Die moderne Lese- und Leserforschung entstand als Konsequenz einer sich ausdifferenzierenden Medienlandschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als audiovisuelle Medien eine Neubestimmung des Dekodierens schriftlicher Zeichen in Printmedien im Rahmen des gesamten Medienhandels von Individuen erforderte. In der Gegenwart kommt hinzu, dass die Digitalisierung von Information und deren mögliche Vernetzung die Auflösung physischer Mediengrenzen ermöglicht, was unter anderem zu einer Multiplikation möglicher Lesemedien führt. Dabei fällt auf, dass das Lesen, dem gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch der Untergang prophezeit wurde, mehr denn je eine Basiskompetenz dieser neu entstandenen Medienumgebung ist: Die Nutzung vernetzter Medien wie E-Mail, World Wide Web oder Social Media ist ohne Lese- und neuerdings auch Schreibkompetenzen nicht denkbar. Der Forschungsgegenstand „Lesen“ ist eine anspruchsvolle Kulturtechnik, welche von der Entschlüsselung von Schriftzeichen über das Sprachverstehen und die Sinnkonstruktion aus Texten reicht. Die Lese- und Leserforschung umfasst sowohl die Erforschung des Lesens und der Leser im Wandel von Kontexten zur Rekonstruktion der Entwicklungsals Kommunikationsgeschichte als auch die Zustandsbeschreibung des Lesens in der Gegenwart, welche als Grundlage für politische und kulturelle Entscheidungen bezüglich der Lesesozialisation und Leseförderung dienen soll. Lesen als komplexes Kommunikationsphänomen umfasst dabei vielfältige Perspektiven und unzählige, meist voneinander abhängige, Fragestellungen, die nur mit einem breiten Spektrum an Methoden bearbeitet werden können.
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Theoretische Grundannahmen und Fragestellungen
Die moderne Leseforschung verortet Lesen als aktive, intentionale Handlung in der allgemeinen Kommunikations- und Handlungstheorie. Lesen ist demnach eine physische, psychische und kommunikative Handlung zwischen Individuen, welche medial vermittelt wird. Lesen wird somit als Sinnkonstruktion aus den angebotenen, medial strukturierten Schriftzeichen begriffen, unter Einbeziehung individuell vorhandener Informationen und
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Sandra Rühr, Marina Mahling und Axel Kuhn
Informationsverarbeitungsmuster beim Leser. Bei Berücksichtigung dieser individuellen Kontexte erklären sich unterschiedliche Lesemotivationen, Leseweisen und Lesewirkungen. Im Vordergrund steht eine rezipientenorientierte Perspektive, welche sich vor allem darin zeigt, dass Lesen als Medienhandeln im weitesten Sinn definiert wird, aber nicht mehr an spezifische Medien gebunden ist. Lesemedien stellen stattdessen, genauso wie Lesestoffe und Wirkungsintentionen durch Autoren, Institutionen und Organisationen u. a., strukturierende Rahmenbedingungen des eigentlichen Leseakts dar. Die Trennung des Lesens als kommunikative Tätigkeit von spezifischen Lesemedien beruht auf der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Medien. Die früher übliche, synonyme Verwendung von Lesen und Buchlesen ist in der Lese- und Leserforschung gegenwärtig nicht länger tragbar. Lesen wird stattdessen auf der abstrakten Zeichenebene als kommunikative Aneignung von Schriftzeichen und der darauf aufbauenden Bedeutungskonstruktion verortet. Lesen definiert sich somit zuerst als Zuwendung zu und Handeln mit Texten, überformt durch den Zugang zu und den Umgang mit Medien, wobei beide Ebenen durch unterschiedliche soziale, kulturelle und individuelle Kontexte beeinflusst werden. Lesen als komplexer Gegenstand wird in drei unterschiedlichen Dimensionen erforscht: dem individuellen Leseprozess, den Institutionen und Organisationen des Lesens und den Leistungen und Funktionen des Lesens in der Gesellschaft. Eine pragmatische Einteilung der Lese- und Leserforschung ergibt sich zudem aus der zeitlichen Dimension des Leseprozesses: Da Lesen als Prozess immer in „vorher“, „während“ und „danach“ unterteilt werden kann, bietet es sich an, die Fragenkomplexe der Leseforschung zusätzlich zur Unterscheidung nach Reichweite in prärezeptive, rezeptive und postrezeptive Forschung zu unterteilen, sodass sich insgesamt neun Felder der modernen Lese- und Leserforschung ergeben: Tabelle 1: Neun Felder der Lese- und Leserforschung.
Individueller Leseakt (Mikroebene)
Methoden der modernen Lese- und Leserforschung
prärezeptiv Feld 1
individuelle Fähigkeiten, Motivationen und Selektionen
Institutionen und Organisationen (Mesoebene)
Feld 4 Bereitstellung von und Zugang zu Lesestoffen, Lesemedien Leseförderung Literaturvermittlung
Leistungen und Funktionen (Makroebene)
Feld 7 Steuerung von Fähigkeiten, Motivationen und Selektionen durch Lesekultur(en)
rezeptiv Feld 2 (neuro)biologische Prozesse, Sprach- und Textverstehen, Einfluss von Lesemedien, Textsorten, Inhaltsformaten, Mikrogemeinschaften Feld 5 Leseerleben in institutionalisierten Lesesituationen; Zuschreibungen an das Leseerleben durch Organisationen / Institutionen Feld 8
Lesekultur(en) und Leseerleben
3
postrezeptiv Feld 3 Wirkungen, Emotionen, Bewertungen, Einstellungsänderungen, Kompetenzentwicklung, Veränderung der Lebenswelt Feld 6 institutionelle und organisatorische Veränderungen durch Lesen Feld 9
gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung durch Lesen
Auf der Ebene des individuellen Leseakts bezieht sich Lese- und Leserforschung auf die mikroskopische Betrachtung von Personen und deren Integration von Leseakten in ihre Lebenswelt und den Einfluss individueller Kontexte auf Lesesituationen, den Umgang mit unterschiedlichen Lesestoffen und Lesemedien, die Lesesozialisation in Mikrogemeinschaften, die Beeinflussung durch Geschlecht, Migrationshintergrund und soziale Milieus. Prärezeptiv befasst sich die Lese- und Leserforschung zunächst mit den individuellen Fähigkeiten (z. B. unterschiedliche Sprach-, Lese- und Medienkompetenzen), mit Motivationen und Selektionen im Hinblick auf die Zuwendung zur Lesehandlung, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit den Faktoren der Lebenswelt und der in ihr vorhandenen Mikrogemeinschaften wie Familie und Peergroups (Feld 1). Bezogen auf den eigentlichen Leseakt stehen die physischen, psychischen und kommunikativen Vorgänge während des Lesens im Mittelpunkt. Erforscht werden die Entschlüsselung von Zeichen und Texten, die individuelle Sinnkonstruktion und damit verbundene kognitive und emotionale Prozesse, immer unter Einbezug unterschiedlicher Lesesituationen, Lesestoffe und Lesemedien (Feld 2). Nach dem Leseakt sind
