlichen Raum” und im offiziellen Diskurs der Presse war es das Kommunehaus, während sich zeitgleich in den sechziger Jahren die Küchentische in den neuen Kleinwohnungen zu Kommunikationsräumen mauserten, die als Splitteröffentlichkeiten in ihrer Vielzahl und potenziellen Vernetzung meinungsbildend wurden und zugleich potenziell bedrohlich wie letztlich stabilisierend wirkten. Darüber hinaus schuf die neue Wohnung auch neue Bedürfnisse nach Dingen wie Möbel oder Haushaltswaren. Damit eröffnete sich ein ganz neues Feld der Selbstdarstellung durch die Einrichtung der Wohnung: Durch die Anordnung der Möbel, des Esstisches, einerseits, durch die Ausstellung bestimmter Dinge wie Bücher, Schallplatten, Musikinstrumente und Poster andererseits. Ratgeber und Zeitschriften versuchten, Einfluss auf den Innenraum der neuen Familienwohnungen zu nehmen und die neue Raumorganisation des Rückzugs ins Private zu unterlaufen, indem sie die Frauen etwa aufforderten, mit ihren Familien in den öffentlichen Kantinen zu essen. Eine Kontinuität gegenüber der kommunal’ka war die immer noch dichte Belegung der Wohnräume und der die Alltagskultur prägende, aber in seiner Selbstverständlichkeit nie erwähnte Zwang, die Räume abends und morgens umzuräumen. Die „Küche“ war ein zentrales Symbol des gesellschaftlichen Wandels, des „Fortschritts“ in mehreren Kontexten. Die Küche der Einzelwohnung ließ die Epoche der kommunal’ka hinter sich und wurde zum Symbol der Intimität des Familienlebens. Sie war (neben dem tabuisierten Badezimmer) der Ort der Umsetzung urbaner Hygienevorstellungen in einer lange von der ländlichen Zuwanderung geprägten Alltagskultur. Ferner wurde die Küche als Ort der Rationalisierung der Hausarbeit, der Mechanisierung des Alltagslebens mit Hilfe der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik im Raumfahrtzeitalter gepriesen.138 Dieser Diskurs in Zeitschriften und Haushaltsratgebern verweist auf den Kontext des „Kalten Krieges“ und der Rivalität des Lebensstandards, angefacht durch die Amerikanische Ausstellung in Moskau 1959. Die Arbeitsteilung nach Geschlechtern wurde jedoch nie berührt. Die neuen Standards für Hygiene, Ästhetik und Wirtschaftlichkeit im urbanen Haushalt fielen in den Verantwortungsbereich der Frauen. Ihr traditionell als „rückständig“ betrachteter Wissensbereich erfuhr eine Verwissenschaftlichung, wurde für ökonomisch relevant erklärt und von „Spezialisten“ kolonisiert. Die Frage nach dem Erfolg der Maßnahmen gegen den „Rückzug ins Private“ lässt sich nur ansatzweise beantworten. Auf der Alltagsebene geschah in etwa folgendes: Es war eine Neuerung in den Alltagspraktiken der Chruščev-Zeit, dass die Familien die Mahlzeiten in der Küche einnahmen. Wenig später setzte sich auch die Praxis durch, Gäste hier zu bewirten.139 Die Küchentische erhielten eine soziale Bedeutung. Sie verkörperten die Aneignung des privaten Raums. Hier konnte im Familien- und Freundeskreis offener als je zuvor diskutiert werden. Die Gemeinschaftsanlagen wurden zwar in Novye Čeremuški Nr. 9 pflichtbewusst erstellt, in andeWorkers in the Khrushchev Era. In: Women in the Khrushchev Era. Hg. von Melanie Ilič, Susan E. Reid und Lynne Attwood. Basingstoke 2004, S. 29–51, hier v.a. S. 44–45. 138 Reid: Khrushchev Kitchen, S. 298, S. 311. Vgl. auch die intensive Auseinandersetzung mit der Automatisierung der Wohnumgebung in: A. Rjabušin, E. Bogdanov, V. Papernyj: Žilaja sreda kak obekt prognozirovanija. Materialy k eksperimental’nomu proektirovaniju oborudovanija žilišča. Moskau 1972. 139 Lebina: Žil’e, 183.
265
ren, hastiger errichteten Neubaugebieten fehlten sie jedoch. Kommunehaus, Kantine und Wäscherei sollten ein Stück weit die soziale Kontrolle der kommunal’ka ersetzen. Doch wie eine Analyse der Umfragen in den siebziger Jahren ergab, war der Betrieb oder das Institut, also die Arbeitsstelle der Ort, wo sich sozial homogene Freundeskreise bildeten, und nicht das Wohnviertel. Dies galt insbesondere, weil auch in Familien beide Elternteile berufstätig waren. Auf der Ebene der sozialen Vernetzung „funktionierte“ der „Mikrorayon“ vor allem für die Kinder und die Rentner. Die neuen Wohnviertel boten Räume für Eigensinn und vervielfältigten die Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung. Das Musical „Moskva, Čeremuški“ legitimierte den Eigensinn ein Stück weit, steckte aber auch Grenzen ab.
Stadt und Land, alt und neu Zahlreiche Bilder dokumentieren den Kontrast von alt und Neu, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft am selben Ort. Das Neue triumphiert auch hier über das Alte. Der Name Čeremuški wandelte sich in seiner Bedeutung von der ländlichen Idylle der Faulbeerbäume zum Inbegriff der Zukunft in der eigenen Neubauwohnung hin zum Synonym für die monotonen Plattenbauviertel, die ganz und gar auswechselbar und zum Verwechseln ähnlich die Städte umlagerten. Mit der Rationalisierung und dem Bau ganzer Viertel als Ensembles grosser Wohnblöcke wurde der Gegensatz von vorne und hinten, innen und außen, öffentlich und privat aufgelöst und der Anspruch auf eine Demokratisierung, eine Vergesellschaftung des Raumes konsequent umgesetzt. Diese Bauweise entsprach dem Wesen der ökonomisch veränderten Raumbedingungen.140 Die großzügigen Grünflächen zwischen den Wohnblöcken in Novye Čeremuški lassen sich sehr unterschiedlich bewerten. Die Sichtbarkeit und damit der öffentliche Charakter der Zwischenräume in den Neubaugebieten sind zunächst augenfällig. Doch vieles spricht in Novye Čeremuški dafür, dass die sorgfältig geplanten Grünzonen für die Bewohner als Novye Čeremuški „Höfe“ eine wichtige Funktion als sozialer Ort hatten und als Aufenthaltsort geschätzt wurden. Sie waren nicht anonym, denn wegen der relativ niedrigen Bauten war die Dichte der Einwohnerzahl nicht sehr hoch und die Menschen kannten einander bald vom Sehen.
140 Simone Hain: „Von der Geschichte beauftragt, Zeichen zu setzen”. Zum Monumentalitätsverständnis in der DDR am Beispiel der Gestaltung der Hauptstadt Berlin, in: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument. Hg. von Romana Schneider und Wilfried Wang. Ostfildern-Ruit 2001, S. 189–220, hier S. 200.
83. CMADSN 1–31355, alte Häuser im Rayon Novye Čeremuški 1958 Die Bildquellen erzählen noch eine weitere Geschichte von Čeremuški, diejenige des ländlichen Idylls. Zahlreiche Kurzfilme und Dokumentaraufnahmen zeigen und betonen den Kontrast zwischen den kleinen, von blühenden Büschen umgebenen Holzhäusern, zwischen denen die wenigen Lastwagen im Schlamm stecken blieben, und den sich ausdehnenden Neubauvierteln. Im Hintergrund zu erkennen ist der Sendeturm in Šabolovka. Der Kontrast zwischen den alten Holzhäusern und den Neubauten war ein beliebtes Motiv. In den großen Neubaugebieten lebten über 200 000 Menschen in alten Häusern und Höfen. Sie sollten Neubauwohnungen erhalten. Zunächst bekamen sie auch eine finanzielle Entschädigung von 10–12 000 Rubeln nach dem Abriss des Hauses. 1957 gab es ein neues Gesetz, das den Altbesitzern eine Wohnung in Moskau oder ein Grundstück ausserhalb der Stadt garantierte, jedoch keinen finanziellen Ausgleich mehr. Beschweren konnte man sich nirgends.141
Die Fallstudien im Überblick Mikrohistorische Fallstudien: Öffentlichkeiten an ausgesuchten Orten Die dichte Beschreibung ausgewählter städtischer Orte im Längsschnitt differenziert starre Periodisierungen in der Mikroanalyse; an konkreten Orten manifestieren sich Kontinuitäten und Brüche auf allen Ebenen. Mehrere Prozesse können sich an einem Ort überlagern, indem sich hier verschiedene Räume konstituieren. Ereignisse und die damit verknüpften Bedeutungen ihrer Orte haben unterschiedliche Reichweiten und Signalwirkungen. Orte in der Stadt eignen sich zur Untersuchung spezifischer Kommunikationsräume. Aus der Analyse des Kommunikationsgeschehens an konkreten Orten lassen sich ansatzweise Prozesse von Raumkonstitutionen verfolgen und „latente Sinnstrukturen“ der öffentlichen Räume ebenso erkennen, wie Regeln und Prozesse der Raumproduktionen „von oben“ und „von unten“. Im Zusammenhang mit Raum als analytischer Kategorie erscheinen Öffentlichkeiten als Kommunikationsräume. Um das eingangs erläuterte relationale raumanalytische Konzept nochmals zusammenzufassen: Raum ist eine soziale Konstruktion, die Anordnung des Nebeneinanders von Menschen, Dingen und Handlungen. Raum ist – analog etwa zur analytischen Kategorie Geschlecht – nicht gegeben, sondern ein dynamisches Gebilde, das sich aus sozialen und materiellen Komponenten zusammensetzt. Raum ist nicht monolithisch, sondern heterogen, ein Gefüge aus vielen Räumen. Im Alltagswissen gehen jedoch die meisten Menschen von der Vorstellung eines einheitlichen, ganzen Raumes aus, dessen „Fragmentierung” folglich als problematisch empfunden wird. Es wird nicht zwischen physischem und abstraktem Raum unterschieden. An einem konkreten Ort kann es ganz unterschiedliche Räume geben. Ein Raum wiederum kann sich an verschiedenen, durch ihre Bedeutung verknüpften Orten konstituieren. Soziale Räume sind nicht immer territorial fassbar, sondern entstehen aus symbolischen Verknüpfungen. Der relationale Raumbegriff begreift also Räume im Plural. Einen allgemeingültigen, ganzheitlichen Raum gibt es ebenso wenig, wie eine einzige „Geschichte”. Dieser Raumbegriff bringt alle lebensweltlichen Bereiche zusammen, verbindet das alltägliche Einerlei, das Mikrogeschehen an einem kleinen Ort mit übergreifenden historischen Prozessen und löst den Gegensatz zwischen Mikro- und Makrohistorie auf. Er bietet die Möglichkeit, gerade die Vielschichtigkeit durch die Untersuchung verschiedener Ebenen und Reichweiten zu nutzen. Ein Raum konstituiert sich dadurch, dass seine materiellen und immateriellen Komponenten durch Handeln angeordnet und durch Wahrnehmung verknüpft werden. Auf das Individuum bezogen heißt das, dass ein einzelner Mensch nicht einfach im Raum steht, sondern sich selbst verortet, sich Raum schafft und Raum deutet. Dieses Konzept erlaubt den Blick auf die beteiligten Akteure. Nicht alle Akteure haben die gleichen Möglichkeiten, Räume zu gestalten oder zu verändern, weil die Zugangschancen zu sozialen Gütern asymmetrisch verteilt sind. Dieser Zusammenhang bindet das Individuum zurück an die Struktur. Öffentlichkeiten sind soziale Räume unter anderen, innerhalb eines Gefüges. Der Ansatz der Beschreibung dieser Räume von konkreten Orten aus erlaubt es, abseits von bestehenden, oft an westlichen Gesellschaften entwickelten Modellen, Aspekte solcher Öffentlichkeiten zunächst als Kommunikationen an Orten zu beschreiben, aus denen sich Kommunikationsräume bilden. Merkmale von Räumen mit Öffentlichkeitscharakter sind: Kommunikationsgeschehen, Aushandlungsprozesse, gesellschaftliche Relevanz und Machtbeziehungen.
269
Das Kommunikationsgeschehen umfasst unterschiedliche Ebenen, Signale und Codes. Kommunikationsräume konstituieren sich aus Vergesellschaftungsformen, Diskursereignissen, Akteuren, Verständigungsabsichten, Rollenverteilungen, Codes und Regeln. Sie bestimmen visuelle Kommunikation, symbolisches Handeln, räumliches Anordnen und wahrnehmendes Verknüpfen. Empirisch lassen sich verschiedene Ebenen von Öffentlichkeiten an konkreten Orten durch die Medien der Kommunikation untersuchen. Dazu gehören städtebauliche Anordnungen, die Formensprache der Architektur, die Regeln über den Zutritt zu und die Zuteilung von Raum, der Festkalender, Tag und Nacht, Inszenierungen an Festen und in Schaufenstern, Kleidung, Verhalten, symbolisches Handeln, horizontale soziale Kontrolle und Einsatz der Miliz, Flanieren, Deklamieren, Protestieren. Im Kommunikationsgeschehen eines öffentlichen Raums sind formelle und informelle Botschaften ineinander verzahnt.
Orte, Räume, Bilder Im Zusammenhang mit dem Kommunikationsgeschehen im Raum und über den Raum als Ort oder Stadt spielt das „Bild“ in seinem weit gefassten Begriff eine wichtige Rolle. Das lag bei den untersuchten Fallstudien einerseits an der Qualität der Orte, die teils explizit als „Muster“ dazu dienten, ein neues Bild von Stadt zu schaffen, teils an den daraus hervorgegangenen Quellenbeständen von Bildbänden und Architekturfotografien bekannter Fotografen. „Visuelle Kultur“ bezieht als Ansatz Handlungs- und Wahrnehmungsaspekte sowie die Bildhaftigkeit von Texten und Begriffen ein. Es geht um die Entstehung, Produktion und Wahrnehmung von Bildern mit und ohne „Rahmen”, also auch von bildlichen Vorstellungen und Begriffen. In Bildern können sich Orte von ihren physischen Orten, aber auch von der Zeit lösen, zu imaginären Orten in der Vergangenheit oder in der Zukunft werden. Diese Orte werden weniger zu Orten der Erinnerung als vielmehr zu Orten in der Erinnerung. Es sind Orte von Bildern und Orte in Bildern. In diesen Bereich fallen auch die gesellschaftlichen Nicht-Orte, die Utopien, die im sowjetischen Fall ein Ort in der Zukunft waren, von dem man sich ein „Bild“ machte. Die untersuchten Orte sind Teile derselben Stadt und stehen durch die Nähe zur Macht und ihre Anordnung innerhalb der städtischen Subsysteme in Beziehung zueinander. Fallstudien im Überblick Diese Beziehungen können auch hierarchisch gelesen werden. Weitere Beziehungen der Orte ergeben sich durch ihre Plangeschichte und durch Diskurse, deren Teil sie waren und zuweilen immer noch sind. Die Beziehungen wandeln sich in der historischen Abfolge ebenso wie die Diskurse, die sich zuweilen verlagern. Die Schwerpunkte der Fallstudien liegen in unterschiedlichen Zeiten und Bereichen. Nicht zu jeder Zeit waren sie Schauplatz von Kommunikation, nicht in jedem Fall wurden diese kommunikativen Handlungen überliefert. Das Netz der Fallstudien ließe sich beliebig erweitern. Ziel dieser Studie war es deshalb, die Methoden der Analyse bereitzustellen und zu erproben. Die raumtheoretischen, bildhistorischen, lebensweltlichen Zugangsweisen und die an diesen Fallstudien entwickelten Kompetenzen sollten einen vertieften Blick auch auf andere Orte anregen.
Ereignisse, um die sich Diskurse formieren, „Themen“. Unter Diskurs verstehe ich eine Gesamtheit von Aussagen, die untereinander in Beziehung stehen und sich auf ein gemeinsames Objekt beziehen. (Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981, S. 49). Zu untersuchen ist der Wandel der Elemente dieser Diskurse.
Im Folgenden werden die Fallstudien kurz zusammengefasst. Anschließend werden Machtdiskurse und Raumkonstitutionen von unten und von oben anhand der analytischen Kategorien herausgefiltert und im Zusammenhang mit der Frage nach öffentlichem Raum und gesellschaftlicher Utopie, den Verknüpfungen von Macht, sowjetischen Öffentlichkeiten, Eigensinn und Lebenswelten diskutiert.
1. Gor’kijstrasse/Tverskaja Die Tverskaja blieb nach der Revolution während der Neuen Ökonomischen Politik (NĖP) eine wichtige Geschäftsstrasse. Es gab ein Nachtleben, und die Feste und Paraden waren im Vergleich zu den späteren Paraderegimes wenig reguliert. Die Bauten der zwanziger Jahre griffen nur punktuell und signalhaft ins Stadtbild ein. In den dreißiger Jahren wurde die Gor’kijstrasse zentraler Teil des Subsystems „Generalplan zur Rekonstruktion Moskaus”. Es gab einen Spezialistendiskurs über Stadtplanung, aber auch öffentliche Ausstellungen und Briefkästen zur Beteiligung der Bevölkerung. Der untere Teil der Strasse fand 1935 Anschluss an die erste Linie des Metrosystems (Ochotnyj Rjad). Das Jahr 1937 war ein Schwellenjahr für den zentralen Ort der Gor’kijstrasse. Zu diesem Zeitpunkt bündelte sich hier in besonderem Masse die Komplexität der Verhältnisse zur Zeit des „großen Terrors“. 1937 begann der Umbau zur zentralen Prachtstrasse, ein städtebaulicher Eingriff, der das Alte zugunsten des Neuen radikal zerstörte. Die Versetzung und der Abriss der Bauten in der unteren Gor’kijstrasse 1937 und 1938 spielten sich nur einen Steinwurf entfernt vom Kolonnensaal des Gewerkschaftshauses ab, wo die Schauprozesse stattfanden. In diesem prächtigen ehemaligen Ballsaal eines Adelspalais inszenierte die sowjetische Führung immer wieder zentrale Ereignisse für die sowjetische Öffentlichkeit. Nachts fuhren die „schwarzen Raben“ des NKVD die Gor’kijstrasse hinauf und holten im Hotel „Ljuks“ die Funktionäre der Komintern ab. Tagsüber marschierten die Teilnehmer der Feste und Paraden des „Jubiläumsjahres“ zum 100. Geburtstag Puškins und zum 20. Jahrestag der Grossen Oktoberrevolution die Gor’kijstrasse hinunter zum Roten Platz. Dieses Zusammenfallen von Gewalt und Pomp, von Herrschaft über Tag und Nacht, Freude und Leid, lag in der Zentralität des Ortes, seiner Lage am Kreml und somit seiner Nähe zur Macht begründet. In diesem Begegnungsraum verdichteten sich kommunikative Handlungen. Die neue Zeremonialachse war Teil des Systems sternförmig vom Kreml ausgreifender Magistralen. Doch es gab weitere Kontinuitäten: Wichtige Gebäude blieben erhalten oder wurden verschoben, die Delikatessengeschäfte „Eliseev“ und „Filippov“ aus der Zarenzeit blieben die ganze Sowjetzeit hindurch Aushängeschilder des angeblich demokratisierten Luxus. Die wichtigsten Umbauten waren 1941 beim Angriff der deutschen Armee auf die Sowjetunion realisiert. Die Verbreiterung mit den neoklassizistischen Neubauten, die enorme Vergrößerung der Dimension und der Sichtachse zum Roten Platz, die luxuriös ausgestalteten Restaurants und Geschäfte wurden in Fotoreportagen dokumentiert und bildmächtig inszeniert. Die Bilder der Strasse repräsentierten das „Neue Moskau”, den urbanen Strassenraum der kompakten Stadt. Dieses „Bild der Stadt” schloss die Höfe aus. Im lebensweltlichen Kontext wurden Räume anders wahrgenommen als in der offiziellen Repräsentation. Anwohner, aber auch Besucher wie
Beispielsweise 1934 den Kongress des neu gegründeten sowjetischen Schriftstellerverbandes, angesichts der gesellschaftlichen Funktion der Schriftsteller als „zweite Regierung“ und ihres gesellschaftlichen Ansehens ein wichtiges Ereignis, und 1961 den vom Fernsehen übertragenen Prozess gegen den abgeschossenen U–2-Piloten Francis Gary Powers.
271
Walter Benjamin oder Paul Thorez, gingen durch die Toreinfahrten und betraten die Höfe. Die Strasse selbst war zwar zeremonial gewidmet: Sie diente den Massen zum Marschieren. Solche Prachtachsen „funktionierten“ im Alltag nur begrenzt. Der Alltag in diesen zeremonialen Räumen gehörte immer noch den Bürgern, die sich den Ort aneigneten, indem sie sich auf der Prachtstrasse zum Flanieren einfanden oder das pulsierende Nachtleben genossen und so ihre eigenen Räume schufen. Wo an Festtagen die Paraden marschierten, lungerten nach 1946 die ersten stiljagi in völlig „unsowjetischer“ Manier herum, standen Kunden Schlange und sprachen nachts Freier Prostituierte an: Derselbe Ort konnte zu verschiedenen Zeitpunkten sakral und profan sein. Eine Produktion alternativer Räume von unten und neuer Kommunikationsräume setzte nach dem Krieg sichtbar ein: Jugendliche flanierten auffällig gekleidet auf der Gor’kijstrasse . Faszinierend ist an diesem Ort die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Erfahrungsräume und der dadurch vorbedingten Raumkonstitutionen der älteren Rückkehrergeneration und der jüngeren Nachkriegsgeneration im Spätstalinismus. Die Rede ist hier von überwiegend männlichen Räumen. Die totale Atomisierung der Gesellschaft versinnbildlicht Boris Jampol’skij in seinem Roman „Kommunalka” in der Szene, in der sein Held nachts im Telegraf steht und nicht kommunizieren kann. Es ist der Nullpunkt der Kommunikationsmöglichkeiten. Dieselben Orte, Cafés und Restaurants, haben für Jampol’skijs Helden eine ganz andere Bedeutung als für die stiljagi. Jampol’skij schildert sie als nächtlichen Fluchtraum vor seinen Verfolgungsängsten durch Stalins Wächter, gewissermaßen ausserhalb von Raum und Zeit. Die stiljagi fanden hier öffentliche Orte, an denen sie über ihr „paralleles Regelsystem“ kommunizieren konnten, durch Mode, Benehmen, Tanz und Musikgeschmack. An diesen Orten bildete sich ein neues gegenkulturelles Milieu heraus. Nach Stalins Tod erweiterten sich die Handlungsspielräume auch an diesem zentralen Ort. Gerade wegen seiner Nähe zur Macht eignete er sich für politisch gemeinte Äußerungen von Eigensinn. Hier löste aktive, zielgerichtete Kommunikation mit Worten die Kommunikation passiven Nicht-Mitmachens und alternativer Moden und Geschmäcker ab. Ab 1958 gab es die Dichterlesungen am Majakovskij-Platz und Dissens am Puškindenkmal: Ursprungsorte der Dissidentenbewegung. Am Majakovskijplatz bildete sich eine Versammlungsöffentlichkeit, die allerdings nicht direkt, sondern verschlüsselt und milieuspezifisch über die selbstbezogene Kunstform der Lyrik kommunizierte. Die Reichweite vergrößerte sich durch die Veröffentlichung der Gedichte und durch die Reaktionen in der offiziellen Presse. Fallstudien im Überblick Der gegenkulturelle Raum hatte auch andere Orte, etwa Privatwohnungen und dačas oder das Polytechnische Museum an der Lubjanka. Die Lesungen am Majak erschlossen somit einen Raum der Gegenöffentlichkeit, der territorial nicht fassbar war, sondern seine Orte hier, in Privatwohnungen und im samizdat hatte. Das „Nebeneinander von Konfrontation und Kooperation” ist in der von Hamrin geschilderten Szene besonders eindrücklich greifbar: Die Zuhörer trugen Evtušenko auf den Schultern die Gor’kijstrasse hinunter, bis sie von einem Polizeikordon aufgehalten wurden und umkehrten. Sie provozierten, indem sie den aufmüpfigen Dichter mit seinem offiziell kritisierten Gedicht öffentlich feierten. Dabei loteten sie ihren Handlungsspielraum bis an seine Grenzen aus. In der Konfrontation mit
Anna Veronika Wendland, Andreas R. Hofmann: Stadt und Öffentlichkeit: Auf der Suche nach einem neuen Konzept in der Geschichte Ostmitteleuropas. Eine Einführung. In: Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest. Stuttgart 2002, S. 9–26, S. 17. Harald Hamrin: Zwei Semester Moskau. Hg. von Anna Veronika Wendland und Andreas R. Hofmann. Frankfurt a. M. usw. 1962, S. 67–68.
den Vertretern der Staatsmacht verhielten sich beide Seiten wie in einem Ritual. In dieser Situation wurde der zentrale und öffentliche Raum der Gor’kijstrasse zum umkämpften Raum. Die Grenze des gewaltfrei Möglichen wurde erreicht und akzeptiert, letztlich wurde die Macht in ihrer Position bestätigt – auch durch die Entschuldigungsrituale Evtušenkos. Einiges spricht dafür, dass sich die Bedeutung der Orte unter Chruščev verschob. Die Bautätigkeit hatte sich an die Peripherie verlagert, der Kalinin-Prospekt war in Planung, die stalinistischen Monumentalbauten und damit auch die Gor’kijstrasse waren in die Kritik geraten. Der Rote Platz war abgesperrt und lag im Zentrum der Macht. Die Gor’kijstrasse war also nicht mehr ganz so zeremonial besetzt. Zu den kleineren Kommunikationsräumen von unten gesellte sich der grössere, obrigkeitlich geplante, gebaute und regulierte Raum architekturaler Stadtinszenierung, der Schaufenster-Inszenierungen und Losungen in Form von Spruchbändern und Neonleuchtbändern. Die Neubauten dieser Jahre setzten vertikale Akzente und hatten häufig verglaste Fronten. Sie vermittelten Teilhabe. Präsent war die Obrigkeit hier durch Ordnungskräfte. Kreml, Roter Platz und Gor’kijstrasse blieben an offiziellen Festtagen die Orte der Paraden, der Zeremonien gegenseitiger Bestätigung. Doch im Alltag verlor die Gor’kijstrasse durch den Bau des Kalinin-Prospektes ihre „offizielle Beglaubigung“. Heute ist die Gor’kijstrasse ein Beispiel dafür, dass das durch sie mit geschaffene Bild von dem, was Stadt eigentlich sei, die sechziger Jahre unbeschadet überdauert hat. Heute gelten in Moskau die Stalin-Paläste als die „schönen“ Gebäude, weil sie einerseits als ästhetische Brücke zur vorrevolutionären Zeit verstanden werden, andererseits als Monumente nationaler Größe der Sieger im Zweiten Weltkrieg Identität stiften.
2. Lubjanka Der Platz lag vor den Toren Kitajgorods, am Kuzneckij Most’, der elegantesten Einkaufsstrasse Moskaus. Er war einer der zentralen Plätze. Vor der Revolution diente er als Markt für Korbwaren, Verkehrsknotenpunkt, Kutschenparkplatz und Pferdetränke. Der runde Brunnen war das Symbol dafür. Nach 1850 entstanden in und um Kitajgorod Versicherungsgebäude, Mietshäuser und Hotels. Die neuen Machthaber requirierten nach 1920 diese Bauten für ihre neue hauptstädtische Verwaltung. Der Platz wurde zu einem reinen Verkehrskontenpunkt und verlor seinen Charakter als Ort gesellschaftlichen Lebens. Das 1922 geplante Hochhaus für den Volkswirtschaftsrat wurde nicht gebaut, ebenso wenig wie ein 1947 geplantes Hochhaus am selben Ort. Der Platz war seit 1935 an die erste Metrolinie angeschlossen. Sinnstiftend waren das Polytechnische Museum (erbaut 1875–1877), das KGB-Gebäude in der requirierten ehemaligen Versicherungsgesellschaft „Rossija“ und das „Detskij mir“ (eröffnet 1957), außerdem das 1958 errichtete Dzeržinskij-Denkmal. Die Plošcad’ Dzeržinskogo charakterisierten somit drei Gebäude, die ihren jeweiligen Ort in unterschiedlichen, weit auseinander liegenden Räumen hatten: Die „Lubjanka” als Hauptort des Archipel GULag und Verwaltung eines Sklavenimperiums, das der Sowjetunion eine Parallelwirtschaft der Zwangsarbeit ermöglichte, aber hier an der Ploščad’ Dzeržinskogo in erster Linie auch als Gefängnis, als ganz konkreter Ort von Haft, Verhören und Folterungen. Das 1957 eingeweihte Kaufhaus „Detskij mir“ im Konsumraum des Bermudadreiecks mit den beiden anderen großen Moskauer Warenhäusern „CUM“ und „GUM“. Hierher reisten Käufe-
273
rinnen und Käufer aus der ganzen unterversorgten Union an. Das Kaufhaus sollte den Platz als sozialen Ort wiederbeleben. Im Auditorium des Polytechnischen Museums fanden bereits in den zwanziger Jahren Dichterlesungen statt, unter anderem mit Anna Achmatova und Vladimir Majakovskij. In den sechziger Jahren entstand hier ein Ort der kritischen Gegenöffentlichkeit. Das Publikum literarischer Lesungen bildete einen Kern zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit im Schutz der abweichenden Räume der Wissenschaftler und der Lyriker in direkter Nachbarschaft zur „Lubjanka“. Dieses Zusammentreffen so gegensätzlicher Räume und Funktionen verlieh dem Ort seinen seltsamen Charakter als Nicht-Ort. In der zeitlichen Abfolge dominierte die „Lubjanka“ den Platz bis nach 1956 und machte ihn zum „Ort des Schreckens“. Erst jetzt, während das Lagersystem aufgelöst wurde, knüpften die Dichterlesungen im Polytechnischen Museum an die Tradition der zwanziger Jahre an, und das „Detskij mir“ wurde 1957 eingeweiht. Die Kräfte verschoben sich, der Platz erhielt neben der einen, dominierenden, noch andere Bedeutungen. Dass es dabei um eine symbolische Machtbegrenzung ging, eher als um ein Übertünchen gewalthafter Verhältnisse durch die Verlockungen des Konsums und den Freiraum der Lyrik, bleibt Vermutung. Der Bau des Detskij Mir lässt sich jedoch als kommunikativer Akt der Entstalinisierung an diesem metaphorischen Ort interpretieren. Das Platzpanorama von Rachmanov spricht für den Entwurf eines alternativen Raumes an diesem belasteten Ort. Die 1958 eingeweihte Dzeržinskij-Statue sollte demnach zwischen Lubjanka und Detskij mir vermitteln, denn Dzeržinskij war nicht nur Leiter der Sicherheitspolizei gewesen, sondern hatte sich in den zwanziger Jahren wiederholt auch für die zahlreichen obdachlosen und verwaisten Kinder eingesetzt.
3. Sucharevka Der Sucharev-Turm aus dem 17. Jahrhundert war eines der wichtigsten profanen Wahrzeichen der Stadt am Gartenring. Er ist auf zahlreichen Fotos und Stichen dokumentiert. Auf dem Platz vor dem Turm fand der berühmteste Trödelmarkt Moskaus statt; nach der Revolution gab es hier auch Lebensmittel und überhaupt alles zu kaufen. Der Markt wirkt in zeitgenössischen Beschreibungen als Lebensraum und Sehenswürdigkeit. Er vereinte wirtschaftliche Funktion und soziale Bedeutung, war Schnittstelle zwischen Stadt und Land, Verbindung und Fallstudien im Überblick Gegensatz. Die Zeitzeugenberichte lassen erkennen, dass das Markttreiben auch als Informationsquelle über den Zustand der Stadt und des Landes gedeutet wurde. Der Markt erscheint in den Quellen als „verkehrte Welt” mit eigener Sprache, Geschwindigkeit, Gesetzen, wo auch die Milizionäre nur halb ernst genommen wurden. Hier kehrte sich das hierarchische Verhältnis von Stadt und Land um. Soziale Gruppen trafen aufeinander: „Ehemalige“ verkauften ihr Tafelsilber (wie im übrigen auch auf der Smolenskaja). Besprizorniki (obdachlose Kinder), Diebe und Hehler suchten ein Auskommen. Schaulustige flanierten. Sammler und Touristen besuchten den Markt. Städter und Bauern tauschten ihre Waren. Der Markt erscheint als System mit fest verteilten Rollen, als Welt im Kleinen, die den Akteuren bestimmte Freiräume bot. Der Markt war ein Ort autonomen sozialen Lebens und in seiner freien Zugänglichkeit und dem freien Austausch von Gütern, Informationen und Meinungen auch ein zivilgesellschaftlicher Ort. Die Akteure, Repräsentanten unterschiedlichster sozialer Milieus, konnten hier in direkten Kontakt miteinander treten, um ihre jeweils individuellen Bedürfnisse zu befriedigen, aber auch, um im Tausch symbolischer Güter
ihre neuen sozialen Rollen auszuhandeln. Nicht zuletzt deshalb richtete sich die Politik gegen die Rollenträger ebenso wie gegen das ökonomische System, das der Markt verkörperte. Die Obrigkeit übte ihre Macht aus, indem sie den Markt erst kontrollierte und dann 1930 ganz schloss. Das Schleifen des Turms 1934 war ein gewaltsamer Eingriff in das Stadtbild und zerstörte den topografischen Ort. Der symbolische Gehalt der Umbenennung und Umgestaltung bestand darin, dass das Wahrzeichen der alten Ökonomie geschleift wurde und der Platz den Namen des Inbegriffs der Kollektivierung der Landwirtschaft erhielt: Kolchoznaja Ploščad’. Damit endete symbolisch an dieser Stelle der Kampf um die Auflösung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land. Die Umbenennung sollte den Ort auch vom Stadtplan tilgen, doch er blieb Bestandteil der mentalen Landkarte der Moskauer. Protest erfolgte nur in Form von Vorschlägen von Architekten zur Rettung des Turms, also im Rahmen einer Spezialistenöffentlichkeit. Das Auslöschen eines Ortes, um einen sozialen Raum zu eliminieren, scheint in diesem Fall ein Akt bewusster Planung und Machtausübung gewesen zu sein.
4. Arbatviertel Der Arbat hatte unterschiedliche Bedeutungsräume: Der Arbat Platz und der Smolensker Platz waren traditionelle Marktplätze. Ihre Gestaltung und Umgestaltung hing mit der Geschichte von Markt, Handel und Kollektivierung zusammen. Die beiden Plätze lagen an beiden Enden der alten Arbatstrasse, der zentralen Geschäftsstrasse des südwestlichen Zentrums. Die Arbatstrasse war als Einkaufsstrasse und mit dem Restaurant „Praga“ bis in die zwanziger Jahre ein Ort „kommerziell-kulinarischer“ Öffentlichkeit (Häussermann). Der Wohnraum wurde vergesellschaftet, was Marina Cvetaevas Tagebücher eindrücklich schildern. Die Zeit von Revolution und Bürgerkrieg war eine prekäre Zeit der individuellen Überlebensversuche, der Beschaffung von Brennstoff, Nahrung und Arbeit, auch der Schaffung neuer sozialer Netze durch die neuen Nachbarschaften und Arbeitsverhältnisse. Hier wandelten sich die Strategien und Rahmenbedingungen individueller Raumproduktion „von unten“, wie Marina Cvetaevas maršrut zur täglichen Nahrungsbeschaffung und der Kartoffeltransport auf dem Schlitten zeigten. In den dreißiger Jahren wurden die sozialen Räume hierarchisiert: Das „Praga“ als geschlossene Kantine der umliegenden Institute, das Wohnviertel durch die Neubauten für Funktionsträger des stalinistischen Systems. Die Märkte als Orte autonomen sozialen Lebens verschwanden. Eine Besonderheit bildete die Funktion als Durchfahrtsstrasse zu Stalins „naher dača“. Die verschiedenen Quellen aus der Zeit des Spätstalinismus zeigen, welche Auswirkungen die ständige Gegenwart der Posten als Repräsentanten der Macht hatte. Auch die Erfahrung der nächtlichen Abholungen in den großen Mietshäusern in den Jahren 1937–1938 prägten die Lebenswelten und verhinderten Raumproduktionen „von unten“, die den Charakter von Öffentlichkeiten angenommen hätten. Es war eine kollektive Erfahrung des Hinnehmens und Schweigens, wenn nicht des Mittuns und der Denunziation, wie die Erfahrungen von Jampol’skijs Protagonisten in ihrer kommunal’ka zeigen. Die städtebaulichen Eingriffe der Stalinzeit – Umgestaltung der Smolenskaja und Arbatskaja Ploščad’ im Zuge der Abschaffung der Märkte, Bau des Außenministeriums – brachten keine Spuren öffentlicher, auch noch so kleiner Debatten hervor. Dafür fehlten die Orte zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit. Das änderte sich in den fünfziger Jahren. Aufgrund der Pläne für den Bau des Neuen Arbat formierte sich eine Bürgerbewegung mit dem Charakter einer Versammlungsöffentlichkeit. Diese war nicht isoliert und auf den Arbat beschränkt, sondern hing mit der allgemeinen Entstehung von „Nischen“ als kleinen Teilöffentlichkeiten des künstlerischen und
275
intellektuellen Untergrundes zusammen. Dieser „Untergrund“ war geduldet, solange bestimmte Kommunikationsschranken nicht durchbrochen wurden, solange kleine Teilöffentlichkeiten sich nicht in zentralen öffentlichen Räumen allzu lauthals bemerkbar machten. Beispiele für solche Übertretungen sind die Vorgänge am Majakovskij- und am Puškindenkmal im Kapitel über die Gor’kijstrasse. Der Neue Arbat hieß „Kalinin-Prospekt“ und war ein Versuch, ein traditionsbewusstes Stadtviertel radikal umzukrempeln. Der Kalinin-Prospekt war eine neue zentrale Magistrale der sechziger Jahre und machte der Gor’kijstrasse aus der Stalinzeit als Repräsentationsraum und in seiner Ausformung als hauptstädtische Konsummeile mit Restaurants, Läden und Dienstleistungsangeboten den Rang streitig. Er stand im Zeichen eines radikalen Modernisierungsdiskurses und der Eroberung des Kosmos (Sputnik 1957, erster bemannter Raumflug 1961). Er sollte die Zukunft verkörpern und huldigte in seiner visuellen Botschaft dem Technikkult und dem Sputnikzeitalter. Der Kalinin-Prospekt war Machtinszenierung, Repräsentationsraum und Partizipationsangebot zugleich. Seine Botschaft richtete sich auch an den Westen – er führte nach Westen und nahm die Leuchtreklamen des Times Square auf. Der Gegensatz und die Debatte um Alt und Neu, die in den sechziger Jahren das Viertel umtobte, prägen die Texte und Bilder zum Arbat bis heute. Die intellektuelle „Tradition“ des Viertels lässt sich aus seiner sozialtopografischen Lage erklären. Die Stadtentwicklung und die Wohnungspolitik der zwanziger und dreißiger Jahre verstärkten die Konzentration traditioneller bürgerlicher Bildungs- und Verwaltungseliten in diesem zentralen Stadtteil. Diese relative Einheitlichkeit der Bevölkerung förderte ein „Traditionsbewusstsein“, dass sich angesichts der Modernisierungspläne in der Erfindung der arbatsvo als kulturelle Identität und in akutem Eigensinn manifestierte. Im Hinblick auf die demokratischen Ziele der von Okudžava beschworenen „kleinen Leute“ ist spannend, dass der elitäre und hierarchische Charakter der Elitewohnungen, geschlossenen Läden und des Restaurants „Praga“ in den Erinnerungen unterschlagen wird. Dabei zeichnet sich ein weiteres Paradox ab: Der Arbat-Kult schöpfte zumindest teilweise aus genau dem traditionellen und eben auch Wertekanon des sozialistischen Realismus, der die Formen und Inhalte der vorrevolutionären russischen Hochkultur wieder aufnahm. Den Wertekanon des Establishments stellten die jungen Dichter am Majakovskij-Denkmal als verlogene Hülse in Frage. Der Arbat-Kult lebte aber vom Zusammenschluss der Verehrer Puškins mit jenen Majakovskijs und Okudžavas.
