Handbuch Methoden der Bibliotheksund Informationswissenschaft Bibliotheks-, Benutzerforschung, Informationsanalyse
Herausgegeben von Konrad Umlauf, Simone Fühles-Ubach und Michael Seadle Redaktion: Petra Hauke
DE GRUYTER
SAUR
ISBN 978-3-11-025553-9 e-ISBN 978-3-11-025554-6
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar
9 Gedruckt auf säurefreiem Papier www.degruyter.com
D
FSC _,,.„
MIX Pllpler •u• v.,..ntwortungsvallmn QuellM
FSC" C016439
Ursula Rautenberg
Methoden der buchwissenschaftlichen Forschung 1 Methoden der historischen Buchforschung Die universitäre Buchwissenschaft versteht sich als Disziplin, die das Buch als Medium der Schriftkommunikation in kultureller, ökonomischer und soziologischer Dimension behandelt. Die aus diesem Programm abzuleitenden trans- und interdisziplinären Zugänge sind nur in integrativer Forschung und unter entsprechender methodischer Anpassung und Differenzierung zu bearbeiten. Die akademische Etablierung der Buchwissenschaft als Forschungs- und Lehrfach mit eigenen Studiengängen ist eine neuere Entwicklung; wenig konturiert ist daher das spezifisch buchwissenschaftliche Problemlösungspozential, das dem skizzierten Anspruch gerecht würde. Kennzeichnend für die Buchwissenschaft sind - dieser Ausgangslage entsprechend ein methodischer Pluralismus und die Übernahme und Anpassung von Methoden und Modellen aus anderen disziplinären Umgebungen, wobei die Wahl der Methode von der Konzeptualisierung der jeweiligen Forschungsfragestellung ausgeht. Eine Darstellung des zur Verfügung stehenden Methodenkatalogs buchwissenschaftlicher Forschung fehlt bisher. Die Forschungsgeschichte ist stark von der historischen Buchforschung geprägt, wobei das Buch und seine Materialität, die Buchhandelsgeschichte und die historische Lese- und Leserforschung im Zentrum stehen. 1 Die thematisch und historisch vielfältigen Forschungsansätze greifen auf die geisteswissenschaftliche Hermeneutik, die historische Quellenkritik und die quellenbasierte, auch historisch-empirische Analyse sowie statistische Verfahren zurück. Genuin ,buchwissenschaftliche' Methoden sind überwiegend im Kontext der materiellen, physischen Erschließung und hier besonders für das gedruckte Buch der Handpressenzeit entwickelt worden. Auf diesen liegt der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen.
2 Typenanalyse Die Entstehung der Buchwissenschaft als eigenes Forschungsgebiet ist seit dem 18. Jahrhundert eng mit der Erfassung, bibliografischen Beschreibung und Katalogisierung der typografisch erzeugten Druckwerke des 15. Jahrhunderts (Inkunabeln)
1 Rautenberg 2010; Saxer 2010.
462 -
Rautenberg
verbunden. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelten zunächst Henry Bradshaw (1831-1886), dann besonders Robert Proctor (1886-1904) und Konrad Haebler (1857-1946) die Typenkunde als Methode, die Vielfalt der Inkunabeldruckschriften systematisch zu erfassen und zu klassifizieren. 2 Ziel ist es, die von den Druckern verwendeten Typen in ein formales System zu bringen und darüber hinaus ein Verfahren zu entwickeln, das es erlaubt, Inkunabeln ohne oder nur mit unvollständigem Impressum zu erschließen. Von 34.459 in der Berliner Arbeitsstelle des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke erfassten (aber nicht vollständig überprüften) Einträgen einschließlich der Einblattdrucke sind 52,5 o/o ohne Drucker, 51,1 o/o ohne Druckort und 43,5 o/o ohne Datierung. 3 Grundannahme der Typenanalyse ist, dass jede Offizin über einen von anderen Offizinen deutlich unterscheidbaren Vorrat an Schriften und Typen verfügte, also Stempelschnitt, Matrizenherstellung und Schriftguss zur Typenherstellung in der Offizin selbst erfolgten. Die Bestimmung unfirmierter Ausgaben kann dann über den Vergleich von signifikant ähnlichen Typen anhand datierter bzw. einer Werkstatt sicher zugewiesener Druckwerke und Druckschriften erfolgen. Folgende Verfahrensschritte sind zentral für die Methode: (1) Die Bestimmung der Schriftgröße bzw. Kegelhöhe der Type, indem das Maß von 20 Zeilen, gemessen von Basislinie der 1. Zeile zu Basislinie der 21. Zeile, ermittelt wird; die Kegelhöhe der Type ergibt sich aus der Teilung dieses Maßes durch 20; (2) Eine systematische Klassifizierung der Buchstabenformen nach qualitativen Merkmalen. Während Proctor4 dieses Messverfahren eingeführt hatte, aber lediglich mit ,Ähnlichkeit' der zur vergleichenden Typen arbeitete, wurde die Schriftklassifikation von Haebler auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt: Ausgangspunkt für die gotischen Schriften ist das Majuskel-Mals konturenreicher Buchstabe, aus dessen tatsächlichem Vorkommen Haebler ein Schema von 258 M-Formen entwickelte; für Antiqua-Alphabete wählte er das Qu. In seinem Typenrepertorium der Wiegendrucke 5 werden ca. 4.000 Druckschriften der Inkunabelzeit nach diesem Schema klassifiziert. Jede Schrift einer Werkstatt erhält in chronologischer Folge eine Nummer. Die Proctor-Haeblersche-Methode der Typenbestimmung wurde zur Grundlage für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW)6, der nach seiner Fertigstellung Beschreibungen aller weltweit exis· tierenden Inkunabelausgaben enthalten wird. Die Formel innerhalb der Kollationszeile z.B. lautet für einen nicht firmierten Druck aus der Nürnberger Werkstatt des Hans Folz: Typ. 2:96G, 3:ca.100G. Das Werk ist also aus Folz' Typen 2 und 3