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Sandra Rühr, Marina Mahling und Axel Kuhn
die Wirkungen des Lesens, unterschieden nach Textsorten und Lesemedien, von besonderem Interesse. Gefragt wird nach kognitiven Veränderungen durch das Lesen, nach langfristigen Einstellungsänderungen und Veränderungen in der individuellen Lebenswelt als Folge des Leseakts (Feld 3). Auf der Ebene der Institutionen und Organisationen steht der Einfluss von institutionalisierten Regelungen (z. B. Gesetze) und von Organisationen der Bereitstellung von Lesestoffen und Lesemedien (z. B. Buchhandel, Bibliotheken) sowie der Lesesozialisation (z. B. Schulen, Universitäten) auf das individuelle Lesen im Blickpunkt. Prärezeptive Fragestellungen beschäftigen sich mit der Bereitstellung von und dem Zugang zu Lesestoffen und Lesemedien (Feld 4). Während des Leseakts spielen Institutionen und Organisationen vor allem in institutionalisierten Lesesituationen, z. B. in der Schule oder am Arbeitsplatz, eine entscheidende Rolle in der Forschung. Neben der Beeinflussung durch die Lesesituation werden hier auch die Zuschreibungen an Organisationen in ihrer Auswirkung auf das Leseerleben erforscht (Feld 5). Postrezeptiv interessieren vor allem Fragestellungen nach den Veränderungen von Institutionen und Organisationen, welche sich aus den Leseakten von Individuen ergeben. Weiterhin erscheint wichtig, inwiefern sich Zuschreibungen an Organisationen durch das Lesen verändern (Feld 6). In Bezug auf die Leistungen und Funktionen des Lesens in der Gesellschaft steht die Bedeutung des Lesens für kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Systeme im Vordergrund. Thematisiert wird hier die Wechselwirkung von Lesen auf individueller, organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene, insbesondere im Hinblick auf Möglichkeiten der politischen Teilnahme und der kulturellen Entwicklung. In der Zuwendungsphase zum Lesen ist vor allem die Frage nach der Lesekultur einer Gesellschaft als Sinnhorizont für soziale Identität und die Steuerung der Lesemotivation durch kulturelle Zuschreibungen an das Lesen von Bedeutung. Gefragt wird auch nach dem Einfluss von sozialen Subsystemen auf die Lesemotivation, die Selektion von Lesestoffen und Lesemedien sowie die Bereitstellung von Lesestoffen über Organisationen (Feld 7). Während des eigentlichen Leseakts stellen sich Fragen nach dem Einfluss der Lesekultur auf das Textverstehen und die Sinnkonstruktion, z. B. durch allgemein gültige Wertvorstellungen (Feld 8). Ein letzter Komplex an Fragestellungen befasst sich weitreichend mit dem Entstehen und den Veränderungen von Gesellschaft, Kultur und sozialen Systemen durch das Lesen, z. B. Veränderungen von Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft durch die Kumulation individueller Leseakte (Feld 9). Mit der Komplexität der Dimensionen des Lesens als Forschungsgegenstand, der Vielfalt an Fragestellungen und der Vielfalt an wissenschaftlichen Disziplinen geht eine weitreichende Methodenvielfalt einher.
Methoden der modernen Lese- und Leserforschung
3
Erhebungsmethoden
3.1
Befragungen
3.1.1
Leistungen
5
Häufige Ergebnisse von Befragungen sind Kategorisierungen des Lesepublikums durch die Bildung unterschiedlich geclusterter Lesetypen, welche durch die Kombination aus Variablen des Leseverhaltens und soziodemografischen Merkmalen gebildet werden. Typischerweise werden hier Geschlecht und Bildungsabschluss abgefragt. Daneben wird geprüft, welche Medien im Haushalt vorhanden sind und wie häufig diese genutzt werden. Weiterhin ist von Interesse, in welchem Turnus welche Buchinhalte rezipiert werden. Auch die Sozialisation mit Büchern in der Kindheit und das Vorhandensein von Büchern im Haushalt spielen dabei eine Rolle. Die Lesehandlung resultiert aus aktiven Selektionsprozessen, die in Wechselbeziehungen zu Motivationen und Kompetenzen stehen. Aus solchen Typenbildungen sind wiederum Antworten ableitbar, die nahezu alle Felder der Lese- und Leserforschung abdecken. So stellt die Stiftung Lesen anhand ihrer 2008 durchgeführten Studie Lesen in Deutschland 2008 sechs Lesetypen vor: die Lesefreunde und Leseabstinenten, die Vielmediennutzer und Medienabstinenten sowie die Informationsaffinen und Elektronikaffinen Mediennutzer.1 In einer weiteren Konsequenz lässt sich so herausfinden, ob und wie Leser aus einer Gruppierung in eine andere wechseln können oder, aus einer interventionistischen Perspektive, wie dies gefördert werden kann. In Bezug auf die Unterscheidung von Lesern und Nicht-Lesern lässt sich beispielsweise auch ermitteln, welche Schutzmechanismen Personen aufbauen, um negativen Grundvoraussetzungen entgegenzuwirken. Wie umgehen Personen ungünstige Bedingungen im Zusammenhang mit Lesestoffen und -medien sowie variierende Sprach-, Lese- und Medienkompetenzen? Hier setzt beispielsweise die Resilienzforschung an2, welche man in der Mikroebene vor dem eigentlichen Leseprozess verorten kann (Feld 1). Diese fragt allgemein danach, was Lesen für die Probanden bedeutet, ob sich Lesen positiv oder negativ auf ihr Befinden auswirkt und in welcher Hinsicht, welche Lesestoffe sie bevorzugen, inwieweit sie sich in das Gelesene einfühlen wollen und können sowie wie sie Lesen in ihren Alltag integrieren. Mit Hilfe der Sinus-Milieus wurden in einer Studie des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zum Buchkaufverhalten die Befragten in Gruppen mit verschiedenen Kauf- und Lesegewohnheiten eingeteilt, um Kernzielgruppen 1 2
Reuter u. Schäfer 2009: 52–56. Schneider 2009: 12–16; Schneider [u. a.] 2009: 2; Bertschi-Kaufmann u. Wiesner 2009: 217f.