Fallstudien im Überblick
5. Novye Čeremuški kvartale 9 und 10 Novye Čeremuški nahm das stadtplanerische Konzept der Mikrorayons aus den zwanziger Jahren auf und war als reines Wohngebiet mit gestufter Versorgungsstruktur geplant. Es sollte ein Musterviertel werden, an der Peripherie, wo es Platz für die Stadterweiterung gab. Insofern war Novye Čeremuški ähnlich programmatisch wie die Gor’kijstrasse und der Kalinin-Prospekt. Sie alle waren als Vorboten der Zukunft geplant, als Inseln des Sozialismus. Wesentlich bei der Planung war die politisch stabilisierende Funktion der eigenen Wohnung, die Chruščev im Machtkampf gegen seine Konkurrenten in der Führungsriege ausspielte. Die freie Anordnung der Wohnblöcke diente anfangs keineswegs nur dem freien Kranspiel, welches die Fliessbandproduktion der Häuser erforderte, sondern sollte mit sorgfältig gestalteten Grünflächen, mit Blumenrabatten, Planschbecken und Spielplätzen auch die Demokratisierung des Raumes symbolisieren. Die Strassen lösten sich jenseits der Entwicklungsachsen auf und wur-
den Teil der Grünzonen. Moskaus „Südwesten“ wurde zum Inbegriff der zeitgenössischen sozialistischen Errungenschaften. Der Bau der Neubauviertel wurde als „Grossbaustelle“ ähnlich den Kanalbauten der Stalinzeit und den Neulandkampagnen inszeniert. Bilder von den Neubauvierteln, auf denen Kräne die vorgefertigten Großtafelelemente aufeinander stapelten, waren allgegenwärtig und verweisen auf den Mobilisationscharakter, den die Wohnbaukampagne hatte. Mit dem industrialisierten Wohnungsbau und der Anlage riesiger Plattenbausiedlungen verschoben sich die sozialen Topographien der Städte. Die Familien bekamen endlich in größerer Zahl eigene Wohnungen, anstatt in Wohnheimen, Baracken oder Kommunalwohnungen zusammenzuleben. Die Schlüsselbegriffe Standardisierung und Gleichheit wirkten an der gleichförmigen Gestaltung der Wohngebiete mit. Obwohl von den Bürgern heiß ersehnt und von der Führung propagiert, widersprach die Einzelwohnung eigentlich den ideologischen Vorstellungen vergesellschafteten Wohnens. Deshalb ergriffen die Führungsorgane flankierende Maßnahmen, um dem gefürchteten Rückzug ins Privatleben entgegenzuwirken. Eine Analyse dieser Maßnahmen zeigte, dass die Kategorie Raum dabei als Herrschaftskategorie gezielt eingesetzt wurde. Eine der Maßnahmen gegen den Rückzug ins Private war eine Anti-Kitsch-Kampagne. Ratgeberliteratur und Zeitschriften propagierten Ideale funktionalen Wohnens. Das bedeutete vor allem eine Inneneinrichtung, die die Wohnräume rational in Funktionszonen für Essen, Schlafen, Arbeit und Ruhe einteilte. Das Wichtigste: Die Einrichtung als Ausdruck des sozialen Lebens sollte sich nicht um einen zentral aufgestellten Familientisch konzentrieren. Das Möbeldesign wurde asketisch. Die Neubauwohnungen waren in den begleitenden offiziellen Diskursen ein zentraler Ort der Modernisierung und der Urbanisierung der Alltagskultur. Symbolischer Kern dieser Vorstellungen war die Küche, wo Hygiene, Gesundheit und Automatisierung verortet waren. In den imaginären Küchen wurden die sowjetischen Frauen regelrecht „umgeschmiedet“. Die Einrichtung der eigenen Wohnung, das Führen eines eigenen Haushalts ohne Mutter oder Schwiegermutter, die Integration in den Arbeitsmarkt und die versprochene Entlastung durch elektrische Haushaltsgeräte versprachen einerseits neue Betätigungsfelder, Freiheiten und Handlungsräume, stellten andererseits aber Forderungen dar, denen die Frauen genügen mussten. Nicht die Familienwohnung sollte ferner das Zentrum sozialen Lebens des Einzelnen sein, sondern das Wohnviertel, „Mikrorayon“ genannt, in dem es zentrale gesellschaftliche Einrichtungen wie Kinderkrippen, Schulen, Läden, Wäschereien und Volksküchen gab. Die Frauen wurden explizit aufgefordert, mit ihren Familien diese Kantinen zu besuchen, anstatt selber zu kochen. Dies lässt sich als Versuch interpretieren, die Funktion der kommunal’ka als horizontale soziale Kontrolle im Rahmen des Mikrorayons weiterzuführen. Schließlich wurde als dritte Maßnahme 1970 im Neubauviertel Novye Čeremuški das „Haus Neuen Lebens“ eingeweiht, das explizit die Tradition der Kommunehäuser der zwanziger Jahre aufnahm und das kollektive Wohnen fördern sollte. In Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1957) Nr. 12, S. 3–10 erschien ein ausführlicher Beitrag über das soeben fertig gestellte Viertel Novye Čeremuški Nr. 9 mit einer Fotoserie des prominenten Stadtfotografen Naum Granovskij. G. Vešninskij: Sockul’turnaja topografija moskvy ot 1970-ch k 1990-m. In: Moskva i moskovskij tekst russkoj kultury. Hg. Von G. S. Knabe. Moskau 1998, S. 198–225; O. E. Truščenko: Prestiž centra. Gorodskaja social’naja segregacija v moskve. Moskau 1995. Victor Buchli: Khrushchev, modernism, and the fight against petit-bourgeois consciousness in the Soviet home. In: Journal of Design History 10 (1997) Nr. 2. Special Issue: Design, Stalin and the Thaw. Guest Editor: Susan E. Reid, S. 161–176, hier S. 166–167.
277
Wie erfolgreich waren die Maßnahmen gegen den Rückzug ins Familienleben: „rationales Wohnen“, „Mikrorayon“ und „Kommunehaus“? Wie gingen die Menschen in den neuen Wohnungen mit solchen von oben produzierten vorgefertigten Raumbildern um? Diese Frage betrifft nicht nur die Raumproduktion „von unten“ in den Wohnungen selbst, etwa an den nachgerade berühmt gewordenen Küchentischen, sondern auch die wenig vorstrukturierten „Zwischenräume“, die Treppenhäuser und Korridore sowie die Grünflächen zwischen den Häusern. Diese Zwischenräume wurden bislang unter anderem mangels geeigneter methodischer Zugriffsmöglichkeiten nicht untersucht. Die Wohnungen waren als Orte privater Aneignung jenseits des Kollektivs heiß begehrt. Noch heute sind die sechziger Jahre als die Zeit der „großen Umsiedlung“ (bol’šoe pereselenie) in die novostroiki in Erinnerung. Der Einzug in die Neubauwohnung leitete einen neuen Lebensabschnitt ein und wurde mit einem Fest begangen. Manche Wohnblöcke wurden von den Angehörigen einzelner Institute und Betriebe bewohnt, was zumindest für Teile der Siedlung eine gewisse Homogenität sozialer Milieus vermuten lässt. Soziologische Untersuchungen zu den Nachbarschaftskontakten im Novye Čeremuški der siebziger Jahre wiesen dennoch auf die Bedeutung des Arbeitsortes als wichtiger sozialer Kontaktraum hin. Der Mikrorayon scheint als sozialer Raum vor allem für die Kinder und die alten Leute „funktioniert“ zu haben. Die nicht gewidmeten Zwischenräume boten Freiheiten. Sie setzten die Tradition der Höfe fort: Die Kinder verbrachten ihre Zeit unter Aufsicht der Alten im Gelände zwischen den Wohnblocks, wo sich auch Kindergärten und Schulen befanden. Der Südwesten galt als gute Wohngegend wegen der Nähe zur Universität, seit 1980 auch zum Olympiaviertel, und wegen der guten Erschließung durch große Achsen. Sowohl die Abbildungen aus den Neubauwohnungen wie auch die Erzählungen von Zeitzeugen belegen, dass es ganz klare soziale Abgrenzungen und Hierarchien innerhalb der Siedlung gab, aber auch Kontaktzonen, zu denen weniger die Dienstleistungsangebote zählten, sondern angesichts der engen und überfüllten Wohnungen vor allem die Grünflächen mit Spielplätzen und Schachfeldern. Angesichts der fehlenden urbanen „öffentlichen” Räume wie öffentliche Plätze waren neben den Küchentischen die gemeinschaftlich genutzten Grünräume die profanen und deshalb wenig kontrollierten öffentlichen Räume der Wohnviertel, vom „Mikrorayon“ uns letztlich von „Stadt“ und „Normalität“. Eine weitere, größer gedachte Bedeutung hat die Kategorie „Raum“, wenn Fallstudien im Überblick man Novye Čeremuški als Teil eines Systems von perfekten „Inseln des Sozialismus“ betrachtet. Dann gewinnt dieses „Experimental“- oder „Musterviertel“ noch an symbolischem Gehalt und Öffentlichkeitswert. Es wird als Zukunftsversprechen und idealer Ort zur „Heterotopie“, zum anderen Ort einer Mangelgesellschaft. Diese Bedeutung löste Novye Čeremuški zumindest in den ersten Jahren seiner Existenz von seinem topografischen Ort und machte das Viertel zum metaphorischen Ort. Dieser wurde vor allem im Bild propagiert und schuf neue Raumbilder vom „Wohnviertel“. Was als wahr gewordener Traum seinen Anfang nahm, sah sich in seiner Bedeutung allerdings später ins Negative gewandelt: Die Monotonie der Mikrorayons wurde sprichwörtlich. Auf diesen
Vgl. hierzu den Versuch von Richard Stites: Crowded on the Edge of Vastness: Observations on Russian Space and Place. In: Beyond the Limits: The concept of Space in Russian History and Culture. Hg. von Jeremy Smith. Helsinki 1999, S. 259–269, der ausdrücklich auf das mangelnde methodische Instrumentarium hinweist. Vgl. Wolfgang Teckenberg: Das Leben in sowjetischen Städten II: Konzeption und Realität des Mikrorayons. In: Osteuropa 32 (1982) Nr. 3, S. 213–225.
Aspekt der industriellen Massenbauweise als „strukturelle Gewalt“ oder imperiale Strategie geht das folgende Kapitel näher ein.
279
Höfe und Heterotopien
Höfe und Heterotpien. Wie gesellschaftliche Utopien im öffentlichen Raum verhandelt wurden Im Zentrum des Interesses stand die Entwicklung der an fünf konkreten Orten entstehenden Räume, ihre Befrachtung mit Bedeutungen, der Wandel des Kommunikationsverhaltens und des Verständnisses von Öffentlichkeit, von Machtverhandlungen und Handlungsspielräumen. In diesen Prozessen werden die kommunikativen Beziehungen zwischen Planung, Ausführung und Nutzung sichtbar. Die Fallstudien geben Aufschluss über öffentliche Räume als Medien der Kommunikation. Diese umfassten in den zwanziger Jahren punktuelle Eingriffe mit Bauten, Denkmälern und Festtagsschmuck. In den dreißiger Jahren waren die Instrumente stadtplanerischer Art: Architektursprache, Gesamtanlage, Symbolik, Proportionen, Bedeutungen und Funktionen der Bauten. Hinzu kamen Texte: Losungen einerseits, Vorschriften und Regulierungen als Gebrauchsanleitungen des Raums andererseits. Über deren Einhaltung wachten menschliche Vertreter der Staatsmacht: vertikal die Miliz, horizontal die Patrouillen des Komsomol, die 1959 gegründeten, vigilanten druženniki. Diese Neugründung hing mit einer horizontalen Verlagerung der Machtbefugnisse unter Chruščev zusammen, die neben den vorher allein herrschenden Organen wie Partei und Komsomol auch Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, Hauskomitees und Nachbarschaftsgerichte vermehrt an der sozialen Kontrolle beteiligte. Damit erhielten mehr Menschen Teilhabe an Macht und damit Zugang zu Möglichkeiten, Räume zu gestalten und zu verändern. Die übrigen Menschen hatten ebenfalls Mittel der Kommunikation: angepasstes Verhalten wie die offiziell geförderte „Wachsamkeit“, unangepasstes Verhalten, auffällige Kleidung, gegenläufige Nutzung wie Prostitution oder Schwarzmarkt, Vandalismus, andere Formen der Delinquenz, bis hin zum Fernbleiben. Über die öffentlichen Räume selber wurde ebenfalls debattiert, auf dem Papier, im Bild, in Schaufenstern oder in anderen Medien. Häufig war die Kommunikation über Räume Teil politischer Diskurse. Medien waren Film, Plakat, Presse, Bilder und Pläne in Zeitschriften „von oben“, samizdat, Lieder und Gedichte als Protestformen zu stadtplanerischen Eingriffen „von unten“. Den „Bildern” setzten die Menschen symbolisches Handeln sowie eigene Bilder und Texte entgegen. Diese informellen und symbolischen Formen der Kommunikation prägen unser westliches Bild der Sowjetunion als einer „geschlossenen“ Gesellschaft bis heute. Weniger bewusst ist die Verschiebung der Raumverhandlungen an die Peripherie: Der Massenwohnungsbau band in der einen oder anderen Form Millionen von Menschen ein, mobilisierte. Er bot Teilhabe an Verfügungsmacht über Räume auf vielen Ebenen: Bei Planung, Bau, Verteilung und Verwaltung des Wohnraums und der Außenräume ebenso, wie für die Bewohner selbst.
Räume von unten: Strassen, Plätze, Märkte, Höfe Nach der Revolution veränderten sich die öffentlichen Räume und die Regeln ihrer Konstitution. Die Menschen erlebten die Strassen anders. Marina Cvetaeva vermass das Arbatviertel neu: Dort, wo sie früher spazieren ging, absolvierte sie nun täglich ihre maršrut, um Nahrung zu organisie Deborah A. Field: Irreconcilable Differences: Divorce and Conceptions of Private Life in the Khrushchev Era. In: Russian Review 57 (1998) Nr. 4, S. 599–613, hier S. 602–603. Zum Beispiel der Metrodiskurs, den Michail Ryklin analysiert hat: Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz. Frankfurt a. M. 2003, S. 87–133.
281
ren und das Überleben zu sichern. Die nächtlichen Strassen waren gefährlich: Diebstähle und gewaltsame Überfälle gehörten zum Alltag. Es gab keinen Staat mit einem festen Gewaltmonopol. Hinzu kam die neue Enge der Wohnungen für die ehemals bürgerlichen Schichten, die darüber schrieben, während Äußerungen einquartierter Arbeiter schwieriger zu finden sind, etwa indirekt über die Erinnerungen ihrer Kinder. Die räumlichen Verhältnisse aller Schichten glichen sich einander nach der Revolution zunächst an. Die Enge des Wohnraums machte die Strassen und Höfe wichtig, später auch die Metrohallen, um sich zu treffen. Bis zu ihrer Abschaffung um 1930 waren die Märkte auf der Sucharevskaja, Smolenskaja und Arbatskaja Ploščad’ wichtige Orte des sozialen Lebens. Sie waren Tauschplätze für Waren und Informationen. Mit der Schließung der Märkte verlagerten sich Schwarzmarkt und Tauschhandel an bestimmte Straßenecken. Nach dem Krieg forderten die stiljagi Freiräume und zeigten sich ausgerechnet auf der zentralen Prachtstrasse, in der Nähe der Macht. Die Gegenöffentlichkeiten mit ihren Orten an der Gor’kijstrasse und im Polytechnischen Museum wurden langfristig aus dem öffentlichen Raum verdrängt und verlagerten sich in Privatwohnungen. Hier verschoben sich Grenzen auf paradoxe Art und Weise: „Öffentlichkeiten“ migrierten in Wohnräume, die ihrerseits „privater“ waren als je zuvor in der Geschichte der Sowjetunion. Es entstand eine Untergrundkultur der Halböffentlichkeiten, Freundeskreisen und Versammlungsöffentlichkeiten, mit Liederabenden und Wohnungsausstellungen. Wissenschaft und Kunst vereinigten sich in einer Nischenkultur. So wuchs ein intellektueller Untergrund, in dem samizdat möglich wurde, aber auch über in der Sowjetunion unbeliebte wissenschaftliche Zweige debattiert wurde, so etwa über Humangenetik oder die Psychoanalyse. Dieser Untergrund kommunizierte nach außen und in öffentlich zugänglichen Räumen mittels symbolischer Handlungen. Der Physiker und Menschenrechtler Andrej Sacharov beispielsweise versuchte demonstrativ, mit normalen Rubeln im Devisenladen einzukaufen oder verfasste anlässlich einer Konferenz einen Aufruf zur Hilfe für politisch Verfolgte. In diese Kategorie fielen auch die Bürgerproteste, zu denen sich Anwohner des Arbatviertels versammelten, um – erfolglos – gegen den Abriss eines Teils des Arbat zu kämpfen. Diese Versammlungen fanden nicht auf der Strasse statt und wählten als Kommunikationsmittel Briefe, Gedichte und Lieder. Eine Gegenöffentlichkeit konnte sich hier zwar konstituieren, und sie hatte keine Repressionen zu fürchten. In Umkehr des revolutionären Narrativs kämpften sie für das alte und gegen das neue Moskau.
Moskauer Höfe: Durchlässigkeit und Lebensraum: Novye Čeremuški, Arbatviertel, Tverskaja Ebenfalls mit „alt” und „neu” verknüpft war die Stadt-Land-Thematik. Sie fand sich im Bau der „Neuen Stadt“ an der Gor’kijstrasse , im Kontrast von Strassenraum und Höfen ebenda, im Abriss des Hundeplätzchens für den Bau des „Neuen Arbat“ sowie im symbolisch-ökonomischen Konflikt an der Sucharevka, wo Stadt und Land in den zwanziger Jahren aufeinander trafen und die alte Ökonomie schließlich verdrängt wurde von der neuen. Den neuen Mikrorayons im Südwesten musste die alte Form
Höfe und Heterotopien
Zur Verunglimpfung humangenetischer Forschung im Zusammenhang mit dem Einfluss Lysenkos vgl. das Kapitel Wissenschaft und Wissenschaftsmagie. Der Fall Lyssenko in: Dietrich Beyrau: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985. Göttingen 1993, S. 102–117, hier S. 107. Rudolph Chimelli: 9 mal Moskau. München 1987, S. 96; Gayle Durham Hannah: Legale und dissidente Formen politischer Kommunikation in der Sowjetunion nach Stalin. In: Osteuropa 26 (1976) Nr. 7, S.491–512.
84. V. D. Polenov: Moskauer Hof, 1878. Öl auf Leinwand, 64,5 x 80,1 cm. Staatliche Tretjakov-Galerie. Das berühmte Gemälde aus den 1870er Jahren von Vassilij Polenov namens „Moskauer Hof“ zeigt eine Wiesenlandschaft mit Holzscheune, Hühnern und spielenden Kindern vor den Umrissen einer Kirche, Cerkov’ Spasa Preobraženija na Peskach, im Arbatviertel – ein ländliches Idyll vor städtischer Kulisse. Die alten Stadtviertel hatten viele solcher Innenhöfe mit Gärten und niedrigen Holzhäusern, die Walter Benjamin 1926 noch verwundert als „Dorf in der Stadt“ bezeichnete. Kulturell begleitet wurde dieser dörfliche Zug der Stadt durch die ländliche Herkunft der meisten Bewohner, die erst seit den zwanziger Jahren nach Moskau gezogen waren und ihre Lebensweisen und Haltungen mitbrachten.
der stadtnahen Landwirtschaft weichen. Die räumliche Durchlässigkeit innerhalb der Wohngebiete war ein entferntes Echo der Bautradition des alten Moskaus. Das Stadt-Land-Thema ist aber vor allem in der Durchgrünung und den Höfen präsent. Die Zuzüger aus dem Dorf bildeten Informations- und Beschaffungsnetzwerke. Sie mobilisierten Eigensinn und Widerständigkeit, organisierten Selbsthilfegruppen, behielten bestimmte Arbeitsgewohnheiten bei und betranken sich an religiösen Festtagen. Die Stadtstruktur war durchlässig, aber auch kleinmaßstäblich und unübersichtlich. Der Moskauer Journalist und Schriftsteller Vladimir Giljarovskij setzte, inspiriert von Beschreibungen der Londoner Elendsviertel und dem populären Genre der „Sittenbilder”, 1934 dem exotischen „alten Moskau” des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Denkmal. „In dem Labyrinth von Korridoren und Gängen und auf den schiefen, halbverfallenen Treppen, die zu den Nachtasylen in allen Stockwerden führten, gab es keinerlei Beleuchtung. Der Eingeweihte fand sich zurecht, ein Fremder aber brauchte ja seine Nase hier nicht hineinzustecken! Und wirklich: keine Obrigkeit wagte es, in diese finsteren Abgründe zu steigen”, beschrieb er die Chitrovka, einen alten Markt, der von Notschlafstätten und Spelunken umgeben war und als Moskaus übelstes Slum galt. Solche und ähnliche Strukturen wiesen auch weniger arme Quartiere auf wie die Sucharevka, der bekannte Trödelmarkt, oder der von Bulat Okudžava besungene Arbat der dreißiger Jahre.
Gerhard Hallmann: Russische Realisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rosenheim 1989, S. 111 und 146. David L. Hoffmann: Peasant Metropolis. Social Identities in Moscow, 1929–1941. Ithaca usw. 1994, S. 218. Wladimir Giljarowski: Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen. Sittenbilder aus dem alten Moskau. Berlin 1988, S. 24 (russ. Moskva i Moskviči, 1934). Giljarowski: Kaschemmen, S. 24–69. Immanuil’ Levin: Arbat. Odin kilometr Rossii. Moskva 1997. Arbatskij archiv. Hg. von Sigurd Šmidt. Moskva 1997; vgl. das Kapitel zum Arbat in diesem Band.
283
85. A. P. Vasil’ev: Mein Hof. Tempera auf Leinwand, 80 x 60 cm. Moskau 1976 Der Blick fällt auf einen kleinen Trampelpfad, der in ein grünes Dickicht führt. Auf dem Pfad steht der Betrachterin zugewandt ein kleiner, schwarzer Hund, der, wohl in Erwartung eines Spiels, ein Stöckchen im Maul trägt. Neben dem Hündchen flattert Wäsche an einer Leine. Hündchen und Wäscheleine sind von üppigen Blumen, Büschen und Bäumen umgeben, die ein grünes Dickicht bilden. Dahinter liegt als Abschluss die Rückfassade eines Wohnhauses aus der Stalinzeit. Auch auf den Balkonen hängt Wäsche. Der Titel des Gemäldes lautet „Mein Hof“. Das Bild ist im Original ein Tafelbild in Öl. Darstellungsmodus und Technik beziehen sich auf die Tradition eines impressionistischen Realismus. Die Darstellungsweise und die Zentralperspektive fordern zu einer konventionellen Betrachtungsweise auf. Das Besondere an dem Bild ist die Wahl des Motivs, der verwendeten Zeichen und ihrer Beziehung zueinander. Vieles verweist auf den intimen Nischencharakter dieses Hofes. Das einzige Lebewesen, das Hündchen, ist ein nutzloses Luxusgeschöpf, das dem Privatvergnügen dient. Es fordert den Betrachter zum Spiel mit dem Stöckchen auf. Die Wäsche, die etwas hinter dem Hündchen an der Leine hängt, sticht weiß aus dem grünen Hintergrund hervor. Sie unterstreicht die geschützte Atmosphäre des Hofraumes und die Kontinuität des reproduktiven Alltags. Das Gebüsch mit den geheimnisvoll wirkenden Pfaden gewährt Schutz vor neugierigen Blicken. Dieser geschlossene Innenhof bietet Freiräume zur Entfaltung persönlicher Interessen jenseits des Kollektivs. Das Entstehungsjahr des Gemäldes 1976 lag in der Brežnev-Zeit, die von vielen als sehr frustrierend erlebt wurde. Das Bild vermittelt das Gefühl von Zeitlosigkeit. Der Rückzug in private Nischen schien die einzige Möglichkeit für ein bisschen Glück zu sein. Und wenn es auch nur Stöckchen werfen war. Der Blick in den Hof war aber auch rückwärtsgewandt. Möglicherweise weckte er in den Betrachterinnen und Betrachtern die Erinnerung an den eigenen Hof, der ein wichtiger Ort der Kindheit war. Die Kinder der Kommunalwohnungen bildeten Banden, die in den Höfen spielten. Das Hündchen, das vermutlich dem Maler gehörte, stellt durch seinen Blick eine Beziehung zum Betrachter her. Der Hof selbst hat den Charakter einer Chiffre. Viele Höfe sahen so aus. Im Vordergrund steht die Stimmung des Hofes, der Freiraum, den er gewährt. Das Bild zeigt exemplarisch, wie Räume „von unten“ produziert wurden. Dafür spricht auch die Information, dass sich das Bild im Besitz des Künstlers, eines verdienten Theaterschaffenden, befindet. Vasil’ev (geboren 1911) bezog sich mit seiner Darstellung eines Hofes auf ein bereits existierendes kulturelles Raumbild, das des „Hofes“. 10
Höfe und Heterotopien Die Höfe als Grünflächen verbinden die Gor’kijstrasse mit dem Arbatviertel und Novye Čeremuški, das „Dorf in der Stadt“ mit der „Stadt im Grünen“. Funktionen dieser Grünflächen waren Freizeit und Erholung, häufig auch ein Beitrag zum Lebensunterhalt. Auf den Höfen war noch Platz für Hühner und Pferdeställe. Gassen und Höfe des alten Moskau waren ein Lebensraum gerade auch für Kinder und arme Leute, sie waren labyrinthisch und unterlagen eher der horizontalen als der vertikalen Kontrolle. Iurij Trifonovs Erzählung über das „Haus an der Moskva“, die Erinnerungen von Bulat Okudžava
1 V. Semenova: Ravenstvo v niščete. Simvoličeskaja značenie „kommunalok”. In: Sudby ljudej. Rossija XX. vek. Biografii semej kak obekt sociologičeskogo issledovanija. Moskau 1996, S. 373–389, hier S. 382–384. 10 Aleksandr Pavlovič Vasil’ev: Moj dvor. 1976, Tempera, im Besitz des Künstlers. In: Obraz tvoj, Moskva. Moskva v russkoj živopisi. Moskva 1982.
an die Höfe des Arbat sowie diejenigen von Vladimir Bukovskij und Jelena Bonner unterscheiden sich zwar in der Wahrnehmung eines kleinkriminellen Charakters der Höfe vor dem Krieg, nicht aber im Gegensatz von Dorf und Stadt, von hinten und vorne und in ihrem Eigen-Sinn von den Beschreibungen, die Paul Thorez 1962 von den Höfen der Gor’kijstrasse und des Arbatviertels gab. Das bedeutet, dass der Hof Raum autonomen sozialen Lebens blieb, aber auch der horizontalen sozialen Kontrolle dienen konnte, da hier im Gegensatz zur Strasse nicht urbane Anonymität herrschte, sondern dörfliche Vertrautheit, in der wie in der Gemeinschaftswohnung alle alles voneinander wussten.11 Als Räume waren die Höfe den Alten, den Kindern und Jugendlichen, aber auch dem Feierabend zugeordnet. Sie sind ein beliebtes Motiv nostalgisch verklärter Kindheitserinnerungen, ein Topos. Die Erfahrungen und Raumkonstitutionen der Kinder unterschieden sich von denen der Erwachsenen. So fiel das Leben in den Gemeinschaftswohnungen den Kindern leichter, als den Erwachsenen. Sie wichen auf die Strasse, vor allem aber in die Höfe aus. Die Kinder waren am Kampf der Erwachsenen um die immer knappen Ressourcen und um den Raum nicht beteiligt. Sie bildeten eine eigene Gruppe, untereinander solidarisch und relativ unabhängig von der elterlichen Kontrolle.12 Die Grünzonen in Novye Čeremuški nahmen die Tradition der Höfe auf. Sie blieben wegen der Enge der Wohnungen halböffentliche Kommunikationsräume. Spielplätze und Schachfelder waren Treffpunkte, an denen sich auch Angehörige unterschiedlicher sozialer Milieus trafen.
Räume von oben: Repräsentative Räume Die Orte im Bild. Wie neue Raumbilder entstehen Anhand von Fotografien und Bildbänden konnte am Beispiel der Gor’kijstrasse ein Wandel bei den Regeln der Bildproduktion herausgearbeitet werden. Die latenten Sinnstrukturen der Aufnahmen der zwanziger Jahre, der dreißiger und vierziger Jahre und der Zeit nach 1956 unterschieden sich erheblich voneinander. Die Frage nach kodierten und nicht kodierten Botschaften, nach Funktion und Intention der Bilder ist auch eine Frage nach kommunikativen Akten. Raum und Bild von Raum wurden Träger von Botschaften. Besonders gut lässt sich die Konstruktion von Raumbildern (oft von oben geschilderten typisierten „Gärten des Sozialismus”) an der Repräsentation der Errungenschaften der Sowjetunion in Bildbänden und illustrierten Zeitschriften untersuchen. 1950 erschien in Moskau der Bildband „Sovetskaja Architektura za XXX let RSFSR”. Der repräsentative Charakter dieser Publikation zeigt sich unter anderem an der Tatsache, dass dieser Band wenig später auch in Leipzig auf Deutsch erschien.13 Obwohl es um die Architektur der Sowjetunion insgesamt ging, nahm die Gor’kijstrasse als zentrale Magistrale der Hauptstadt eine prominente Rolle ein. Mehrere Gebäude wurden von außen und von innen in ganzseitigen Aufnahmen vorgestellt. Die Ins-Bild-Setzung war ebenso pompös wie die gezeigten Fassaden und Interieurs.
11 Boris Chasanow: Moskau als Zeichensystem. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken H.2 (1988) S. 85– 98, hier S. 87–88, 91. 12 Semenova: Ravenstvo v niščete, S. 382–384. 13 Dreißig Jahre Sowjetische Architektur in der RSFSR. Hg. von der Deutschen Bauakademie. Leipzig o.J. (1951).
285
Höfe und Heterotopien
86. Doppelseite aus dem großformatigen Bildband Sovetskaja architektura za XXX let RSFSR. Die Bildlegenden lauten: 12. Gor’kijstrasse , Wohnhäuser. A.G. Mordvinov, 1940. 13. Gor’kijstrasse . Wohnhaus. A.G. Mordvinov 1940. Vom Moment ihrer Fertigstellung an wurden die „aufgeräumten“ Strassen mit den perfekten Fassaden ins Bild gesetzt. Die Aufnahmen sind Totalen mit Zentralperspektive, aus Augenhöhe aufgenommen. Sie wurden stark
retuschiert, um nicht zu sagen: übermalt, und sind als Bildtafeln wie in einem Kunstband angeordnet: Eines groß auf jeder Seite, darunter mittig Ort und Gegenstand. Die Reproduktionstechnik erinnert an Bromöldrucke des Piktorialismus und unterstreicht die Gemäldehaftigkeit der Fotografien. Die Bildtafeln bilden Typen ab, nicht individuelle Orte. Es ist die perfekte fotografisch-drucktechnische Inszenierung einer architektonischen Inszenierung. Das Ergebnis ist eine überzeitliche Qualität der Bilder, die einen Ewigkeitsanspruch vermittelt. Das Bild hat sich von Ort und Zeit, von der Wirklichkeit gelöst. Das Erstaunlichste: Die gezeigten Dienstleistungsbetriebe, die Interieurs der Geschäfte, Restaurants und der nachgerade berüchtigten „Koktejl choll“ sind völlig leer abgebildet, ohne Menschen, ohne „Leben“. Damit werden auch Mängel und Konflikte ausgeblendet. Wichtig ist lediglich, dass die Fotografie die Existenz dieser Räume glaubhaft bezeugt. Funktionieren müssen sie nicht.
Einer Einleitung folgen mehrere Bildteile, die ersten beiden zu Moskau und zu Leningrad. Die Themenwahl innerhalb der Städte entsprach ganz bestimmten Schwerpunkten, die ich „Inseln” nennen möchte. In Moskau waren dies neben der Gor’kijstrasse die Allunions-Landwirtschaftsausstellung VSChV, die zentralen Magistralen und Plätze sowie die Hauptentwicklungsachsen: Bol’šaja Kalužskaja Ulica, Možajskoe Šosse, Leningradskoe Šosse, Šosse Ėntuziastov sowie die Kanalbauten und die Metro; im dritten Kapitel folgten Industrie-Zentren,14 im vierten Kurorte.15 Besonders die Neugründungen von Städten und Industriezentren boten neben der Hauptstadt weitere Möglichkeiten, die „ideale Stadt“ zu planen und im Bild zu propagieren. Der 1957 von der Moskauer Bauakademie herausgegebene Band „Sovetskaja Architektura 1917–1957. Žiliščno-graždanskoe stroitel’stvo, kurortnoe stroitel’stvo, sel’skoe stroitel’stvo, gidrotechničeskoe stroitel’stvo, tipovoe proektirovanie, stroitel’naja industrija” hatte im Grunde einen ähnlichen Aufbau und Anspruch und eignet sich deshalb gut dazu, die Veränderungen in der visuellen Darstellung während dieser relativ kurzen Zeitspanne zu verfolgen. Einer kurzen Einleitung folgten jeweils Kapiteleinleitungen zu den Themen. Zunächst Städtebau: Nach Moskau kam Leningrad, dann die Städte der Russischen Föderation: Stalingrad, Čeljabinsk, Gor’kij, Perm’, Ufa, Novosibirsk, Nižnij Tagi. Das vierte Kapitel war den Hauptstädten und Städten der Bundesrepubliken gewidmet.16 Im fünften Kapitel wurden neue Städte und Siedlungen vorgestellt.17 Den kleineren Fotos waren in diesem Band Pläne und erklärende Texte beigefügt. Die Bilder waren alltäglicher, weniger total und künstlich. Es stand weniger das einzelne Gebäude mit seiner Fassade im Zentrum des Interesses, als die Stadt, die Siedlung, die Strasse. Die Gor’kijstrasse war zwar in einigen Aufnahmen vertreten, ebenso die Bol’šaja Kalužskaja und Možajskoe Šosse. 1957 waren im Unterschied zu 1950 auch die Hochhäuser enthalten. Weit mehr Gewicht hatte nun jedoch der Massenwohnungsbau der Nachkriegszeit im Südwesten Moskaus, wo 1950 noch lediglich die großen Entwicklungsachsen präsentiert wurden. Der Akzent hatte sich vom Zentrum an die Peripherie verschoben, und vom „Bild” der Stadt auf die „Aufgabe” von Wohnungsbau und Städtebau, auf Planung und Planungsprozesse. Es ging um ökonomische und rationalistische Aspekte der Bauindustrie. Das Bild der Stadt war nicht mehr vom Pomp bestimmt, sondern von der Wohnsiedlung. Bilder zeigen die Situation vor und nach dem Umbau, es sind von Pläne und Grundrisse beigegeben, Schemen der Straßenerweiterungen: Veränderung und Dynamik stehen im Vordergrund. Vor allem die letzen Kapitel zu Typenbauweise und Industrialisierung des Bauwesens sind deutlich problemorientiert. 14 Gor’kij, Kuibyšev, Molotov, Sverdlovsk, Čeljabinsk, Magnitogorsk, Novosibirsk, Stalinsk. 15 Kislovodsk, Železnovodsk, Soči, Neu-Mazesta, Krim. 16 Kiev, Charkov, Minsk, Taschkent, Alma-Ata, Tbilisi, Baku, Vil’nius, Kišinev, Riga, Frunze, Stalinabad, Erevan, Talinn. 17 Magnitogorsk, Stalinsk, Dzeržinsk, Volžskij, Salavat, Oktrjabskij, Mončegorsk, Norilsk, Zaporož’e, Novaja Kachovka, Karaganda, Rustavi, Sumgant, Kochtla-Jarve sowie Siedlungen entlang des Volga-Don-Kanals.
287
87. Doppelseite aus Sovetskaja Architektura 1917–1957. Bildlegenden: Plan der Gor’kijstrasse mit Markierung der abgerissenen Bebauung. – Die Gor’kijstrasse vor der Rekonstruktion. – Die Gor’kijstrasse zwischen Ochotnyj Rjad und Sovetplatz. Wohnhäuser. 1937–1938. Arch. A. Mordvinov, Ing. P. Krasil’nikov. Die Doppelseite zeigt die Gor’kijstrasse vor und nach dem Umbau. Es sind klassische Architekturfotografien, denen die Gemäldehaftigkeit des früheren Bandes fehlt. Die Bilder selbst wurden nicht oder weniger augenfällig retuschiert: sie haben nicht mehr inszenierten Gemäldecharakter, sondern wirken dokumentarisch, weniger pompös. Ein Plan macht den Prozess nachvollziehbar. Die visuelle Kommunikation hat sich von der „Behauptung“ zur „Erzählung“ verlagert.