2 Vgl. Fußnote 5 sowie Ohly 1931.
3 Ich danke Dr. Oliver Duntze, Berlin, für die Angaben. 4 Vgl. Ohly 1931. S Halle a. S. 1905-1924. Abt. 1-5. 6 Leipzig [u.a.) 1925ff.
Methoden der buchwissenschaftlichen Forschung -
463
nach der Zählung Haeblers gesetzt, die jeweils über 20 Zeilen gemessen 96 bzw. 100 mm hoch sind, G. steht für gotische Schrift (Hans Folz: Von Buhlern ... [Nürnberg: Hans Folz, um 1483/88). GW 10103). Ergänzend zur Haeblers Typenrepertorium können die 2.460 Tafeln, herausgegeben von der Gesellschaft für Typenkunde, herangezogen werden, auf denen eine Probeseite und ein Alphabet jeder Schrift und ihrer Varianten abgebildet sind. 7 Nach wie vor wird das oben beschriebene Verfahren für die Bestimmung unfirmierter Drucke herangezogen. Allerdings reicht dieses in schwierigen Fällen allein nicht aus, sondern sollte durch weitere Indizien gestützt werden, z.B. die Wasserzeichenanalyse des verwendeten Druckpapiers (s. Abschnitt 3), die Satztechnik (s. Abschnitt 2), die Untersuchung des Buchschmucks (Leisten und Initialen), der Buchillustrationen (Holzschnitte), der Drucker- und Verlegermarken etc.8 Eine exakte Datierung der Drucke ist über die Typenanalyse nur sehr begrenzt möglich. Der Verwendungszeitraum einer Schrift in der Offizin lässt sich nur ungefähr bestimmen. Zudem befindet sich der Typenvorrat einer Schrift, aus dem in der Offizin gesetzt wurde, in steter Veränderung. Typen nutzen sich ab, werden (aus neuen Matrizen) nachgegossen, oder es werden unterschiedliche Schriften gemischt. Der Setzkasten befindet sich in ständiger Bewegung. Wenn bestimmte Stadien der Entwicklung einer Type anhand genau datierter Drucke festzulegen sind, lassen sich undatierte Drucke mit gleichem Typenbestand ungefähren Zeiträumen ihrer Benutzung zuordnen. 9 Die dynamische Veränderung des Typenmaterials und seiner Verwendung im Druckprozess dokumentieren Lotte und Wytze Hellinga beispielhaft in The fifteenthcentury printing types ofthe Low Countries. 10 Sie beziehen auch einen möglichen Schriftenhandel bereits für das 15. Jahrhundert ein, womit die Grundvoraussetzung der Typenanalyse eines eindeutigen Zusammenhangs von Schrift und Offizin relativiert wird. Zudem neigen die Drucker seit dem späten 15. Jahrhundert dazu, die Schriften anderer Drucker und deren individuelle Eigenheiten detailgenau zu kopieren, und die regionalen und lokalen Eigenheiten der Schriftgestaltung werden mit zunehmender Ablösung von den handschriftlichen Vorbildern zurückgenommen. Für die spätere Inkunabelzeit und erst recht das 16. Jahrhundert ist die Methode der Typenanalyse daher nur eingeschränkt nutzbar. Die Frage, wann gewerblicher Typenhandel einsetzte, ist von Bedeutung, denn man muss in Betracht ziehen, dass die Arbeitsschritte von Stempelschnitt, Matrizenherstellung und Schriftguss mehr und mehr zum Ausgangspunkt spezialisierter Unternehmen werden, auch wenn dazu externe Zeugnisse
7 Veröffentlichungen der Gesellschaft für Typenkunde des 15. Jahrhunderts. Leipzig [u.a.] 1907-1939. 8 Amelung 1981. 9 Juchhoff 1959: 126f. 10 Bd. 1-2. Amsterdam: Hertzberger 1966.
464 -
Rautenberg
fehlen. Von der formalen Beschreibung einer Schrift bleibt nur noch die Maßangabe der Kegelhöhe übrig. Dass dennoch eindrucksvolle und stichhaltige Ergebnisse erzielt werden können, zeigt neuerdings die vorbildliche Untersuchung des Druckmaterials der Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/98-1520) durch Oliver Duntze. Er geht nicht mehr von einer Singularität der Typen aus, sondern von signifikanten Kennzeichen und bezieht auch das Ziermaterial ein. 11 Type213