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Sandra Rühr, Marina Mahling und Axel Kuhn
herauszufiltern und weitere Zielgruppen mit Kaufpotenzial aufzudecken (Feld 7). Dazu wurden einerseits repräsentative Befragungen bei Personen ab zehn Jahren durchgeführt, andererseits kontinuierlich erhobene Kaufdaten ausgewertet. Bei den Fragen zum Lese- und Kaufverhalten ging es unter anderem um die Genrepräferenzen, die Lese- und Kaufmotive sowie die Aspekte, die beim Kaufen und Lesen von Büchern wichtig sind.3
3.1.2
Erhebung von Lesesozialisationsfaktoren
Fragebogen und Interviews sind in der Lage, lesestoff- und lesemedienbezogene Selektionskriterien und damit verbundene Motivationen abzufragen. Sie geben unter anderem Aufschluss darüber, welche Prozesse dazu führen, dass Individuen sich Lesestoffen und Lesemedien zuwenden. In diesem Bereich (Feld 1) wird besonderes Augenmerk auf die Sozialisationsprozesse von Familie und Peergroups gelegt. Wichtig sind in diesem Zusammenhang der Stellenwert und die Reflexion des Leseakts innerhalb der Familie und die Frage danach, wie kontinuierliche oder diskontinuierliche Lesebiografien entstehen. Eine Vorreiterfunktion nehmen hier die Einzelstudien des 1989 von der Bertelsmann Stiftung eingerichteten Forschungsschwerpunkts Lesesozialisation ein: Leseklima in der Familie, Lesen im Alltag von Jugendlichen und Lesekarrieren – Kontinuitäten und Brüche. Für die erste Studie wurde eine quantitative Erhebung durchgeführt, um die Rahmenbedingungen und den Stellenwert des Bücherlesens darzustellen. Dazu wurde unter anderem erhoben, ob Kinder gerne in ihrer Freizeit lesen, ob Lesen in den Familienalltag integriert ist, ob es ein Lesevorbild gibt und ob Lesehemmungen vorhanden sind. In den Folgestudien gab es eine Kombination aus vorbereitenden Interviews und erweiterten Fragebogen, um Bücher- und Zeitschriftenlesen der Fernsehnutzung gegenüberzustellen. Hierzu wurden die Probanden zu ihrer Medienausstattung und dem Stellenwert sowie der Funktion des Bücherlesens befragt. Weiterhin war von Interesse, wann das Lesen einen geringeren Stellenwert einnahm, was die Gründe hierfür waren und ob die Phase des Nicht-Lesens wieder in eine Phase des Lesens überführt wurde.4 Die Stiftung Lesen fokussiert die Rolle des Vorlesens für die Lesesozialisation und führt diesbezüglich seit 2007 jährlich die Vorlesestudie durch, um zu erheben, welchen Stellenwert das Vorlesen von Büchern in der Mikrogemeinschaft der Familie aus Sicht der Eltern und der Kinder hat (Feld 1). Hierzu wurden jeweils unterschiedliche Schwerpunkte mit spezifischen Fragestellungen gewählt. Vorlesen aus Sicht der Eltern fragte beispielsweise danach, ob und wie oft Eltern ihren Kindern in letzter Zeit Geschichten vorgelesen haben, was mit dem Vorlesen assoziiert wird und was die Gründe 3 4
für nicht praktiziertes Vorlesen sind. Vorlesen aus Sicht von Drei- bis Elfjährigen stellte Fragen wie: „Wurde dir in letzter Zeit vorgelesen und von wem?“ und „Wo und wie häufig bekommst du vorgelesen?“ Daneben wurden Väter und ihre Rolle als Vorleser, Vorlesen innerhalb von Familien mit Migrationshintergrund und die Bedeutung des Vorlesens für die weitere Entwicklung fokussiert.5 Eine Erweiterung dieser Fragestellungen stellt die Studie Lesefreude trotz Risikofaktoren der Stiftung Lesen dar, in der mittels Interviews und Fragebogen ein Ist-Zustand der Lesesozialisation präsentiert wird. Der Begriff des Lesens wurde hierfür auf das Lesen von Zeitschriften ausgedehnt. Mit Hilfe von als Vorstudie geführten Tiefeninterviews innerhalb sozial schwacher Schichten, Akademikerfamilien und Experten aus den Bereichen Schule, Buchhandlung oder Bibliothek sollte zunächst der Zusammenhang zwischen Lesen und Familienleben dargestellt werden (Feld 1 und 4). Daran schlossen sich Befragungen per Fragebogen bei Kindern zwischen 6 und 13 Jahren an, um deren Lese- und Freizeitverhalten zu erheben. Hierzu wurden Aussagen formuliert wie „Das mache ich besonders gern: Bücher lesen“, „Ich lese am liebsten in Zeitschriften“, „Aus dem Fernsehen kann man besonders viel für die Schule lernen“, „Ich konnte schon lesen, als ich in die Schule gekommen bin“ oder „Ich habe Spaß im Deutschunterricht“, die von den Befragten mit ja oder nein zu beantworten waren. Weiterhin wurden Personen ab 16 Jahren befragt, um Zusammenhänge zwischen Lesekompetenz, Leseinteresse und zukünftigen Chancen für Kinder als kompetente Mitglieder der Gesellschaft aufzudecken. Dies geschah über folgende Fragestellung: „Was wird Ihrer Meinung nach durch Bücherlesen eher gefördert und was wird eher gehemmt, wenn man viele Bücher liest?“ Dazu wurden Fähigkeiten aus den Bereichen Kenntnisse, Phantasie und Kognition vorgegeben wie Wortschatz, Allgemeinbildung, Phantasie oder selbstständiges Denken sowie emotionale Fähigkeiten und soziale Kompetenzen wie Humor, Durchsetzungsvermögen oder Kontaktfreude. Ergänzt wurden diese Befragungen um Interviews, die in erster Linie das elterliche Leseverhalten aufdecken sollten. Die solcherart mögliche Beschreibung von familiären Lesesozialisationsprozessen zeigte die zentrale Bedeutung der Familie in ihrer Funktion als Vorbild. 6 Wenn es darum geht, die Vorbildfunktion spezifischer Mitglieder solcher Mikrogemeinschaften abzubilden, bietet sich das Modell der Ko-Konstruktion an. Hierbei wird davon ausgegangen, dass Interaktionspartner Bedeutungszuschreibungen und Interpretationsmuster teilen. 7 In Anlehnung hieran nahm Elias bei ihrer Studie Väter lesen vor die Väter in den Fokus. Sie konnte unter anderem mit Befragungen von Vätern und fokussierten Interviews innerhalb ausgewählter Familien aufzeigen, dass Väter besonders auf das Lesen von Jungen einwirken können und dass sie zugleich durch ihr 5
asymmetrisches-direktives Vorleseverhalten auf spätere schulische LehrerSchüler-Interaktionen vorbereiten (Feld 1).8 Die Väter sollten dabei nach dem Leseakt Einschätzungen abgeben, wie sie die Vorlesesituation hinsichtlich der Interaktion der Beteiligten, der Redeanteile, der Stimmungen, des Körper- und Blickkontakts und der generellen Lesesituation empfunden haben. Weiterhin ging es um die Beurteilung der Buchauswahl sowie allgemeine Bewertungen zu Rahmenbedingungen und Funktion des Vorlesens. Neben der Familie bildet auch die Peergroup eine wichtige Instanz der Lesesozialisation. Um Veränderungen im Altersverlauf aufdecken zu können, wandte Philipp9 zur Befragung von Schülern eine Längsschnittstudie an. Bei der ersten Erhebung setzte er einen Fragebogen ein, um das Freizeit- und Leseverhalten von Schülern der fünften Klassen der Haupt- und Realschulen sowie der Gymnasien, ihre Lesemotivation und ihre Cliquen-Leseorientierung zu untersuchen. Zwischen erster und zweiter Erhebung lagen eineinhalb Jahre. Typische Fragen waren beispielsweise: „Welchen der folgenden Freizeitbeschäftigungen gehst du wie häufig nach?“, „Welche der folgenden Medien (differenziert nach audiovisuellen und Printmedien) nutzt du wie häufig?“, „Wie viele Bücher hast du zuletzt gelesen?“, „Welche Genres bevorzugst du?“ und „Würdest du von dir selbst sagen, dass du in deiner Freizeit viel und intensiv liest?“ Im Zusammenhang mit der CliquenLeseorientierung sollten die Befragten Aussagen auf ihre Clique übertragen und sich so zuordnen. Weiterhin wurden sie gefragt, ob und mit wem sie sich über Medieninhalte austauschen sowie ob und mit wem sie Medien tauschen. Ziel dieser Befragung war es zugleich, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Einflussfaktoren auf das Lesen wie Familie, Freunde und Schule (Feld 1 und 4) auf der einen Seite und lesebezogenem Selbstkonzept und Lesemotivation sowie Freizeit- und Medienverhalten auf der anderen Seite aufzuzeigen.