In den übrigen Kapiteln werden Kurorte, Musterviertel, Musterkolchosen und die großen Versorgungssysteme vorgestellt: Kanalbauten, Elektrizitätswerke und Kolchosen. Doch auch sie unterliegen der Erzählung von Aufbau und Entwicklung. Der Bildband von 1957 war immer noch konventionell in der Aufnahmetechnik. Der radikale Wandel in der visuellen Kultur fand erst Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre statt, was mit dem Beginn des Raumfahrtzeitalters, dem Eindringen amerikanischer Bildwelten und der weiteren Entstalinisierung nach dem XXII. Parteikongress 1961 und der nunmehr Höfe und Heterotopien möglichen Rezeption der Avantgarde der zwanziger Jahre zusammenhing. Während Pomp und Monumentalität der Fotografie der Stalinzeit sowie die Beschönigung der Wirklichkeit durch Retuschetechniken angeprangert wurden, blieben die üblichen Aufnahmewinkel und Kompositionen vorerst noch bestehen.18 Die in den Bildbänden vorgestellten Orte hatten repräsentativen Charakter. Sie waren Errungenschaften des Sozialismus. In der Realität hoben sie sich jedoch in ihrer Perfektion von ihrer nächsten Umgebung stark ab und hatten den Charakter von „Inseln“. Dieser Charakter verband sehr verschiedene Orte zu einem Raum.
18 Susan E. Reid: Photography in the Thaw. In: The Art Journal. New York College Art Association of America, 1994, S. 33–39, hier S. 34.
Inseln des Sozialismus: Heterotopien als Botschaften Zum durch die Bildbände konstituierten Raum des Sozialismus gehörte neben der Gor’kijstrasse auch die 1939 eröffnete Allunions-Landwirtschaftsausstellung (VSChV, Vsesojuznaja sel’sko-chozjajstvennaja vystavka), die als „Garten des Sozialismus” wichtiger war als die Landwirtschaft selbst.19 Die Beziehung von Stadt und Land wurde in Bildern konstruiert. Der oben vorgestellte Bildband „Sovetskaja Architektura 1917–1957“ zeigte die Landwirtschaft, Kolchosen und Sovchosen, als Teil der großen Versorgungssysteme des Landes, als „Infrastruktur“. Die Landwirtschaftsausstellung präsentierte in der perfekten Konstruktion eines Garten Eden eine ideale Landwirtschaft aus Gips und Bronze, während die Kollektivierung die sowjetische Landwirtschaft weitgehend zerstört hatte. Die Ausstellung schuf ein „Bild“, das sich vor die Realität schob. Die Ulica Gor’kogo verkörperte dagegen die „kompakte Stadt“ als Gegensatz zu Landschaft.20 Der Plan von 1935 sollte ja gerade die sozialistische Stadt hervorbringen – Moskau war im kollektiven Imaginären immer noch das „große Dorf”, das „Moskau der Kaufleute” oder das der goldenen Kuppeln. Es ging mindestens ebenso dringend um den Umbau des Bildes von der Hauptstadt wie um die Hauptstadt selbst. Mit dem Generalplan für Moskau lebte das Konzept der Sommerfrische wieder auf.21 Pläne aus dem Jahr 1934 entwarfen sternförmig Naherholungsgebiete im Grüngürtel, die durch bestehende Eisenbahnlinien erschlossen wurden. Romantische Tuscheskizzen zeigen Feriendörfer (gorod-otdycha) die sich um ehemalige Adels-Landsitze gruppieren, Pionierlager und Parkanlagen mit zentraler Infrastruktur (kul’tbazy) als Ausgangspunkt für Wanderungen oder Bootsfahrten. Vor allem aber waren zahlreiche dača-Siedlungen geplant.22 Die dača-Siedlungen dienten teilweise explizit als Wohnraum für Menschen aus Häusern, die im Zug der Rekonstruktion Moskaus abgebrochen wurden. Die Künstlersiedlung Peredel’kino war 1934 im Bau. Der Bildband von 1957 zeigte dem größeren Publikum Grundrisse und Innenräume von dača-Prototypen. Das Aufleben der dača-Romantik war kein Zufall: Das Bild solcher Landschaften spendete den Städtern Erholung und Kreativität und formulierte dadurch auch eine Hierarchie von Stadt und Landschaft. Die Landschaft der Grünzone als Naherholungsraum hatte ebenso wenig mit der bäuerlichen Lebenswelt zu tun wie die Allunions-Landwirtschaftsausstellung. Das Land diente der Stadt auf zweierlei Weise: Zur Versorgung und als Erholungsraum. Den Machthabenden diente das Land zur Kolonisierung durch Lager, zum „Ausschluss“ Unerwünschter, aber auch zur Mobilisierung und Erziehung der Jugend in „Neulandkampagnen“ und als Reisegelände für Abenteurer.23 Diese Entwicklung weist darauf hin, dass sich die sowjetische Kultur als urbane Kultur verstand, dass die Stadt der Ort der Zugehörigkeit, das Land derjenige des „Ausschlusses“ war.24 Diverse kulturelle Praktiken machten das Land zum gesellschaftlichen „Ventil“.
289 19 Galina N. Jakovleva: Massenbewusstsein und „Dritte Realität”. In: Kultur im Stalininsmus: sowjetische Kultur und Kunst der 1930er bis 1950er Jahre. Hg. von Gabriele Gorzka. Bremen 1994, S. 147–152. 20 Zur Hierarchisierung der Landschaft vgl. Klaus Gestwa: Sowjetische Landschaft als Panorama von Macht und Ohnmacht. Historische Spurensuche auf den „Großbauten des Kommunismus” und in dörflicher Idylle. In: Historische Anthropologie (2003) Nr. 1, S. 72–100. 21 Ausführlich dazu Stephen Lovell: The Making of the Stalin-Era Dacha. In: The Journal of Modern History 74 (2002) S. 253–288. 22 Central’nyj archiv naučno-techničeskoi dokumentacii (CANTDM) fond 41, opis 1, delo 11. 23 Hinweis von Christian Noack, Bielefeld. Christian Noack: Von „wilden“ und anderen Touristen. Zur Geschichte des Massentourismus in der UdSSR. In: Werkstattgeschichte 36 (2004), S. 24–41. 24 Sehr gut herausgearbeitet hat die visuelle Repräsentation von Landschaften und deren Hierarchisierung mit Moskau als Zentrum anhand der Briefmarkenserien der 30er–50er Jahre Evgeny Dobrenko: The Art of Social Navigation. The Cultural Topography of the Stalin Era. In: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space. Hg. Von Evgeny Dobrenko und Eric Naiman. Seattle usw. 2003, S. 163–200.
Die räumlichen Zuordnungen von Einschluss und Ausschluss wurden Teil einer kulturellen Praxis der Sowjetunion. Die Machthaber schufen mit dem 1928 eröffneten park kul’tury i otdycha imena Gor’kogo, der Metro, der 1939 eröffneten Allunions-Landwirtschaftsausstellung VSChV (1950–1954 in eine allgemeine Leistungsschau umgebaut und 1959 umbenannt in VDNCh) und der 1953 eingeweihten Moskauer Staatsuniversität (MGU, Moskovskaja gosudarstvennaja universiteta), dieser Stadt in der Stadt, Inseln des Morgen im chaotischen Heute, „sozialistische Welten im Kleinen”, vollkommene Gärten des Sozialismus. Wegen ihres abgegrenzten, „eingerahmten“ Charakters und ihrer Verdichtungsqualität kann man diese Orte auch als „Bilder“ bezeichnen und feststellen, dass rhetorisch zwischen Bild und Wirklichkeit nicht unterschieden wurde. Die Orte waren Teile von Wirklichkeit, die sich aber von der sie umgebenden Wirklichkeit durch verschiedene Merkmale abhoben. Die manifeste Botschaft dieser Orte war ihre Perfektion, mit der sie „den Sozialismus“, das übergeordnete revolutionäre Narrativ, verkörperten.25 Diese „Kompensationsheterotopien“ im Foucault’schen Sinne26 befriedigten die Bedürfnisse nach Schönheit und Größe, Harmonie und Konsum und ermöglichten die Flucht aus dem Alltag. Foucault entwickelt das Konzept der „anderen Orte“ oder „Heterotopien“. Das sind abgegrenzte Orte innerhalb einer Gesellschaft, die besondere Funktionen haben. Es können Friedhöfe, Motels, Bibliotheken, Museen, Kasernen, Wellnessanlagen oder Heilanstalten sein, jedenfalls Orte ausserhalb des normalen Alltags: Orte der Krise, des Übergangs, des Ein- oder Ausschlusses, Orte ausserhalb der Zeit. Sie haben unterschiedliche Funktionen. Foucaults Konzept der Heterotopien erlaubt weitere Einsichten in sowjetische Raumordnungen. Als Heterotopien des Übergangs sind in den zwanziger Jahren die Arbeiterclubs und die Kommunehäuser zu verstehen. Die Kommunehäuser waren Zeitinseln, in denen (zumindest in der Theorie) keine Erinnerungsstücke, kein Blick zurück geduldet waren. Die Clubs und besonders die Kommunehäuser der Konstruktivisten waren gläserne Treibhäuser der Zukunft, in denen „Neue Menschen“ gezüchtet wurden.27 Sie hatten strenge Reglemente, wie Kasernen. Das Individuum galt nichts, das Kollektiv alles. In ihrer extremsten Ausformung folgten sie den Vorgaben Taylors und Fords, der Mensch wurde zum Rädchen in einem Mechanismus. Die Kommunehäuser lagen ausserhalb der geltenden Raum- und Zeitordnungen. Klubs wie Kommunehäuser scheiterten nicht zuletzt am Eigensinn ihrer Benutzer. Das 1970 fertig gestellte „Haus Neuen Lebens“ in Novye Čeremuški Nr. 10 erfuhr ein ähnliches Schicksal. Es war unbeliebt und wurde als Studentenheim genutzt. Das schreckliche Gegenstück zu den Kommunehäusern war das Lagersystem, das zu Beginn der dreißiger Jahre mit der Gründung einer zentralen Verwaltung als ökonomisches und gesellschaftliches Parallelsystem eingeführt wurde. Hier herrschten zumindest ideell Höfe und Heterotopien Ordnung und Disziplin. Der „Archipel’“
25 Janina Urussowa bezeichnet das Vorgehen als „für russische Verhältnisse besonders typisch: in dem Moment, in dem die Macht merkt, dass das nächste ‚totale Projekt’ einer Reorganisation des ganzen imperialen Raumes zum Scheitern verurteilt ist, versucht sie, das Ganze durch Exemplarisches zu ersetzen. Das Exempel wird dann den offiziellen Vorstellungen entsprechend umgestaltet und für mustergültig erklärt, wobei die weitere Umgestaltung des Ganzen der Zeit und dem Glück überlassen wird. Mittels dieser primitiv-magischen Handlung an der Abbildung des Ganzen gewinnt und vermittelt die Macht die Vorstellung, dass alles geordnet sei.“ Urussowa geht jedoch nicht auf die Rezeptionsseite ein. Die Begriffe „Macht“ und „Gesellschaft“ werden außerdem im Folgenden nicht klar auseinander gehalten. Janina Urussowa: Das Neue Moskau. Die Stadt der Sowjets im Film 1917–1941. Köln usw. 2004, S. 235–236, „Punktuelle Paradiese“. 26 Michel Foucault: Andere Räume. In: Stadt-Räume. Hg. von Martin Wentz. Frankfurt a. M. usw. 1991, S. 65–72, hier S. 71–72. 27 Urussowa: Das Neue Moskau, S. 176–177.
(Insel) GULag lag nicht nur ausserhalb der Zeit, sondern ausserhalb des Raums. Die Lager bildeten Kolonien in abgelegenen, klimatisch ungünstigen Gebieten. Sie hatten „Entlastungsfunktion“, denn sie folgten dem Prinzip der Ab- und Aussonderung von „Schädlingen“. Wie alle anderen Heterotopien, vielleicht noch deutlicher, denunzierte auch das Lagersystem die Unfähigkeit der Machthaber, eine funktionierende Gesellschaft einzurichten. In diesem Fall musste das ökonomische System durch Sklavenarbeit gestützt werden, während diese zugleich als Umerziehungsarbeit – „Umschmiedung“ (perekovka) – gerechtfertigt wurde: Wer beim Kanalbau nicht draufging, wurde zum „Neuen Menschen“.28 Dem war natürlich nicht so: Auch hier wurden Räume von unten produziert, es gab interne Ordnungen und Gesetze, Hierarchien, eine eigene Lagersprache. Die Lager waren die Fortsetzung der Kommunehäuser mit anderen Mitteln. Bezeichnenderweise griff man in den sechziger Jahren auf das Konzept der Kommunehäuser genau in dem Moment zurück, als das Lagersystem aufgelöst wurde. Besonders hervorgehoben werden von Foucault die „Kompensationsheterotopien“ wie Kino, Theater, Themenparks, Kolonien, Gärten, Parks und Zoos. Die Kategorie der „Kompensationsheterotopien“ denunziert den Rest der Welt als das Gegenteil von ideal, bietet aber zur Erholung und Erbauung eine modellhafte Ordnung an. In der Sowjetunion waren das Orte, an denen sich die „anderen Räume” der Gesellschaft konstituierten. Hier konnte die Gesellschaft sich von sich selbst erholen. Die Orte waren Abbilder dessen, auf was man sich als idealen Ort geeinigt hatte, Welten im Kleinen wie die persischen Gärten. Sie waren gerade das Gegenteil der „Utopie”, des „Nirgendwo”, weshalb man sie auch nicht als „gebaute Utopie” bezeichnen sollte; denn sie existierten ja tatsächlich und sie waren nicht der Lebensraum einer idealen Gesellschaft, sondern künstlich erbaute Orte innerhalb einer nicht perfekten Gesellschaft, die den idealen Raum des Kommunismus konstituieren sollten. Die „Kompensationsheterotopien“ waren Ausdruck der Macht des Regimes, als wichtige Funktion aber auch Zeichen seiner Fürsorge für den Einzelnen als „soziale Räume”, die allen gehörten. Gerade die Musterkolchosen und die Landwirtschaftsausstellung stellten – wie die von Foucault angeführten Kolonien – „andere Orte” der Zwangskollektivierung dar, die die Leiden ausblendeten. Symbolisch waren die Heterotopien Orte der Begegnung und Verständigung zwischen Obrigkeit und Volk, Orte der Teilhabe. Die Leningraderin Elena Skrjabina besuchte 1939 ihre Schwester in Moskau: „Dieses Jahr wollten wir die berühmte Moskauer Messe entdecken, von der man so viel redete, und uns zum erstenmal in die Moskauer Untergrundbahn wagen. Beides machte einen großen Eindruck auf uns. Es war unmöglich, die Messe an einem einzigen Tag zu erfassen, und so gingen wir jeden Tag hin und freuten uns an der wundervollen Ausstattung der Pavillons und an dem für unsere Augen seit langem ungewohnten Überfluss an Waren und Produkten aller Art.“29 Die Leistungsschau mit ihren prunkvollen Pavillons der Sowjetrepubliken war als idealer Staat angelegt, als Sowjetunion en miniature. Sie stand in der Tradition der Weltausstellungen und wohl auch der Kolonialausstellungen, deren letzte 1931 in Vincennes bei Paris stattgefunden hatte.30 Die nationalen und
28 Ursula Breymayer, Bernd Ulrich: Das Lager. Die endgültige Ordnung des Menschen. In: Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Hg. von Nicola Lepp, Martin Roth, Klaus Vogel. Ostfildern 1999, S. 236–263, hier bes. S. 238, S. 256–263. 29 Elena Skrjabin: Von Petersburg bis Leningrad. Eine Jugend zwischen Monarchie und Revolution. Frankfurt a.M. 1992, S. 148. Elena Skrjabina (geb. 1905) wurde vor allem durch ihr „Leningrader Tagebuch“ bekannt, in dem sie die Blockade schilderte. Sie emigrierte 1950 aus Deutschland, wo sie als „Ostarbeiterin“ den Krieg überlebte, in die USA. Sie stammte aus wohlhabendem Haus, ihr Vater war 1912 in die Duma gewählt worden und ein erbitterter Gegner Kerenskijs. Er war vor seiner Wahl Oberhaupt des Adels im Bezirk Lukojanov und Präsident des Zemstvo von Nižnij Novgorod gewesen. 30 The Soviet World of Tomorrow at the New York World’s Fair, 1939. In: The Russian Review 57 (1998), S. 364–379; Patricia A. Morton: Hybrid modernities. Architecture and Representation at the 1931 Colonial Exposition, Paris. Cambridge,
291
internationalen Leistungsschauen gelten als rites de passage der Modernisierung. Ihre Funktionen reichten von der nationalen Selbstdarstellung und Identitätskonstruktion über die Austragung von Rivalitäten bis hin zur Volksbildung und zum Laboratorium für Zukunftstechnologien für die „Welt von morgen“.31 Wie all diese Ausstellungen war auch die Moskauer Ausstellung ein wichtiges touristisches Ziel für alle Sowjetbürger. Sie wurde dem sowjetischen Selbstbild laufend angepasst. Nach dem Krieg wurden einzelne Pavillons durch grössere und prächtigere ersetzt, um dem Bild der Siegermacht gerecht zu werden. Der Moskauer Philosoph Michail Ryklin erinnert sich: „Mitte der fünfziger Jahre erreichte auf der Ausstellung die Staatsästhetik ihren Höhepunkt. Ich erinnere mich gut an meine Kindheitseindrücke vom Besuch der VDNCh: Ich verließ das Gelände völlig verzaubert. Wenn, so dachte ich damals, an diesem Ort, zwischen all den Palästen, Skulpturengruppen und Fontänen, Wunder wahr werden, so kann es gar nicht anders sein, als dass solche Wunder sich auch an anderen Orten viele Male wiederholen. (...) Lange Zeit bewahrte ich das Plastikei auf, welches in einem Pavillon das Modell einer Henne ‚gelegt’ hatte, womit der Prozess des Ausbrütens von Eiern visualisiert wurde. Insofern die Besichtigung dieser ‚illusionistischen’ Räume einer Fata Morgana gleichkam, diente dieses Ei mir als einziger handgreiflicher Beweis dafür, dass die VDNCh wahrhaft existierte und ich dort gewesen war.“32 Von den untersuchten Fallbeispielen Gor’kijstrasse, Lubjanka, Sucharevka, Arbat und Novye Čeremuški kann man drei als „Kompensationsheterotopien“ im weiteren Sinne qualifizieren: Die Gor’kijstrasse, Novye Čeremuški und den Kalinin-Prospekt. Das Kriterium des „Abschlusses“ fehlt zwar auf den ersten Blick. Allerdings war die Gor’kijstrasse zum Zeitpunkt der Paraden teilweise abgesperrt. Weniger die räumliche Absperrung als vielmehr die zeitliche, welche hier Alltag und Festtag deutlich unterschied, machten sie zur Heterotopie. Die Gor’kijstrasse sollte überdies das neue Bild der „Stadt“ verkörpern, so wie die pünktlich zum zehnten Jahrestag des Beginns der Kollektivierung eröffnete Landwirtschaftsausstellung als Repräsentation die durch die Kollektivierung zerstörten Dörfer verdeckte. Ferner handelte es sich um das Zentrum der Modellstadt Moskau, die man zwar besuchen konnte, wo sich aber nur niederlassen dufte, wer eine Bewilligung besaß. Ähnlich verhält es sich in Novye Čeremuški: Das „Musterviertel“ kann man, seiner Exklusivität und seines Repräsentationscharakters wegen, zumindest für die erste Zeit als Heterotopie bezeichnen: Es war „vorweggenommene Zukunft“ und insofern „abgeschlossen“, als es ein Privileg bedeutete, hier eine Wohnung zu erhalten. Das Experimentalviertel war mit Bedeutungen aufgeladen und stand für ein neues Bild von „Stadt“. Die in der Folge realisierten Wohngebiete im neuen Stil waren dagegen „Alltag“, ihnen fehlte die „Verdichtungsqualität“, der in Šostakovičs Operette beschworene Märchencharakter von Novye Čeremuški. Höfe und Heterotopien Meistens waren die Wohnungen beim Einzug unfertig und mussten als erstes renoviert werden. Es haperte mit den Anschlüssen an die öffentlichen Verkehrssysteme und dem Bau der versprochenen Läden, Kindergärten und Kantinen. Mass. 2000; dies.: National and Colonial: The Musee Des Colonies at the Colonial Exposition, Paris, 1931. The Art Bulletin 80 (1998) Nr. 2, S. 357–377; Catherine Hodeir, Michel Pierre: L’exposition coloniale. Brüssel 1991. Vgl. dazu auch Eric T. Jennings: Visions and Representations of French Empire. In: The Journal of Modern History 77 (2005) S. 701–721. 31 Paul Greenhalgh: Ephemeral Vistas. The Expositions Universelles. Great Exhibitions and World’s Fairs, 1951–1939. New York 1988; Fair Representations. World’s Fairs and the Modern World. Hg. von Robert W. Rydell und Nancy Gwinn. Amsterdamm 1994. 32 Michail Ryklin. Ort der Utopie. In: Michail Ryklin: Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz. Frankfurt a.M., 2003, S. 134–148, hier S. 137–138.
Dem Kalinin-Prospekt fehlte auf den ersten Blick ebenfalls das Merkmal des „Ausschlusses“, aber er richtete sich demonstrativ nicht an die Einwohner der Arbatgegend. Der Kontrast zum umgebenden alten Stadtviertel könnte kaum größer sein. Die neue Magistrale löste die Gor’kijstrasse als Flaniermeile ab und war ein Ort sowjetischer Selbstbeschreibung erster Güte. Im Gegensatz zur Gor’kijstrasse war sie keine Zeremonialachse, sondern eine reine Geschäftsstrasse. Diese gebauten Räume hatten eine „Verdichtungsqualität“, die sie als „Ikonen“ von ihrer Umgebung abhob. Sie waren mit Bedeutungen befrachtet, sie waren Botschaften. Ihre Adressaten waren das in- und ausländische Publikum, die Weltöffentlichkeit.
Raumvorstellungen und Orientierungssysteme Die Raumvorstellungen erhielten neue Grundlagen und verloren die alten: Seit 1936 waren keine Landkarten, Stadtpläne oder Adressverzeichnisse mehr erhältlich. Dafür schuf die Metro für die Moskauerinnen und Moskauer ein neues netzartiges Orientierungssystem, ein Schema, das Raumbegriff und Raumwahrnehmung grundlegend veränderte und zugleich neue räumliche Hierarchien durch Erschließung, Verknüpfung und Erreichbarkeit von Orten schuf. Die Metro stellte zugleich die teilweise reale, vor allem aber symbolische Verknüpfung zwischen den Inseln des Sozialismus dar – und war selbst eine Heterotopie. Nach dem Krieg kamen die Hochhäuser als weiteres stadträumliches Orientierungssystem hinzu. Eine wichtige Hypothese lautete eingangs: Das Alltagswissen um den einheitlichen Raum scheint als „latente Sinnstruktur“ verschiedene Diskurse mitzubestimmen und wird auch in der individuellen oder kulturellen Syntheseleistung relevant. Die Auflösung des Stadtraums in ein System vernetzter Inseln war nur durch das Alltagswissen ganzheitlicher Räume als unbewusste Regel oder „latente Sinnstruktur“ bei ihrer Konstitution möglich: Aus den Inseln sollten die Menschen einen einheitlichen sozialistischen Stadtraum konstituieren, der die Zwischenräume ausblendete. Als Propaganda spekulierte das Konzept der „Inseln” auf das Raumwissen und die Bereitschaft zur Syntheseleistung der Bürger. Die neuere Wahrnehmungsforschung legt nahe, dass dies funktionierte: „Überhaupt nimmt das Gehirn pausenlos Ergänzungen vor, die Welten konstruieren, die in der ‚Wirklichkeit’ gar nicht existieren. Die Schnitttechnik des Films nimmt lediglich Verfahrensweisen der Wahrnehmung und des konstruktiven Vermögens des Gehirns in Anspruch, die menschliches Weltverständnis ganz grundsätzlich ausmachen.“33 Die perfekten Orte strahlten eine große Wirkung aus, das belegten etwa die Eindrücke der Besucher der VSChV und der Metro. In gewisser Weise hatte ganz Moskau mit seiner Häufung von Heterotopien diese Modellfunktion. Diese These lässt sich auf die ganze sozrealistische Kunst ausdehnen, die durch idealtypische Darstellungen eine perfekte Scheinwelt schuf, die das Nochnicht-Perfekte ausblendete oder vorübergehend integrierte. Der Generalplan Moskaus aus dem Jahr 1935 wurde der letzte publizierte Stadtplan. Allerdings zeigte er, vordatiert in das Jahr 1945, das Moskau der Zukunft, das es noch gar nicht gab.34 Dafür wurde er als Sinnbild der Zukunft in der Presse, in Modellen, im Film und auf Plakaten millionenfach reproduziert unter das Volk gebracht.
33 Harald Welzer: Gedächtnis und Erinnerung. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Hg. von Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen. Stuttgart usw. 2004, S. 155–174, hier S. 170. 34 Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in Neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 3: Sowjetische Moderne und Umbruch. Zürich 2005, S. 186.
293
Das Verschwinden „normaler“ Landkarten und Stadtpläne nach 1936 hatte verschiedene Gründe. Einerseits hatte es mit dem Ausbau des staatlichen Informationsmonopols zu tun, das sich neben der Presse mit Literatur und bildenden Künsten immer grössere Bereiche einverleibte. Hier wurden Feindbilder verbreitet, die eine in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre mit dem Erstarken Hitlerdeutschlands verbundene Spionagehysterie schürten.35 Das Fehlen von Landkarten und Stadtplänen sollte dem Feind die Orientierung erschweren. Andererseits verwischte es aber auch die Raumvorstellungen der Bürger. Walter Benjamin bemerkte 1926 eine Kartenbesessenheit, die vielleicht von einer revolutionären Inbesitznahme zeugte. „Die Landkarte ist ebenso nahe daran, ein Zentrum neuen russischen Bilderkults zu werden wie Lenins Portraits.”36 Der Korrespondent Rudolf Chimelli berichtete in den achtziger Jahren, es gebe nur Schemata für Moskau und verfälschte Landkarten.37 Ein Beispiel dafür ist das im Kapitel Novye Čeremuški abgebildete „Kartenschema“ aus dem Jahr 1969.38 Ergebnis dieser Politik war schlussendlich die totale Kontrolle über die Raumvorstellungen. Die Kulturtechnik des Kartenlesens lernten nur noch Spezialisten. Andererseits waren Karten und Pläne als Zeichen der Eroberung und des Aufbaus in Filmen und auf Bildern ein häufig verwendetes Motiv. Darin lag kein Widerspruch: Die Karte verschwand aus dem Alltag und wurde zum Symbol. Die real existierenden Karten unterstrichen diesen Symbolcharakter durch ihre Schemenhaftigkeit. Die Begriffe von Raum und Zeit sind kulturell und erfahrungsbedingt. Beide sind soziale Konstruktionen. Ist die Zeit die Organisation des Nacheinander, konstituiert sich Raum aus der Organisation des Nebeneinander.39 In der Sowjetunion der Stalinzeit enthielt der Staat den Menschen den Raum vor, weil er ihnen die Orientierung erschwerte. Reisen war schwierig und die Freizügigkeit eingeschränkt. All das wirkte sich auf die Wahrnehmung von Raum und Entfernung aus und behinderte die Informationsbeschaffung. Metro und Hochhäuser ersetzten als Orientierungssysteme die fehlenden Stadtpläne durch „Schemata” – Raumvorstellungen, Raumbilder wurden hier entscheidend geformt. Ebenso wirksame Orientierungssysteme wie in Moskau Metro und Hochhäuser waren gesamtsowjetisch gesehen die Kanalbauten und die Eisenbahnlinien. Auch Wasserkraftwerke und Musterkolchosen in entlegenen Gebieten sowie Ferienheime und Sanatorien banden den Raum der Sowjetunion im Bewusstsein zusammen. Die Fliegerinnen als Heldinnen sind ebenfalls als Elemente einer Raumpolitik zu verstehen. Nach Stalins Tod gab es keine Zäsur in den Bemühungen, das Land symbolisch zusammenzuhalten. Die Raumfahrt, die Landwirtschaft, die Neulandkampagnen und der Massenwohnungsbau sowie der nun vermehrt geförderte Binnentourismus waren Instrumente, die sich dafür eigneten. Auch die Zeitvorstellungen gerieten in Bewegung und „verflüssigten“ sich. Der Höfe und Heterotopien erste Fünfjahrplan wurde, so verkündete es jedenfalls die Propaganda, in nur vier Jahren durch die kollektive Anstrengung des Sowjetvolkes erfüllt. Solche diffuse Zeitvorstellungen untermauerten Stalins Anspruch als Herrscher über Raum und Zeit.40 Er holte die Zukunft in die Gegenwart. Die Geschwindigkeit und Effizienz der Metro, die als Paradebeispiel dafür galt, fand aber über der Erde keine Entsprechung.41 35 Goehrke: Sowjetische Moderne, S. 191, 196. 36 Walter Benjamin: Moskauer Tagebuch. Frankfurt a. M. 1980, S. 76. 37 Chimelli: 9 mal Moskau, S. 186–187. 38 Plan Moskvy: Kartoschemy, ukazatel’ i spravočnye svedenija. Hg. von M. V. Balabanov. Moskau 1968. 39 Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001, S. 66. 40 Goehrke: Sowjetische Moderne, S. 186, hier auch weitere Beispiele. 41 Dietmar Neutatz: „Schmiede des neuen Menschen“ und Kostprobe des Sozialismus: Utopien des Moskauer Metrobaus.
Sowjetbürger konnten aus mehreren Gründen in einem gewissen Sinn nicht frei über ihre Zeit verfügen: Alltagsverrichtungen wie Einkaufen verschlangen durch komplizierte Organisation und mehrfaches Schlangestehen nach Mangelware unsinnig viel Zeit. Das änderte sich auch nicht unter Chruščev. Wohnort, Kinderkrippe und Arbeitsplatz lagen trotz anders lautender Planungsgrundsätze für die Neubauviertel oft weit auseinander. Weil es im Alltag kein strenges Zeitregime gab, wurden auch die Arbeitszeiten nicht besonders genau eingehalten. Andererseits galt der offizielle Kalender für alle als verbindlich. Weil Zeit keine Mangelware war, führen viele Russen auch heute noch keine private Agenda, planen nicht auf dem Papier, übertragen Zeit nicht auf zweidimensionale Konzepte mit Koordinaten. Der Kalender entspricht der Aneignung der Zeit, die Landkarte schafft Handlungsräume. Weil nur wenige Karten lesen können, fragen die meisten heute noch lieber mehrfach nach dem Weg, als einen Stadtplan zur Hilfe zu nehmen. Ein Metroschema hingegen besitzen alle, und die in konzentrischen Kreisen organisierte Stadt Moskau hat im Alltag Stadtteilbezeichnungen, die sie in nach den Himmelsrichtungen benannte Kuchenstücke zerteilen: Südwesten, Westen, Nordwesten, Norden, Osten, Südosten. Diese Zonen sind sozialtopografisch mit Bedeutungen besetzt, wie im ersten Kapitel ausgeführt wurde. Aus Metroplan, Stadtteil sowie aus spezifischen individuellen und kollektiven Erinnerungsorten konstituierten sich jahrzehntelang die mental maps der Moskauerinnen und Moskauer von ihrer Stadt. Einen Wandel brachte erst die Automobilisierung: Wer in Moskau selbst Auto fährt, braucht einen Stadtplan, und sei es auch nur, um die komplizierten Linksabbieger-Regelungen zu finden.
Die Inseln des Sozialismus als imperiale Strategie Die Strategie der „Verinselung“ erwies sich als effizient und exportfähig: In den Hauptstädten der Sowjetrepubliken wie Baku, Tbilisi, Erevan oder Taškent entstanden städtebauliche Repliken des idealisierten Moskauer Zentrums mit Zeremonialachsen und zentralen Verwaltungsgebäuden im „lokalen Stil“, die aber häufig von russischen Architekten geplant wurden. Warschau bekam nach dem Krieg ein stalinistisches Hochhaus geschenkt, den Palac Kultury, der zunächst Stalinpalast hieß. In Berlin entstand die Stalinallee als zentrale Aufmarschachse. Krakau, die alte Adelsstadt und Kulturmetropole, erhielt als sozialistisches Regulativ einen proletarischen Ableger, die Neugründung Nowa Huta mit einem Hüttenkombinat. Die wieder erkennbaren räumlichen Anordnungen dieser städtebaulichen Ensembles dienten als Kommunikationsmedium und zur Gestaltung einer corporate identiy. Sie waren Instrumente der Sowjetisierung und des Kulturtransfers in den neuen Machtbereich nach 1945. Nach Stalins Tod änderten sich mit dem Wandel der Herrschaftsverhältnisse und dem modifizierten „Gesellschaftsvertrag” die städtebaulichen Leitbilder und die visuelle Kultur. Die Leitbilder entwickelten sich weg von den zentralen Prachtachsen hin zu rationalisiertem Massenwohnungsbau an der Peripherie. Die Ästhetik der Gor’kijstrasse bestimmte die offizielle visuelle Kultur bis zum XX. Parteitag 1956. In den folgenden fünf Jahren fand ein tief greifender Wandel in den sowjetischen Bildwelten statt, der sich auf alle Lebensbereiche erstreckte. Er vollzog sich zunächst auf der offiziellen und diskursiven Ebene, kam aber auch gerade unter der Jugend verbreiteten Bedürfnissen nach. Dieser Wandel hatte einiges mit der internationalen Lage zu tun. Der „Kalte Krieg“ war In: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. Hg. von Wolfgang Hartwig. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 56). München 2003, S. 41–56, hier S. 55.
295
in zunehmendem Umfang ein Krieg der Bilder und des Stils.42 Die neuen Leitbilder der visuellen Kultur der Sowjetunion standen deutlich im Dialog mit westlichen Trends. Hintergrund war der 1959 mit Chruščevs Reise in die USA und den wechselseitigen Leistungsschauen in New York und Moskau einsetzende Kulturaustausch. Die Rede vom „Einholen“ und „Überholen“ akzeptierte implizit die internationalen Standards der Bemessung. Der Ausdruck sovremennyj, zeitgemäß, wurde zum zentralen Kriterium für „guten Geschmack“ in der Gebrauchskunst, bei Möbeln und Einrichtungsgegenständen.43 Die amerikanische Ausstellung im Sokolniki-Park 1959 hinterließ einen starken Eindruck. In der Einbauküche des Musterhauses hatte Chruščev Nixon gegenüber verächtlich gemeint, die hier ausgestellten Geschirrspüler gebe es in der Sowjetunion schon längst. Damit entstand Zugzwang. An der Gestaltung der amerikanischen Ausstellung waren die Designer Charles und Ray Eames ganz wesentlich beteiligt. Ihr um dieselbe Zeit entstandener, berühmt gewordener lounge chair war eine Ikone des Kalten Krieges, Symbol des Wirtschaftswunders und des Wohlstandes. Chruščev war der Überzeugung, der „Kalte Krieg“ sei nicht mit Waffen, sondern durch einen überlegenen Lebensstil, durch sozialen Wohlstand zu gewinnen. Der Sputnik war die Ikone der neuen Zeit und stattete die Sowjetunion mit entsprechendem Selbstbewusstsein aus. Eine Innenaufnahme, ein Agenturfoto aus einer sowjetischen Musterwohnung, aufgenommen von A. Sergeev-Vasileev 1960, zeigt ein Wohnzimmer, „hergestellt in der Fabrik für bauliche Details”. In dem modern eingerichteten Raum steht ein Imitat des lounge chair, die Hausfrau dreht am Knopf eines Radios.44 Der Kosmos dominierte die Bildwelt, der Technikkult die gesellschaftlichen Diskurse: Um den „Westen“ im Bau der Atombombe und im Maisanbau zu überholen, erhielten die Wissenschaftler Freiheiten, die sie auch politisch zu nutzen versuchten. Die Wissenschaft und die Akademie der Wissenschaften wurden zum Raum für Gegenöffentlichkeit.45 Um 1960 lässt sich der visuelle Bruch in der bildlichen Darstellung von Räumen beobachten, in der Fotografie selbst, aber auch in der Gebrauchsgrafik, im total erneuerten, windschnittigen Auftritt der Zeitschrift „Architektura SSSR“ etwa, in der Dekoration der Schaufenster, im Design der Kleider, wenn man sich den Unterschied zwischen Gor’kijstrasse und Kalinin-Prospekt vergegenwärtigt. Es ist erstaunlich, dass die „visuelle Wende“ um 1960 sich vor allem auf der sichtbaren Ebene vollzog, während die propagierten gestalterischen Grundprinzipien von Funktionalität, Rationalität und Schönheit dieselben blieben. Als Kontinuität blieb der Einsatz des Inselkonzeptes der Heterotopien. Beispiele für Inseln des Sozialismus waren in den fünfziger Jahren das 1956–1957 errichtete „experimentelle Wohnviertel“ Novye Čeremuški Nr. 9, in den Sechzigern das „Dom Novogo Byta“ in Novye Čeremuški Nr. 10 und, vor allem, der 1964 begonnene und 1969 fertig gestellte Kalinin-Prospekt Höfe und Heterotopien als neue Magistrale im Zentrum. Die Teilhabe der Bevölkerung wurde zeichenhaft beschworen: Selbstbedienungsgeschäfte, Glasfassaden, die den Strassenraum ins Innere der Läden verlängerten, fröhliche Neonbeleuchtungen und poppige Unterhaltungskultur wie Šostakovičs Operette „Moskva, Čeremuški“, die den Kultstatus der Neubauwohnungen unterstrich. 42 Reid: Cold war in the kitchen; Walter L. Hixson: Parting the curtain. Propaganda, culture, and the cold war, 1945–1961. Basingstoke usw. 1997, S. xii. 43 Iurii Gerchuk: The Aesthetics of everyday Life in the Khrushchev Thaw in the USSR (1954–64), In: Style and Socialism. Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe. Hg. von Susan E. Reid und David Crowley. Oxford usw. 2000, S. 81–100, hier S. 87. Vgl. die Kapitel „Visuelle Kultur” und „Novye Čeremuški”. 44 CMADSN 1–871. 45 Vgl. hierzu das Kapitel „Lubjanka“.
Auch der neue „Look“ ließ sich exportieren, zumal sich in den Städten der neuen Bruderländer nach dem Zweiten Weltkrieg weite Trümmerfelder zur Neubebauung anboten: Warschau bekam die Marszalkowka, Berlin den Alexanderplatz und den Fernsehturm, Dresden mit der Prager Strasse eine futuristische Konsummeile. Wegen der Kriegsschäden in Dresden war sie schneller realisierbar und wurde bereits 1962 stolz fotografiert. Sie erinnerte stark an den erst gerade begonnenen Kalinin-Prospekt in Moskau.46 Die sowjetischen Kosmos-Helden Valentina Tereškova und Iurij Gagarin besuchten die Bruderländer. 47 Diese Inseln schwammen im Strom der großen Erzählung von Revolution und Sozialismus, der sich aus sozrealistischen Epen, Filmen, monumentaler Malerei und Generalplänen für die Städte zusammenfügte. Die Diskurse hießen „den Sozialismus aufbauen”, „Marsch in die lichte Zukunft“, „Ankunft im Überfluss”. Aus den Bauten sollte der „Atem des Sozialismus” wehen. Im „Kalten Krieg“ wurde daraus der Diskurs des „Einholens“ und „Überholens“, der eigenen technischen und damit gesellschaftlichen Überlegenheit. Der Kommunismus erschien als Synthese perfekter Welten im Kleinen. Die Abkehr vom Internationalismus und der Weltrevolution, formuliert in Stalins Losung vom „Kommunismus in einem Land” wurde schließlich als „Kommunismus an einigen Orten” umgesetzt. Die Inseln dienten an bestimmten Tagen des sowjetischen Kalenders Ritualen, Festen und Paraden. Die großen Paraden fanden anlässlich der Jahrestage der Revolution, am 1. Mai sowie an bestimmten Anlässen wie etwa Jahrestagen statt. Sie bildeten in ihrer choreografischen Anordnung der Körper von Sportlern, Soldaten, Vertretern von Gewerkschaften, Komsomol und Parteiorganisationen sowie den Mächtigen auf dem Dach des Mausoleums auf dem Roten Platz Machträume. Das Fest war wie das Bild eine Inszenierung in der Inszenierung, eine doppelte Heterotopie. Dazwischen aber war Alltag, und da entstanden weitere Räume durch andere Anordnungen von Menschen, Dingen und Handlungen: Prostitution, Bummelei, Nachtleben. In der Nachkriegszeit kam es zu einem Bruch in der Wahrnehmung und Erfahrung von Freizeit und Nachtleben zwischen den Generationen. Besonders in der Stalinzeit bemühten sich die Herrschenden, mit den Inseln die Illusion eines ganzheitlichen Raumes des perfekten Kommunismus zu erzeugen, ein holistisches „Ganzes“, das die Zwischenräume ausblenden sollte. Das funktionierte nur durch eine diskursiv erzeugte, angelernte Syntheseleistung: Die Menschen sollten die perfekten Orte von ihrem physischen Standort lösen und zu einem perfekten Raum verknüpfen, den sie dann entsprechend dem Alltagswissen um einen einheitlichen Raum als ganzheitlich wahrnähmen. Wie dies zu geschehen hätte, sagte ihnen die Inszenierung der Orte in Bildern, vor allem auch in Filmen. Gerade die Filme der dreißiger Jahre konstruierten ein virtuelles Moskau, das die Syntheseleistung vorführte. So wurde nach dem Bau des Moskva-Volga-Kanals Moskau zum „Hafen der fünf Meere” stilisiert und erschien im Film „Volga-Volga” als Venedig des Nordens. Die Sprengungen des Strastnoi-Klosters auf dem Puškinplatz, der Christus-Erlöser-Kathedrale und des Sucharev-Turmes waren in den Film „Das neue Moskau” von Alexander Medvedkin 1939 hineinmontiert: Die alten Gebäude verschwinden und werden im Film über Nacht durch Neue ersetzt.48 Abbruch und 46 Zurzeit läuft eine intensive Debatte um die Zukunft dieses architektonischen Erbes in Dresden. Die Bauwelt widmete dem Thema gar ein eigenes Heft: Bauwelt 11 (2003). 47 Gerhard Kowalski: Der „Rote Kolumbus”. Juri Gagarin, der sowjetische Kosmosheld. In: Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Hg. von Silke Satjukow und Rainer Gries. Berlin 2002, S. 71–83; Monika Gibas: „Venus vom Sternenstädtchen”. Walentina Tereschkowa, Heldin der Moderne in der DDR. In: Sozialistische Helden, S. 147–157. 48 Vgl. hierzu Oksana Bulgakowa: Film-Phantasien im Wettbewerb. In: Berlin-Moskau, 1900–1950, S. 361–365, hier S. 362–363.
297
Aufbau verschmelzen. Wie zerklüftet sich die Stadt im Alltag auch präsentierte, wie gewaltsam und feindlich die Welt tagtäglich erfahren wurde – im Film und in der Propaganda wurde sie als „ganz” und „heil” dargestellt. Diese Tradition wurde später von den Neubauvierteln weitergeführt. Deren Masse und Uniformität waren durchaus positiv besetzte Eigenschaften. Sie stellten Erfahrungsgemeinschaft und scheinbare „Gleichheit“ zwischen großen Teilen der Bevölkerung her und erweckten darüber hinaus den Eindruck eines einheitlichen, sowjetischen Raumes. Eine Analyse muss diese „ganzheitliche Logik” von Orten und Bildern bewusst durchbrechen. Die scheinbar perfekten Welten waren als das „Andere“ nur ein Teil der tatsächlichen Lebenswelten und müssen als Verweis auf diese gelesen werden. Die Errichtung eines Netzes von solchen Orten erscheint jedoch ebenso wie die Tilgung anderer Orte vom Stadtplan eine planvolle raumpolitische Strategie gewesen zu sein und kein Zufall. Offenbar sollte das Riesenreich samt seinen „Satelliten“ durch diese Orte symbolisch zusammengehalten werden. Die Rolle des „Umklammerns“ kam in gewisser Beziehung später den Wohnbauten in industrieller Massenbauweise zu, die sich als Gürtel um die Städte der Sowjetunion und der sozialistischen Länder zu legen begannen. Die immer gleichen, anonymen Wohnsiedlungen wurden zum Kennzeichen sowjetischer Städte in den siebziger und achtziger Jahren. Wie zuvor die kommunal’ka in der Literatur als Abbild der sowjetischen Gesellschaft im Kleinen verhandelt worden war, geriet die Auswechselbarkeit der Wohnviertel und Städte zur Metapher. Eindrücklich belegt dies der ebenso bekannte wie beliebte Film „Ironija sud’by“ (Ironie des Schicksals) von Ėl’dar Rjazanov aus dem Jahr 1975. Dass die Auswechselbarkeit der Wohnviertel Thema ist, wird darin bereits im Vorspann deutlich: Eine Zeichentricksequenz parodiert die Abkehr vom Ornament und die Gleichschaltung aller Bauten zu „Schachteln“. Im Film bemerkt der Protagonist nach einer vodkaseligen Party nicht, dass er sich in einer anderen Stadt befindet: Die Strasse heißt gleich, die Häuser sehen gleich aus, der Schlüssel passt in die Wohnungstür, sogar die Wohnung sieht gleich aus. Erst, als die eigentliche Besitzerin der Wohnung heimkommt, merkt er, dass etwas nicht stimmt. Insofern bildeten die Wohnsiedlungen ein dezentralisierendes Netzwerk der Sowjetisierung und des Egalitarismus. Ähnlich wie bei der Stromversorgung handelte es sich um ein umfassendes Versorgungssystem des Staates für die Bevölkerung. Es ist eine spannende Frage, inwiefern diese Vereinheitlichung der Vielfalt eine „sowjetisierende“ Herrschaftsstrategie darstellte. Analysiert man jedoch die Inneneinrichtungen, wird deutlich, dass in den gleichen Grundrissen und mit den begrenzten Möbelsortimenten trotz aller Versuche der Sozialdisziplinierung völlig unterschiedliche Lebensstile gelebt werden konnten. Der Unterschied bestand in der Auswahl und Anordnung der Elemente, der Gegenstände, mit denen sich die BeHöfe und Heterotopien wohner umgaben.49 Auf die Wirkung der Heterotopien in den individuellen Lebenswelten wird im folgenden Kapitel näher eingegangen.
49 Vgl. die Innenaufnahmen von vier im Grundriss identischen, von ihren Bewohnern völlig unterschiedlich eingerichteten Wohnzimmern in einem Genossenschaftshaus im Moskauer Südwesten in Leo Gruliow: Moskau. Mit Photos von Pete Turner und Dick Rowan. Amsterdam 1977 (Time-Life: Die grossen Städte), S. 46–47.
299
Räume, Bilder, Lebenswelten
Lebenswelten als Schnittstellen der Kommunikation zwischen Individuum, Gesellschaft und Parteistaat Die eingangs gestellte Frage galt der Art und Funktion von Machtinszenierungen, spezifischen sowjetischen Formen von Öffentlichkeit und den Schnittstellen der Kommunikation zwischen Individuum, Gesellschaft und Parteistaat. Als wichtige Instrumente der Analyse dienten die Kategorie „Raum“, bildhistorische Ansätze sowie das Konzept der „Lebenswelten“, das den Menschen in seinen Verhältnissen und Interaktionen untersucht. Die Fallstudien über fünf Moskauer Orte haben eine Fülle von Details zutage befördert. Angesichts der Vielzahl von Einzelinformationen zeigt sich die Komplexität der Thematik. Es ist nicht möglich, kurz und bündig Ergebnisse zu formulieren. Aber komplexe Fragen verlangen auch keine einfachen Antworten. Um die Vielfalt der Details aus den Fallstudien zu ordnen, bietet es sich an, die Analysekategorien „Räume“, „Bilder“ und „Lebenswelten“ zu verwenden.
Räume Die Kategorie „Raum“ führt auf verschiedenen Ebenen zu neuen Erkenntnissen: Einmal auf der Ebene der historisch-anthropologischen Untersuchung der „Produktion“ von Räumen und Raumvorstellungen. Ferner auf der Ebene der analytischen Kategorie „Raum“ als universale Kategorie bei der Untersuchung historischer Fragestellungen. Die Botschaften im öffentlichen Raum unmittelbar nach der Revolution waren, einmal abgesehen von der „Monumentalpropaganda“ genannten Errichtung neuer Denkmäler, wenig systematisch. Die Tverskaja blieb in ihrem Charakter in den zwanziger Jahren zunächst unverändert. Für größere städtebauliche Eingriffe fehlten noch Konzepte und Strukturen, es war die Zeit der Debatten und Pläne. Vor allem das Nachtleben der Tverskaja beeindruckte auswärtige Besucher, aber auch der ländliche Charakter der Höfe mitten im Stadtzentrum. Diese Situation unterschied sich bereits erheblich von den Jahren unmittelbar nach der Revolution zwischen 1917 und 1920. Damals waren die Geschäfte geschlossen und die Schaufenster leer. Die leeren Schaufenster inspirierten allerdings die Künstler der Avantgarde zu den ROSTA-Fenstern, in deren künstlerischer Gestaltung sich Information und Propaganda vereinten. Doch Hunger, Krankheit und Tod waren allgegenwärtig. Nachts waren die Strassen besonders gefährlich: Die neuen Machthaber verfügten noch nicht über ein Gewaltmonopol. Parteimitglieder trugen bis in die dreißiger Jahre regelmäßig eine Waffe. Die Schilderungen Fedor Stepuns und Marina Cvetaevas über ihre nächtlichen Wege zwischen Arbat und Tverskaja erzählen von der ständigen Angst, überfallen zu werden. Die Raumerfahrungen der Menschen wurden durch die Revolution umgewertet. Sie mussten sich neue Räume konstituieren: Die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse brachten neue Raum-Anordnungen mit sich und die Notwendigkeit für die Menschen, sich die eigenen Räume neu zu erschaffen. Das waren Aushandlungsprozesse. Die Wege im eigenen Wohnviertel etwa folgten neuen Notwendigkeiten wie der Nahrungsbeschaffung. Die Wohnverhältnisse in den Gemeinschaftswohnungen bewirkten neuartige Nachbarschaftserfahrungen und schufen neue soziale Netzwerke. Die Märkte der zwanziger Jahre waren Kontaktzonen der neuen Hauptstadt, komplexe Räume verdichteter Kommunikation: zwischen Städtern und Bauern, „Ehemaligen“ und Angehörigen aller sozialen Schichten, die sich hier auch selbst neu erfuhren, zwischen der neuen Obrigkeit und den Bedürfnissen der Bevölkerung. Die Regulierungs- und Kontrollversuche, die Raz-
301
zien und das Rollenspiel von Händlerinnen und Milizionären zeigen den Verhandlungscharakter dieser Kommunikation. Die Machtverhältnisse ließen noch Spielräume offen. Dazu gehörten die Freiräume für Angehörige von Randgruppen wie Diebe, Kinder oder Händlerinnen ohne Lizenz. Die Märkte waren wichtige Schnittstellen der Kommunikation zwischen Individuum, Gesellschaft und Parteistaat. In der Zeit nach der Revolution und in den zwanziger Jahren waren die öffentlichen „Räume“ noch nicht in Repräsentationsräume und andere Räume, in Räume „von oben“ und „von unten“ polarisiert. Räume entwickelten sich aber immer deutlicher zu Trägern von Botschaften, sie wurden systematisch geplant und gestaltet und zum Gegenstand von Debatten. Raumpolitische Maßnahmen wurden auf verschiedene Weise eingesetzt: Das Konzept des „verinselten Sozialismus“ funktionierte wegen seiner Referenz auf populäre Raumvorstellungen und Raumbilder. Das „Wissen um Raum“ nahm einen homogenen Raum an. Darüber hinaus funktioniert das menschliche Gehirn so, dass es selektiv wahrgenommene Einzelteile „automatisch“ zu einem harmonischen Ganzen synthetisiert. Dabei werden Prozesse der Zuordnung zu vorhandenem, angelerntem, gespeicherten Wissen wirksam. Die synthetischen Räume repräsentierten die Ästhetik der Macht und boten Teilhabe und Identifikation. Das Konzept lässt sich heute noch in den Anordnungen der dreißiger und sechziger Jahre ablesen. Eine Interpretation der sozrealistischen Repräsentationen als „Gesamtkunstwerk“ oder die Nachkonstruktion eines sozrealistischen konzentrischen Raumkonzeptes laufen allerdings Gefahr, der Logik des untersuchten Gegenstandes zu folgen, anstatt sie zu durchbrechen und zu hinterfragen. Sie beleuchten zudem nur die konzeptionelle und normative Seite und fragen nicht nach der Wahrnehmung. Am Beispiel der Tverskaja zeigte sich, dass die Polarisierung parallel zur Entwicklung des Paraderegimes zu Beginn der dreißiger Jahre erfolgte. Während in den zwanziger Jahren Künstlergruppen die Häuserfassaden mit Girlanden schmückten und die Bretterzäune der Baulücken in bunten Farben bemalten, waren die Festumzüge spontane Manifestationen der Beteiligten. In den dreißiger Jahren herrschte noch ein grosser Aufbau-Enthusiasmus, vor allem unter der durch die Großprojekte des Ersten Fünfjahrplans und des Metrobaus mobilisierten städtischen Jugend. Bereits während des Ersten Fünfjahrplans wurde jedoch die Organisation der Umzüge und Paraden straffer. In der Wahrnehmung der Zeitzeugen fiel die schlussendlich rigide Gestaltung der Festtagsfeierlichkeiten aber erst mit dem neuen Erscheinungsbild der wichtigsten Zeremonialachse zusammen. Auch die neue Bezeichnung Gor’kijstrasse setzte sich erst nach dem Umbau durch. In den Ereignissen und räumlichen Anordnungen des Terror- und Jubiläums-Jahres 1937 wurden die neuen räumlichen Anordnungen in ihrer Polarisierung am deutlichsten greifbar. Das Beispiel von Novye Čeremuški zeigt im Kontext des industriellen Massenwohnungsbaus und des „Grossen Umzugs“ zwischen 1955 und 1970, dass die Mächtigen „Raum“ als Privileg und Herrschaft stabilisierendes Instrument „verteilten“, zugleich Anspruch auf Kontrolle der individuellen Räume über Einrichtungsrichtlinien und Mitarbeiterinnen sozialer Räume, Bilder, Lebenswelten Institutionen sowie „Kollektive“ geltend machten, und auf mehreren Ebenen Teilhabe anboten. Das machte die Wohnbaukampagne Vgl. die Diskussion der Wahrnehmungs- und Schematheorien im einleitenden Methodenkapitel. Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin : die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. Aus dem Russ. von Gabriele Leupold. München usw. 1988; Tyrannei des Schönen : Architektur der Stalin-Zeit. Hg. von Peter Noever. Mit Beitr. von Boris Groys u.a. Übers. aus dem Russ.: Annelore Nitschke. München usw. 1994; Traumfabrik Kommunismus: Die visuelle Kultur der Stalinzeit / Dream Factory Communism: The Visual Culture of the Stalin Era. Hg. von Boris Groys. Ostfildern-Ruit 2003. Vladimir Papernyj: Kul‘tura Dva. Moskau 1996; Vladimir Paperny: Moscow in the 1930s and the Emergence of a New City. In: The Culture of the Stalin Period. Hg. von Hans Günther. London 1990, S. 229–239.
auch zum Instrument der Mobilisierung und der Kommunikation. Die Einflussnahme betraf das Konsumverhalten, den häuslichen Lebensstil und die Reglementierung des Lebens. Das rationale Wohnen in „zeitgemäßen“, das hieß funktionalen, einfachen Möbeln sollte den Hang zur Gemütlichkeit bremsen und einen „modernen“ sowjetischen Lebensstil fördern. Verstärkt wurde der kollektive Anspruch der Neubauwohnungen durch die Anbindung an das revolutionäre Narrativ der sozialistischen Utopie: Kollektives Leben im „Mikrorayon“ und im „Haus Neuen Lebens“. Das „Haus Neuen Lebens“ bildete eine Gegeninitiative zur spießbürgerlichen Familienwohnung, richtete sich aber vor allem gegen die Tendenzen zur Nischenbildung. Im Kommunhehaus wie in der stolovaja des „Mikrorayons“ sollte wie zuvor in der kommunal’ka horizontale Kontrolle möglich werden. Trotz aller Reglementierungsversuche boten die Familienwohnungen, aber auch die Grünzonen in den Vierteln, Freiräume zur Vervielfältigung der Lebensstile. Die massenhafte Dimension der Neubauviertel in den sechziger Jahren ermöglichte einerseits den Rückzug, die geschützte Interaktion unter Gleichgesinnten und die Darstellung des sozialen Status oder der Gruppenzugehörigkeit durch die Einrichtung und bestimmte Bilder und Gegenstände in der eigenen Wohnung. Andererseits war die Wohnbaukampagne durch die Prioritäten der Funktionalität, der Rationalisierung und des Egalitarismus ebenso ein Instrument der Sowjetisierung, wie dies bereits für die kommunal’ka festgestellt wurde. Die Neubauviertel wurden Teil eines imperialen sowjetischen Raums. Darin ergänzten sie die Heterotopien wie das Neue Moskau, die Kulturparks, Pionierlager und Sanatorien. Zu unterscheiden sind also einerseits Heterotopien, die abgeschlossen waren und außerhalb des Alltags lagen, andererseits die landesweiten Versorgungssysteme und Infrastrukturbauten. Zu letzteren gehörten die Neubauwohnungen ebenso wie die Kanäle, Wasserkraftwerke und Leitungssysteme. Als umfassendes staatliches „Versorgungssystem“ umlagerten die neuen Wohnviertel die Städte, schluckten die Menschen und legitimierten die Herrschaft des Parteistaates. Im Fall der „Gärten des Sozialismus“ wurde die Fragmentierung des Raums, medial vermittelt durch Bilder, zur Konstruktion eines „anderen”, ganzheitlichen Raumes durch ein Netz von symbolischen Orten eingesetzt. Die vorliegende Studie zeigt auf, dass der Gegensatz von Zentrum und Provinz durchaus eine Rolle spielte. Es gab jedoch netzwerkartige Beziehungen zwischen Orten wie dem Moskauer Palast der Pioniere, dem Musterlager Artek und anderen Pionierlagern, zwischen der VSChV und den Musterkolchosen. Sie alle spielten in der Propaganda und im Bild eine wichtige Rolle. Alle diese Orte und Systeme bildeten Netze, die das Land zusammenhielten, indem sie seine Vielfalt verwalteten und es als „sowjetisch“ markierten. Neben der Repräsentation eines einheitlichen Raumes diente Fragmentierung des Raums als Herrschaftstechnik des Teilens und Herrschens: Freiräume wie die Freundesrunden um die „Küchentische“ in den Neubauvierteln konnten nur beherrscht werden, indem die Kommunikationsschranken zwischen ihnen bestehen blieben. Hätten sich Freundeskreise zu Netzwerken verbunden, wären bedrohliche Gegenöffentlichkeiten oder die Entstehung „sozialer Bewegungen“ zu fürchten gewesen. Lyrik und Kunst vermochten diese Kontrolle nur scheinbar zu umgehen. Man sang zwar dieselben Lieder und las dieselben Texte, aber eine Öffentlichkeit jenseits der Publika von Dichterlesungen konnte nicht entstehen. Dafür gab es keine legalen Foren und zuviel Angst Zur Sowjetisierung in der kommunal’ka vgl. V. Semenova: Ravenstvo v niščete. Simvoličeskaja značenie „kommunalok”. In: Sudby ljudej. Rossija XX. vek. Biografii semej kak obekt sociologičeskogo issledovanija. Moskau 1996; Ekaterina Gerasimova: Sovetskaja kommunal’naja kvartira kak social’nyj institut. Istoriko-sociologičeskij analis, Petrograd-Leningrad 1917–1991. Diss., St. Petersburg 2000; Julia Obertreis: Tränen des Sozialismus : Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917–1937. Köln 2004. Philipp Pott: Moskauer Kommunalwohnungen von 1917 bis 1997: Materielle Kultur, Erfahrung, Erinnerung. Unveröff. Diss. Universität Basel 2005.
303
vor Repressionen, die die Machthaber an exemplarischen Fällen demonstrierten. Die „Nischenkultur“ der sechziger Jahre funktionierte deshalb aus dem Zusammenspiel von Widerstand, Eigensinn und Kooperation mit einer Machtpolitik der räumlichen Fragmentierung, punktueller Bestrafung und der Kontrolle der Kommunikationsmedien. Es gelang, die Protagonisten auszuschalten oder zu integrieren. Für viele wurde – dem offiziellen Diskurs folgend? – ihre Jugend rückblickend zu einer harmlosen Phase der Schwärmerei, die mit dem Eintritt ins Berufs- und Familienleben endete. Interessant ist das Spannungsverhältnis zwischen den zentralen, zur Stalinzeit auch sakralen Orten und den Zwischenräumen, den weißen Flecken der Macht, den Treppenhäusern und Grünzonen, den Höfen und Gassen, die Spannung unterschiedlicher Raumwidmungen an Festtag und Alltag. War den Machthabern bewusst, dass es solche Zwischenräume geben musste, als „Ventile“ für Eigensinn und individuelle Handlungsräume? So stellt sich die Frage nach dem Grad der Durchdachtheit des gesamträumlichen Konzeptes, zu dem auch die Räume ausserhalb der Inseln gehören mussten. War das ganze System Ergebnis eines genialen Plans oder vielmehr ein Zusammenspiel von Planung, Zufall, spontanen Eingebungen und Chaos? Oder die Folge von Aktion und Reaktion, unkontrollierten Entwicklungen, Flucht nach vorn und punktuell auch Aushandlungsprozessen? Alle diese Faktoren waren an den komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen beteiligt. Bilder Das Bild spielte bei der Kommunikation über Musterorte der Repräsentation eine wichtige Rolle. Das Beispiel der Gor’kijstrasse zeigt, wie in den dreißiger Jahren Räume in Bildern öffentlich wurden und breite Wirkung erzielten. Sie schufen neue Vorstellungen, „innere Bilder“, indem sie etwa den Begriff von „Stadt“ umprägten. Die „Machtförmigkeit“ der kulturellen Isolierung und Präparierung von Gesehenem zum Bild wurde augenfällig. Dies gilt insbesondere für die Kontrolle des Blicks und der Sichtbarkeit in Verbindung mit der angestrebten räumlichen Synthese. Deren Ziel war die Herstellung eines „kommunistischen Raums“ im Bild der Gor’kijstrasse, das sich mit den Bildern anderer Heterotopien verband: zum Neuen Moskau und zum Raum der Ankunft im Kommunismus. Symbolisch verschob sich die Öffentlichkeit weg von der Strasse, dem städtischen Platz, ins Bild. „Bilder“ waren auch die perfekten Ordnungen der Körper an den Paraden, die Ornamentik der Fassaden, die Propaganda in Zeitschriften wie „UdSSR im Bau“. Dabei wurde zwischen Wirklichkeit und deren Abbild nicht unterschieden. Die Orte selbst waren ein „Abbild der künftigen Wirklichkeit“, der kommunistischen Utopie. Die Verschiebung ins Bild fand nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit statt. Die offiziellen bildlichen Repräsentationen und die Regeln der institutionellen Räume, Bilder, Lebenswelten Bildproduktion entwickelten sich in den späten fünfziger Jahren parallel zu den sich wandelnden Kommunikationsmustern zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat, auf die sie Rückschlüsse zulassen. Neue Stilisierungen, ja „Ikonen“ wie der Sputnik kamen auf. Die Bilder wurden dynamischer, spontaner, sie bezogen sich auf die Realität und unterschieden zwischen Abbild und Wirklichkeit. Das wurde etwa in
Nina Nikolaevna Cvetaeva: Biografičeskie narrativy sovetskoj epochy. In Sociologičeskij Žurnal (2000) Nr. 1–2, S. 150– 163. Manfred Fassler: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit. Wien usw. 2002, S. 27.
den Fotoreportagen von Naum Granovskij über die Gor’kijstrasse deutlich sowie in den neonbeleuchteten Nachtaufnahmen der Gor’kijstrasse, die in den Jahren 1961 und 1962 entstanden. Im Gegensatz zu den in der Retusche erstarrten Darstellungen der Stalinzeit sind hier Alltagsszenen mit Menschen zu sehen. Die Bilder als Botschaften konkurrierten mit Bildern in den Köpfen, etwa Bildern vom „Westen“, aber auch mit konkreten Bildern im „Kalten Krieg der Bilder“: Der Kalinin-Prospekt wetteiferte mit dem Times Square. Sein Repräsentationscharakter knüpfte zugleich an die „Herrschaftstechniken der Sichtbarkeit und Bildlichkeit“ der dreißiger Jahre an, mit denen neue Bilder von Stadt geschaffen wurden. Diese Bilder beschränkten sich nun nicht mehr allein auf das Zentrum und die Repräsentationsbauten. Auch die Wohnviertel am Stadtrand wurden Teil des Bildes von Stadt, von Aufbau und Fortschritt. Mit den Aufnahmen der Familien in den neuen Wohnungen führten die Fotografen die Tradition der Bildreportage weiter. In den sechziger Jahren drangen Bilder an die Oberfläche, die Raumkonstitutionen von unten bedeuteten, so die Gemälde von den Höfen als Räumen autonomen sozialen Lebens jenseits des Kollektivs. In den Bildern von Räumen, von der Prachtstrasse ebenso wie von den Höfen, manifestierten sich Schnittstellen der Kommunikation zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat, und zeigen sich Kommunikationsschranken: Der Aushandlungsprozess betraf den Grad der Öffentlichkeit, den solche Gegenräume erreichen konnten. Nicht zufällig blieben die Bilder der Höfe, die in dieser Studie vorgestellt wurden, im Besitz der Künstler. Der Zugang über visuelle Konstruktionen des Sozialen erlaubt den Blick durch die Regeln der Bildproduktion auch auf die Regeln der Raumproduktion. Darüber hinaus geben Bilder von Räumen häufig Aufschluss über deren „Besetzung“, über Zuschreibungen von Räumen und Bedeutungen. Diese Besetzungen sind bei den untersuchten „institutionellen“ Fotografien aus Archiven und Publikationen die „offiziellen“ Besetzungen und Zuschreibungen: Gegenläufige Raumproduktionen wie diejenigen der stiljagi oder auch der Dichter sind in der offiziellen Fotografie praktisch nicht vertreten. Eine komplementäre Untersuchung von Amateurfotografien könnte hier neue Sichtweisen eröffnen.
Lebenswelten „Raum“ wurde – schematisch vereinfacht – auf drei Ebenen wirksam: • Auf der individuellen Ebene, bei der Gestaltung, Wahrnehmung oder Veränderung individueller Räume. • Auf der strukturellen Ebene, wo es etwa um den durch die Revolution eingeleiteten, tief greifenden Wandel von Normen und Regeln der Raumproduktion, von institutionalisierten Räumen, von räumlichen Verhältnissen überhaupt ging. • Auf der symbolischen Ebene der Bilder von Raum, der Raumvorstellungen und der metaphorischen Räume, der Topoi und der Vorstellungen beispielsweise von „Stadt“ oder „Öffentlichkeit“. In den Lebenswelten der Menschen trafen diese Ebenen zusammen. Räume, von unten wie von oben, konstituierten sich aus der Wahrnehmung der Menschen, aber weniger strukturiert. Es sind diffuse, einander überlappende Bereiche. Die genannten drei Ebenen waren Teil der Räume, Als wichtige Quelle ist an dieser Stelle die Amateurfotografie zu nennen, die Gegenstand einer Folgestudie sein wird.
305
die sich die Menschen fortlaufend durch handelndes Anordnen und synthetisierende Wahrnehmung schufen. Die Lebenswelten waren die Schnittstellen der Kommunikation zwischen den Räumen unterschiedlicher Urheberschaft und Reichweite. Lebenswelten lassen sich als Raumgefüge beschreiben. Die jeweiligen Erfahrungsräume beeinflussten die Möglichkeiten und Grenzen der Raumkonstitution von Einzelnen oder Gruppen. Diese Prozesse räumlicher Anordnungen und Deutungen waren über die Erfahrungsräume hinaus durch individuelle und kollektive oder kulturelle Muster ebenso geprägt wie von „Eigensinn“ und spontanen Praktiken des Alltags. Sie waren einem ständigen Wandel unterworfen, der auch von äußeren Ereignissen angestoßen wurde. Die Revolution zwang die Menschen, sich ihre Räume im Alltag neu anzuordnen, die Stadt neu zu vermessen bei der Beschaffung des Lebensnotwendigen, beim Knüpfen neuer sozialer Netzwerke und beim Einüben neuer Rollen in Familie und Arbeitswelt. Dieses Ereignis betraf die Regeln und Muster der Raumkonstitution. Die Machthaber definierten neue soziale „Kollektive“ und neue, gewidmete Orte, etwa öffentliche oder zeremoniale Räume, neue Behörden, neue Wohnverhältnisse durch Enteignung und Einquartierung. Die Menschen folgten teilweise den vorgegebenen Regeln der für sie ungewohnten neuen Anordnungen, schufen sich neue Muster der Raumkonstitution und durchbrachen manchmal die Regeln. Das konnte als kommunikativer, gerichteter Akt im Sinn einer Botschaft geschehen oder als Versuch gesellschaftlicher Gruppierungen, sich eigene, parallele Regelsysteme zu erschaffen. Manche blieben so weit als möglich bei vertrauten Formen und Regeln räumlicher Anordnungen. Die Spielräume unterschieden sich je nach der Nähe zur Macht, Stadt oder Land. In den zwanziger Jahren versuchten vor allem Künstler, für die neuen Inhalte auch neue räumliche Anordnungen zu erfinden. Die Vielfalt räumlicher Muster zeigten die Fallstudien an den Beispielen der vorrevolutionären intelligencija, der revolutionären künstlerischen Avantgarde der zwanziger Jahre, der Lyriker und Barden der sechziger Jahre, der Wissenschaftler oder der stiljagi. Die Erlebnisberichte aus dem Arbatviertel, der Tverskaja und vom Sucharev-Markt zeigen, dass die Märkte und die öffentlichen Plätze zentrale Orte waren, an denen die Prozesse neuer Raumproduktionen in sozialen Interaktionen sichtbar wurden. Die gespenstische Szenerie auf den Strassen, die Transporte der Toten, der Müll, die geschlossenen Läden, die veränderten Wohnräume und Arbeitsorte, die Gewalthaften Verhältnisse und der Hunger entwerteten angesammelte Wissensvorräte schlagartig und raubten einigen den „Verstand“: Cvetaevas alte Lehrerin konnte ihre Wahrnehmungen nicht mehr einordnen. Die Beziehungen zwischen Stadt und Land durchziehen die Fallstudien wie ein roter Faden. Die stadtplanerischen Versuche, den Gegensatz aufzulösen, wurden in den dreißiger Jahren von der kompakten, repräsentativen Stadt abgelöst. Die Märkte waren Orte des Landes in der Stadt, Orte des individuellen Austausches, der lebensweltlichen Interaktion und auch der staatlichen Kontrolle. Das Land spielte ferner eine Rolle in den Lebenswelten der Menschen, Räume, Bilder, Lebenswelten weil sie mehrheitlich aus dem Dorf in die Stadt zugewandert waren, aber den Kontakt zu ihren Heimatdörfern aufrecht erhielten und dörfliche Kommunikations-, Denk- und Handlungsweisen beibehielten. Die Bedeutung des Grüns in der Stadt, die Höfe mit ihrem dörflichen Charakter, die Parks und auch die Grüngürtel mit Wäldern und dačas um Moskau waren ein weiterer ländlicher Zug der Stadt. Die geschlechtergeschichtliche Perspektive ermöglicht noch eine Lesart. In der sowjetischen Tradition war der Gegensatz von Stadt und Land eng mit Zuweisungen von Geschlechterrollen verknüpft, mit männlicher und weiblicher Besetzung von Hammer und Sichel, mit Arbeiter und Bäuerin. Der reinste Ausdruck dafür war die Skulptur von Vera Muchina für die Weltausstellung in Paris 1939, die
später vor der Allunions-Landwirtschaftsausstellung aufgestellt wurde. Der Mann ist etwas größer als die Frau und ihr einen halben Schritt voraus. Die Industrialisierung, symbolisiert durch den Hammer und den Arbeiter, war positiv besetzt, mit Kraft und Fortschritt, das Land blieb „rückständig“. Die Erde selbst und die Landschaft waren weiblich konnotiert, sie galten symbolisch als formbar, als zu unterwerfen. Der Raum „Landschaft“ wurde als weiblich gedacht. Sie diente der Stadt als Erholungsraum, aber nicht nur als das: In den großformatigen Bildbänden, welche alle zehn Jahre die architektonischen Errungenschaften der Sowjetunion präsentierten, erschien die Landwirtschaft analog zu den Wasserkraftwerken: als Versorgungssystem. Die sowjetische Kultur definierte sich als urbane Kultur und bot den Städtern die Teilhabe an der Herrschaft über das Land. Ein anderes, ebenfalls geschlechtertheoretisch deutbares Beispiel für die Komplexität der Beziehungen von Räumen und Lebenswelten waren die Wächter an der Arbatstrasse: Hier überlagerte ein Raum von oben, der männlich besetzte Raum der Macht mit seiner Wachpräsenz und den strengen Vorschriften für die Anwohner entlang Stalins Arbeitsweg, die lebensweltlichen Räume im Arbatviertel, bis das weiblich konnotiert Trocknen der Wäsche als Ausdruck von Intimität angesichts des Öffentlichkeitsgrades, den die Wächter in den Toreinfahrten repräsentierten, zum Problem wurde. Ähnlich intensiv zeigte sich die lebensweltliche Dimension der Verhältnisse in der Gegenüberstellung des Romans „Kommunalka“ von Boris Jampol’skij mit den aufkommenden jugendlichen Gegenkulturen an der Tverskaja. Hier zeigten sich unterschiedliche lebensweltliche und erfahrungsbedingte Raumkonstitutionen an identischen Orten zur selben Zeit. Im lebensweltlichen Bereich liegt die spannende Frage nach der Funktionsweise der „Inseln des Sozialismus“ im Alltagsleben der Menschen. Die Heterotopien blieben Teil eines komplexen Alltags. Für Manche spielten sie auch in den Lebenswelten als übergreifendes Konzept eine Rolle: Ein Besuch der Allunions-Landwirtschaftsausstellung in Moskau hinterließ den Eindruck der Allmacht eines herrlichen Staates. Die einen Heterotopien erhielten den Glauben aufrecht, andere schreckten ab: Identifikation mit der Ästhetik der Macht einerseits, die Angst vor dem Lager andererseits. Warum funktionierte dieses Prinzip in dem Riesenreich zwischen Minsk und Vladivostok? Die Identifikation mit und die Ehrfurcht vor der Macht wurden bereits genannt. Doch wie war die Wahrnehmung der Einzelnen? Hier kommt der starke Gegensatz zwischen zentralen und peripheren Orten zum Zug. Beispiele aus den Jahren des Terrors zeigen, dass es für gefährdete Menschen die Möglichkeit gab, aus Moskau wegzugehen und sich etwa in der zentralasiatischen Steppe ein Auskommen zu suchen. Doch die Anziehungskraft des Zentrums Moskau war offenbar so groß, dass nur wenige von dieser Möglichkeit der Flucht an die Peripherie Gebrauch machten. Dies lässt Rückschlüsse auf die Wirksamkeit sowjetischer Raum-bezogener Propaganda zu. Es scheint einerseits, als hätte die obrigkeitliche Steuerung der Raumvorstellungen die individuellen Handlungsspielräume stark beschnitten. Dabei wirkte sicher auch die Einbindung der Einzelnen in Kollektive und die Verteufelung individuellen Handelns lähmend. Aber auch die allgemeinen Verhältnisse spielten eine Rolle. Für die Angehörigen der alten Eliten, die nicht emigriert waren, bedeutete Moskau Heimat. Für andere, vor allem junge Menschen, barg das „Neue Moskau“ als zentraler Ort, an dem an
Dies drückte sich insbesondere auch in der Malerei der Chruščev-Zeit aus: Susan E. Reid: Masters of the Earth: Gender and Destalinization in Soviet Reformist Painting of the Khrushchev Thaw. In: Gender & History 11 (1999) Nr. 2, S. 276– 312, hier 302–305. Vgl. Jelena Bonner: Mütter und Töchter. Erinnerungen an meine Jugend 1923 bis 1945. München usw. 1992, S. 324 und 332.