3.1.3 Organisationen der Bereitstellung von Lesestoffen und Lesemedien Um zu erforschen, welchen Einfluss Organisationen wie beispielsweise die Schule durch ihre Funktion des Bereitstellens von Lesemedien und der Präsentation von Lesestoffen haben, werden häufig quantitative oder qualitative Methoden eingesetzt. Erstere decken Zusammenhänge zwischen den verschiedenen beteiligten Instanzen und organisationsspezifische Einflussfaktoren auf, die zweiten beschreiben konkrete Interaktionsvorgänge zwischen Individuen und spezifischen Organisationen.
8 9
Ebd.: 345–349. Philipp 2008: 58–65; Philipp 2010: 107–113.
Methoden der modernen Lese- und Leserforschung
9
Den Zusammenhang zwischen Schul- und Privatlektüre untersuchte Mahling10 (Feld 1, 4 und 6). Sie befragte mittels Fragebogen zunächst Deutschlehrer der gymnasialen Oberstufe u. a. zu den tatsächlich eingesetzten Lektüren und der von ihnen vermuteten Wirkung bei den Schülern. In einem zweiten Schritt wurden die Schüler selbst zu den einzelnen Lektüren, zur Auswirkung des Literaturunterrichts auf die Privatlektüre, zur Privatlektüre und Lesemotivation befragt. Der Vergleich der Antworten lässt Aussagen und Meinungen zweier unterschiedlicher Gruppen über denselben Sachverhalt zu, wodurch auf Problemfelder, aber auch auf bisher unerkannte Potenziale aufmerksam gemacht werden kann. Peschutter11 setzte bei ihrer Befragung auch in der Schule an, dehnte jedoch ihre Fragestellung dahingehend aus, dass theoretische Grundannahmen, bildungspolitische Rahmenbedingungen und Grundschulpraxis im Zusammenhang mit textbasierten Digitalmedien miteinander verglichen werden sollten (Feld 4). Wesentlich ist hier die These, dass Lesen mehr ist als die Sinnentnahme aus Texten. Zu deren Überprüfung führte sie Experteninterviews mit Grundschullehrerinnen, um den Einsatz textbasierter Digitalmedien und die Förderung der Lesekompetenz im Primarbereich zu erforschen. Sie stellte dazu Fragen zur Beurteilung der Schule bzw. des Deutschunterrichts als Lesesozialisationsinstanz, zur Einschätzung, was Leseund Medienkompetenz ausmacht, fragte, welche Medien in der Schule eingesetzt werden und ließ Risiken und Potenziale des Computereinsatzes abschätzen. Weiterhin sollten die Interviewpartner Fragen zu Lehrplänen beantworten und Erwartungen an die Bildungspolitik formulieren. Die qualitative Herangehensweise ermöglichte dabei größere Flexibilität als quantitative Verfahren. Mit dem Leseverhalten von Schülern setzte sich Harmgarth12 auseinander. Neben den privaten Lesegewohnheiten wurden die Jugendlichen in Bezug auf die Nutzung Öffentlicher Bibliotheken sowie zum Lesen in der Schule befragt (Feld 4 und 5). Um einen vergleichbaren Maßstab für das Leseverhalten zu erhalten, erstellte sie einen Leseindex. Dieser berücksichtigte vor allem das private Leseverhalten – beispielsweise durch Fragen zur Lesehäufigkeit und zum Buchbesitz –, bezog aber teilweise auch das Lesen in der Schule ein. Für das Projekt hatten sich Schulen und Bibliotheken zu Kooperationen zusammengeschlossen. Das Ziel bestand darin, die Ausgangssituation zu Beginn der Kooperation zwischen Bibliotheken und Schulen zu erfassen.
3.1.4 Darstellung von Wirkungen sowie Funktionen und Leistungen des Lesens Befragungen sind auch in der Lage, die individuelle postrezeptive Phase nachzubilden (Feld 3). Vor allem im Bereich der Wirkungen, Emotionen und Bewertungen lassen sich Fragebogen wie auch Interviews einsetzen. Meist werden beide Erhebungsformen kombiniert, indem Fragebogen Beschreibungsmodi liefern, die über vertiefende Interviews spezifiziert werden. Um Wirkungsmechanismen unterschiedlicher Medien, Textsorten und Inhaltsformen aufzuzeigen und zu modifizieren, werden beispielsweise Large-Scale-Surveys durchgeführt und um narrative Interviews ergänzt. Ein Beispiel ist die Untersuchung des Flow-Erlebens bei lesefernen Jugendlichen. Es handelt sich dabei um ein Teilprojekt innerhalb des Gesamtprojekts Literale Resilienz.13 Fragebogen simulieren die Anschlusskommunikation, in der das lesende Individuum mit einem Gegenüber in einen Dialog tritt, um das Gelesene zu verarbeiten. Die modernste Ausprägung einer solchen medial gestützten Dialogsituation ist die SMS-Befragung, die besonders dem Medienhandeln einer jüngeren Zielgruppe entspricht. Hierbei werden in bestimmten Intervallen über den Tag verteilt und über mehrere Wochen hinweg Kurzmitteilungen mit Fragen wie „Hast du gerade gelesen?“, „Was hast du gerade gelesen/gemacht?“ oder „Wie ist deine Stimmung?“ an Rezipienten verschickt, die diese wiederum in Kurzmitteilungsform beantworten. Soll ermittelt werden, wie das lesende Individuum den jeweiligen Leseakt emotional bewertet, werden in erster Linie Interviews durchgeführt. Hier wird stärker in die Tiefe gehend das konkrete Empfinden bei der individuellen Lesehandlung nachgezeichnet.14 Auf der Ebene der Funktionen und Leistungen des Lesens können Fragebogen wie auch narrative Interviews eingesetzt werden, um die Zuschreibungen an das Lesen aufzudecken. Dazu sollen die Befragten den Stellenwert und die tatsächliche Nutzung verschiedener Medien und Medieninhalte sowie ihre jeweiligen Erwartungen angeben. Solcherart ausgerichtete Befragungen sind zumeist der Ausgangspunkt, um über die Mikroperspektive – Zuschreibung des Einzelnen an das Lesen – auf die Makroperspektive – die gesamtgesellschaftliche Zuschreibung – schließen zu können, die wiederum auf Mikro- und Mesoperspektive zurück ‚übersetzt‘ wird (Feld 7). Ein Beispiel ist auch hier die Stiftung Lesen-Studie, die aufdeckt, dass jeder vierte Deutsche kein Buch liest.15 Dieses Ergebnis sowie eine Kartografie der Leser in Deutschland sollten in einem zweiten Schritt zu Leitlinien für die Leseförderung führen, um darauf aufbauend medienkompetente Mitglieder der Gesellschaft heranzubilden.16 13
Schneider 2009; Schneider [u. a.] 2009; Bertschi-Kaufmann u. Wiesner 2009. Bertschi-Kaufmann u. Wiesner 2009: 221–224. 15 Kreibich u. Schäfer 2009: 11. 16 Ebd. 2009: 13. 14
Methoden der modernen Lese- und Leserforschung
3.2
Beobachtungen
3.2.1
Leistungen
11
Beobachtungen ermöglichen es, die konkrete Medienhandlung und die daraus resultierenden Wirkungen unmittelbarer festzuhalten, als dies mit Befragungen ginge. Beobachtungen können in Form von Selbstbeobachtungen schriftlich, beispielsweise durch Tagebuchaufzeichnungen, erfolgen. Zusätzlich sind Fremdbeobachtungen möglich, indem Beobachtungsbögen ausgefüllt, Videoaufzeichnungen angefertigt oder Messungen durchgeführt werden. Beide Formen sind immer von den intersubjektiven Einschätzungen der beobachtenden Personen abhängig. Sie setzen somit voraus, dass jeder Betrachter das Beobachtete gleichermaßen zur Kenntnis nimmt und bewertet. Der Vorteil dieser Erhebungsmethode liegt darin, dass sie entweder zeitgleich mit der Lesehandlung oder nur wenig zeitversetzt stattfinden kann. Die konkrete Lesehandlung bzw. das Leseerlebnis sind somit noch präsent und können ohne oder mit lediglich geringen retrospektiven Ergebnisverzerrungen dargestellt werden. Diese Unmittelbarkeit bedingt jedoch zugleich eine perspektivenbezogene Einschränkung auf Mikro- und Mesoebene. Untersuchungen zur rezeptiven und postrezeptiven Phase kommen allerdings selten ohne Begleiterhebungen aus: Quantitative Erhebungen dienen dann der Darlegung von Rahmenbedingungen, qualitative bieten vertiefende Ergänzungen. Beobachtungen können außerdem die Grundlage für Sekundäranalysen sein. Eine Sekundäranalyse ist eine erneute Analyse bereits vorhandener Daten – entweder um mit dem vorhandenen Material andere Fragestellungen zu untersuchen oder um frühere Ergebnisse zu überprüfen. Sekundäranalysen sind damit die Basis für weitere Untersuchungen, einerseits im Bereich der Mikrogemeinschaften – vor allem Familie und Peergroups – andererseits im Bereich der Institutionen und Organisationen. Mit der familiären Lesesozialisation (Feld 1) setzt sich eine Sekundäranalyse von Wollscheid17 auseinander. Sie zog Daten einer Zeitbudget-Erhebung heran und wertete die mittels Tagebuchnotizen erhobene Mediennutzung von Personen ab zehn Jahren in Familienhaushalten aus (Feld 2). Die Tagebuchdaten waren in den Datensätzen als aufsummierte Zeitbudgets pro Tagebuchtag und Hauptaktivität vorhanden – abgefragt durch Fragen wie „Wie viel Zeit wurde pro Tag insgesamt mit Lesen als Hauptaktivität verbracht?“ Darüber hinaus standen auch stärker differenzierte Informationen zu den einzelnen Zeittakten zur Verfügung – hier wurde beispielsweise ermittelt, wie viel Zeit die Personen zwischen 6 und 8 Uhr mit (Zeitung-)Lesen verbracht haben. Wollscheid war damit in der Lage Verhaltensweisen abzubilden, die nicht durch Einstellungen bewertet worden waren – wie dies beispielsweise bei 17
Wollscheid 2008.
12
Sandra Rühr, Marina Mahling und Axel Kuhn
einer direkten Befragung zum Leseverhalten der Fall gewesen wäre. 18 Solcherart gewonnene Erkenntnisse können dann wiederum die Grundlage für Befragungen sein.
3.2.2
Selbstbeobachtungen individueller Leseakte
Obwohl Beobachtungen, die als Ausgangspunkt für weiterführende Analysen dienen, besonders unter dem Aspekt der sozialen Erwünschtheit positiv zu bewerten sind, werden sie doch in erster Linie dazu eingesetzt, um das eigene Verhalten bei konkreten Handlungen abzubilden und dieses in einem nächsten Schritt zu kategorisieren. Die retrospektive Betrachtung des Leseverhaltens wendet Graf an, um unterschiedliche Leseweisen zu modellieren. Bedeutend ist hier der Einfluss der Lesemotivation, da Leser zwischen freiwilliger und Pflichtlektüre differenzieren. Kontextabhängig kann man daher verschiedene Motive unterscheiden, die zur Lektüre führen (Feld 1und 2). Graf analysierte Lektüreautobiografien und führte zusätzlich qualitative Interviews durch. Lektüreautobiografien sind Quellentexte, welche die Probanden unter vergleichbaren Bedingungen verfassen. Um Äußerungen zu stimulieren, werden den Befragten ‚Locktexte‘ vorgelegt: diese bestehen aus einer Sammlung von verschiedenen lesebiografischen Zitaten. Deren Zweck ist es, bei den Probanden lesebezogene Einstellungen und Erinnerungen zu wecken, die sie im Anschluss frei niederschreiben können – ohne durch ein von außen vorgegebenes Fragenschema beeinflusst zu werden.19 Bei Nieuwenboom beschrieben die Befragten ihre Leseaktivitäten mit Hilfe von strukturierten täglichen Fragebogen (Tagebüchern). Die Fragebogen wurden jeweils morgens in der Schule ausgefüllt und bezogen sich auf die Aktivitäten des Vortags. Abgefragt wurden dabei beispielsweise, in welchem Buch die Schüler wie viele Seiten gelesen haben und woher sie das Buch hatten. Die konkrete Lesehandlung (Feld 2) lässt Rückschlüsse auf andere Bereiche zu. Diese Art der Befragung ist beispielsweise möglich bei Untersuchungen zur Leseaktivität, Lesesozialisation, Lesemotivation und Lesekompetenz (Feld 1 und 4).20
3.2.3
Fremdbeobachtungen individueller Leseakte
Fremdbeobachtungen sind gegenüber Selbstbeobachtungen zuverlässiger, weil die zu beobachtende Personengruppe größer sein kann und die Ergebnisse weniger durch subjektive Eingebundenheit verfälscht werden können. Fremdbeobachtungen dienen dazu, Leseinteraktionen im Augenblick ihres 18
Auftretens festzuhalten und anschließend zu interpretieren. Um besonders Letzteres besser gewährleisten zu können, sind auch hier ergänzende Erhebungen nötig. So konnte Elias durch Videobeobachtungen Vorlesesituationen zwischen Müttern und Söhnen sowie zwischen Vätern und Söhnen abbilden (Feld 2). Sie wählte dazu Familien aus, deren Familienleben traditionellen oder unkonventionellen Ansichten folgte und variierte die Geschichten bei den familiären Vorleseinteraktionen. Damit die beobachteten Ergebnisse über Momentaufnahmen hinausgehen, ergänzte Elias diese um fokussierte Interviews. Gleichzeitig konnten die Videoaufnahmen die Aussagen der Interviews stützen oder widerlegen. 21 Ziel war es, die Vorlesesituation hinsichtlich der stattfindenden Interaktionen zwischen den Beteiligten, der Redeanteile, der Stimmungen, des Körper- und Blickkontakts und der generellen Lesesituation, auch bezogen auf die Buchauswahl, möglichst realistisch nachzuzeichnen. Zur Abbildung der Hirnaktivitäten und neurobiologischen Vorgänge während des Lesens (Feld 2) eignen sich Verfahren wie Eye Tracking und EEG-Messungen sowie weitere Methoden aus dem Bereich der Hirnforschung. Hier kann gezeigt werden, welche Augenbewegungen während der Rezeption eines Texts stattfinden und welche Gehirnareale beim Lesevorgang zusammenarbeiten, wie Informationen verarbeitet werden und welche physischen Wirkungen daraus resultieren. Diese beschreiben zum Einen emotionale Folgen des Lesens wie Freude, Erregung etc., zum Anderen kognitive Verknüpfungsprozesse zwischen Sprach-, Seh- und Hörzentrum des Gehirns. Zudem wird deutlich, wie sich das Gehirn durch die lesende Neuaufnahme von Reizen kurz- und langfristig verändert. Dies führte die amerikanische Hirnforscherin Maryanne Wolf in ihrer populärwissenschaftlichen Untersuchung Das lesende Gehirn vor Augen. 22 Oberflächliches, scannendes Lesen, wie Wolf es beim Lesen digitaler Lesemedien annimmt, hat ihrer Meinung nach eine geringer ausgeprägte Verstehensleistung zur Folge. Wolf propagiert daher Leseweisen, die sie ausschließlich mit dem Lesen von Büchern assoziiert: tiefes, verstehendes, mitfühlendes und analysierendes Lesen. Obwohl sie primär wissenschaftliche Interessen verfolgt, leitet Wolf zugleich an Eltern und Schulen gerichtete Forderungen ab: Um komplexe und im Sinne der Leseforschung positive Hirnentwicklungen zu befördern (Feld 2 und 3), haben Eltern so früh wie möglich mit dem Vorlesen zu beginnen, und zugleich müssen Bücher von Eltern und Lehrern bereitgestellt werden. 23