307
der Zukunft gebaut wurde, eine große Faszination. Die sowjetische Kultur des Zentralismus schuf innert weniger Jahre räumliche Hierarchien. Ein Leben ausserhalb der „zivilisatorischen Zentren“ schien vielen schlicht nicht vorstellbar.10 Das Konzept der Inseln des Sozialismus scheint demnach als Reduktion eines unregierbar großen Landes auf einige kontrollierbare Orte gewirkt zu haben. Damit „zählte“ auch nur wirklich, was hier geschah. „Öffentlichkeit“ fand hier in besonderem Masse statt. Die Kombination von Heterotopien und Zentralismus wirkte stabilisierend. Hinzu kam die machtförmige Kontrolle der Sichtbarkeit und der Wahrnehmung. In der Sowjetunion hatte bereits in den zwanziger Jahren die Avantgardekunst mit Film, Fotografie und Montagetechniken versucht, Wahrnehmungen und Sehgewohnheiten ideologisch zu steuern. Der sozialistische Realismus und die ritualisierten sowjetischen Feiertage mit ihrer aufwendigen Gestaltung und ihrem Schmuck hatten genau diese Funktion, konnten aber ihren Wirkungsbereich durch die Popularisierung der Ausdrucksmittel vergrößern. Ähnlich wie beim Prinzip der „kollektiven Erinnerung“ entstand auch bei der „kollektiven Wahrnehmung“ der Realität ein Narrativ, eine „Wahrnehmungsanweisung“, die die Realität Sinn gebend überformte. Die wichtigsten revolutionären Narrative – eigentliche Heilsgeschichten – waren der Marsch in die lichte Zukunft und der Aufbau des Neuen aus den Trümmern des Alten. Die Individuen lernten in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Zeitung, an Festen und Ritualen sowie durch einprägsame Losungen was „gut“ und eben auch „schön“ sei. Die Rekonstruktion Moskaus zeigte ihnen, wie „Stadt“ aussieht. Sie lernten, in jeder Baugrube einen Palast zu sehen.
Der richtige Geschmack An den wenigen vollendeten „perfekten Orten“ und in deren medialer Repräsentation wurde den Bürgern neben Teilhabe und Trost auch der richtige „Geschmack“ vermittelt. Designiertes Medium der Steuerung war der (gute) „Geschmack“, der normativ verkündet wurde. Geschmack liegt auf der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft. Diese Eigenschaft teilt der Begriff Geschmack mit Konzepten wie Ehre, Scham, Gewissen und Schuld, auch mit Identität. Sie alle „vermitteln“ zwischen dem Individuum und seiner Umgebung. Solche sozialpsychologischen Konzepte sind kulturspezifisch und werden durch Sozialisation erlernt. Sie sind einerseits individuell und emotional bedeutsam, „nach innen“ gerichtet als Sinneseindrücke und als intensive Empfindungen. Andererseits regulieren sie als erlernte Muster das Verhalten „nach außen“ und definieren Gruppen. Die genannten Grenzbegriffe können somit sowohl soziologisch, auf die Gesellschaft bezogen und für Kollektive verwendet werden, wie auch psychologisch, von innen her und für das Individuum. In ihnen werden Konflikte zwischen dem Einzelnen und seiner Lebenswelt spürbar, es sind ambivalente Konzepte. „Von Ambivalenz kann gesprochen werden, wenn gleichzeitige, auseinanderstrebende Gegensätze des Fühlens, Denkens, HanRäume, Bilder, Lebenswelten delns, Wollens und der Beziehungsgestaltung, die für die Konstitution individueller und kollektiver Identitäten relevant sind, zeitweise oder dauernd als unlösbar interpretiert werden.“11 Identität konstituiert sich im Spannungsfeld 10 So schreibt Irina Ehrenburg: So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert. Hg. von Antje Leetz. Berlin 1995, S. 46–47, sie habe sich ein Leben ausserhalb Moskaus nicht vorstellen können. Hierher sei sie zurückgekehrt, um beim Aufbau des Sozialismus mitzuhelfen. (Ich danke Carmen Scheide für den Hinweis) 11 Zum Konzept der Ambivalenz in Bezug auf Generationenbeziehungen vgl. Kurt Lüscher: Ambivalenz – Eine Annäherung an das Problem der Generationen. Die Aktualität der Generationenfrage. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 53–78, hier S. 62. Vgl.
von Subjektivität und Institutionalisierung. Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem personalsubjektiven und dem strukturell-institutionalen lässt sich nicht völlig auflösen. Das Konzept der Ambivalenz meint die Erfahrung von Widersprüchen oder Gegensätzen, die letztendlich nicht auflösbar sind, also ausgehalten werden müssen. Dies wird in der Psychologie als eine der Voraussetzungen für die dynamische Entwicklung des Selbst angesehen. Die Toleranz von Ambivalenzen ist ein Zeichen der Reife. Geschmack dient der Kommunikation und der Distinktion, aber auch der Selbstvergewisserung und dem Wohlbefinden. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Geschmack in der Sowjetunion immer auch Teil der offiziellen Ideologie war. Geschmack ist identitätsrelevant. Er nicht nur kulturell konstruiert, sondern auch sehr gruppenspezifisch. Für die „Wahrnehmung“ kann man analog zur Erinnerung annehmen, dass es bestimmte kommunikativ vorstrukturierte Gruppenwahrnehmungsmuster gab, die Geschmacksgemeinschaften bildeten. Die Wertmassstäbe der vorrevolutionären Eliten etwa erwiesen sich langfristig als dauerhaft und vermochten sich die „Aufsteiger“ und somit die umfangreiche Gruppe der neuen sowjetischen Intelligencija zu assimilieren. In der Scheinwelt des sozialistischen Realismus verflüssigte sich die Zeit, die Vergangenheit verschmolz mit der Zukunft in einer großartigen Synthese, die im ebenso großartigen Gegensatz zur erfahrbaren Alltagswirklichkeit stand. Für den visuellen Wandel der Chruščev-Zeit gibt es eine Reihe von erklärenden Faktoren. Er lässt sich als Reaktion auf die nun auch alltagskulturell erfahrene Urbanisierung der sowjetischen Gesellschaft deuten. Der Eintritt in einen Wettbewerb mit dem „Westen“ förderte nicht nur die Öffnung, sondern etablierte auch internationale Wertmaßstäbe. Der Wandel des offiziellen Geschmacks diente ganz klar der außenpolitischen Imagepflege. Hinzu kam der „Druck von unten“, den die Führung durch Konsumversprechungen ein Stück weit selbst schürte. Die Fotografien der Menschen in ihren Neubauwohnungen, die A. Aleksandrov 1959 in Novye Čeremuški Nr. 9 machte, vermittelten vor allem ein Bild von „Normalität“. Diese Vorstellung von „Normalität“ betraf den Lebensstandard, der sich in materiellen und sozialen Gütern einer sowjetischen Konsumgesellschaft manifestierte. Latent spielte bei der Konstitution von „Normalität“, wie sich zeigte, die traditionelle Geschlechterordnung eine wesentliche Rolle. Der Wandel der offiziellen Repräsentationen von Interieurs trat erst um 1960 und danach ein. Er lässt sich über die Frage nach seiner Funktion erklären: Er war Teil des neuen Gesellschaftsvertrages und visualisierte den „Neubeginn“. Die „Normalisierung“ erstreckte sich auf den ideologischen Bereich. Das ideologische Vokabular verschob sich von der Propaganda zur Betonung allgemeiner sozialethischer Grundwerte und integrierte Ideale der traditionellen bäuerlichen Kultur sowie des mythologischen Volksrechtes. An die Stelle offiziell verlautbarter Dogmen trat eine „Volksreligion“.12 Der „Sozialismus“ der Chruščev-Zeit bedeutete Wohlstand für alle. Die Neubauwohnung als zentrales Element dieses Wohlstandes sollte mit neuen Möbeln im „zeitgenössischen Stil“ ausgestattet werden. Im Zusammenhang mit dem „Geschmackswandel“ stellt sich die Frage, wie sich sowjetische Wahrnehmungsgemeinschaften kategorisieren lassen. Darauf gibt eine rezeptionsästhetische Analyse beispielsweise der Geschmacksanweisungen Antworten.13
auch Amelie Burkhardt: Die Bedeutung des Begriffs ‚Ambivalenz‘ im Diskurs und Handlungsfeld von Psychotherapeuten. http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2003/939/ (zuletzt einges. am 3.1.2006). 12 Cvetaeva: Biografičeskie narrativy, S. 154. 13 Ansätze dazu finden sich zuletzt bei Catriona Kelly: Refining Russia. Advice Literature, Polite Culture, and Gender from Catherine to Yeltsin. Oxford 2001.
309
Wahrnehmungsgemeinschaften setzten sich aus Erfahrungsgemeinschaften zusammen. Eine zentrale gemeinsame Erfahrung der sechziger Jahre stellte zweifellos der Umzug in die Neubauwohnungen dar, der zugleich mit einem neuen Lebensabschnitt auch einen Konsumschub bedeutete. Erstmals in der sowjetischen Geschichte wurde der Erwerb langfristiger Konsumgüter wie Kühlschränke, Waschmaschinen, Autos und Fernseher eine den Lebensstil prägende Orientierung. Die St. Petersburger Untersuchung von 93 zwischen 1994 und 1995 erhobenen autobiographischen Selbstzeugnissen über die „Sechziger“ zeigte, dass Angehörige der Intelligencija diese Zeit wertorientiert und als Aufbruchsphase erinnern und mit ihrer Wertung die kollektive Erinnerung dominieren, während Angehörige bildungsferner Schichten keine klare Periodisierung vornehmen und eher den materiellen Wandel in den Vordergrund stellen.14 Dabei war auch die weiter bestehende Mangelwirtschaft von Bedeutung: Jetzt entwickelte sich ein reger Tauschmarkt, der Mangelsituationen verbessern konnte. Zugleich mit den Privilegien und einem bescheidenen Wohlstand verbreitete sich in den sechziger Jahren auch die Korruption und erfasste alle sozialen Schichten.15 Dabei wäre zu untersuchen, ob sich die durch den „großen Umzug“ erzeugte Wahrnehmungsgemeinschaft auf den Neubeginn in der eigenen Wohnung bezog und die damit verbundene Privatheit, oder auf die in zahlreichen Leserbriefen dokumentierten Mängelrügen in den Neubauwohnungen, auf die Wartelisten und Verteilkämpfe. Die Gleichzeitigkeit von Mangel und bescheidenem Wohlstand führte zu einer neuen Lagerung sozialer Spannungsverhältnisse. Die Fotos der Interieurs der Neubauwohnungen in Novye Čeremuški verkündeten „Normalität“ als Utopie. Sie geben Auskunft über ihr Zielpublikum: Hier sind es eindeutig eher überdurchschnittlich gebildete Angehörige des Moskauer Mittelstandes. Abgebildet sind Architekten, Lehrerinnen und Ärztinnen. Andere Bildkorpora betreffen den Einzug in Wohnbauten, welche für Arbeiter der Betriebe „Serp i Molot“ und „Avtosavod“ errichtet wurden und versprechen einem werktätigen Publikum eigene Wohnungen. Bezeichnenderweise werden den Innenräumen eher die Erwachsenen, besonders Frauen, und Kinder zugeordnet. Die Orte der Jugendlichen sind, wie deren Ausschluss andeutet, öffentliche Räume wie die Strasse oder die neu eröffneten Jugend-Cafés sowie Studentenheime und die „freie Natur“. Als Wahrnehmungsgemeinschaft kann die hauptstädtische Jugend bezeichnet werden, deren Lebensgefühl Vasilij Aksenov in seinen Erzählungen mit großem Echo thematisierte. Die oben erwähnte Petersburger Studie aus den neunziger Jahren über Erinnerungen an die sechziger Jahre erlaubt hier einen vertieften Einblick: Vor allem diejenigen, welche in der ersten Generation höhere Bildung erlangten, erinnerten sich an eine stürmische Studienzeit, währen derer sie Gedichte lasen und für Theaterstücke und schwer erhältliche Bücher schwärmten. Sie verbanden diesen kulturellen Enthusiasmus mit dem Mythos der Jugend. Typisch für diese Gruppe ist, dass mit der Gründung einer eigenen Familie all das aufhörte und in die Erinnerung überging. Sie bezeichneten sich selbst in dieser Phase rückblickend als „naiv“ und waren als Erwachsene überzeugte Träger des Räume, Bilder, Lebenswelten „Systems“, in dem sie solide sowjetische Karrieren machten. Je mehr Bildungsinstitutionen ein Individuum durchlaufen hatte, desto größer war seine Loyalität. Diejenigen, deren Eltern bereits Akademiker waren und die aus einer Familie der „alten“ Intelligencija stammten, erinnerten sich ebenfalls an ihre Lyrikbegeisterung. Sie entwickelten jedoch eine nachhaltig kritische Haltung. Später distanzierten sich Vertreter dieser
14 Cvetaeva: Biografičeskie narrativy. 15 Yuri Levada: „Rupture de Générations“ en Russie. In: The Tocqueville Review/La Revue Tocqueville 23 (2002) Nr. 2, S. 15–35, hier S. 23.
Gruppe häufiger von den sowjetischen Dogmen. Vor allem bezeichneten sie sich rückblickend nie als „naiv“.16 Alle Teilnehmer der Studie mit einem Bildungshintergrund betrachteten jedoch die grundsätzliche Idee des Sozialismus auch nach dem Ende der Sowjetunion weiterhin als Sinn stiftend für ihr Leben und lasteten Fehlentwicklungen nicht dem sowjetischen System, sondern seinen Funktionären an. Ihre Kritik blieb partiell. „Raum“ spielte in den Lebenswelten im Sinne einer geschmackstopografischen Wertekategorie eine wichtige Rolle. Eine neue Studie zur kulturellen Praxis, sich trotz Mangels modisch zu kleiden, zeigt deutliche Hierarchien von Zentrum und Peripherie. Tonangebend für die Provinz war jederzeit Moskau. Das hatte zwei Gründe: Moskau war die Kapitale, wo sich Kompetenz auch in Modedingen ballte. In Moskau selbst war es aber auch für das normale Publikum einfacher, sich neben modischen Trophäen Informationen über internationale Trends zu beschaffen. Moskauerinnen, die in andere Städte reisten, wurden kritisch begutachtet und kopiert.17 Daneben existierte ein weiteres innersowjetisches Trend-Gefälle. Dabei rangierten Städte umso höher, je westlicher sie lagen. Die Spitzenpositionen hielten die Hauptstädte der baltischen Republiken, insbesondere Talinn. Gerade deshalb ließ Aksenov in seiner Erzählung Svezdnyj bilet 1961 die Protagonisten hierhin reisen. Neben diesem wertorientierten Muster stand das konsumorientierte Bedürfnis, „modern“ zu sein, sich neu einzurichten und modisch zu kleiden. Sehr begehrt waren etwa polnische Modemagazine. Beide Muster waren besonders unter der urbanen Jugend verbreitet. Karikaturen in Krokodil’ zogen allzu modisch gekleidete und modern eingerichtete Sowjetbürger ins Lächerliche.18 Maß halten, lautete die Losung. Doch ein Ziel der modernen Einrichtung öffentlicher Räume und der Cafés wie des Molodežnoe an der Gor’kijstrasse war die „Mobilisierung“ vor allem der städtischen Jugend für den Sozialismus, indem man ihren Bedürfnissen entgegenkam und diese in die offizielle Kultur integrierte.
Kommunikation: Rituale und Verlautbarungen Gemeinsame Wahrnehmung, Geschmack und Erfahrung erleichterten die Kommunikation, grenzten Gruppen aber auch nach außen ab. In den angeführten lebensweltlichen Dimensionen kommunizierten die Menschen auf drei Ebenen: Es gab Interaktionen von Mensch zu Mensch, innerhalb von Gruppen oder aber mit Unbekannten, etwa staatlichen Rollenträgern oder der Obrigkeit ganz allgemein. Diese Kommunikationen waren strukturiert und strukturierend zugleich, die Verhältnisse und Situationen regten sie an. Wie sah es mit den Kommunikationsräumen über diesen direkten Interaktionsbereich hinaus aus? Hier fehlte ja die Erfahrungsgemeinschaft häufig, und das war einer der Gründe für eine weit reichende Ritualisierung der Kommunikation. Diese erstarrte in einem zunehmend festgelegten Satz von Formeln für alle möglichen Situationen, so etwa Unterwürfigkeitsritualen wie öffentlichen Bloßstellungen und Entschuldigungen. Rituale waren die Feste ebenso wie die Schauprozesse. Eine andere Folge mangelnder Erfahrungsgemeinschaft war der Verlautbarungscharakter sowjetischer Öffentlichkeiten. Beispiele für gezielte Botschaften „an die Macht“ waren die De16 Cvetaeva : Biografičeskie narrativy, S. 159–160. 17 Zur Zeit arbeitet Anna Tikhomirova in Bielefeld an einer Dissertation zur sowjetischen Mode, in der sie Alltagspraktiken in der russischen Provinz analysiert. 18 Karikatur einer Inneneinrichtung von J. Gorochov in: Krokodil’ (1961) Nr. 28. Zit. nach: Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 141; Zeichnung einer Modezeitschriften-Leserin von J. Gorochov in: Krokodil’ 3 (1962). Zit. nach: Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 144.
311
monstrationen am Majakovskijplatz und später am Puškindenkmal. Die Demonstranten mit ihren Transparenten assimilierten sich das Kommunikationsmittel der Losungen an öffentlichen Demonstrationen. Die Dichtertreffen entwickelten sich im Laufe eines Zeitraums von einer poetischen zu einer politischen Manifestation. Gradmesser dafür war die Konfrontation mit der Obrigkeit und deren Ordnungskräften. Die westlichen Beobachter sahen darin nicht ganz zu Unrecht einen „Generationenkonflikt“. Dessen Ursache war jedoch nicht der „Wunsch nach Freiheit“, sondern eher eine poststalinistische Rückbesinnung auf die „echten“ Werte der Revolution und damit eine geschickte Aneignung der Rhetorik der offiziell propagierten „kommunistischen Moral“. Eine Rhetorik, die auch den Wunsch nach mehr Individualismus neben dem Kollektiv rechtfertigen sollte. Die Nachkriegsgeneration war ohne Väter aufgewachsen und ohne die tief greifenden Gewalterfahrungen des stalinistischen Terrors. Sie lebte in einer völlig anderen Lebenswelt als die älteren Zeitgenossen und konnten sich über Konventionen hinwegsetzen, sich nach anderen Mustern neue Handlungsspielräume schaffen. Die gewalthaften Regeln der Raumerzeugung lagen jenseits ihres Erfahrungsraumes. Möglichkeiten der Flucht vor gesellschaftlichen Zwängen sind ihrerseits im sozialen Rahmen angelegt, also ein Stück weit vorstrukturiert. Die St. Petersburger Studie geht von drei Varianten aus. Diese sind erstens gedankliche Sabotage, zweitens systemfeindliche Einstellungen und drittens das Unterlaufen des Systems und seine Manipulation zu eigenen Zwecken. Hier gelang es einigen, Schlupflöcher zu nutzen und sich Freiräume zu schaffen. Bei diesem dreistufigen Modell handelt es sich um eine gängige Reduktion komplexer Muster zu Zwecken der rückblickenden Kategorisierung. In ihren biografischen Erzählungen geben einige Teilnehmer der Petersburger biografischen Studie an, nie an die Ideale der offiziellen Propaganda geglaubt zu haben. Dabei haben sie jedoch konforme und nach sowjetischen Maßstäben „erfolgreiche“ Lebensläufe hinter sich. Deshalb scheint hier das durchlässigere Konzept des Eigen-Sinns als Zugang sinnvoll. Denn Eigensinn integriert widersprüchliches Handeln, das Lavieren zwischen Hinnehmen und Widerstehen. Lebensgeschichten werden rückblickend laufend „umgeschrieben“ und Individuen sind fähig, ihre Haltungen und Meinungen zu ändern. Aus überzeugten Kommunisten konnten resignierte Profiteure des Systems werden, Mitläufer konnten ab und zu widerständig handeln. Spontanes Handeln muss nicht in das generelle Muster passen. Kritische Einstellungen wurden in den hier untersuchten Fallstudien einerseits in der Dissidentenbewegung, andererseits in der Bildung von Untergrundkulturen sichtbar. Dabei zeigte sich jedoch, dass es sich gerade nicht um grundsätzliche Systemkritik an der gesellschaftlichen Utopie des Kommunismus handelte, sondern um Kritik an den Herrschaftspraktiken der Führung von Staat und Partei. Auch in den 93 Narrativen der Petersburger Erhebung finden sich keine „Dissidenten“, sondern „nur“ Erinnerungen an gesellige Abende, an denen man im Freundeskreis zur Gitarre sang sowie Erinnerungen an studentische Sommer-Praktika.19 Zwei Erzählmuster verweisen dabei auf den lebenspraktischen Umgang mit Widersprüchen, mit AmbiRäume, Bilder, Lebenswelten valenz: Einmal die gelungene „Periodisierung“ des eigenen Lebens betreffend eine naive Jugendphase; sodann die klare Trennung zwischen der „Idee des Sozialismus“ und der erlebten Realität, in der die Schuld an Fehlleistungen den Funktionären gegeben wurde und wird. Beispiele für parallele Regelsysteme, die sich der Eigensinn der Akteure schuf, waren seit der Nachkriegszeit die stiljagi, die ein ganzes System abweichender Verhaltenscodes entwarfen. Dabei eigneten sie sich für ihren brodvei die obrigkeitliche Herrschaftstechnik der Umbenennung 19 Cvetaeva : Biografičeskie narrativy, S. 160–161.
an. Zu Parallelsystemen sind auch die „Nischen“ der sechziger Jahre zu rechnen: Die Küchentische in den Neubauvierteln und die privaten Rückzugsorte der Untergrundkünstler. Sie etablierten ebenfalls Verhaltenscodes und Regeln, ohne sich deswegen „systemfeindlich“ zu verhalten. Als weiterer Faktor der Stabilisierung ist an dieser Stelle die Vervielfältigung der Lebensstile zu nennen, die ein wesentliches Merkmal der Modernisierung der sechziger Jahre darstellt. Die Übergänge zwischen Konformismus und unterschiedlichen Äußerungen von Eigen-Sinn wie Nonkonformismus oder Dissens in Form politischer Kritik an Herrschaftspraktiken waren fließend. Einen hohen Stellenwert hatte für alle Nonkonformisten die auch von der Obrigkeit im Rahmen der „kommunistischen Moral“ propagierte Loyalität, die sie für sich beanspruchten. Darüber hinaus beriefen sie sich regelmäßig auf die sowjetische Verfassung. An den Beispielen erfolgreicher Autoren wie Evtušenko und Aksenov ist deutlich geworden, dass der Übergang zwischen dem offiziellen und den informellen Regelsystemen diffus war. Der Konflikt zwischen den Regelsystemen und der Loyalitätskonflikt machte ihnen zu schaffen, zumal sich zumindest rhetorisch alle Beteiligten rituell immer wieder zum revolutionären Narrativ, zum Aufbau des Sozialismus als Ziel bekannten. System und Künstler stabilisierten sich letztlich gegenseitig durch die Produktion von Nischen-Räumen, die den einen als Rückzugsort, den anderen als Herrschaft legitimierender Toleranz-Beweis dienten. Die Küchentische in den Neubauvierteln wurden zu legendären halböffentlichen Räumen der Meinungsbildung. Sie waren der intime Ort der inoffiziellen Teilöffentlichkeiten, die sich seit den fünfziger Jahren aus komplexen Systemen enger und weiterer Freundeskreise aufbauten. In diesem Raum konnten alle ihre privaten, wissenschaftlichen oder künstlerischen Projekte relativ ungestört verfolgen.20 Lyrik, Barden und samizdat überwanden die Schranken zwischen einzelnen Kreisen mit ihren Texten dennoch nur teilweise, wenn sie auch den Verständigungscode lieferten. Im Bewusstsein entstand ein einheitlicher Gegenraum, eine Gegenöffentlichkeit. Beteiligt waren daran alle, die sichtbar in öffentlichen Räumen Konventionen verletzten. Sie unterliefen die Bilder und verweigerten die Syntheseleistung, indem sie nicht nur ritualisierte Kommunikationsformen durchbrachen, sondern auch Seh- und Wahrnehmungsweisen. Sie siedelten sich in den Zwischenräumen an, nutzten Räume um und gaben ihnen neue Namen und Bedeutungen. Spezifisch an dieser sowjetischen Gesellschaftsform war das symbiotische Verhältnis zwischen dieser alternativen, inoffiziellen Nischenkultur mit ihren Techniken des Eigensinns und der Machtbürokratie. Ansätze kritischer Reflexion und Distanzierung bei den Jugendlichen um 1960 erwiesen sich bei der überwiegenden Mehrheit zumindest im Rückblick als „naive Phase jugendlicher Schwärmerei“, längerfristige Distanzierung blieb ein vereinzeltes Phänomen und hatte mit dem familiären Hintergrund zu tun: Vor allem die Herkunft von der „alten Intelligenz“ spielte hier eine Rolle. Einzelne bezahlten ihre Renitenz mit langjährigen Strafen und sogar mit ihrem Leben, wie Jurij Galanskov. Andere zogen sich zurück. Die Liederabende mit Gitarre im Freundeskreis wurden ein breites kulturelles Phänomen und standen als kultureller Code für eine Liberalisierung des Alltagslebens. Der „offiziell“ geduldete „Eigensinn“ in privaten Räumen ermöglichte gerade das „Durchhalten“ und stabilisierte das System ebenso, wie die Kooperation in der Scheinwelt der Rituale. Dabei spielte eine wesentliche Rolle, dass Kritik im Wesentlichen partiell blieb und die Gültigkeit der gesellschaftlichen Utopie des Sozialismus nicht in Frage gestellt wurde.
20 Ekaterina Degot: Zwischen Massenreproduktion und Einzigartigkeit: Offizielle und inoffizielle Kunst in der UdSSR. In: Berlin-Moskau, Moskau-Berlin 1950–2000. Hg. Von Pawel Choroschilow, Jürgen Harten, Joachim Sartorius, Peter-Klaus Schuster. Berlin 2003, S. 133–137, hier S. 136.
313
Die Quadratur des Kreises
Die Quadratur des Kreises – Schlusswort und Ausblick Öffentlichkeiten Die raumanalytische Untersuchung der sowjetischen Hauptstadt verweist auf die lebensweltlichen Praktiken ihrer Einwohner, mit Gegensätzen zu leben. Ein Theaterstück aus dem Jahr 1927 von Valentin Kataev hatte den Titel „Die Quadratur des Kreises“. Der Titel verweist auf das übergeordnete Narrativ der metaphorischen Aufhebung aller Gegensätze, nicht nur des Klassengegensatzes, das die bol’ševiki propagierten. In der Komödie ging es um die Wohnungsknappheit in Moskau: Zwei junge Paare bewohnten ein einziges Zimmer, und das Bühnenstück machte das Private gleich doppelt öffentlich. Nicht nur der Gegensatz von privat und öffentlich galt als aufgelöst, sondern alle vorrevolutionären Gegensätze. Das Wohnzimmer war immer auch Schlafzimmer, die Stadt auch Dorf. Die öffentlichen Räume funktionierten auf mehreren Ebenen zugleich, das heißt, an öffentlichen Orten konstituierten sich, von oben wie von unten, Kommunikationsräume mit unterschiedlichen Zielen und Reichweiten. Gerade der Umstand, dass das raumanalytische Modell eine differenzierte Untersuchung dieser verschiedenen Funktionsebenen erlaubt, macht die Untersuchung einzelner Orte zum Brennglas sowjetischer Gesellschaftsgeschichte. Die Kommunikationsordnungen und die Gefüge der Kommunikationsräume entsprachen den Gesellschaftsordnungen. Im Ganzen bestätigt sich die Periodisierung in die zwanziger Jahre als relativ offene Experimentalphase, die Veränderungen der ersten Fünfjahrpläne und die dreißiger Jahre. Spannende Verschiebungen werden dagegen in der Nachkriegszeit und der Chruščev-Zeit sichtbar: Die Kategorie Raum ermöglicht einen differenzierten Blick auf Individuen, Gruppen und ihre Kommunikationsmuster, auf die Übergänge. Die Kommentare und Diskussionen der Passanten auf der Strasse, von denen Marina Cvetaeva 1919 aus dem Arbatviertel berichtete, erinnern an das Kommunikationsgeschehen auf einem Dorfplatz. Das Verhalten der Anwesenden lässt sich einerseits damit erklären, dass viele Moskauer vom Dorf zugewandert waren und ihre Verhaltensmuster mitbrachten. Die gegenseitige Einmischung beruhte andererseits auf dem Bewusstsein, dass jeder Einzelne als Teil des Kollektivs von den anderen zur Rechenschaft gezogen oder zumindest korrigiert werden müsse. Diese von der stalinistischen Propaganda geförderte „Vigilanz“ erhielt zur Zeit Chruščevs eine wesentliche gesellschaftliche Ordnungsfunktion. Sie war ein ganz spezifischer Teil der sowjetischen Alltagskultur. In der herrschenden Ideologie sollte die Grenze zwischen Individuum und Kollektiv aufgehoben werden, eine Privatsphäre war nicht vorgesehen. Deshalb wurde die Privatsphäre in der Praxis des sowjetischen Alltags, in den durch Vorhänge abgeteilten Zimmerecken der Gemeinschaftswohnungen zum hochgeschätzten Wert. Doch auch die Wachsamkeit fand ihre Anhängerinnen und Anhänger, bedeutete sie doch nach dem Ende des Terrors auch eine Ausweitung der Teilhabe an der Macht. Noch heute kann es passieren, dass eine ältere Frau auf der Strasse völlig Unbekannte unwirsch zurechtweist, weil das Kind keine Mütze trägt. Zu Sowjetzeiten war dies ein alltäglicher Vorgang. Bezeichnenderweise kam es in den sechziger Jahren zu Pressemeldungen, in denen es um das Recht auf Einmischung in die Privatangelegenheiten anderer ging. Nun wurde vor übertriebener Vigilanz gewarnt. Die in der Stalinzeit geförderte Tugend der „Wachsamkeit“ wurde nun ihrerseits als kleinbürgerliches Misstrauen denunziert. Seit der Wende zum Stalinismus Ende der zwanziger Jahre fand direkte Kommunikation zwi Catriona Kelly: Refining Russia. Advice Literature, Polite Culture, and Gender from Catherine to Yeltsin. Oxford 2001, S. 325–326, 328–329.
315
schen Individuum und Parteistaat nur in fest institutionalisierten und genau geregelten Kommunikationsräumen statt und kleidete sich in Formeln und Rituale. Das traf auf Feste und Paraden zu, aber auch auf Gerichtsverhandlungen. Ansonsten war die Kommunikation an mittlere Ebenen delegiert: Betriebsversammlungen oder lokale Parteikomitees und Leserbriefspalten. Die öffentlichen Räume boten wenige Freiräume für nicht organisierte Freizeitgestaltung. Die sowjetische „Öffentlichkeit“ erscheint als seltsam diffuser Kommunikationsraum, als opak. Es gab keine direkte Interaktion, aber öffentliche Räume dienten dennoch als Orte der Verhandlung von Macht und gesellschaftlicher Utopie. Botschaften wurden in diesen Raum hinein gesendet und darin empfangen – und entschlüsselt, ohne dass Sender und Empfänger in direkten Kontakt traten. Botschaften, auch die „von unten“, liefen also keineswegs ins Leere. Einzelne und Gruppen artikulierten sich verbal oder symbolisch in diesen Raum. Man kann deshalb auch von einer repräsentativen Verlautbarungsöffentlichkeit „von unten“ sprechen. Direkte Kommunikation war nur innerhalb von Teilöffentlichkeiten möglich, also nicht mit den eigentlichen Adressaten, den Entscheidungsträgern. An diese konnten Einzelne oder Kollektive Briefe richten. Die Partei- und Verwaltungsorgane entwickelten Strategien, um die unter anderem in solchen Briefen geäußerte „unöffentliche Meinung” zu erfassen, auszuwerten und darauf zu reagieren. Die inoffiziellen Zirkel der Nachkriegszeit und der zunehmende „Nonkonformismus” der Jugend wurden aufmerksam beobachtet. Während der Entstalinisierung wurden Zusammenfassungen der Diskussionen innerhalb der lokalen Parteikomitees gesammelt und ausgewertet. In der Einleitung war die Rede davon, dass Kommunikation Erfahrungsgemeinschaft bedingt. Was die alltäglichen Lebensbedingungen betraf, lebten die sowjetischen Eliten und die Normalsterblichen seit der Hierarchisierung und Verbürgerlichung Mitte der dreißiger Jahre in verschiedenen Ländern. Eine Erfahrungsgemeinschaft existierte zwischen ihnen nicht mehr. Erfahrungsgemeinschaften bestanden in der hierarchisierten sowjetischen Gesellschaft nur innerhalb bestimmter Gruppen oder „Klassen“ wie der Nomenklatura, der Arbeiterschaft, der Landbevölkerung, urbanen jugendlichen Subkulturen, den Lehrerinnen und Lehrern, den Wissenschaftlern, den konformen Künstlern oder den Andersdenkenden sowie innerhalb einzelner Republiken. Dies dürfte ein wichtiger Hintergrund für die Fragmentierung der sowjetischen Öffentlichkeiten gewesen sein: Manche der Gruppen teilten Erfahrungen, andere weniger, wie etwa die Lagerinsassen. Daran änderte sich im Grunde auch mit der Entstalinisierung nichts. Diese führte vielmehr dazu, dass sich die Erfahrungsgemeinschaften zu Nischengruppen formten und verfestigten, aber auch dazu, dass solche Gruppen begrenzte interne Kommunikationsräume konstituierten und zuweilen öffentlich in Erscheinung treten konnten. Kommunikation zwischen Gruppen ohne Erfahrungsgemeinschaft war schwierig, wenn nicht unmöglich, und deshalb ritualisiert und teilweise auf Verlautbarungen beschränkt. Die städtebauliche Situation, der physische „öffentliche Raum“ erwies sich als Faktor, der Öffentlichkeiten wesentlich mitkonstituierte. Hier entstanden geplante und gebaute Räume, in
Elena Jur‘evna Zubkova: Russia after the war. Hopes, Illusions, and Disappointments, 1945–1957. Armonk (N.Y.) 1998, S. 6, S. 40–44; diverse Beispiele in Sovetskaja žizn’ 1945–1953. Hg. von E. Ju. Zubkova, L. P. Koseleva, Ga. Kuznecova,
Die des Kreises A. Quadratur I. Minjuk, L. A. Rogovaja. Moskau 2003 (Dokumenty sovetskoj istorii). Sarah R. Davies: Public opinion in Stalin’s
Russia. Terror, Propaganda and Dissent, 1934–1941. Cambridge, Mass. usw. 1997; Gayle Durham Hannah: Legale und dissidente Formen politischer Kommunikation in der Sowjetunion nach Stalin. In: Osteuropa 26 (1976) Nr. 7, S.491–512. Iurii Aksiutin: Popular Responses to Khrushchev. In: Nikita Khrushchev. Hg. von William Taubman, Sergei Khrushchev und Abbott Gleason. New Haven usw. 2000, S. 177–208; Heike Winkel: Schreibversuche. Kollektive Vorlagen und individuelle Strategien in den „Briefen der Werktätigen“. In: Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hg. von Jurij Murašov und Georg Witte. München 2003, S. 59–80, hier S. 62. Elena Ju. Zubkova: Obščestvo i reformy 1945–1964. Moskau 1993.
denen Öffentlichkeiten Gestalt annahmen, in denen die Menschen durch ihre Nutzungen und durch Funktions- oder Bedeutungszuschreibungen Räume produzierten. Zugleich zeichneten sich in den Gestaltungen, Regulierungen und Nutzungen der physischen Räume Rahmenbedingungen möglichen Handelns ab. Der physische Raum war Träger von Botschaften, Gegenstand von Debatten und ein wichtiges Medium der Kommunikation. Das Kommunikationsgeschehen umfasste Kommunikationsabsichten, Handlungen, Botschaften sowie deren Wahrnehmung und Entschlüsselung, die Produktion von Bedeutungen und Identifikation. Besonders weit reichend war in dieser Beziehung die Bedeutung des Netzes von „Inseln des Sozialismus“. Dieses Konzept funktionierte auf höchst komplexe Weise. Die Tilgung und Errichtung von Orten scheint ein Zusammenspiel von planvoller raumpolitischer Strategie und der Bereitschaft zu wahrnehmender Verknüpfung durch die Menschen gewesen zu sein. Einerseits sollten diese Orte das Riesenreich symbolisch zusammenhalten. Andererseits verstärkten sie die Gegensätze zwischen zentralen und peripheren Räumen, so dass besonders das „Neue Moskau“ als zentraler Ort, an dem an der Zukunft gebaut wurde, eine große Faszination gewann. Dadurch versammelten sich potenziell „gefährliche“ soziale Kräfte an wenigen, kontrollierbaren Orten. Die Kompensationsheterotopien entlasteten nicht nur die Machthaber, sondern die ganze Gesellschaft; denn sie retteten jeweils für kurze Zeit die Utopie. Sie vertrösteten, indem sie Fluchtorte boten und in die Zukunft wiesen. Die Teilhabe an diesen Räumen war ein Reiz für die Menschen. Ihre Schönheit erlaubte, aus dem Alltag auszutreten in eine perfekte Welt, wenn auch nur auf Zeit. Sie boten eine Traumwelt mit der Ästhetik der Übertreibung. Die Gegenwelten waren einfach und überaus geordnet, weniger komplex als die Realität. Die Heterotopien waren selbst Botschaften an das Volk: Der demonstrativen Fürsorge, als Versprechen einer herrlichen Zukunft. Die sechziger Jahre brachten einen Bruch der Kommunikationsmuster. Die sowjetische Führung, die ja noch der alten Generation angehörte, erwartete auch nach 1956 vom Volk bestimmte politische Verhaltens- und Denkweisen; Bürgerkonformität wurde sehr hoch eingeschätzt. Einer der wichtigsten Aspekte des Kommunikationsverhaltens der Gesellschaftsgeneration der šestidesjatniki war die Hinwendung zu Verhaltensweisen, die entweder von den offiziellen Rollenerwartungen an die Bürger abwichen oder die ungeschriebenen Gesetze der Kommunikationsordnung verletzten. Das zeigten exemplarisch die Spruchbänder und die erste öffentliche Gegendemonstration der Sowjetgeschichte am Puškindenkmal sowie das Verhalten von Sinjavskij und Daniel‘ während ihres Prozesses. Sie verweigerten die Teilnahme am Ritual, indem sie nicht in den offiziellen Sprachcodes verblieben. Weil die Sowjetmacht das kommunikative Verhalten im öffentlichen Raum kontrollierte, zogen sich die Dichter vom Majakovskij-Denkmal in private Räumlichkeiten zurück. Der „Majak” blieb jedoch als Ausgangspunkt der Dissidentenbewegung im „gegen-kommunikativen“ Gedächtnis fest verankert. Die Lyrik als Medium entsprach dem traditionellen gesellschaftspolitischen Stellenwert der Literatur. Sie war eine Form des Ausdrucks sehr individueller Empfindungen und eine „Gruppensprache“, ein Verständigungscode.