21
Elias 2009: 136–144. Wolf 2009. 23 Schlütter 2010; Thiel 2009a; Thiel 2009b. 22
14
Sandra Rühr, Marina Mahling und Axel Kuhn
3.3
Tests
3.3.1
Leistungen
Tests sind im Vergleich zu den bislang beschriebenen Methoden zuverlässiger, denn sie zeigen mit Hilfe von Verstehenstests konkrete Wirkungen. Allerdings befindet sich der untersuchte Rezipient in einer nichtnatürlichen Situation und verhält sich dementsprechend nicht zwangsläufig so, wie er es unter normalen Umständen tun würde. Die Ergebnisse können also verfälscht werden und sind zudem stets abhängig von den zu Grunde gelegten Messinstrumenten. Deren Ergebnisse sind nur dann wirklich zuverlässig, wenn im Vorfeld sichergestellt wurde, was wie und mit welchen Methoden gemessen wird.24 Tests dienen häufig dazu, Veränderungen aufzuzeigen. Sie werden daher in der Regel in bestimmten Intervallen, teils unter geänderten Fragestellungen, wiederholt. Für das Testdesign ist die Bestimmung des Lese- und des Lesekompetenzbegriffs von elementarer Bedeutung. So macht es einen Unterschied, ob Lesen entweder als Decodieren und Zusammenfügen von Schriftzeichen oder als die Fähigkeit, Schriftzeichen, egal auf welchem Lesemedium, mit der umgebenden Realität in Verbindung setzen zu können, gefasst wird.25 Aus der begrifflichen Abgrenzung resultiert dann auch eine mögliche Ausdehnung des Kompetenz-Begriffs auf einen Literalitäts-Begriff, der kollektive und kooperative Produktion wie Rezeption schriftbasierter Kommunikation umfasst.26 Weiterhin gilt es zu differenzieren, ob die Verstehensleistung des Individuums oder die einer größeren Gruppe getestet wird, um auf die Kompetenzen der Gesellschaft rückschließen zu können. Zu fragen ist auch danach, ob hier in erster Linie kognitive Kompetenzen oder auch motivationale und emotionale von Belang sind. Tests können vor allem Kompetenzen und Leistungen aufzeigen und geben damit Einblick in verschiedene Felder der Leseforschung (Feld 1 bis 3 und Feld 7 bis 9). Ausgehend von diesen variablen Begriffsabgrenzungen und Fragestellungen sind auch die Erhebungsformen innerhalb der Tests zu differenzieren. So lässt sich der Verstehensprozess allgemein über den Zeitaufwand zur Informationsaufnahme festhalten (Feld 2). Dies kann über Blickbewegungsmessungen, und hierbei über die Elemente Fixationen (Haltepunkte), Sakkaden (Blicksprünge) und Regressionen (Rücksprünge), geschehen. Weiterhin werden in diesem Bereich lexikalische Entscheidungsoder Wiedererkennungsaufgaben gestellt. Um das Textverstehen (Feld 3) zu erheben, das exakt auf den Text und seine repräsentierten Wortbestandteile und Inhalte Bezug nimmt, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Lückentests, 24
Husfeldt u. Lindauer 2009: 145. Romberg 2009: 111. 26 Bertschi-Kaufmann u. Rosebrock 2009: 7–17.
25
Methoden der modernen Lese- und Leserforschung
15
wobei ganze Wörter oder Teile von Wörtern getilgt werden, um von der Testperson ergänzt zu werden, Textreproduktionen und Wiedererkennungsverfahren sowie Multiple-Choice-Aufgaben. Hierbei werden falsche und korrekte Antworten als Lösungsmöglichkeiten angeboten, wobei letztere exakt im Text zu identifizieren sind. Verstehen umfasst auch die Integration neuer Informationen in bestehende kognitive Muster (Feld 3). Hier sind offene Fragen zum Text, Reproduktionsaufgaben, wobei der Text so genau wie möglich wiederzugeben ist, und Ordnungsaufgaben, die das textstrukturelle Wissen, das wiederum Wissen über Textsorten voraussetzt, abprüfen, möglich.27
3.3.2
Messung von Lesekompetenz
Sowohl bei IGLU als auch bei PISA wird die Lesekompetenz von Schülern untersucht. Lesekompetenz ist in diesem Zusammenhang gleichbedeutend mit reading literacy. Dies ist die Fähigkeit, Lesen in verschiedenen Situationen einsetzen zu können, die für die Lebensbewältigung notwendig sind, um am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben zu können. Mit IGLU 28 wird seit 2001 im Fünfjahresrhythmus die Lesekompetenz daher sowohl mit Hilfe literarischer Texte als auch unter Einbezug von Texten zum Gebrauch und zur Ermittlung von Informationen untersucht. Es werden Kinder der vierten Jahrgangsstufe im Hinblick auf ihr Leseverständnis getestet (Feld 3). Die Testaufgaben zu den Texten sind jeweils Kompetenzstufen zugeordnet, die unterschiedliche Anforderungsprofile haben. Neben Multiple-ChoiceAufgaben werden auch offene Fragen eingesetzt, bei denen die Schüler die Texte selbstständig interpretieren müssen. Die durchschnittliche Lesekompetenz der Schüler der teilnehmenden Länder wird miteinander verglichen, um Leistungsunterschiede auf der Makroebene konstatieren zu können (Feld 9).29 Auch bei PISA30, durchgeführt seit 2000 im achtjährigen Turnus, werden zur Erfassung der Lesekompetenz sowohl kontinuierliche als auch nichtkontinuierliche Texte verwendet. Anders als bei IGLU werden aber neben der Lesekompetenz auch die naturwissenschaftlichen und mathematischen Kompetenzen abgefragt. Die zu lösenden Aufgaben sind wiederum nach Anspruch in verschiedene Kompetenzstufen unterteilt (Feld 3). Die Aufgaben sind zum Teil Multiple-Choice-Aufgaben, zum Teil müssen die Schüler kurze oder ausführlichere freie Antworten formulieren. Ähnlich wie bei IGLU werden auch bei PISA die nationalen Ergebnisse zur Lesekompetenz in Bezug
27
Christmann 2009: 181–194. Internationale Grundschul-Leseuntersuchung. 29 Hornberg [u. a.] 2007: 23, 27-29, 37. 30 Programme for International Student Assessment. 28
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zu den anderen Teilnehmerländern gesetzt (Feld 9), allerdings werden bei PISA 15-jährige Schüler hinsichtlich ihrer Kompetenzen getestet. 31 Eine sekundäranalytische Auswertung aus den mittels IGLU, PISA und IQB32 gewonnenen und in Kennzahlen übersetzten Daten wurde dem Deutschen Lernatlas 2011 zugrunde gelegt. Hier wird davon ausgegangen, dass Menschen lebenslanges Lernen in unterschiedlichen Bereichen praktizieren. So wird Bildung nicht ausschließlich in der Schule erworben, sondern auch über das berufliche, soziale und persönliche Lernen. Zwar geht es beim von der Bertelsmann Stiftung initiierten Deutschen Lernatlas darum, Bildungsbarrieren innerhalb Deutschlands aufzuzeigen, zugleich ist jedoch relevant, wie diese nachgezeichnet werden. Die durch IGLU und IQB gewonnenen Ergebnisse fließen in das schulische, die PISA-Resultate in das persönliche Lernen ein. Die grundlegenden Fragestellungen waren jeweils, wie gut das Verstehen von und Reflektieren über Texte in den verschiedenen Kreisen der Bundesländer ausgeprägt ist, um hieraus wiederum ableiten zu können, in welchen Teilen Deutschlands diese Kompetenzen zu fördern sind. Daraus lässt sich ableiten, dass Lesen maßgeblicher Bestandteil lebenslangen Lernens ist. Lesen kommt somit auf der Makroperspektive (Feld 8) eine wesentliche Funktion zu. Die Dimension Lesekultur setzt sich damit aus einer generellen Kompetenz sowie einer Neigung zum Lesen und zur tatsächlichen Lesepraktik zusammen.33
3.3.3
Messung emotionalen und ästhetischen Erlebens
Konzentrieren IGLU und PISA sich vorrangig auf kognitive Mindestanforderungen zur erfolgreichen gesellschaftlichen Teilhabe, so versteht die Lesesozialisationsforschung Lesen als kulturelle Praxis. Aus diesem Grund werden auch motivational-emotionale und kommunikativinteraktive Kompetenzen berücksichtigt.34 Die Fähigkeit zum ästhetischen Genuss und Einfühlen in die Figuren35 kann beispielsweise mit Hilfe von TELL36 nachgezeichnet werden. Mittels offener Fragen zu literarischen Texten mit einem Umfang von wenigen Seiten werden das Innenleben von Figuren und Gefühlsbeziehungen zwischen verschiedenen Figuren abgefragt (Feld 3). Die solcherart gewonnenen verbalen Äußerungen sind in einem zweiten Schritt inhaltsanalytisch auszuwerten und zu beurteilen. Messungen wie die bei TELL sind außerdem kombiniert mit anderen Erhebungsformen einsetzbar, um einerseits ein umfassendes Konzept von Lesekompetenz – bestehend aus Kognition, Motivation, Emotion und Anschlusskommunikation 31
OECD 2010: 23, 25; Prenzel 2008: 108. Lesekompetenz Deutsch, erhoben vom Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen. 33 Schoof [u. a.] 2011: 6–9, 25f., 63f., 86–89. 34 Hurrelmann 2009: 30. 35 Bertschi-Kaufmann u. Schneider 2006: 396. 36 Test zur Erhebung der empathischen Leseleistung.
32
Methoden der modernen Lese- und Leserforschung
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– abzubilden und um andererseits das Leseerleben in institutionalisierten Lesesituationen (Feld 5) zu fördern. Hierzu wurde beispielsweise die Interventionsstudie zum interessengeleiteten und individuellen Lesen im Rahmen des Forschungsprojekts Lese- und Schreibkompetenzen fördern durchgeführt.37 Die LUK38 wird seit 2007 im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms 1293 Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen untersucht. Besonders in literaturdidaktischer Hinsicht ist eine Ausdehnung des Kompetenzbegriffs von Belang (Feld 2). Mit Hilfe von teilweise geschlossenen Fragen wie „Was bedeutet der Ausdruck xy in dem Gedicht?“, „Welche Aussagen treffen auf den Text/Das Gedicht zu?“ oder Anweisungen wie „Erkläre bitte kurz dein Verständnis der folgenden Textstelle […]“ und „Erläutere kurz die formale Besonderheit der Formulierung xy“, sollten zunächst die drei Dimensionen der literaturästhetischen Urteilskompetenz aufgezeigt werden: Bei der semantischen Dimension geht es um das Verstehen zentraler Inhalte, bei der idiolektalen Dimension wird von einem Zusammenhang zwischen formalen Textspezifika und ihrer Wirkung auf den Leser ausgegangen, und bei der kontextuellen Dimension wird zusätzliches Hintergrundwissen zu Epoche, Gattung, Motiv o. ä. hinzugezogen. Weitere Erhebungen untersuchten die LUK bei lernschwachen Schülern oder stellten sie in den Kontext des Vorwissens.39
3.4
Inhaltsanalysen
3.4.1
Leistungen
Inhaltsanalysen werden zumeist als zweiter Schritt angewendet, um Erkenntnisse, die über andere Erhebungsmethoden gewonnen wurden, auszuwerten. Der inhaltsanalytische Zugang hilft dabei, Informationen zu kategorisieren und zu strukturieren, um sie so vergleichend beurteilen zu können. Inhaltsanalysen lassen sich somit mit allen anderen Methoden kombinieren: Bei Befragungen dienen Deutungsmusteranalysen beispielsweise dazu, die Argumentationsstrukturen von Befragten bei Interviews kritisch zu beurteilen.40 Bei Beobachtungen können Textmarkierungen und Kommentare, die im Rahmen einer Selbstbeobachtung vorgenommen wurden, analysiert werden. Die Dialoganalyse dient als Zeichen der Text-Leser-Interaktion.41 Mittels Inhaltsanalysen lassen sich 37
zudem Merkmale unterschiedlicher Lesemedien aufzeigen, um hieraus medienbezogene Einflussfaktoren auf das Leseverhalten abzuleiten.42 Pieper, Rosebrock, Wirthwein und Volz verwendeten Inhaltsanalysen, um das Leseverhalten und den Mediengebrauch von Hauptschülern zu untersuchen. Im Mittelpunkt standen Fragen, welchen Stellenwert das Lesen bei jungen Erwachsenen mit niedrigem Bildungsabschluss hat, wie es biografisch dazu kam und welchen Einfluss dabei die Schule hatte (Feld 1, 3, 4 und 6). Zunächst führten sie Interviews mit Absolventen und Deutschlehrern von Hauptschulen. Nach der Transkription der Interviews entwickelten sie ein Kategoriensystem. Ausgangspunkt für die einzelnen Kategorien waren die Analyseeinheiten, die anhand des Materials ausgearbeitet wurden. Danach wiesen jeweils mindestens zwei Bearbeiter die Textpassagen den einzelnen Kategorien zu, um der Intersubjektivität nahezukommen.43