Möglichkeiten und Grenzen der analytischen Kategorie Raum für das Verständnis der sowjetischen Geschichte Die Kategorie „Raum“ ermöglicht Erkenntnisse jenseits von Modellen, die aufgrund westlicher Gesellschaften entwickelt wurden, wie etwa Modernisierungstheorien, das Modell der Zivilge Vajl, Genis: 60-e, S. 177.
317
sellschaft oder einige der geläufigen Modelle von Öffentlichkeit. Die Annahme eines komplexen Raumgefüges löst den Gegensatz von Mikro- und Makrogeschichte auf. „Gesellschaft“ vollzieht sich auf allen Ebenen. Durch den analytischen Zugang differenzieren sich der Raumbegriff im Alltag und damit die Wahrnehmung der öffentlichen Räume, der räumlichen Anordnungen und damit der sowjetischen Gesellschaft. Sichtbar werden auch bei einer noch so sorgfältigen Untersuchung eines Ortes niemals alle Räume, die blinden oder leeren Flecken bleiben in der Überzahl: Vollständige Erkenntnis ist ein imaginärer, unendlicher und unerreichbarer – göttlicher – Zustand. Doch die Plätze und Magistralen, die früher nur weit und zugig erschienen, füllen sich mit Geschichten und Bedeutungen. Sie erscheinen nicht mehr nur als Orte, sondern als Teile von Raumgefügen, die zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Bedeutungen und Funktionen hatten, Teile von Lebenswelten waren und sind. Einige davon konnte die vorliegende Studie entziffern und Raumgefüge in ihren Bedeutungen erkennen. Als Teil eines selbstverständlichen und schwierigen Alltagslebens kann man sie durch den Filter der verschiedener Phasen betrachten. Die Fallstudien haben manchmal sogar den Blick individueller Akteure und Gruppen nachvollziehbar gemacht. Verändert haben sich insbesondere die Wahrnehmung der Grünzonen in den Neubaugebieten und die Wahrnehmung der Neubaugebiete selbst. Neben den später errichteten Vierteln erscheint Novye Čeremuški heute als Idyll, in dem sich niedrige Wohnhäuser aus gelben Ziegeln zwischen blühenden Faulbeerbäumen gruppieren. Am Feierabend spielen die Anwohner Federball oder Volleyball, tagsüber sitzen alte Frauen auf den Bänken und passen auf die Kinder auf. Welche Erkenntnisse ergeben sich für „Öffentlichkeiten sowjetischen Typs“?
Widersprüche und Gegensätze Es hat sich gezeigt, dass Moskau zwar mit großem Propaganda-Aufwand zur Hauptstadt des Kommunismus umgebaut werden sollte, dass dieser Umbau jedoch auf der Ebene der konkreten materiellen Umsetzung Flickwerk blieb. Er fand überwiegend medial statt, auf den Plänen, in Worten und im Bild, auch im Film. Stadträumlich erweckten die Metro, die Stadtkrone der Hochhäuser und einige Magistralen und Wohnviertel als Orientierungssysteme und Netzwerke perfekter Orte den Eindruck eines „Neuen Moskau“. Der Ausdruck der Potemkinschen Dörfer fasst jedoch zu kurz, um den Vorgang zu beschreiben. Denn hinter den Fassaden des Neuen Moskau war nicht ein Nichts, sondern das alltägliche Moskau. Die Lebenswelten der Menschen bildeten Raumgefüge, in denen sich die Gegensätze verbanden. Die Menschen lebten in ihren lebensweltlichen Raumgefügen: In Zimmern, Wohnungen, auf der Strasse und in den Höfen, an ihren Arbeitsplätzen. Die Strassen mit ihren Gebäuden, Läden und Schaufenstern hatten einerseits ihre weit reichende Signalwirkung, waren aber für die Anwohner auch Teil des Alltags. Sie nahmen die Gegensätze zwischen hinten und vorne, innen und außen, Strasse und Hof, Alltag und Festtag, öffentlich und privat nicht als Widersprüche wahr, sondern vermochten sie als Teil eines Ganzen zu integrieren. Sie entwickelten kulturelle Praktiken zwischen Teilhabe Die Quadratur des Kreises und Ohnmacht. Genau diese irritierende Fähigkeit, Grenzen und Gegensätze zu ignorieren oder sich mit ihnen zu arrangieren, war konstitutiver Bestandteil der sowjetischen Alltagskultur. Die Gegensätzlichkeiten der russischen und sowjetischen Kultur haben in der Vergangenheit zu unterschiedlichen Theoriebildungen geführt. „Die Lage Russlands zwischen Europa und Asien hat, nicht anders als die enorme emotionale Bandbreite der russischen Mentalität, zu zahlreichen Me-
taphernbildungen Anlass gegeben, die allesamt auf die Bipolarität des russischen Weltbilds verweisen.“ In den siebziger Jahren war der Strukturalismus die vorherrschende Denkrichtung der kritisch eingestellten russischen Wissenschaftler. Daraus entstanden Thesen, die auf Systeme binärer Oppositionen Bezug nahmen. Prominent wurde der Artikel von Jurij Lotman und Boris Uspenskij zum Binarismus als treibender Faktor der russischen Geschichte seit dem 15. Jahrhundert. Lotman und Uspenskij interpretierten die Geschichte des vorrevolutionären Russlands, die Semiotik des Kartenspiels oder die Sprache der Verkehrszeichen, nicht aber die sowjetische Gegenwart. Vladimir Papernij wandte Ende der siebziger Jahre den Strukturalismus auf die sowjetische Architekturgeschichte als Kulturgeschichte an. Er ging, wie Lotman und Uspenskij, von einer zyklischen historischen Dynamik aus, die zwischen Phasen horizontaler, dezentraler Ausrichtung und Phasen vertikaler, zentristischer Orientierung pendle. Anhand einer Reihe von binären Oppositionen beschreibt er die Architektur der Stalinzeit als kul’tura dva, als Kultur für sich, die sich von der Kultur der zwanziger Jahre und der Chruščev-Zeit durch Vertikalität und Zentralismus abhebe. Zur Reihe bipolarer Zuschreibungen des russischen Nationalcharakters gehört auch der „Hinweis auf die gleichermaßen ausgeprägte Neigung des russischen Normalverbrauchers zu Staatstreue und Anarchie, Patriotismus und Kosmopolitismus, Anpassung und Widerstand, Fanatismus und Toleranz, Fremdenhass und Menschenliebe, Disziplin und Willensschwäche.“ Die philosophische Schule von der „Vereinigung des Unvereinbaren“ beruht auf der These, dass diese Widersprüchlichkeit auch als Bündelung von Gegensätzen, als Synthese begriffen werden kann, und nennt sich „Kentauristik“. In gewisser Weise löst die „Kentauristik“ die sowjetische Staatsideologie des dialektischen Materialismus postsowjetisch ab. Hegels Philosophie von These und Antithese bildete die Grundlage dazu: Jede These generiert eine Antithese. Beide heben sich auf einer höheren Stufe in der Synthese auf. Der dialektische Materialismus ging davon aus, dass Basis und Überbau in einem dialektischen Verhältnis stehen und eine dynamische Entwicklung zum Kommunismus entsteht, auf dessen Ebene sich schließlich alle Gegensätze auflösten und legitimierten. Boris Groys verweist in diesem Zusammenhang auf die zahlreichen gleichzeitigen, einander krass widersprechenden Anforderungen an die Architekten der Stalinzeit. Er interpretiert den Stalinismus als „Gesamtkunstwerk“, der den Sozialistischen Realismus mit dem Ziel erfand, diese Gegensätze zu vereinen: „Die Lehre von der Einheit der sich widersprechenden Gegensätze bildet die Grundfigur und das ganze innere Geheimnis des stalinistischen Totalitarismus.“ Allerdings droht bei dieser Interpretation die Grenze zur nacherzählenden Teilnahme zu verschwimmen. Was, wenn nur der Blick von außen Widersprüche und Gegensätze als solche wahrnimmt, die untersuchte kulturelle Praxis diese jedoch von vornherein integriert?10 Der Enthusiasmus der Aufbaujahre und der regelmäßig wiederholten Mobilisierungskampagnen von der Neulandgewinnung bis zum Massenwohnungsbau ermöglichte es zweifellos einer hoffnungsvollen städtischen Jugend, in jedem Graben einen Kanal und in jeder Baugrube bereits den fertigen Palast zu erbli1 Felix Philipp Ingold: Der Kentaur als Kulturmodell. In: Neue Zürcher Zeitung vom 27.8.2006, Literatur und Kunst, S. 70. 1 Iouri Lotman, Boris Ouspenski: La dualité des modèles et son rôle dans la dynamique de la culture russe jusqu’à la fin du XVIIIe siècle. In: Sémiotique de la culture russe. Hg. von Iouri M. Lotman und Boris A. Ouspenski. Lausanne 1990, S. 21–56 (erstmals erschienen: Tartu 1977). Dt.: Jurij Lotman, Boris Uspenskij: Die Rolle dualistischer Modelle in der Dynamik der russischen Kultur (bis zum Ende des 18. Jahrhunderts). In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 9 (1977) S. 1–40. 1 Vladimir Papernyj: Kul‘tura Dva. Moskau 1996. 1 Ingold: Kentaur. 1 Boris Groys: Die Gebaute Ideologie. In: Tyrannei des Schönen : Architektur der Stalin-Zeit. Hg. von Peter Noever. Mit Beitr. von Boris Groys u.a. Übers. aus dem Russ.: Annelore Nitschke. München usw. 1994, S. 15–21, hier S. 18. 10 Zur Wahl der Perspektive angesichts eines „geschlossenen Systems” vgl. Meaghan Morris: Things To Do With Shopping Centres. In: The Cultural Studies Reader. Hg. von Simon During. London usw. 1993, S. 295–319. Der Ansatz eignet sich ausgezeichnet für eine Reflexion über den Umgang mit dem „Gesamtkunstwerk Stalinismus“ (Groys).
319
cken. Das Bild blieb für einige rissig. Dafür sprechen die zahlreichen in den letzten Jahren publizierten Selbstzeugnisse, in denen deutlich wird, wie sich viele Menschen, vor allem überzeugte Kommunisten, damit abquälten, ihre individuelle Wahrnehmung und Deutung in Einklang mit der „offiziellen“ Version einer ganzheitlichen sozialistischen Persönlichkeit zu bringen.11 Die Partei stellte mit der Selbstkritik ritualisierte Instrumentarien zur Verfügung.12 Aber damit wurden nur Teile der Bevölkerung erreicht. Eine Möglichkeit, mit den Gegensätzen umzugehen, war die „Abkoppelung“, die insbesondere Angehörige der vorrevolutionären Eliten, die nicht emigriert waren, praktizierten.13 Die Distanzierung nahm über die Jahre unterschiedliche Formen an, von der „inneren Emigration“ und heimlichem Schimpfen über offene Aktionen bis zum profitorientierten Mitläufertum.14 Die Haltungen hinter diesen Formen sind unterschiedlich beschrieben und bewertet worden. Eine Sonderstellung nehmen die Thesen von der „Doppelung“ des homo sovieticus ein, der zwei gegensätzliche Persönlichkeiten in sich vereinte und nach außen hin ganz anders auftrat, als er im Innern „eigentlich“ dachte. Diese gespaltene Persönlichkeit war eine der zentralen westlichen Konstruktionen während des „Kalten Krieges“. Solche Thesen hatten ihr Objekt wohl am ausgeprägtesten während der späten Brežnev-Zeit, als „Teilhabe“ eher minimal war und das gesellschaftliche Leben in Ritualen und Floskeln erstarrte.15 Es gibt mehrere Aspekte, die dieser homo sovieticus als Konzept verschleiert. Zunächst wäre sein Geschlecht zu klären, mitsamt der impliziten Zuschreibungen männlicher und weiblicher agency im politischen Leben und den alltäglichen Praktiken. Hier interessiert insbesondere der Aspekt der binären Oppositionen, die dem homo sovieticus eingeschrieben sind. Zentral ist die „große Dichotomie“ privat-öffentlich.16 Das „Wahre“, Private wird verborgen, verhüllt. In der Öffentlichkeit tritt eine „falsche“ Persönlichkeit auf. Nur in Momenten, in denen die Kontrolle schwindet, tritt das wahre Selbst zu Tage.17 Insbesondere die dissidenten Angehörigen der urbanen intelligencija der siebziger Jahre polarisierten ihre Systemkritik in diesem Sinn. In offiziellen Texten konnte gemäß ihrer Ideologie nichts Richtiges oder Wahres stehen, gute Texte konnten nur im samizdat oder im Ausland erschienen sein. Diese Logik führte zu einer Dichotomie von inoffiziell und offiziell, die mit gut und böse, mit wahr und falsch gekoppelt war.18 Diese These beruht auf zwei Prämissen: Hinter der durch das sowjetische System hervorge11 Stepan Filippovic Podlubnyj: Tagebuch aus Moskau,1931–1939. Aus dem Russ. übers. und hg. von Jochen Hellbeck. München 1996. Das wahre Leben: Tagebücher aus der Stalin-Zeit. Hg. von Véronique Garros u.a. Aus dem russ. übers. von Barbara Conrad. Berlin 1998. 12 Parler de soi sous Staline: la construction identitaire dans le communisme des années trente. Hg. von Brigitte Studer u.a., Paris 2002. Brigitte Studer, Berthold Unfried: „Das Private ist öffentlich“ Mittel und Formen stalinistischer Idenitätsbildung. In: Historische Anthropologie 7 (1999) Nr. 1, S. 83–108. 13 Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in Neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 3: Sowjetische Moderne und Umbruch. Zürich 2005, S. 238–242. 14 Nina Nikolaevna Cvetaeva: Biografičeskie narrativy sovetskoj epochy. In Sociologičeskij Žurnal (2000) Nr. 1–2, S. 150– 163, hier S. 160–161. 15 Vgl. hierzu auch Goehrke: Sowjetische Moderne, S. 392–395. 16 Zu Privat und Öffentlich als „Grand Dichotomy“ vgl. Jeff Weintraub: The Theory and Politics of the Public/Private Distinc-
Die Quadratur desinKreises tion. In: Public and Private Thought and Practice. Perspectives on a Grand Dichotomy. Hg. von Jeff Weintraub und Krishan Kumar. Chicago 1997, S. 1–42.
17 Oleg Kharkhordin: Reveal and Dissimulate. A Genealogy of Private Life in Soviet Russia. In: Public and Private in Thought and Practice. Perspectives on a Grand Dichotomy. Hg. von Jeff Weintraub und Krishan Kumar. Chicago 1997, S. 333– 363;. 18 I. Uvarova, K. Rogov: Semidesjatye: Chronika kul’turnoj žizni. In: Semidesjatie kak predmet istorii russkoj kul’tury. Hg. von K. Ju. Rogov. Rossija/Russia 9 (1998) Nr. 1, S. 29–74; Alexei Yurchak: Soviet Hegemony of Form. Everything Was Forever, Until It Was No More. In: Comaparive Studies in Society and History 45 (2003) Nr. 3, S. 480–510, hier S. 484.
brachten „gespaltenen“ Persönlichkeit“ verbirgt sich das Konzept einer ganzheitlichen, kohärenten, „gesunden“ Persönlichkeit ohne innere Widersprüche. Dabei wird mit sozialpathologischen und psychiatrischem Vokabular operiert, insbesondere der Terminus der Schizophrenie taucht in diesem Zusammenhang auf.19 Die zweite Prämisse ist die klare Polarisierung, die scharfe Trennung von privat und öffentlich, aber auch von gut und böse, Wahrheit und Lüge. Was ist mit den Bereichen, die dazwischen liegen? Es muss offen bleiben, was die Menschen in ihrem tiefsten Inneren „eigentlich“ dachten. Ihr Verhalten lässt sich nicht mit den Kategorien „wahr“ und „falsch“ bewerten, sondern das Menschliche ist gerade das Lavieren dazwischen, die laufende Umwertung gemachter Erfahrung. Man muss grundsätzlich davon ausgehen, dass der sowjetische Alltag für die Bürger des Landes die Normalität darstellte, in der sie lebten. Sie nahmen diese Normalität folglich weder als widersprüchlich noch als absurd wahr. Die meisten waren von den Grundsätzen des Sozialismus ehrlich überzeugt. Ihre Alltagspraktiken in den Ritualen des Komsomol oder beim halblegalen Organisieren des Lebensnotwendigen durch blat mögen Außenstehenden widersprüchlich erscheinen, waren es für die Insider jedoch nicht.20 Sie hatten Praktiken entwickelt, die es ihnen durch pragmatische Performanz im Alltag erlaubten, auftretende Ambivalenzen auszuhalten. Auf die „Ambivalenz“ als Konzept zum Umgang mit Widersprüchen wird unten näher eingegangen. Gegensätze waren also natürlicher Bestandteil des Alltags. Nicht umsonst stellt O. G. Usenko ins Zentrum seines Modells der Struktur der „Mentalität“ das „Paradigma“, das sich zusammensetzt aus dem konzeptionellen Weltgebäude, gesellschaftlichen Grundwerten, Vorstellungen von der Beschaffenheit der Wirklichkeit und einem System zur Weltbeschreibung, bestehend aus rund 20 binären Gegensätzen, die das Bewusstsein als „universell“ bestimmt.21 Damit bezieht er sich auf zentrale Thesen der Diskurstheorie. David Howarth erläutert den Funktionsmechanismus des Auflösens von Antagonismen durch die „Logik der Differenz“ anhand der Kolonialherrschaft: Der grundlegende Antagonismus zwischen Herrschern und Beherrschten wird durch ein System von nicht-antagonistischen Differenzen ersetzt. Darin gestalten sich die Beziehungen entweder durch teilweise Assimilation oder durch „teilen und herrschen“. Wer sich gegen die Teilnahme an diesem Prozess wehrt, wird gewaltsam ausgeschlossen. Durchbrochen wird die „Logik der Differenz“ nur, wenn es gelingt, die solchermaßen verwischte Grenze zwischen „Herrschern“ und „Beherrschten“ freizulegen.22 Genau diese Verwischung der Grenzen zwischen Individuum und System war der Teil der sowjetischen Kultur, der in den Fallstudien in unterschiedlichen Ausprägungen zutage trat. Mächtige binäre Oppositionen und Antagonismen überblenden allzu leicht die weiten Felder der Möglichkeiten, die um sie herum angesiedelt sind. Um diese Brachen ging es in der vorliegenden Arbeit. Es sind Felder, die in den Debatten um Identität und Subjektivität durch Ansätze zu „Grenzen, Hybridität und Performativität“ als „In-betweenness“ und „Differenz“ thematisiert werden.23 Die Kombination von Teilhabe und Einschüchterung, die Integration in die Mechanismen der
19 Bei Kharkhordin: Reveal and Dissimulate, sowie bei Jeremy Morris: The Empire Strikes Back: Projections of National Identity in Contemporary Russian Advertising. In: The Russian Review 64 (2005), S. 642–660, hier S. 651. 20 Yurchak: Hegemony of Form, S. 484–485. 21 O. G. Usenko: k opredeleniju ponjatija „mentalitet“. In: Rossijskaja mental’nost’: Metody i problemy izučenija. Hg. Von A. A. Gorskij, E. Ju. Zubkova, A. I Kuprijanov und L. N. Puškarev. Moskau 1999 (Mirovosprinjatie i samosoznanie russkogo obščestva 3), S. 23–77, hier S. 49. 22 David Howarth: Discourse Theory. In: Theory and Methods in Political Science. Hg. von David Marsh und Gerry Stoker. Basingstoke 1995, S. 116–133, hier S. 121–123. 23 Susan Stanford Friedman: Das Sprechen über Grenzen, Hybridität und Performativität. Kulturtheorie und Identität in den Zwischenräumen der Differenz. In: Mittelweg 36 (2003) Nr. 5, S. 34–52.
321
Herrschaft und die sich daraus ergebende Rollenvielfalt der Einzelnen und ihrer Handlungsspielräume veränderten sich zwar immer wieder im Laufe der sowjetischen Geschichte, waren aber die Elemente, die das System stabilisierten: Individuum und System bildeten keine Opposition und waren nicht klar voneinander getrennt. Die von Teilen der Forschung wie vom sowjetischen Dissenses der siebziger Jahre gepflegten Dichotomien von privat und öffentlich, gut und böse, Wahrheit und Lüge dienen dem Zweck, die verwischten Grenzen der Macht freizulegen. Die Betonung der binären Oppositionen ist gekoppelt mit der moralischen Kritik an der Konformität, am Mitläufertum der Mehrheit der sowjetischen Bürger. Damit wird implizit das sozialistische System als insgesamt „unmoralisch“, als krank machend bewertet und die Existenz eines „anderen“ Systems angenommen. Die Behauptung einer klaren Trennung, die Annahme der Trennbarkeit von Sphären wie „privat“ und „öffentlich“ überhaupt, die den binären Oppositionen zu Grunde liegt, dient seit der Perestrojka auch der moralischen Selbstlegitimierung einzelner Akteure nach dem Ende des Systems.24 Sie sollte den Blick aber nicht ablenken von verbreiteten Alltagspraktiken, von komplexen Realitäten und Verflechtungen, die für die meisten Menschen „Normalität“ darstellten.
Gruppen und Kollektive Im Zusammenhang der spätsowjetischen Geschichte stellt sich die Frage, wie sich die Konstruktionsweisen und -schemata der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster und der Identitäten sowjetisch sozialisierter Menschen wandelten, und welche Gruppen sich erkennen lassen, Fragen, die an die Debatten der Mentalitätsgeschichte und der Diskurstheorie der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts anknüpfen. Besonders für die Stalinzeit wurden die „Hermeneutik der Seele“ und die „Techniken des Selbst“ in den letzten Jahren anhand von Selbstzeugnissen vor allem für Parteimitglieder intensiv untersucht.25 Die stalinistische „Zivilisation“ galt dabei als Schlüsselphase der Geschichte des sowjetischen Sozialismus. Sie steht als Kultur, die aus der „Ideologie“ eine alltagswirksame Weltkonzeption und Werteordnung schuf, ein System von Konventionen, das individuelle wie kollektive Handlungs- und Deutungsmuster sowie die gesamte Gesellschaftsstruktur prägte. Die Ideologie wirkte im Alltag als Ensemble von mächtigen Legitimierungsdiskursen, die neben Terror auch Teilhabe materieller und ideeller Art ermöglichten. Diese Diskurse garantierten, einmal fest installiert, die Stabilität des Systems auch nach dem Ende des Terrors.26 Vielleicht waren es aber nicht so sehr die Diskurse selbst, sondern die Institutionen und Akteure, die Diskurse „installierten“: Während nach der Revolution einige der Werte vermittelnden Institutionen wie Kirche und Familie abgeschafft wurden, waren in den dreißiger Jahren neue Institutionen wie Pioniere und Komsomol nachgewachsen, die sowjetischen Bildungsinstitutionen etabliert und die Familie rehabilitiert. Zugänge über die Macht der Diskurse lassen die weit verbreiteten Alltagspraktiken des sich Arrangierens, des Rückzugs und ökonomische Praktiken der Anpassung und „Normalisiserung“ wie etwa blat außer acht, die ebenfalls stabilisierend wirkten. Der Terror kann analog zu anderen „Großprojekten“ als „Mobilisierungskampagne“ verstan-
Die Quadratur des Kreises 24 Yurchak: Hegemony of Form, S. 484. 25 Igal Halfin: Looking into the Oppositionist’s soul. Inquisition, Communist Style. In: Russian Review 60 (2001) Nr. 3, S. 316–339. Jochen Hellbeck: Fashioning the Stalinist Soul. The Diary of Stepan Podlubnyj (1931–1939). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996) Nr. 3, S. 344–373. Überblick bei Astrid Hedin: Stalinism as a civilization. New Perspectives on Communist Regimes. In: Political Studies Review 2 (2004) Nr. 2, S. 166–184. 26 Kharkhordin: Reveal and Dissimulate, S. 357; Stephen Kotkin: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. Berkeley 1995.
den werden, die breiten Schichten entgegenkam: Die Schauprozesse bedienten die Ressentiments breiter Bevölkerungsteile gegen „die da oben“ und damit sowohl sowjetische wie traditionelle Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen. Die „Säuberungen“ machten Positionen für Aufstiegswillige frei, die Verurteilung von „Schädlingen“ als „Saboteure“ erklärte, warum die Ankunft des Kommunismus auf sich warten ließ und vertröstete.27 Zugleich lähmte der Terror die besonders betroffenen Führungsschichten und Teile der Bevölkerung. Er war beides, „funktional“ und „dysfunktional“, wie es am deutlichsten an den Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion mit ihrer beinahe zur Handlungsunfähigkeit „gesäuberten“ Armee sichtbar wurde. Möglicherweise ist dies ein Hinweis darauf, dass Funktionalität nicht die geeignete Kategorie der Analyse, sondern eine Frage des Standpunktes ist. Betrachtet man die Sowjetunion aus der Perspektive von historischen Generationen, stellt sich die Frage, wie sich die Konstitution von individuellen und Gruppenidentitäten im Lauf der Zeit wandelte. In den Selbstdarstellungen der frühen Kommunisten hatte, nur als Beispiel, ein „Erweckungserlebnis“ seinen festen Platz. Das musste sich zwangsläufig ändern. Spätere Sowjetbürger, die in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen waren, teilten andere Erfahrungen, waren von Kollektivierung, Hunger, Aufbauenthusiasmus, sich verschiebenden und entwickelnden sowjetischen Wertordnungen geprägt. Industrialisierung, Urbanisierung, Krieg und Sieg veränderten den Alltag aller Bevölkerungsgruppen in der Stadt und auf dem Land.
Die „große Dichotomie“ privat und öffentlich Das Augenmerk dieser Studie galt in besonderem Maß den Lebenswelten der Chruščev-Zeit. Im Zentrum standen nicht die „Techniken des Selbst“, sondern die öffentlichen Räume als Kommunikationsräume für Machtverhandlungen. Dabei spielen Selbstkonstruktionen und –Wahrnehmungen von Individuen und Gruppen als kommunizierende Akteure eine Rolle. Vieles weist darauf hin, dass die Selbstwahrnehmung und die lebensweltliche Einbindung nicht auf die Gesamtgesellschaft, die Partei oder den Staat bezogen war, sondern auf die konkret erfahrbaren Gruppen, denen die Einzelnen angehörten. Was geschieht mit der Dichotomie „privat“ und „öffentlich“ in einem solchen Kontext? Privat und öffentlich sind, räumlich begriffen, letztlich relationale Kategorien. In der Sowjetunion kann man sie, wie die Auswertung der Fallstudien nahe legt, als Gegensatz zwischen Funktion, innerhalb des sozialen Systems, und Person, innerhalb der Klein-Gruppe, der Familie und des Freundeskreises auffassen. Die „öffentliche Person“ ist Rollenträgerin und mit den Insignien der Macht ausgestattet. Sie wird daher als geschützt und mächtig erlebt, selbst wenn es sich nur um die Hausmeisterin handelt. Die „Vigilanz“, die bereits früh als Bestandteil korrekten Verhaltens geforderte Einmischung in die Angelegenheiten anderer „Mitglieder der Gemeinschaft“28 lässt sich jedoch wie andere Kommunikationsmuster im öffentlichen Raum auch auf vorrevolutionäre bäuerliche Praktiken zurückführen.29 Die revolutionären Werte waren neu, nicht aber die sozialen Praktiken der Umsetzung, ebenso wenig wie die Bezugsgröße solcher Praktiken auf überschaubare „Kollektive“. Soziale Kontrolle funktionierte gerade in der Chruščev-Zeit über solche Kollektive, denen sich die informellen Freundeskreise an den Küchentischen und Dichterlesungen zugesellten. Diese Grup-
27 Hedin: Stalinism, S. 175. 28 Vgl. comradely admonition bei Kharkhordin: Reveal and Dissimulate, S. 345. 29 Goehrke: Sowjetische Moderne, S. 394.
323
pen bildeten die wichtigsten, nicht unbedingt als widersprüchlich erfahrenen lebensweltlichen Kommunikationsräume. Gesellschaftlicher Wandel zeigte sich auf der Ebene von individuellen Rollenverhalten und Gruppenzugehörigkeiten. Ein erheblicher Unterschied zum „Stalinismus“ bricht etwa im Fall des jungen Mannes an der Gor’kijstrasse auf, der ganz offensichtlich in seinem Alltag mehrere gesellschaftliche Rollen für sich beanspruchte: Tagsüber war er ein angepasstes Mitglied seines ArbeitsKollektivs. Abends wechselte er die Kleider und gehörte nun zu einer ganz anderen Gruppe, zu den jugendlichen stiljagi, die sich im Zentrum Moskaus öffentlich zeigten. Alles weist darauf hin, dass für den jungen Mann selbst dieses Verhalten ganz „normal“ und seiner Umwelt angepasst war. Der handlungsorientierte Zugang der Fallstudien gab den Blick frei auf eine neue Vielfalt der Formen sozialer Interaktion, an denen Individuen teilhaben konnten. Es gab neue Kollektive „von oben“ im Rahmen der „horizontalen“ Kontrollversuche durch Patrouillen, Hauskomitees, Nachbarschaftsgerichte und Sozialfürsorge. Es gab aber noch vielfältigere Gruppenbildungen „von unten“ in Form von Freundeskreisen, Kunstbewegungen, Dichterlesungen, Bardenkonzerten und Moden. Individuen konnten eine Vielfalt von Rollen einnehmen, mehrere zugleich, abwechslungsweise oder nacheinander im Lebensverlauf. Es entwickelte sich also, entgegen dem Stereotyp vom „doppelten“, bipolaren Sowjetmenschen mit seinem offiziellen und privaten Selbst, eine Vielzahl möglicher Varianten der Selbstdarstellung, der Nachahmung und auch des Rollenwechsels und der Kontaktzonen.
Lebenswelten, Sozialismus und Ambivalenz Die Ergebnisse der Fallstudien führten zu einer lebensweltlichen Wahrnehmung der Räume. Diese ganzheitliche Wahrnehmung vermag Gegensätze zu integrieren, auch wenn sie widersprüchlich sind. Das Integrationsvermögen von Gegensätzen hat sich als Kennzeichen der sowjetischen Lebenswelten herausgestellt: Sie waren in hohem Maße von Ambivalenzen geprägt. „Ambivalenz“ bietet sich daher zur Konzeptualisierung der Erfahrung der Widersprüchlichkeit an. Der Begriff der Ambivalenz tauchte erstmals im Zusammenhang mit der psychoanalytischen Theoriebildung bei Eugen Bleuler (1858–1939) als entgegen gesetztes Streben im Denken, Wollen und Fühlen auf.30 Im Gegensatz zur Schizophrenie bezeichnet Ambivalenz keine psychische Störung, sondern eine Erfahrung. Eine Störung kann allerdings dann auftreten, wenn sich beim Individuum keine Toleranz für Ambivalenzen entwickelt. Konstitutiv für Ambivalenzen ist „die Erfahrung einander diametral entgegengesetzter Strukturen in der Dynamik der [identitätsrelevanten] Felder individuellen und kollektiven Handelns“. Wesentliches Merkmal der Ambivalenz ist die Annahme, dass die erfahrenen Gegensätze letztlich unauflösbar seien und irgendwie ausgehalten werden müssten. Daraus entsteht eine Dynamik des inneren Hinundhergerissenseins, des Oszillierens.31 Die andauernde „Ambivalenz“ der sowjetischen Lebenswelten forderte leDie Quadratur des Kreises benspraktische Bewältigung ein. Ambiva-
30 Zur Genese des Begriffs vgl. Kurt Lüscher: Ambivalenz – Eine Annäherung an das Problem der Generationen. Die Aktualität der Generationenfrage. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 53–78. 31 Lüscher: Ambivalenz, S. 61–62.
lenzen ergaben sich aus den allgegenwärtigen Widersprüchen zwischen der propagierten Ideologie und den Lebensverhältnissen im Alltag, wie die Anpassungsstrategien zeigen. Während der heroisch geprägten Stalinzeit bestand der Anspruch an die Bürger, selber zur durch und durch „sozialistischen Persönlichkeit“ zu werden. Es wäre zu untersuchen, ob die Ambivalenzerfahrungen damals schmerzlicher erlebt wurden als nach 1953. Kognitiv zumindest wurde nun weithin getrennt zwischen „Sozialismus als Idee“ und dem sozialistischen Staat mit seinen Funktionären. Das „erklärte“ die Gegensätze zwischen Propaganda und erlebter Realität und machte es möglich, auf pragmatische Weise mit dieser Realität umzugehen. Die „Erneuerung des Sozialismus nach Stalin“ fasste die erlebten Widersprüche sogar in eine offizielle Losung und versprach Besserung. Die Pracht der Zeremonialachsen verwandelte sich im Alltag in Unwirtlichkeit. Die Stadtoberfläche blieb heterogen, das „Neue Moskau“ ein verinseltes Konzept, Baugruben waren letztlich doch keine Paläste und der Alltag zwischen den bröckelnden Fassaden blieb mühselig. In der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft mit ihrem erheblichen Mangel an Männern bewältigten die Frauen alle wesentlichen Probleme des Alltags und dominierten zumindest zahlenmäßig auch die Arbeitswelt. Auf der gesellschaftlichen Entscheidungsebene waren sie aber nicht vertreten. Trotzdem oder gerade deswegen wurden sie in den Bildern an die Häuslichkeit zurückgebunden. Die Autorität der Frauen in der alltäglichen Praxis mag ein Grund dafür gewesen sein, dass sie die Mehrfachbelastung durch Arbeit, Haushalt und Kinder als selbstverständlich hingenommen haben. Die Erinnerungen insbesondere von Sowjetbürgern, die von den Privilegiensystemen ausgeschlossen waren, wurden geprägt vom unauflösbaren Konflikt zwischen dem mühsamen Alltag, erfahrenen Ungerechtigkeiten und Demütigungen auf der einen und dem Gefühl, zu einer „großen Familie“ zu gehören und die Fürsorge des Staates in Form sozialer Sicherheit zu genießen, auf der anderen Seite.32 Der Sozialismus geriet für sie zur ambivalenten Erfahrung. Auf die Errungenschaften und Leistungen wie die Moskauer Metro oder Gagarins Weltraumflug waren alle stolz. Als „Idee“ oder „Volksreligion“ war der Sozialismus herrschender Konsens und Teil ihrer Identität. Ambivalenzen bestanden etwa bezüglich der Wohnraumknappheit, dem Spannungsverhältnis zwischen Mangel und bescheidenem Wohlstand, Erfolgen in der Raumfahrt und Defizitwirtschaft, Privilegiensystem und um sich greifender Korruption. Die Gegensätze zwischen der Propaganda für die Neubauwohnungen und deren tatsächlicher Qualität waren unübersehbar und dennoch selbstverständlich in die alltäglichen Wahrnehmungsmuster integriert. Um die Spannungen auszuhalten, half Humor. Ein sowjetischer Witz aus der Zeit fragte: Was ist der Unterschied zwischen dem Sputnik und der Erde? Im Sputnik geht das Hundeleben zu ende, auf der Erde geht es weiter. (Die Weltraumhündin Laika war im All an Überhitzung verendet). Die Enge von Wohnräumen oder die Unwirtlichkeit von Zwischenräumen sind relative Größen. Indem sich die Menschen jeweils ihre Räume durch das Einrichten selber mit konstituierten, passten sie die Räume ihren Bedürfnissen an und identifizierten sich damit. Die Einrichtung der eigenen Wohnung und die Auswahl der Objekte, mit denen sie sich umgaben trugen zur Konstitution ihrer Identität bei. Eine wesentliche Rolle bei der Akzeptanz von Widersprüchen und Einschränkungen, der lebenspraktischen Bewältigung von Ambivalenzen, spielten die Erfahrungsräume. Viele Menschen hatten keine Vergleichsmöglichkeiten. Sie konnten nicht reisen, und da in der Umgebung alle in ähnlich beengten Verhältnissen lebten und ähnliche Erfahrungsräume hatten, bestand kein Anlass zur Unzufriedenheit. Hinzu kam, dass die Fallstudien Moskau behandeln, das Zentrum in einer zentrumslastigen Kultur, das in jeder Hinsicht für sowjetische 32 Cvetaeva: Biografičeskie narrativy, S. 153.
325
Verhältnisse besonders gut versorgt war. Deshalb fühlten sich die Moskauer ohnehin privilegiert. Auflösungserscheinungen ergaben sich folgerichtig nach dem Krieg, als Heimkehrer neue Erfahrungswerte und Vergleichsmöglichkeiten aus den eroberten und später aus den besetzten Gebieten mitbrachten, mit den Bildern der äußerst beliebten Beutefilme sowie mit der Öffnung nach Westen, etwa nach dem Weltjugendfestival 1957 und der Amerikanischen Ausstellung in Moskau 1959 sowie zunehmendem Touristenverkehr. Auch die Amnestie und die Rückkehr von Lagerhäftlingen und Rehabilitierten in Millionenzahl erschütterten die sowjetischen Lebenswelten, weil sie hinter der vermeintlichen Normalität Widersprüche sichtbar machten. Neue Erfahrungs- und Kommunikationsgemeinschaften entstanden, neue Grenzüberschreitungen und Identitätsentwürfe wurden möglich.
Hybride Moderne Der Zugang zur sowjetischen Geschichte über die Kategorie Raum ermöglicht die Definition einer sowjetischen Form von „Moderne“ über die Spezifika sowjetischer Räume. Die Pluralisierung der Lebensstile in einer sich modernisierenden Gesellschaft war ein wesentliches Merkmal der sowjetischen Gesellschaft seit Mitte der fünfziger Jahre. Die konsumorientierte Massengesellschaft sowjetischen Typs war gekennzeichnet von einer Vervielfältigung der Lebensstile, die von einem gesellschaftsutopischen Grundkonsens zusammengehalten wurden. Die Trennungslinie oder Grenze zwischen oben und unten, Herrschern und Beherrschten verwischte sich immer stärker. Viele Sowjetbürger kombinierten Rollenidentitäten und Gruppenzugehörigkeiten von beiden Kategorien, sie hatten hybride Identitäten und wechselten im Alltag von einer Rolle in die andere. Für sie waren Ambivalenzerfahrungen Teil ihrer lebenspraktischen „Normalität“. Das analytische Verständnis des Raumbegriffs vervielfacht die Beobachtungsstandpunkte und die Sichtweisen. Es erweitert die Erkenntnishorizonte. Auf den ersten Blick erscheinen die Prozesse und Gefüge des relationalen und dynamischen Raumbegriffs durch ihre scheinbare Konturen- und Grenzenlosigkeit verwirrend. An den konkreten Beispielen wird dann jedoch deutlich, dass mit der Ablösung des Raumbegriffs von der physikalischen Dreidimensionalität und der Integration sehr verschiedener Wahrnehmungsmuster neuartige Erkenntnisgewinne möglich werden. Der aus der Physik „befreite“ Raumbegriff, angewendet auf konkrete Sachverhalte und gesellschaftliche Entwicklungen, gestattet Einsichten in Lebenswelten, die sich in dieser Schärfe und Plastizität mit den bisher geübten Erkenntnismitteln so nicht gewinnen lassen. Die Fallstudien zeigen, wie die Verknüpfung von „Bild“ und „Raum“ auf der individuellen, der strukturellen und der symbolischen Ebene wirksam wurde. In den individuellen Lebenswelten trafen diese drei Ebenen zusammen: Die Analyse der Räume beschäftigte sich mit sichtbaren Gegensätzen in der Stadtoberfläche, die gesellschaftliche Widersprüche abbilden. Sie erlaubte über die Konstitutionen individueller und kollektiver sozialer Räume eine Annäherung an den pragmatischen Umgang mit den Widersprüchen in den lebensweltlichen Praktiken. Als weiter zu verfolgendes Schlüsselkonzept, gerade auch im Hinblick auf die laufenden ProDie Quadratur des Kreises zesse kommunikativer Erinnerung an die Sowjetzeit, bietet sich dabei der Begriff der „Ambivalenz“ an. Insofern ist die Bedeutung der vorgelegten Untersuchung nicht auf die in ihr behandelten Fallstudien beschränkt. Sie ist ein empirischer Versuch zur Anwendung der analytischen Kategorie „Raum“ als Teil des LebensweltKonzeptes.
327
Verzeichnisse
Verzeichnisse Abbildungen Umschlag Titelbilder der Zeitschriften Stroitel’stvo Moskvy und Sovremennaja Architektura aus den zwanziger und dreißiger Jahren: (ETH-Bibliothek Zürich, Sammlung Alte Drucke). Moskauer Orte Abb. 1: Vom Architekten A. V. Ščusev gezeichneter Plan von 1923, Ausschnitt. Abb. 2: Generalplan von 1935, Ausschnitt, aus: Sovetskaja Architektura 10–11 (1935), Einlage. (ETH-Bibliothek Zürich, Sammlung Alte Drucke) Abb. 3: Plan Moskvy: kartoschemy, ukazatel’ i spravočnye svedenija. Hg. von M. V. Balabanov. Moskau 1968, Ausschnitt. Abb. 4: Schema der zentralen Magistralen und der Hochhäuser. Visuelle Kultur Abb. 5: Stroitel’stvo Moskvy (1926) Nr. 12, (1927) Nr. 11, (1928) Nr. 10, (1929) Nr. 2, 4 Abb. 6: Stroitel’stvo Moskvy (1929) Nr. 5, 8, 9, 11, (1930) Nr. 1, 5 Abb. 7: Stroitel’stvo Moskvy (1930) Nr. 11, (1931) Nr. 1, ?, 6, 7 Abb. 8: Stroitel’stvo Moskvy (1932) Nr. 1, 5, 6, 8–9, 10, 11–12 Abb. 9: Stroitel’stvo Moskvy (1933) Nr. 1, 4, 5–6, 7,: 8, 9 Abb. 10: Stroitel’stvo Moskvy (1933) Nr. 10–11, 12, (1934) Nr. 1, 3, 11, 12 Abb. 11: Stroitel’stvo Moskvy (1935) Nr. 7–8, (1936) Nr. 2, 7, (1937) Nr. 1, 4, 10 Abb. 12: Stroitel’stvo Moskvy (1939) Nr.1 Die Gor’kijstrasse Abb. 13: „Blick in die Strasse vom Ochotnyj rjad, 1930er Jahre”. Fotograf unbekannt. CMADSN 2-3808. Abb. 14: Schema aus der Dokumentation „Sovetskaja Architektura 1917–1957“, Moskau 1950, ohne Paginierung. Abb. 15: Gorkijstrasse, Ščusev-Museum Fototeka, Nr.: XI-20006, Blick in Richtung Roter Platz 1957. Abb. 16: Bild der Verschiebung eines Hauses an der Gor’kijstrasse in Architektura SSSR: (1938): Nr. 5, S. 10: (ETH-Bibliothek Zürich, Sammlung Alte Drucke). Abb. 17 und 18: 2 Abbildungen „Die Gor’kijstrasse während der Rekonstruktion”, 1937–1938, Fotograf unbekannt. CMADSN 2–4263 und 2–4327 Abb. 19: CMADSN 1–6831, B. Trepetov 1961 „Abends auf der Gor’kogo” (Podarki).Abb. 20: „Abends auf der Gor’kogo” von V. Langranž 1962 (Berjoska-Laden) Abb. 21: Eine Eisesserin im schicken Kleid, mit Hochfrisur und Pfennigabsätzen vor moderner Eisdiele Foto aus der Reihe „in der Gorkijstrasse” von 1962 (Naum Granovskij) CMADSN 135337 Abb. 22: Die: „Koktejl choll“ an der Gor’kijstrasse 6 in „Dreißig Jahre Sowjetische Architektur in der RSFSR. Leipzig 1950, Abb. 46. Abb. 23: „Koktejl choll“: Die Zeitschrift Korokodil’ (1954) Nr. 1 brachte eine Karikatur. Hier aus Ost-Probleme (1964) Nr. 8, S. 324.
329
Abb. 24: Stiljagi an der Gor’kijstrasse. Foto aus Paul Thorez: Moskau. Lausanne 1964. Abb. 25: Karikatur „Die alten Männer und das Meer” aus Krokodil’ (1961) Nr. 20, aus: Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 139. Abb. 26: Dichterlesung am Majak, aus: Paul Thorez: Moskau. Lausanne 1964. Abb. 27: Karikatur aus Molodoj kommunist (1962) Nr. 1, zitiert nach Ost-Probleme 14 (1962) Nr. 5, S. 133. Abb. 28: Abbruch an der Gor’kogo. Architektura SSSR: (1938) Nr. 4, S. 27 (ETH-Bibliothek Zürich, Sammlung Alte Drucke). Abb. 29: „In der Gor’kijstrasse 1962” von Naum Granovskij, Agenturfoto, Teil einer Reihe. CMADSN 1–7400. Abb. 30: N. I. Osenev, Moskau im Winter, 1967. Abb. 31: „Lichterzeitung über dem Restaurant Sofia an der Gorkijstrasse” Fotograf unbekannt, 1965, CMADSN 1–38832 Die Lubjanka Abb. 32: Panorama um 1910 (Ščusev OC–1972) Abb. 33: Hochhaus-Projekt von V. Krinskij, 1922, Fotomontage. Abb. 34: Foto der Lubjanka von: Barabanov, 1980 (Ščusev XI–38243) Abb. 35: Fotograf unbekannt. Detskij mir,: 1958 (Ščusev XI–20772) Abb. 36: Platzpanorama aus Nikolaj Rachmanov: Moskovskie motivy. Moskau 1969: Gegenwelt Sucharevka Abb. 37: Postkarte mit Sucharev-Turm und Markt. Abb. 38: Sucharev-Markt aus Alexys A. Sidorow: Moskau. Mit Originalaufnahmen von Eremin, Grünberg, Klepnikow u.a. Berlin 192, S. 78. Abb. 39: 4 Abb. Markthalle von Mel’nikov,Quelle: http://home.iae.nl/users/wie/melnikov/proj/ soecharevmarkt/eng1 Abb. 40: Sucharev-Turm während des Abbruchs. Fotograf unbekannt, Privatbesitz. Abb. 41: CMADSN 2–3849. Autor unbekannt, Sucharev-Platz nach dem Abriss des Turms, um 1934. Abb. 42: Kolchosplatz 1973, Fotograf unbekannt, Privatbesitz. Mythos Arbat Abb. 43: Smolensker Markt Anfang 1920er Jahre, Ščusev II–1730. Abb. 44: Rekonstruktion der Smolenskaja 1933. Fotograf unbekannt, Privatbesitz. Abb. 45: CMADSN 2–4269, Arbatstrasse in den Dreissigerjahren. Fotograf unbekannt. Abb. 46: Smolenskaja Ploščad’, 1970er Jahre. Fotograf unbekannt, Privatbesitz. Abb. 47: Arbatskaja Ploščad’ mit Restaurant Praga 1956. Fotograf unbekannt, Privatbesitz. Abb. 48: Nikita Sergeevič Chruščev 1962 mit dem Modell des Neuen Arbat, aus Stroitel’stvo i architektura Moskvy 6 (1962), S. 1. Bildlegende: „N. S. Chruščev, F. R. Kozlov, P. N. Demičev oznakomilis’ s proektam dal’nejšej rekonstrukcii stolicy. ( ... informierten sich über das Projekt der weiteren Rekonstruktion der Hauptstadt) Abb. 49: Walter Ulbricht 1953 mit dem Modell von Dresden. Verzeichnisse Abb. 50: Hundeplätzchen, CMADSN 0–66198. Abb. 51: Abbruchbirne CMADSN 1–27059, „Abriss alter Häuser im Gebiet des zukünftigen
Neuen Arbat. 1964. Foto: Ponomarev. Abb. 52: Neuer Arbat bei Frost, CMADSN 1–26539, Fotograf Ponomarev. Abb. 53: Stroitel’stvo i Architektura Moskvy (1963) Nr. 4, S. 18, Abb. 11 und 12. Abb. 54: Aquarellierte Skizze farbig aus Stroitel’stvo i Architektura Moskvy (1961) Nr. 12, S. 12 „Blick in Richtung Gartenring“ aus einer Reihe ähnlicher Visualisierungen des Neuen Arbat. Abb. 55: Schaufenster am Kalinin-Prospekt. Aus: G. V. Makarevič: Prospekt Kalinina. Moskau 1975, S. 148. Novye Čeremuški Nr. 9 und 10 Abb. 56: Plan Moskvy: kartoschemy, ukazatel’ i spravočnye svedenija. Hg. von M. V. Balabanov. Moskau 1968. (Ausschnitt) Abb. 57: Südwesten aus Sovetskaja Architektura, 1917–1957, Moskau 1957. Abb. 58: CMADSN 1–25875 „Eine Strasse in Novye Čeremuški”. Fotograf unbekannt, Aufnahme von Mosgorstroj (städtisches Bauamt) 1957. Abb. 59: Ščusev Museum 21522: Novye Čeremuški Nr. 9, dom Nr. 6. Fotograf Tartakovskij, ohne Datum. Abb. 60: Plan aus Sovetskaja Architektura. Ežegodnik 1956–1957. Moskau 1961, Kapitel über Novye Čeremuški Nr. 9, ohne Paginierung, Legende: Abb. 18 Schema general’nogo plana kvartala. Abb. 61: Innenräume, Zeichnungen in Architektura i Stroitel’stvo Moskvy (1956) Nr. 6,: S. 6. Abb. 62: CMADSN Nr. 1–21474, Aufnahme von V. Mastjukov für Sovinformbjuro, August 1958: „Portrait des Mitarbeiters der Maschinenbaufrabrik Leonid Medvedev, der mit seiner Familie in eine Zwei-Zimmerwohnung in Novye Čeremuški Nr. 9 einzieht.“ Abb. 63: Ščusev-Museum XI 21468. Profsojuznaja ulica, dom 13, kvartira 25. Wohnung der Kinderärztin A. S. Černaja. Foto A. A. Aleksandrov 1959. Abb. 64: Ščusev-Museum XI 21466. 2oj Čeremuškinskij proezd, dom 14, kvartira 27. Wohnung der Dozentin am Polygrafischen Institut N. A. Orlinskaja. Foto A. A. Aleksandrov 1959 Abb. 65: Ščusev-Museum XI 21470. Profsojuznaja ulica, dom 15, kvartira 19. Wohnung der Pensionärin I. A. Kuznecova. Foto A. A. Aleksandrov 1959. Abb. 66: Ščusev Museum XI 21465: „Novye Čeremuški Nr. 9, dom Nr. 12, kvartira 571 Wohnung des Architekten G. P. Pavlov. Kabinet.“ Foto A. A. Aleksandrov 1959. Abb. 67: Architektura i Stroitel’stvo Moskvy (1956) Nr. 6,: S. 7, Schema Wohnungsgrösse. Abb. 68: Ščusev XI–21469: Wohnung der Kinderärztin A. S. Černaja, Profsojuznaja ulica D. 13, kv. 25. Foto A. Aleksandrov. Abb. 69: Frau in Kommunal’ka-Küche, Foto von Philipp Pott, Moskau 2001. Abb. 70: Maquette aus: Architektura i Stroitel’stvo Moskvy (1956)Nr. 7, S. 21. Abb. 71: Ščusev XI–23607, Foto der Stolovaja in Kvartal‘ Nr. 9, Fotograf Pasternak 1960. Abb. 72: Titelblatt der Zeitschrift: Stroitel’stvo Moskvy aus dem Jahr 1929. Abb. 73: Narkomfin-Projekt von Ginzburg in Sovremennaja architektura: (1929) Nr. 5 (ETH-Bibliothek Zürich, Sammlung Alte Drucke) Abb. 74: Narkomfin-Haus, Grundrisse und Schnitte in SA: (1929) Nr. 5: (ETH-Bibliothek Zürich, Sammlung Alte Drucke) Abb. 75: Pläne Typ Wohnzelle F1 im Narkomfin-Haus aus SA: (1929)Nr. 4: (ETH-Bibliothek Zürich, Sammlung Alte Drucke) Abb. 76: Modell Wohnzelle F1 im Narkomfin-Haus aus SA: (1929) Nr. 4 (ETH-Bibliothek Zürich, Sammlung Alte Drucke) Abb. 77: Haus Neuen Lebens, erstes Projekt, Perspektivskizze
331
aus Arch i Str. (1962) Nr. 12 Abb. 12, S. 6. Abb. 78: Stroitel’stvo i Architektura Moskvy (1961) Nr. 4, S. 10, Abb. 28 Haus Neuen Lebens, erstes Projekt, Situationsplan Novye Čeremuški Nr. 10. Abb. 79: Stroitel’stvo i Architektura Moskvy (1961) Nr. 4, S. 4, Abb. 28, Dom Novogo Byta, Aufsicht Abb. 80: Dom-kompleks „Dom Novogo Byta“ von N. Osterman mit A. Petruškova, I. Kanaeva und G. Konstantinovskij; zweites, teilweise ausgeführtes Projekt, Grundrisse. Stroitel’stvo i architektura Moskvy: (1965 )Nr. 12, S. 10. Abb. 81: Dom-kompleks „Dom Novogo Byta“, Modellfoto. Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1965) Nr. 12, S. 12. Abb. 82: Interieur „Dom Novogo Byta”, Novye Čeremuški Nr. 10, Ulica Televidenija, (Heute Ulica Švernika), Ecke Bolšaja Čeremuškinskaja ulica. Fotograf Naum Granovskij 1968, Teil einer Reihe. Privatbesitz. Abb. 83: CMADSN 1–31355, alte Häuser im Raion Novye Čeremuški 1958. Höfe und Heterotopien Abb. 84: V. D. Polenov: Moskauer Hof, 1878. Abb. 85: A. P. Vasil’ev: Mein Hof, Moskau 1976. Abb. 86: Doppelseite 12 und 13 aus Sovetskaja architektura za XXX let. Abb. 87: Doppelseite aus Sovetskaja Architektura 1917–1957. Ohne Paginierung.
Literatur Agitation zum Glück. Sowjetische Kunst der Stalinzeit (Ausstellungskatalog). Hg. von Hubertus Gaßner, Irmgard Schleier, Karin Stengel. Bremen 1994. Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte: zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994 Helmut Altrichter: „Living the Revolution“. Stadt und Stadtplanung in Stalins Russland. In: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. Hg. von Wolfgang Hartwig. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 56). München 2003, S. 57–75. René Ahlberg: Prostitution in der Sowjetunion. In: Osteuropa 39 (1989) Nr. 6, S. 513–528. Iurii Aksiutin: Popular Responses to Khrushchev. In: Nikita Khrushchev. Hg. von William Taubman, Sergei Khrushchev und Abbott Gleason. New Haven usw. 2000, S. 177–208. Der Architektenstreit nach der Revolution. Zeitgenössische Texte, Russland 1925–1932. Hg. von Elke Pistorius. Basel usw. 1992. Sabine R. Arnold: Die Dankbarkeit der Heldenmasse. Jubiläumsfeiern in Volgograd. In: Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht. Hg. von Sabine R. Arnold, Christian Fuhrmeister und Dietmar Schiller. Wien 1997, S. 95–107. Steven E. Aschheim: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish consciousness, 1800–1923. Madison, NY 1982. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt a.M. 1988, S. 9–19. Verzeichnisse Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. München 1994.
Alan Ball: Russia’s Last Capitalists: The Nepmen, 1921–1929. Berkeley, Cal. 1987. Alan Ball: And Now My Soul Is Hardened. Abandoned Children in Soviet Russia, 1918–1930. Berkeley, Cal. usw. 1994 James H. Bater: The Soviet City. Ideal and Reality. London 1980. Nike Bätzner, Andrej Sorin: Chronik 1949–2002. In: Berlin-Moskva, Moskau-Berlin 1950–2000. Ausstellungskatalog. Chronik. Hg. von Pawel Choroschilow u.a., Berlin 2003, 261–387. Zygmunt Bauman: Moderne und Macht: die Geschichte einer gescheiterten Romanze, in: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument. Hg. von Romana Schneider und Wilfried Wang. Ostfildern-Ruit 2000, S. 13–32. Henri Béraud: Ce que j’ai vu à Moscou. Paris 1925. Walter Benjamin: Moskauer Tagebuch. Frankfurt a. M. 1980. Walter Benjamin: Der Erzähler. In: Ders.: Illuminationen. Frankfurt a. M. 2001, S. 385–410. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001. Alexis Berelovitch: Peredelkino: le village des écrivains. In : Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire, S. 199–212. Ronald Berg: Die Photographie als alltagshistorische Quelle. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte: zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. Von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 187–198. Beyond the Limits: The Concept of Space in Russian History and Culture. Hg. von Jeremy Smith. Helsinki 1999. Dietrich Beyrau: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985. Göttingen 1993. Sigrun Bielfeldt: Moskau. Der literarische Führer, Frankfurt a. M. 1993. Bildersturm in Osteuropa. Die Denkmäler der kommunistischen Ära im Umbruch, München 1994 (ICOMOS. Cahiers du Comité National Allemand XIII), S. 29–33. Christopher A. Binns: The Changing Face of Power: Revolution and Accommodation in the Development of the Soviet Ceremonial System. In: Man. The Journal of the Royal Anthropological Institute, New Series, 14 (1979), S. 585–606 und 1 (1980). Stephen V. Bittner: Green Cities and Orderly Streets: Space and Culture in Moscow, 1928–1933. In: Journal of Urban History 25 (1998) Nr. 1, S. 22–56. Alain Blum: Changer la ville, changer l’homme. In: Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 73–92. Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: Was ist ein Bild? Hg. von Gottfried Boehm. München 1994, S. 11–38. Jelena Bonner: Mütter und Töchter. Erinnerungen an meine Jugend 1923 bis 1945. München usw. 1992. Mauricio Borrero: Hungry Moscow. Scarcity and Urban Society in the Russian Civil War, 1917– 1921. New York usw. 2003 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 10. Aufl., Frankfurt a.M. 1998. Josette Bouvard: Symbolische Architektur in der Stalin-Ära: Die Moskauer Metro. In: Symbole und Rituale des Politischen. Ost- und Westeuropa im Vergleich. Hg. von Andreas Pribersky und Berthold Unfried. Frankfurt a.M usw. 1999 (Historisch-anthropologische Studien Bd. 4), S. 119–133 John E. Bowlt: Russian Sculpture and Lenin’s Plan of Monumental Propaganda. In: Art and Architecture in the Service of Politics. Hg. von Henry A. Milton und Linda Nochlin. Cambridge, Mass. 1978, S. 182–192.
333
Svetlana Boym: Common Places. Mythologies of Everyday Life in Russia. Cambridge/Mass. 1994. Svetlana Boym: From the Russian Soul to Post-Communist Nostalgia. In: Representations 49 (1995), special Issue: Identifying Histories: Eastern Europe Before and After 1989, S. 133– 166. Svetlana Boym: Graphomanie. Literarische Praxis und Strategie ihrer Sabotage. In: Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hg. von Jurij Murašov und Georg Witte. München 2003, S. 39–58. Horst Bredekamp: Drehmomente – Merkmale und Ansprüche des Iconic turn. In: Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Hg. von Christa Maar und Hubert Burda. 3. Aufl., Köln 2005, S. 15–26. Vladimir Bukovsky: To Build a Castle. My Life as a Dissenter. New York 1978. Wladimir Bukowski: Wind vor dem Eisgang. Berlin usw. 1978. L. Bumažnyj: Planirovka jugo-zapadnogo rajona v moskve. In: Architektura SSSR (1936) Nr. 9, S. 3–8. Victor Buchli: Khrushchev, Modernism, and the Fight Against Petit-Bourgeois Consciousness in the Soviet Home. In: Journal of Design History 10 (1997) Nr. 2, S. 161–176. Oksana Bulgakowa: Film-Phantasien im Wettbewerb. In: Berlin-Moskau, 1900–1950, S. 361–365. Peter Burke: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen. Berlin 2003. Lisa Cartwright: Screening the Body. Tracing Medecine’s Visual Culture. Minneapolis, Min. 1995. Greg Castillo: Peoples at an Ehibition: Soviet Architecture and the National Question. In: South Atlantic Quarterly 94 (1995) nr. 3, S. 715–546 (Special issue: Socialist Realism withourt Shores. Hg. von Thomas Lahusen und Evgeny Dobrenko). Boris Chasanow: Moskau als Zeichensystem. In: Merkur (1988) Nr. 2, S. 85–98. Natasha Chibireva: Airbrushed Moscow. The Cathedral of Christ the Saviour. In: The Hieroglyphics of Space. Reading and Experiencing the Modern Metropolis. Hg. von Neil Leach. London 2002, S. 70–79. Rudolph Chimelli: 9 mal Moskau. München 1987. David Christian: Imperial and Soviet Russia. Power, Privilege, and the Challenge of Modernity. London 1997. Katerina Clark: Petersburg, Crucible of Cultural Revolution. Cambridge, Mass 1995. Jean-Louis Cohen: Le Corbusier and the Mystique of the USSR: Theories and Projects for Moscow. Princeton 1992. Timothy Colton: Moscow. Governing the Socialist Metropolis. Cambridge, Mass. 1995. Nancy Condee: Cultural Codes of the Thaw. In: Nikita Khrushchev. Hg. Von William Taubman, Sergei Khrushchev, Abbott Gleason. New Haven usw. 2000, S. 160–176. Catherine Cooke: Beauty as a Route to ‚the Radiant Future’: Responses of Soviet Architecture. In: Journal of Design History 10 (1997) Nr. 2. Special Issue: Design, Stalin and the Thaw. Guest Editor: Susan E. Reid, S. 137–160. Edward Crankshaw: Russia Without Stalin. The Emerging Pattern. London 1956. Grigorij Čudakov: Einführung. In: Russische Fotografie 1917–1940. Hg. von David Elliott (Katalogbearbeitung). Berlin 1993, S. 9–26. Nina Nikolaevna Cvetaeva: Biografičeskie Verzeichnisse narrativy sovetskoj epochy. In Sociologičes kij Žurnal (2000) Nr. 1–2, S. 150–163.
Sarah R. Davies: Public Opinion in Stalin’s Russia. Terror, Propaganda and Dissent, 1934–1941. Cambridge, Mass. usw. 1997. Ekaterina Degot: Zwischen Massenreproduktion und Einzigartigkeit: Offizielle und inoffizielle Kunst in der UdSSR. In: Berlin-Moskau, Moskau-Berlin 1950–2000. Hg. Von Pawel Choroschilow, Jürgen Harten, Joachim Sartorius, Peter-Klaus Schuster. Berlin 2003, S. 133–137. Wilhelm Dilthey: Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat. In: Ders: Gesammelte Schriften. Bd. V. Stuttgart 1957, S. 36–41. Marina Dmitireva: Christus-Erlöser-Kathedrale versus Palast der Sowjets. Zur Semantik zeitgenössischer Architektur in Moskau. In: Kultur und Krise: Russland 1987–1998. Hg. von Elisabeth Cheauré. Berlin 1997 (Osteuropaforschung Bd. 39), S. 121–136. Evgenij A. Dobrenko: Metafora vlasti literatura stalinskoj epochi v istoričeskom osveščenii. München 1993 (Slavistische Beiträge 302). Evgeny Dobrenko: The Art of Social Navigation. The Cultural Topography of the Stalin Era. In: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space. Hg. Von Evgeny Dobrenko und Eric Naiman. Seattle usw. 2003, S. 163–200. Dokument und Konstrukt. Arkadij Schaichet. Fotografie zwischen N.E.P. und grossem vaterländischen Krieg. Hg. vom Deutsch-russischen Museum Berlin-Karlshorst. Berlin-Karlshorst 2001. Dreissig Jahre Sowjetische Architektur in der RSFSR. Hg. von der Deutschen Bauakademie. Leipzig o.J. (1951). Barbara Duden: Anatomie der guten Hoffnung: Bilder vom ungeborenen Menschen 1500– 1800. Frankfurt a. M. 2003. Barbara Duden.: Die Gene im Kopf – der Fötus im Bauch: Historisches zum Frauenkörper. Hannover 2002. Barbara Duden: Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17. – 20. Jahrhundert. Hg. von Barbara Duden u.a. Göttingen 2002. Jörn Düwel: Am Anfang der DDR: der Zentrale Platz in Berlin. In: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument. Hg. von Romana Schneider und Wilfried Wang. Ostfildern-Ruit 2001, S. 163–188. Mark Edele: Strange Young Men in Stalin’s Moscow: The Birth and Life of the Stiliagi, 1945– 1963. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 50 (2002), S. 37–61. Wolfram Eggeling: Die Sowjetische Literaturpolitik zwischen 1953 und 1970. Zwischen Entdogmatisierung und Kontinuität. Bochum 1994 (Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur Band 3). Irina Ehrenburg: So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert. Hg. von Antje Leetz. Berlin 1995. Angelus Eisinger: Die Stadt im Plan. Stadtdiskurse und visuelle Darstellungen im Schweizer Städtebau zwischen 1935 und 1948. In: Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Hg. von David Gugerli und Barbara Orland. Zürich 2002, S. 67–84. Nicholas J. Entrikin: The Betweenness of Place. Towards a Geography of Modernity. Basingstoke 1991. Mikhail Epstein : Russo-Soviet Topoi. In: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space. Hg. Von Evgeny Dobrenko und Eric Naiman. Seattle usw. 2003, S. 277–306. Elisabeth Essaïan: Le Plan Général de la Reconstruction de Moscou 1935: Transformation du centre historique. Zusammenfassung der DEA, Unveröff. Manuskript. Paris 2001. Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen. Hg. von Manfred Hildermeier, Jürgen Kocka und Christoph Conrad. Frankfurt usw. 2000.
335
Manfred Fassler: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit. Wien usw. 2002. Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. 2. Aufl., Berlin 1993. Deborah A. Field: Irreconcilable Differences: Divorce and Conceptions of Private Life in the Khrushchev Era. In: Russian Review 57 (1998) Nr. 4, S. 599–613. Donald Filtzer: Soviet Workers and De-Stalinization. The Consolidation of the Modern System of Soviet Production Relations, 1953–1964. Cambridge, Mass. 1992 (Soviet and East European studies, 87). Donald Filtzer: Women Workers in the Khrushchev Era. In: Women in the Khrushchev Era. Hg. von Melanie Ilič, Susan E. Reid und Lynne Attwood. Basingstoke 2004, S. 29–51. Volkhard Fischer: Ausländerstereotype und Gedächtnis. Hamburg 1992. Sheila Fitzpatrick: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s. New York usw. 1999. Sheila Fitzpatrick: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s. New York usw. 1999. Sheila Fitzpatrick: The Lady Macbeth Affair: Shostakovich and the Soviet Puritans. In: Dies.: The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia. Ithaca usw. 1992, S. 183–215. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981. Michel Foucault: Andere Räume. In. Stadt-Räume. Hg. von Martin Wentz. Frankfurt a. M. usw. 1991, S. 65–72. R. Antony French: Plans, Pragmatism and People. The Legacy of Soviet Planning for Today’s Cities. London 1995 (Pitt series in Russian and East European studies). Susan Stanford Friedman: Das Sprechen über Grenzen, Hybridität und Performativität. Kulturtheorie und Identität in den Zwischenräumen der Differenz. In: Mittelweg 36 (2003) Nr. 5, S. 34–52. Juliane Fuerst: Stalins Last Generation: Youth, State and Komsomol, 1945–1953. Unveröff. PhD, London School of Economics and Political Science, 2003. Dario Gamboni: The Destruction of Art. Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution. London 1997 (Picturing History). Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures. Selected essays. London 1993. Clifford Geertz: Centers, Kings, and Charisma. Reflections on the Symbolics of Power. In: Culture and its creators. Hg. von Joseph Ben-David und T. N. Clark. Chicago, Ill. 1977, S. 150–17. A. Geiges, T. Suworowa: Liebe steht nicht auf dem Plan. Sexualität in der Sowjetunion heute. Frankfurt a. M. 1989. Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005. Andrew Gentes: The Life, Death and Resurrection of the Cathedral of Christ the Savior, Moscow. In: History Workshop Journal 46 (1998), S. 63–95. Ekaterina Gerasimova: Sovetskaja kommunal’naja kvartira kak social’nyj institut. Istorikosiciologičeskij analis, Petrograd-Leningrad 1917–1991. Diss., St. Petersburg 2000 Iurii Gerchuk: The Aesthetics of Everyday Life in the Khrushchev Thaw in the USSR (1954–64). In: Style and Socialism. Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe. Hg. von Susan E. Reid und David Crowley. Oxford usw. 2000, S. 81–100. Verzeichnisse Laurent Gervereau: Les images qui mene tent. Histoire du visuel au XX siècle. Paris 2000.
Klaus Gestwa: Sowjetische Landschaft als Panorama von Macht und Ohnmacht. Historische Spurensuche auf den „Grossbauten des Kommunismus” und in dörflicher Idylle. In: Historische Anthropologie (2003) Nr. 1, S. 72–100. Monika Gibas: “Venus vom Sternenstädtchen”. Walentina Tereschkowa, Heldin der Moderne in der DDR. In: Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Hg. von Silke Satjukow und Rainer Gries. Berlin 2002, S. 147–157. Wladimir Giljarowski: Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen. Sittenbilder aus dem alten Moskau. Berlin 1988 (Moskva i moskviči, 1934). Sander Gilman: The Rediscovery of the Eastern Jews. German Jews in the East, 1890–1918. In: Jews and Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis. Hg. von David Bronsen. Heidelberg 1979, S. 338–367. V. V. Glebkin: Ritual v sovetskoj kul’ture. Moskau 1998. Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in Neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 3: Sowjetische Moderne und Umbruch. Zürich 2005. Alfons Goldschmidt: Moskau 1920. Tagebuchblätter. Hg. und eingel. Von Wolfgang Kiessling. Berlin (Ost) 1987 Gabriele Gorzka: Arbeiterkultur in der Sowjetunion. Industriearbeiter-Klubs 1917–1929: Ein Beitrag zur sowjetischen Kulturgeschichte. Berlin 1990. Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Berlin 1990. Paul Greenhalgh: Ephemeral Vistas. The Expositions Universelles. Great Exhibitions and World’s Fairs, 1951–1939. New York 1988. Jukka Gronow: The Sociology of Taste. London usw. 1997. Wassilij Grossmann: Alles fliesst. München 1985. Boris Groys: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. Aus dem Russ. von Gabriele Leupold. München usw. 1988. Leo Gruliow: Moskau. Mit Photos von Pete Turner und Dick Rowan. Amsterdam 1977 (TimeLife: Die grossen Städte). Wolfgang Hädecke: Eine Russlandreise. München 1974. Simone Hain: “Von der Geschichte beauftragt, Zeichen zu setzen”. Zum Monumentalitätsverständnis in der DDR am Beispiel der Gestaltung der Hauptstadt Berlin. In: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument. Hg. von Romana Schneider und Wilfried Wang. Ostfildern-Ruit 2001, S. 189–220. Igal Halfin: Looking into the Oppositionist’s soul. Inquisition, Communist Style. In: Russian Review 60 (2001) Nr. 3, S. 316–339. Peter Hall: Cities of Tomorrow. An Intellectual History of Urban Planning and Design in the Twentieth Century. Oxford 1988. Gerhard Hallmann: Russische Realisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rosenheim 1989. Harald Hamrin: Zwei Semester Moskau. Frankfurt a. M. usw. 1962. Gayle Durham Hannah: Legale und dissidente Formen politischer Kommunikation in der Sowjetunion nach Stalin. In: Osteuropa 26 (1976) Nr. 7, S.491–512. Christine Hannemann: Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR. Wiesbaden 1996. Heiko Haumann: Beginn der Planwirtschaft. Elektrifizierung, Wirtschaftsplanung und gesellschaftliche Entwicklung Sowjetrusslands 1917–1921. Düsseldorf 1974 (Studien zur modernen Geschichte Bd. 15). Heiko Haumann, Martin Schaffner: Überlegungen zur Arbeit mit dem Kulturbegriff in den Ge-
337
schichtswissenschaften, in: uni nova. Mitteilungen aus der Universität Basel 70 (1994) S. 18– 21. Heiko Haumann: Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft und Praxis gewalthafter Verhältnisse. Offene Fragen zur Erforschung der Frühgeschichte Sowjetrusslands (1917–1921). In: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994) S. 19–34. Heiko Haumann: Jugend und Gewalt in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus im lebensweltlichen Zusammenhang. In: Sowjetjugend 1917–1941: Generation zwischen Revolution und Resignation. Hg. von Corinna Kuhr-Korolev, Stefan Plaggenborg und Monica Wellmann. Essen 2001, S. 25–62. Heiko Haumann: „Eine sozialistische Lebensweise der Zukunft“. Die Sowjetunion zwischen 1929 und 1939. In: Utopie und Terror. Josef Stalin und seine Zeit. Hg. Von Eva Maeder und Christina Lohm. Zürich 2003, S. 15–40. Heiko Haumann, Andreas Guski: Revolution und Fotografie. In: O.10 – Iwan Puni und Fotografien der Russischen Revolution. Museum Tinguely, 12. April 2003 bis 28. September 2003. Bern 2003, S. 101–130. Heiko Haumann: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel. In: Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes. Hg. von Klaus Hödl. Innsbruck 2003 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien Band 4), S. 105–122. Heiko Haumann: Geschichte Russlands. 2., überarbeitete Auflage. Zürich 2003. Hartmut Häussermann: Topografien der Macht: Der öffentliche Raum im Wandel der Gesellschaftssysteme im Zentrum Berlins. In: Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900– 1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest. Stuttgart 2002, S. 81–96. Astrid Hedin: Stalinism as a Civilization. New Perspectives on Communist Regimes. In: Political Studies Review 2 (2004) Nr. 2, S. 166–184. Jochen Hellbeck: Fashioning the Stalinist Soul. The Diary of Stepan Podlubnyj (1931–1939). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996) Nr. 3, S. 344–373. Julie Hessler: Cultured Trade. The Stalinist Turn towards Consumerism. In: Stalinism. New Directions. Hg. von Sheila Fitzpatrick. London usw. 2000, S. 182–209. Maurice Hindus: Haus ohne Dach. Russland nach viereinhalb Jahrzehnten Revolution. Wiesbaden 1962. Maurice Hindus: Die Enkel der Revolution. Menschliche Probleme in der Sowjetunion. Wiesbaden 1967. Historisches Lexikon der Sowjetunion, 1917/22 bis 991. Hg. von Hans-Joachim Torke. München 1993. Walter L. Hixson: Parting the Curtain. Propaganda, Culture, and the Cold War, 1945–1961. Basingstoke usw. 1997. David L. Hoffmann: Peasant Metropolis. Social Identities in Moscow, 1929–1941. Ithaca usw. 1994. Dieter Hoffmann-Axthelm: Moskauer Stadtstruktur: Die Übermacht der Bilder. In: Bauwelt (1999) Nr. 12, S. 647–659. Sona Stephan Hoisington: “Ever Higher”: The Evolution of the Project for the Verzeichnisse Palace of Soviets. In: Slavic Review 62 (2003) Nr. 1, S. 41–68. Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland. Berlin 1921.