4 Forschungsdesiderate und methodische Probleme der Lese- und Leserforschung Desiderate einer Forschungsthematik sind häufig auf eine Diskrepanz zwischen möglichen Fragestellungen und verfügbaren Methoden zurückzuführen. Nicht jegliche Methode kann auf jede Frage eine Antwort finden, was unterschiedliche Gründe hat. So ist beispielsweise ein Fragebogen, der von kleinen Kindern auszufüllen ist, nur bedingt geeignet, da diese Befragten auf Hilfe beim Ausfüllen angewiesen sind. Weiterhin ist problematisch, dass die Stichprobenziehung entweder nicht repräsentativ oder vergleichbar ist oder dass es bei Längsschnittstudien zu Dropouts kommen kann. Besonders bei schriftlichen Befragungen ist zu beobachten, dass die nicht berücksichtigte Verstehenskompetenz der Befragten zu einem Wegfallen auswertbarer Antworten bzw. bei Längsschnittstudien zu einer Überarbeitung des Fragebogens führen kann. Die Vergleichbarkeit von Ergebnissen unterschiedlicher Studien wird damit gemindert. Befragungen, deren Zielsetzung es ist, Relationen zwischen unterschiedlichsten Variablen herzustellen, laufen oft Gefahr, so überkomplex angelegt zu sein, dass die Ergebnisse nur bedingt nachvollzogen und zu Interventionen herangezogen werden können. Gelingende Interviews setzen die Beantwortungsbereitschaft der Befragten voraus und basieren sehr wesentlich auf dem Können des Interviewers. Besonders im Bereich der Leserforschung ist eine neutrale Art des mündlichen Befragens notwendig, die sich durch möglichst vermiedene Interviewer-Reaktivität auszeichnet. Beobachtungen setzen voraus, dass der Beobachtende weiß, was bzw. welche Ereignisse und Erlebnisse relevant sind und festgehalten werden sollen. Zugleich kommt hier wie bei Befragungen der Faktor der sozialen 42 43
Erwünschtheit zum Tragen: Angegeben wird nur, was aus Selbstbeobachterperspektive nicht heikel und der Norm entsprechend eingeschätzt wird. Da das Auswerten von beobachteten Erlebnissen oftmals sehr aufwendig und teuer ist, kommt diese Methode, obwohl am unmittelbarsten, relativ selten zum Einsatz. Beobachtungen, die mittels Messungen deskriptiv einen Zustand beschreiben wollen, kommen an Grenzen: So lassen neurowissenschaftliche Untersuchungen die Beschreibungen von Ist-Zuständen oder auch zeitlich bedingten Veränderungen zu. Das Aufzeigen von Zusammenhängen oder auch das Bilden von Kategorien, z. B. in Form bestimmter Lesemotive, ist bislang noch zu komplex und nicht abbildbar. Weiterhin ist es gerade in diesem Bereich notwendig, dass diese Komplexität anhand der Messung über einen längeren Zeitraum sowie über eine repräsentative Stichprobe nachgebildet wird. Sonst laufen die Beobachtungen Gefahr, zufällig zu sein, oder es werden Zusammenhänge gesehen, wo tatsächlich gar keine sind. Besonders bei Tests ist auffällig, dass nachvollziehbare und einheitliche Messergebnisse nur dann vorliegen können, wenn im Vorfeld der Untersuchungsgegenstand und die damit verbundene Fragestellung eindeutig geklärt wurden und festgelegt wurde, wie beides konkret analysiert wird. Je nach Disziplin, die einen solchen Test durchführt, sind die Fragestellungen zwar ähnlich, die Methoden differieren jedoch teilweise erheblich.44 Diese Tendenz ist nicht nur bei Tests zu beobachten, sondern gilt für alle Erhebungsmethoden. Tests sind zudem in ihrer Realisierung aufwendig und teuer, was die Durchführung, auch in regelmäßigem Turnus oder in vergleichenden Erhebungen, erschwert. Vor allem das Nachbilden des Rezeptionsvorgangs ‚am Medium‘ – und hierbei sei keine Einschränkung auf das Buch vorgenommen – wird in Relation zu den anderen Erhebungsmethoden wenig praktiziert. Dies zeigt die Grenzen der Inhaltsanalyse auf, die eine Text-Leser-Interaktion nur in einem zweiten Schritt nachzeichnen kann. Stattdessen lässt sich die mediale Botschaft an sich – das Buch, die Zeitung, das Comicheft, die Internetseite etc. – auf ihre medienspezifischen Zeichen hin analysieren. Damit ist eine intendierte Wirkung des Mediums deutbar, nicht jedoch die konkrete Medienhandlung und daraus resultierende tatsächliche Wirkungen. Die aufgezeigten methodischen Problematiken resultieren häufig direkt aus den Problemstellungen des gegenwärtigen Forschungsfelds der Lese- und Leserforschung. Hier zeichnen sich mehrere Entwicklungen ab, welche die klassischen Fragestellungen bezüglich des Lesens aufweichen, neue Fragen aufwerfen und damit Konsequenzen für die Lese- und Leserforschung und ihre Methoden erfordern, die bislang nur in Ansätzen umgesetzt wurden. Ein erstes Problem ist die fortlaufende Diskussion über den Forschungsgegenstand, über den nach wie vor kein Konsens besteht. Während viele Forschungen in der angelsächsisch geprägten Tradition Lesen als 44
Kuhn u. Rühr 2010: 537–539.
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reading literacy begreifen und damit die Fähigkeiten der Entschlüsselung von Schriftzeichen und die Sinnentnahme aus Texten in den Vordergrund stellen, stehen gerade im deutschsprachigen Raum viele Studien nach wie vor in der Tradition des Lese-Begriffs als literarischer Kompetenz, also des Verständnisses und der Interpretation komplexer kontinuierlicher Textformen. Ein zweites Problem resultiert aus der rapiden Entwicklung digitaler und vernetzter Medien. Die damit einhergehende Auflösung materieller Mediengrenzen und die Vervielfältigung von Ausgabemedien (Papier, stationäre und mobile Bildschirmmedien, eInk-Displays) und Medienformaten des Lesens (Buch, E-Book, Zeitschrift, E-Zine, Zeitung, Online-Newspaper, Website, Blog etc.) führten zur Konsequenz, dass eine Lese- und Leserforschung, die sich beispielsweise nur auf das Lesen gedruckter Bücher fokussiert, keine Aussagen über das Lesen an sich mehr treffen kann. Ein drittes Problem ist schließlich die durchgängig fehlende Berücksichtigung alternativer Formen des Lesens, welche sich nicht auf lineare, abgeschlossene Textformen beziehen, sondern auf diskontinuierliche, fragmentarische Leseakte im Alltag, z. B. bei Schildern, Etikettierungen, Beschriftungen usw. Dazu kommt in der Gegenwart eine verschriftlichte interpersonale Kommunikation, z. B. das Lesen bzw. Schreiben von eMails, Chat-Nachrichten, Einträgen und Statusmeldungen in Social Networks oder der Austausch von SMS. Die noch zu häufige Reduktion der Lese- und Leserforschung auf das Buchlesen führt so beispielsweise zu einer Verzerrung der tatsächlichen Bedeutung des Lesens im Alltag der Bevölkerung. Die beschriebene Methodenvielfalt der Lese- und Leserforschung, die im Regelfall bereits eine Methodenkombination notwendig macht, erscheint für die Erforschung eines eng gefassten Lesebegriffs als literarischen Verständnisses von Texten eines spezifischen Lesemediums angemessen. Für eine weite Fassung des LesenBegriffs, verbunden mit der Loslösung des Lesens als medialer Tätigkeit von spezifischen Lesemedien, wäre es wünschenswert, ein über Medien hinweg anwendbares Grundkonzept an festgelegten Methodensets zu haben, um das Lesen in unterschiedlichen Situationen, Medien und Kontexten vergleichbar darstellen zu können.
5
Literatur- und Quellenverzeichnis
5.1
Studien
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