David Howarth: Discourse Theory. In: Theory and Methods in Political Science. Hg. von David Marsh und Gerry Stoker. Basingstoke 1995, S. 116–133. Werner Huber: Hauptstadt Moskau. Ein Reiseführer durch das Baugeschehen von Stalin über Chruschtschow bis heute. Zürich 1998. Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Hg. von Christa Maar und Hubert Burda. 3. Aufl., Köln 2005. Felix Philipp Ingold: Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913. Kultur – Gesellschaft – Politik. München 2000. Felix Philipp Ingold: Der Kentaur als Kulturmodell. In: Neue Zürcher Zeitung vom 27.8.2006, Literatur und Kunst, S. 70. Andrej V. Ikonnikov: Architektura Moskvy XX vek. Moskau 1984. Andrej Ikonnikov: Storicismo e utopie retrospettive nell’architettura di Mosca. In: Mosca. Capitale dell’utopia. Hg. Von Vieri Quilici. Mailand 1991, S. 65–77. Jens Jäger: Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung. Tübingen 2000. Galina N. Jakovleva: Massenbewusstsein und „Dritte Realität”. In: Kultur im Stalinismus: sowjetische Kultur und Kunst der 1930er bis 1950er Jahre. Hg. von Gabriele Gorzka. Bremen 1994, S. 147–152. Boris Jampolski: Kommunalka. Ein Moskauer Roman. Leipzig 1991. Andrew Jenks: A Metro on the Mount. The Underground as a Church of Soviet Civilization. In: Technology and Culture 41 (2000) Nr. 4, S. 697–724. Eric T. Jennings: Visions and Representations of French Empire. In: The Journal of Modern History 77 (2005) S. 701–721 V. Judincev: Il centro di Mosca e le attività urbane. In: Metamorfosi (1988) Nr. 3, S. 16–19. Andrej Kaftanov: Zurückdenken an die Aktualität. Architektur 1958/2002. In: Berlin-Moskau, Moskau-Berlin 1950–2000. Hg. Von Pawel Choroschilow, Jürgen Harten, Joachim Sartorius, Peter-Klaus Schuster. Berlin 2003, S. 176–181. L(azar’) M. Kaganowitsch: Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus und anderer Städte in der Sowjetunion. Moskau 1931. L(lazar’) M. Kaganowitsch: Der Bau der Untergrundbahn und der Stadtplan Moskaus. Rede auf der Plenartagung des Moskauer Sowjets unter Teilnahme der Stossarbeiter des U-Bahnbaus und der Moskauer Betriebe. 16. Juli 1934. Moskau usw. 1934. L(azar’) M. Kaganowitsch: Über die Parteireinigung. Rede vor den Funktionären der Moskauer Parteiorganisation gehalten am 22. Mai 1933. Moskau usw. 1933. Catriona Kelly: Refining Russia. Advice Literature, Polite Culture, and Gender from Catherine to Yeltsin. Oxford 2001. Catriona Kelly, Vadim Volkov: Directed Desires: Kul’turnost’ and Consumption. In: Constructing Russian Culture in the Age of Revolution: 1881–1940. Hg. von Catriona Kelly und David Shepherd. Oxford usw. 1998, S. 291–329. Oleg Kharkhordin: Reveal and Dissimulate. A Genealogy of Private Life in Soviet Russia. In: Public and Private in Thought and Practice. Perspectives on a Grand Dichotomy. Hg. von Jeff Weintraub und Krishan Kumar. Chicago 1997, S. 333–363 Egon Erwin Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken. 2. Aufl. Berlin (Ost) 1977. Raisa Kirsanova: Stiljagi. Zapadnaja moda v SSSR 40–50-ch godov. In: Rodina. Rossijskij istoričeskij ill. žurnal. Moskva (1998) Nr. 8, S. 72–75. Heinz D. Kittsteiner: Die Generationen der „Heroischen Moderne“. Zur kollektiven Verständigung über eine Grundaufgabe. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 200–219.
339
Katerina Klark: Moskva i Peterburg v tridcatye. In: Sankt-Peterburg. Okno v Rossiju 1900–1935. Materialy meždunarodnoj konferencii. Paris, 6.–8. März 1997. Hg. von Eva Berard. Sankt Petersburg 1997, S. 138–152 Nina Klingler: 24 Stunden im Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie. Die Fotoreportage als historische Quelle. Unveröff. Lizentiatsarbeit. Basel 2003. G.S. Knabe: Arbatskaja civilizacija i arbatskij mif. In: Moskwa i moskovskij tekst russkoj kultury. Hg. Von G(regorij) S(tepanovič) Knabe. Moskau 1998, S. 137–197. Gerd Koenen: Ein „Indien im Nebel“. Alfons Paquet und das revolutionäre Russland. In: Osteuropa 55 (2005) Nr. 3, S. 80–100. Diane Koenker: Fathers Against Sons/Sons Against Fathers: The Problem of Generations in the Early Soviet Workplace. In: The Journal of Modern History 73 (Dec. 2001) S. 781–810. Konzeptionen in der sowjetischen Architektur 1917–1988 in der Staatlichen Kunsthalle Berlin vom 10. März bis 9. April 1989. Hg. vom Comenius-Club, Berlin 1989. Anatole Kopp: Constructivist Architecture in the USSR. London usw. 1985. Michail Koršunov, Viktoria Terechova: Tajny i legendy Doma na Naberežnoj. Moskau 2002. Reinhart Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2000, S. 349–375. Spiro Kostof: The City shaped. Urban patterns and meanings through history. London 1991. Gerhard Kowalski: Der “Rote Kolumbus”. Juri Gagarin, der sowjetische Kosmosheld. In. Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Hg. von Silke Satjukow und Rainer Gries. Berlin 2002, S. 71–83. Sergei Kozyrev: The House on the Embankment. In: Russian Studies in History 38 (2000) Nr. 4, S. 21–27. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M. 1977. Katharina Kucher: Freizeitkultur im Stalinismus. Der Moskauer Kultur- und Erholungspark 1928– 194. Unveröff. Diss., Frankfurt/Oder 2004. Katharina Kucher: Raum(ge)schichten. Der Gor‘kij-Park im frühen Stalinismus. In: Osteuropa 55 (2005) Nr. 3, S. 154–167. Kultur im Stalinismus: Sowjetische Kultur und Kunst der 1930er bis 50er Jahre. Hg. von Gabriele Gorzka. Bremen 1994. Alfred Kurella: Unterwegs zu Lenin. Erinnerungen. Berlin (Ost) 1967. The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space. Hg. Von Evgeny Dobrenko und Eric Naiman. Seattle usw. 2003. Alessandra Latour: Mosca 1890–1991. Bologna 1992. Inger Thorup Lauridsen, Per Dalgard: The Beat Generation and the Russian New Wave. Ann Arbor, Mich. 1990. Hélène und Pierre Lazareff: Die Stunde Moskaus. Russland wie es wirklich ist. 2. Aufl. Düsseldorf 1955. N(atalija) B(orisovna) Lebina, A(leksandr) N(ikolaevič) Čistikov: Obyvatel’ i reformy. Kartiny povsednevnoj žizni gorožan. St. Petersburg 2003. N. Lebina: Žil’e. Kommunizm v otdel’noj kvartire. In: N(atalija) B(orisovna) Lebina, A(leksandr) N(ikolaevič) Čistikov: Obyvatel’ i reformy. Kartiny povsednevnoj žizni gorožan. St. Verzeichnisse Petersburg 2003, S. 162–194. Alena V. Ledeneva: Russia’s Economy of Favours. Blat, Networking and Informal Exchange. Cambridge UK 1998 (Cambridge Russian, Soviet and Post-Soviet Studies 102).
Werner Leithmüller: Tourismus und Auslandreisen im Sowjetleben. In: Osteuropa 14 (1964) Nr. 2, S. 81–89. Yuri Levada: „Rupture de Générations“ en Russie. In: The Tocqueville Review/La Revue Tocqueville 23 (2002) Nr. 2, S. 15–35. Immanuil’ Levin: Arbat. Odin kilometr Rossii. Moskva 1997. Literatur und Repression. Sowjetische Literaturpolitik seit 1965. Hg. Von Helen von Ssachno und Manfred Grunert. München 1970. Iouri Lotman, Boris Ouspenski: La dualité des modèles et son rôle dans la dynamique de la culture russe jusqu’à la fin du XVIIIe siècle. In: Sémiotique de la culture russe. Hg. von Iouri M. Lotman und Boris A. Ouspenski. Lausanne 1990, S. 21–56. Jurij Lotman, Boris Uspenskij: Die Rolle dualistischer Modelle in der Dynamik der russischen Kultur (bis zum Ende des 18. Jahrhunderts). In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 9 (1977) S. 1–40. Stephen Lovell: The Making of the Stalin-Era Dacha. In: The Journal of Modern History 74 (2002) S. 253–288. Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001. Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte: zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 139–153. Kurt Lüscher: Ambivalenz – Eine Annäherung an das Problem der Generationen. Die Aktualität der Generationenfrage. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 53–78. Alessandro de Magistris: La costruzione della città totalitaria. Il piano di Mosca e il dibattito sulla città sovietica tra gli anni venti e cinquanta. Milano 1995. Ella Maillart: Parmi la jeunesse russe. Paris 2003 (1. Ausg. Paris 1932). Karl Mannheim: Wissenssoziologie: Auswahl aus dem Werk. Berlin usw. 1964. Antonina Manina: Der Generalplan zur Stadterneueung Moskaus 1935. In: Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit. Hg. von Peter Noever. München usw. 1994, S. 165–169. Hans J. Markowitsch, Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart 2005. Albrecht Martiny: Bauen und Wohnen in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Bauarbeiterschaft, Architektur und Wohnverhältnisse im sozialen Wandel. Berlin 1983. Nikolaj A. Miljutin: Sozgorod: die Planung der neuen Stadt [1930] Übertr. von Kyra Stromberg. Basel usw. 1992. Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument. Hg. von Romana Schneider und Wilfried Wang. Ostfildern-Ruit 2001. Meaghan Morris: Things to do with Shopping Centres. In: The Cultural Studies Reader. Hg. von Simon During. London usw. 1993, S. 295–319. Jeremy Morris: The Empire Strikes Back: Projections of National Identity in Contemporary Russian Advertising. In: The Russian Review 64 (2005), S. 642–660. Patricia A. Morton: Hybrid modernities. Architecture and Representation at the 1931 Colonial Exposition, Paris. Cambridge, Mass. 2000. Patricia A. Morton: National and Colonial: The Musee Des Colonies at the Colonial Exposition, Paris, 1931. The Art Bulletin 80 (1998) Nr. 2, S. 357–377 Mosca, capitale dell’utopia. Hg. von Vieri Quilici. Milano 1991. Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993.
341
Moscow in Photographies/Moskva v fotografijach/Moskau in Photographie. Hg. vom Moskovskij Dom Fotografii. Moskau o.J. (2000). Moskau. Menschen, Mythen, Orte. Hg. von Monica Rüthers und Carmen Scheide. Köln usw. 2003. Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938. Hg. von Theo Pirker. München 1963. Moskva. Architerkturnyj Putevoditel’. Moskva 1960. Moskva liričeskaja. Antologija odnogo stichotvorenija. Hg. von Mark Lisjanskij und Nikolaj Tarasov. Moskau 1976. Stefan Müller Dohm: Visuelles Verstehen. Konzepte kultursoziologischer Bildhermeneutik. In: „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Hg. von Thomas Jung und Stefan Müller-Dohm. Frankfurt a. M. 1993, S. 438– 457. Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hg. von Jurij Murašov und Georg Witte. München 2003. Andrej Nekrasov: Primo laboratorio progettuale estivo “marchi-columbia”. In: Metamorfosi 3 (1988), S. 68–74. Friedhelm Neidhardt: Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. In: Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. Hg. von Friedhelm Neidhardt. Opladen 1994 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), S. 4–41. Frances Nethercott: Une école pour l’élite. In : Moscou 1918–1941. De „ l’homme nouveau “ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 213–224. Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Hg. von Nicola Lepp, Martin Roth, Klaus Vogel. Ostfildern 1999. John Neuhart, Marilyn Neuhart, Ray Eames: Eames Design. The Work of Carles and Ray Eames. New York 1989. Dietmar Neutatz: Die Moskauer Metro : Von den ersten Plänen bis zur Grossbaustelle des Stalinismus (1897–1935). Köln usw. 2001. Dietmar Neutatz: „Schmiede des neuen Menschen“ und Kostprobe des Sozialismus: Utopien des Moskauer Metrobaus. In: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. Hg. von Wolfgang Hartwig. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 56). München 2003, S. 41–56. Christian Noack: Von „wilden“ und anderen Touristen. Zur Geschichte des Massentourismus in der UdSSR. In: Werkstattgeschichte 36 (2004), S. 24–41. Pierre Nora: Lieux de Mémoire I-III, Paris 1986–1992. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Paris 1990. Julia Obertreis: Tränen des Sozialismus: Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917–1937. Köln 2004. Obraz tvoj, Moskva. Moskva v russkoj živopisi. Moskva 1982. Ulrich Oevermann: Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare Grundlage von Subjektivität. In: „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Hg. von Thomas Jung und Stefan Müller-Dohm. Frankfurt a. M. 1993, S. 106–190. Obščedostupnyj putevoditel’ po moskve. Izdatel’stvo moskovskogo kommunal’nogo Verzeichnisse chozjajstva, Moskau 1926. Liam O’Flaherty: Ich ging nach Russland. Ein Reisebericht. Zürich 1971.
Natalia Olenchenko: The Soviet Trade Show / vystavka prodaža. In: Proekt Rossija / Project Russia 23 (2002), S. 76–79. Raissa Orlowa, Lew Kopelew: Wir lebten in Moskau. Deutsch von Marianne Wiebe. München usw. 1987. Ingrid Oswald: Sowjetische Science-fiction-Literatur als soziologisches Erkenntnismittel. Literarische Plattform und öffentliches Medium der wissenschaftlich-technischen Intelligenz. In: Osteuropa 41 (1991) Nr. 4, S. 393–405. Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. In: Ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1985, S. 85–97 (erstmals publiziert 1932). Vladimir Papernyj: Kul’tura Dva. Moskau 1996. Vladimir Paperny: Moscow in the 1930s and the Emergence of a New City. In: The Culture of the Stalin Period. Hg. von Hans Günther. London 1990, S. 229–239. Alfons Paquet: Gesammelte Werke. Stuttgart 1970. Eulalie Piccard: Lettres de Moscou. Paris 1963. Stefan Plaggenborg: Gewalt und Militanz in Sowjetrussland 1917–1930. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996) S. 409–430. Stefan Plaggenborg: Die Sowjetunion – Versuch einer Bilanz. In Osteuropa 51 (2001) Nr. 7, S. 761–777. Jan Plamper: The Stalin Cult in the Visual Arts, 1929–1953. PhD Univ. of Cal., Berkeley 2001. Plan Moskvy: Kartoschemy, ukazatel’ i spravočnye svedenija. Hg. von M. V. Balabanov. Moskau 1968. Stepan Filippovic Podlubnyj: Tagebuch aus Moskau,1931–1939. Aus dem Russ. übers. und hg. von Jochen Hellbeck. München 1996. Philipp Pott: Zu Hause nie allein. „Kommunales“ Wohnen. In: Moskau. Menschen, Mythen, Orte. Hg. von Monica Rüthers und Carmen Scheide. Köln usw. 2003, S. 92–99. Philipp Pott: Moskauer Kommunalwohnungen von 1917 bis 1997: Materielle Kultur, Erfahrung, Erinnerung. Unveröff. Diss. Universität Basel 2005. B. I. Puširev: Vospominanija starogo moskviča. Moskau 1998. Nikolaj Rachmanov: Moskovskie motivy. Moskau 1969. Lev Razgon: 1937: l’année terrible. In: Moscou 1918–1941. De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 301–311. Susan E. Reid: Photography in the Thaw. In: The art journal. Sommer 1994, S. 33–39. Susan E. Reid: Masters of the Earth: Gender and Destalinization in Soviet Reformist Painting of the Khrushchev Thaw. In: Gender & History 11 (1999) Nr. 2, S. 276–312. Susan E. Reid: Cold War in the Kitchen. Gender and the De-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union under Khrushchev. In: Slavic Review 61 (summer 2002) Nr. 2, S. 211–252. Susan E. Reid: Khrushchev´s Children’s Paradise. The Pioneer Palace, Moscow, 1958–1962. In: Socialist Spaces. Sites of Everyday Life in the Eastern Bloc. Hg. von David Crowley und Susan E. Reid. Oxford, UK 2002, S. 141–180. Susan E. Reid: The Khrushchev Kitchen. Domesticating the Scientific-Technological Revolution. In: Journal of Contemporary History 40 (2005) Nr. 4, S. 289–316. Reise nach Moskau. Aufzeichnungen und Berichte, 1526–1972. Hg. von Klaus Kuntze. Frankfurt a. M. usw. 1980. Reise Textbuch Moskau. Ein literarischer Begleiter auf dem Weg durch die Stadt. Hg. von Klaus Kuntze. München 1990. Ludwig Renn: Russlandfahrten. Berlin (Ost) o.J. (verfasst 1931).
343
William Richardson: Hannes Meyer and the General Plan for the Reconstruction of Moscow, 1931–1935. In: Planning Perspectives (Great Britain) 6 (1992) Nr. 2, S. 109–124. Jim Riordan: Teenage Gangs, „Afgantsy“ and Neofascists. In: Soviet Youth Culture. Hg. von Jim Riordan. Bloomington, Ind. 1989, S. 122–142. A. Rjabušin, E. Bogdanov, V. Papernyj: Žilaja sreda kak obekt prognozirovanija. Materialy k eksperimental’nomu proektirovaniju oborudovanija žilišča. Moskau 1972. Aleksandr Rjabušin: Il Processo architettonico negli anni 1950–1980. In: Mosca, capitale dell’utopia. Hg. von Vieri Quilici. Milano 1991, S. 78–87. Régine Robin: Stalinism and Popular Culture. In: The Culture of the Stalin Period. Hg. von Hans Günther. London usw. S. 15–40. Mark Roseman: Generationen als „Imagined Communities“. Mythen, generationelle Identitäten und Generationenkonflikte in Deutschland vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 180–199. Kristin Roth-Ey: „Loose Girls“ on the Loose? Sex, Propaganda and the 1957 Youth Festival. In: Women in the Khrushchev Era. Hg. von Melanie Ilič, Susan E. Reid und Lynne Attwood. Basingstoke 2004, S. 75–95. Anatoli Rubinow: Moskau intim. Berlin 1992. Gerd Ruge: Gespräche in Moskau. Berlin usw. 1961. Russische Fotografie 1917–1940. Hg. von David Elliott (Katalogbearbeitung). Berlin 1993. Russische Liedermacher. Wyssozkij, Galitsch, Okudschawa. Russisch/Deutsch. Stuttgart 2000. Monica Rüthers: Öffentlicher Raum und gesellschaftliche Utopie. Stadtplanung, Kommunikation und Inszenierung von Macht in der Sowjetunion am Beispiel Moskaus zwischen 1917 und 1964. In: Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten: Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs / Between the Great Show of the Party-State and Religious Counter-Cultures: Public Spheres in Soviet-Type Societies. Hg. von Gábor T. Rittersporn, Malte Rolf und Jan C. Behrends. Frankfurt a. Main 2003, S. 65–96. Monica Rüthers: Markt und Mangel. Geschichten der Konsumkultur vom Hoflieferanten bis zur Defizitwirtschaft. In: Moskau. Menschen, Mythen, Orte. Hg. von Monica Rüthers und Carmen Scheide. Köln usw. 2003, S. 58–82. Alexander Ryabushin, Nadia Smolina: Landmarks of Soviet Architecture 1917–1991.Berlin 1992. Anatolij Rybakov: Die Kinder des Arbat. Zürich 1990. Michail Ryklin: Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz. Frankfurt a. M. 2003, S. 87–133. Rosalinde Sartorti: „Grosser Führer, Lehrer, Freund und Vater“. Stalin in der Fotografie. In: Führerbilder. Hitler, Mussolini, Roosevelt, Stalin in Fotografie und Film. Hg. von Martin Loiberdinger, Rudolf Herz und Ulrich Pollmann. München usw. 1995, S. 189–209 Silke Satjukov, Rainer Gries: Zur Konstruktion des „sozialistischen Helden“. Geschichte und Bedeutung. In: Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Hg. von Rainer Gries und Silke Satjukow. Berlin 2002, S. 15–34. Michael Sauer: Fotografie als Quelle. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10 (2002) S. 570–593. Carmen Scheide: Die Gartenstadt Sokol. Eine antiurbanistische Enklave in der MeVerzeichnisse tropole. In: Moskau. Menschen, Mythen, Orte. Hg. von Monica Rüthers und Carmen Scheide. Köln usw. 2003, S. 142–147.
Karl Schlögel: Der Mercedes-Stern auf dem „Haus an der Moskva“. In: FAZ, 25.1.2003, S. 41. Karl Schlögel: Moskau lesen. Die Stadt als Buch. Berlin 2000. Karl Schlögel: Der „Zentrale Gor’kij-Kultur- und Erholungspark“ (CPKiO) in Moskau. Zur Frage des öffentlichen Raums im Stalinismus. In: Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg: Neue Wege der Forschung / Stalinism before the Second World War: New Avenues of Research. Hg. von Manfred Hildermeier unter Mitarb. Von Elisabeth Müller-Luckner. München 1998, S. 255–274. Karl Schlögel: Die Glut des Goldes. In: NZZ-Folio, April 1998, S. 17–22 Schostakowitsch und die Folgen: russische Musik zwischen Anpassung und Protest: ein internationales Symposium / Shostakovich and the Consequences: Russian Music Between Adaptation and Protest: An International Symposium. Hg. von Ernst Kuhn u. a. Berlin 2003 (Studia Slavica musicologica Bd. 32. Schostakowitsch-Studien Bd. 6). Hans-Henning Schröder: Die Spiele der Kinder des Arbat, oder: „Wohin schaut eigentlich die Miliz?“ In: Osteuropa 38 (1988) Nr. 1, S. 81–86. V(ictoria) Semenova: Ravenstvo v niščete. Simvoličeskaja značenie „kommunalok”. In: Sudby ljudej. Rossija XX. vek. Biografii semej kak obekt sociologičeskogo issledovanija. Moskau 1996, S. 373–389. Victoria V. Semenova: Two Cultural Worlds in One Family. The Historical Context in Russian Society. In: History of the Family 7 (2002), S. 259–280. Aleksander Shevyrev: The Axis Petersburg-Moscow. Outward and Inward Russian Capitals. In: Journal of Urban History 30 (2003) nr. 1, S. 70–84. Avraham Shifrin: UdSSR Reiseführer durch die Gefängnisse und Konzentrationslager in der Sowjetunion. 3. Auflage. Uhldingen/Seewis 1987 (1. Aufl. 1980). Dmitri Shostakovich: Moskva, Cheremushki Op. 105. Russian State Symphonic Orchestra. Residentie Orchestra The Hague. Gennady Rozhdestvensky. Chandos 9591(2). Colchester, Essex 1997. Shostakovich revisited. Hg. von Allan B. Ho u. a. London 1998. Alexys A. Sidorow: Moskau. Mit Originalaufnahmen von Eremin, Grünberg, Klepnikow u.a. Berlin 1928. Ervin Sinkó: Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch 1935–1937. Berlin 1990. Elena Skrjabin: Von Petersburg bis Leningrad. Eine Jugend zwischen Monarchie und Revolution. Frankfurt a.M. 1992 Sigurd Šmidt: Arbat v istorii i kul’ture Rossii. In: Arbatskij archiv. Istoriko-kraevedčeskij al’manach. Vypusk I. Hg. von Sigurd Šmidt. Moskau 1997 Steve Smith, Catriona Kelly: Commercial Culture and Consumerism. In: Constructing Russian Culture in the Age of Revolution: 1881–1940. Hg. von Catriona Kelly und David Shepherd. Oxford UP 1998, S. 106–113. Hedrick Smith: Die Russen. Bern usw. 1976. The Socialist City. Spatial structure and urban policy. Hg. von R. A. French und F. E. Ian Hamilton. Chichester usw. 1979. Socialist spaces. Sites of everyday life in the Eastern Bloc. Hg. von David Crowley und Susan E. Reid. Oxford, UK 2002. Sovetskaja Architektura 1917–1957. Žiliščno-graždanskoe stroitel’stvo, kurortnoe stroitel’stvo, sel’skoe stroitel’stvo, gidrotechničeskoe stroitel’stvo, tipovoe proektirovanie, stroitel’naja industrija. Moskau 1957. Sovetskaja Architektura za 30 let RSFSR. Hg. von V. A. Svarikov. Moskau 1950. Sovetskaja žizn’ 1945–1953. Hg. von E. Ju. Zubkova, L. P. Koseleva, Ga. Kuznecova, A. I. Minjuk, L. A. Rogovaja. Moskau 2003 (Dokumenty sovetskoj istorii).
345
Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Hg. von Silke Satjukow und Rainer Gries. Berlin 2002. Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest. Hg. von Anna Veronika Wendland und Andreas R. Hofmann. Stuttgart 2002. Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929–1935. Hg. von Harald Bodenschatz und Christiane Post. Berlin 2003. Stalinism. Its Nature and Aftermath. Essays in Honour of Moshe Lewin. Hg. von Nick Lampert und Gábor T. Rittersporn. Basingstoke usw. 1992 (Studies in Soviet history and society). Stalinism. New Directions. Hg. von Sheila Fitzpatrick. London usw. 2000. Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg: Neue Wege der Forschung / Stalinism Before the Second World War: New Avenues of Research. Hg. von Manfred Hildermeier unter Mitarb. von Elisabeth Müller-Luckner. München 1998. Stalinismus: Neue Forschungen und Konzepte. Hg. von Stephan Plaggenborg. Berlin 1998. S. Frederick Starr: Melnikov. Solo architect in a mass society. Princeton, N.J. 1978 Anke Stephan: Andersdenkende. Auf den Spuren der Dissidentenbewegung der 1950er bis 1980er Jahre. In: Moskau. Menschen, Mythen, Orte. Hg. von Monica Rüthers und Carmen Scheide. Köln usw. 2003, S. 206–222. Fedor Stepun: Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution. Aus meinem Leben 1884– 1922. München 1961. Edmund Stevens: This is Russia – Uncensored. New York 1950. Richard Stites: Crowded on the Edge of Vastness: Observations on Russian Space and Place. In: Beyond the Limits: The Concept of Space in Russian History and Culture. Hg. von Jeremy Smith. Helsinki 1999, S. 259–269. Richard Stites: Russian Popular Culture. Entertainment and Society since 1900. Cambridge, Mass. 1992. Rainer Stommer, Marina Dalügge: Masse – Kollektiv – Volksgemeinschaft. Massenästhetische Inszenierungen der zwanziger und dreissiger Jahre. In: Berlin – Moskau 1900 bis 1950. Hg. von Irina Antonowa und Jörn Merkert. München usw. 1995, S. 349–355. Street Art of the Revolution. Festivals and Celebrations in Russia 1918–1933. Hg. von Vladimir Tolstoy, Irina Bibikova und Catherine Cooke. London 1990. Olaf Struck: Generationen als Zeitdynamische Strukturierung. Zum Deutungsverständnis Generation am Beispiel (betriebs-)demographischer Entwicklungen. In: Generation und Ungleichheit. Hg. von Marc Szydlik. Opladen 2004. Brigitte Studer, Berthold Unfried: „Das Private ist öffentlich“. Mittel und Formen stalinistischer Idenitätsbildung. In: Historische Anthropologie 7 (1999) Nr. 1, S. 83–108. Studienhandbuch Östliches Europa. Band 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion. Hg. von Thomas M. Bohn und Dietmar Neutatz. Köln usw. 2002. Grigori Svirski: A History of Post-War Soviet Writing. The Literature of Moral Opposition. Ann Arbor, Mich. 1981. Symbols of Power. The Aesthetics of Political Legitimation in the Soviet Union and Eastern Europe. Hg. von Claes Arvidsson und L. E. Blomquist. Stockholm 1987. Marc Szydlik: Probleme der „Generationengerechtigkeit. In: GenerationengeVerzeichnisse rechtigkeit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen 4 (2004) Nr. 3, S. 1–4
Petr Vasil’evič Sytin: Sucharevskaja Bašnja (1682-1926). Narodnye legendy o bašne, ee istorija, restovracija i sovremennoe sostojanie. Moskva 1993. E. Taranov: Gorod Kommunizma. Idei liderov 50–60-x godov i ich voploščenie. In: Moskovskij Archiv. Istoriko-kraevedčeskij Al’manach. Vypusk I. Moskva 1996, S. 372–390. Alexej Tarchanow, Sergej Kawtaradse: Stalinistische Architektur. München 1992. Wolfgang Teckenberg: Das Leben in Sowjetischen Städten (II). In: Osteuropa 32 (1982) Nr. 3, S. 213–225. The Work of Charles and Ray Eames: A Legacy of Invention. Hg. von Donald Albrecht. New York 1998. Paul Thorez: Moskau. Lausanne 1964. Nicholas Timasheff: The Great Retreat. The Growth and Decline of Communism in Russia. New York 1946. Traumfabrik Kommunismus : Die visuelle Kultur der Stalinzeit / Dream Factory Communism : the Visual Culture of the Stalin Era. Hg. von Boris Groys. Ostfildern-Ruit 2003. O. E. Truščenko: Prestiž centra. Gorodskaja social’naja segregacija v moskve. Moskau 1995. Maria Tupitsyn: Die abtretende Avantgarde. Sowjetische Bildwelten unter Stalin. In: Margarita Tupitsyn: Glaube, Hoffnung - Anpassung : sowjetische Bilder 1928–1945. Hg. vom Museum Folkwang Essen. Essen 1995, S. 12–33. Tyrannei des Schönen : Architektur der Stalin-Zeit. Hg. von Peter Noever. Mit Beitr. von Boris Groys u.a. Übers. aus dem Russ.: Annelore Nitschke. München usw. 1994. N. Ullas: Nekotorye voprosy perspektivnogo razvitija Moskvy. In: Stroitel’stvo i architektura Moskvy (1960) Nr. 3, S. 6–11. Janina Urussowa: Das Neue Moskau. Die Stadt der Sowjets im Film 1917–1941. Köln usw. 2004. Janina Urussowa: Die Achse Petersburg-Moskau. In: Zeitschrift für Semiotik 19 (1997) Heft 1–2, S. 95–115. O. G. Usenko: k opredeleniju ponjatija „mentalitet“. In: Rossijskaja mental’nost’: Metody i problemy izučenija. Hg. Von A. A. Gorskij, E. Ju. Zubkova, A. I Kuprijanov und L. N. Puškarev. Moskau 1999 (Mirovosprinjatie i samosoznanie russkogo obščestva 3), S. 23–77. Utopie und Terror. Josef Stalin und seine Zeit. Hg. Von Eva Maeder und Christina Lohm. Zürich 2003. I. Uvarova, K. Rogov: Semidesjatye: Chronika kul’turnoj žizni. In: Semidesjatye kak predmet istorii russkoj kul’tury. Hg. von K. Ju. Rogov. Rossija/Russia 9 (1998) Nr. 1, S. 29–74. Petr Vajl, Aleksandr Genis: 60-e. Mir sovetskogo čeloveka. Moskva 1998 (1988). Ol’ga I. Vendina: Moskau und Petersburg. Städtemythen als Spiegelung ihrer Rivalität. In: Osteuropa 50 (2000) Nr. 12, S. 1299–1315 G. Vešninskij: Sockul’turnaja topografija moskvy ot 1970-ch k 1990-m. In: Moskva i moskovskij tekst russkoj kultury. Hg. Von G. S. Knabe. Moskau 1998, S. 198–225. Vadim Volkov: The Concept of Kul’turnost’. Notes on the Stalinist civilizing process. In: Stalinism. New Directions. Hg. von Sheila Fitzpatrick. London usw. 2000, S. 210–230. Andrée Viollis: Seule en Russie. Paris 1927. James von Geldern: Festivals of the Revolution, 1917–1920, Berkeley, Cal. 1993. Johannes von Guenther: Ein Leben im Ostwind. München 1969. Mark von Hagen: Empires, Borderlands, and Diasporas: Eurasia as Anti-Paradigm for the PostSoviet Era. In: The American Historical Review 109 (2004) Nr. 2, S. 445–468. Ruth von Mayenburg: Hotel Lux. Frankfurt a. M. 1981.
347
Das wahre Leben: Tagebücher aus der Stalin-Zeit. Hg. von Véronique Garros u.a. Aus dem russ. Übers. von Barbara Conrad. Berlin 1998. Mary Warner Marien: Photography. A Cultural History. London 2002. Klaus Waschik, Nina Baburina: Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts. Bietigheim-Bissingen 2003. Armin T. Wegner: Fünf Finger über dir. Wuppertal 1979. Markus Wehner: Hauptstadt des Geistes, Hauptstadt der Macht. Leningrad/St. Petersburg und Moskau: Die Konfrontation im zwanzigsten Jahrhundert. In: St. Petersburg – Leningrad – St. Petersburg. Eine Stadt im Spiegel der Zeit. Hg. von Creuzberger u.a., Stuttgart 2000, S. 19– 36, S. 220–234. Jeff Weintraub: The Theory and Politics of the Public/Private Distinction. In: Public and Private ind Thought and Practice. Perspectives on an Grand Dichotomy. Hg. von Jeff Weintraub und Krishan Kumar. Chicago 1997 Daniel Weiss: Prolegomena zur Geschichte der verbalen Propaganda in der Sowjetunion. In: Slavistische Beiträge 32 (1994), S.343–391. Harald Welzer: Gedächtnis und Erinnerung. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Hg. von Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen. Stuttgart usw. 2004, S. 155–174. Anna Veronika Wendland, Andreas R. Hofmann: Stadt und Öffentlichkeit: Auf der Suche nach einem neuen Konzept in der Geschichte Ostmitteleuropas. Eine Einführung. In: Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest. Hg. von Anna Veronika Wendland und Andreas R. Hofmann Stuttgart 2002, S. 9–26. Nicolas Werth : Des hommes, des chiffres et des classes. In : Moscou 1918–1941. De „ l’homme nouveau “ au bonheur totalitaire. Hg. Von Catherine Gousseff. Paris 1993, S. 42–60. Jack Wertheimer: Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany. New York usw. 1987. Shannon Leigh Wettstein: Surviving the Soviet Era: An Analysis of Works by Shostakovich, Schnittke, Denisov and Ustvolskaya. Ann Arbor, Mich. (UMI Diss.) 2002. William C. White: So lebt der Russe. Köln 1932. Michael Wildt: Generation als Anfang und Beschleunigung. In: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Ulrike Jureit und Michael Wildt. Hamburg 2005, S. 160–179. Irmgard Wilharm: Einleitung. Geschichte, Bilder und die Bilder im Kopf. In: Geschichte in Bildern. Von der Miniatur bis zum Film als historische Quelle. Hg. von Irmgard Wilharm. Pfaffenweiler 1995, S. 7–24 Heike Winkel: Schreibversuche. Kollektive Vorlagen und individuelle Strategien in den „Briefen der Werktätigen“. In: Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. Hg. von Jurij Murašov und Georg Witte. München 2003, S. 59–80. Clemens Wischermann: Geschichte als Wissen, Gedächtnis oder Erinnerung? Bedeutsamkeit und Sinnlosigkeit in Vergangenheitskonzeptionen der Wissenschaften vom Menschen. In: Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft. Hg. von Clemens Wischermann. Stuttgart 1996 (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 15), S. 55–85. Women in the Khrushchev Era. Hg. von Susan Reid, Melanie Ilič und Lynn AttVerzeichnisse wood. Basingstoke 2003. Richard Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Princeton, N.J. 1995.
Alexei Yurchak: Soviet Hegemony of Form. Everything Was Forever, Until It Was No More. In: Comaparive Studies in Society and History 45 (2003) Nr. 3, S. 480–510 E. Ju. Zubkova: Obščestvo i reformy 1945–1964. Moskau 1993. Elena Jur’evna Zubkova: Russia after the War. Hopes, Illusions, and Disappointments, 1945– 1957. Armonk, N.Y. 1998. Marina Zwetaewa: Auf eigenen Wegen. Frankfurt a. M. 1991.
Quellen Zeitschriften: Architektura SSSR Architektura i stroitel’stvo Moskvy, ab 1960: Stroitel’stvo i architektura Moskvy Architekturnaja gazeta Bauwelt Krokodil’ Osteuropa Ost-Probleme Problems of Communism Sovetskaja architektura Sovremennaja Architektura
Archive und Bibliotheken Schweiz: Schweizerisches Bundesarchiv, Bern (BAR) E 2300, MF 110 Berichte der Schweizer Gesandtschaft Schweizerische Osteuropa-Bibliothek, Bern Archiv des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) an der ETH Zürich Sammlung alte Drucke an der ETH-Bibliothek Zürich Bibliothek der der ETH Zürich Baubibliothek der ETH Zürich Bibliothek des Historischen Seminars der Universität Basel Universitätsbibliothek Basel Deutschland: Universitätsbibliothek Konstanz Russland, Moskau: Russische Staatsbibliothek (Lenin-Bibliothek) Central’nij Municipal’nij Archiv goroda Moskvy (CMAM) (Bestände: Fond 1864: Upravlenie gorodskovo oformlenija i reklamy; Fond 46: Upravlenie rynkami goroda Moskvy; Fond 1240: Komitet torgovcev Verchne-Smolenskogo rynka; Obščestvennoe pitanie; Stroitel’stvo; Žiliščnokommunal’noe chozjajstvo:Bytovoe obsluživanie naselenija) Central’nyj archiv naučno-techničeskoi dokumentacii (CANTDM) (Bestände: Fond 2, Upravlenie po delam architektury g. Moskvy „Mosproekt“, 1922–1951); Fond 17, Moskovskij naučno-
349
issledovatel’skij institut tipovogo i eksperimental’nogo proektirovanija (1951- ); Fond 4, Techničeskie proekty vysotnych zdanij Moskvy; Fond 41, Naučno-issledovatel’skij i proektnyj institut General’nogo plana g. Moskvy, 1932–1979; Fond 91, Kollekcija kartografičeskich materialov, 1851–1950) Central’nyj moskovskij archiv dokumentov na special’nych nositeljach (CMADSN) (Bestände: Kinodokumenty: Kommunal’noe chozjajstvo i bytovoe obslužibanie nacelenija; Byt naselenija: obščie voprosy: gorod 1937–1987; Iskusstovo: Architektura, Skulptura 1940–1987. Fotodokumenty: Kapitel’noe stroitel’stvo, 1949–1994; Telegrafnaja svjaz’, 1956–1989; Torgovlja, Snavženie, Sbyt, Zagotovki; Kommunal’noe chozjajstvo i bytovoe obsluživanie naselenija: Gorod, 1897–1994; Bytovoe obscluživanie naselenija 1942–1990; Byt naselenija. 1897–1993: žilišče, interiery; semja. Ličnye fondy: Fond Gnesnych.) Fototeka Gosudarstvennogo naučno-issledovatel’skogo muzeja architektury imena A. V. Ščuseva (Ščusev-Museum für Architektur)