Matthias Däumer, ›Hje kam von sinen augen / Das wunderlich taugen‹. Überlegungen zur Sinnesregie in den Wunderketten- und Gralspassagen der \"Krone\" des Heinrich von dem Türlin, in: Däumer/Dietl/Wolfzettel (Hg.): Artusliteratur und Artushof, Berlin 2010, 215-235.
»Hje kam von sinen augen / Das wunderlich taugen« Überlegungen zur Sinnesregie in den Wunderkettenund Gralspassagen der Krone Heinrichs von dem Türlin Abstract: When a medieval recipient listens to a story about Arthur’s knights listening to a story, his situation is mirrored in the fictional tale. By an act of ›phasing‹ the audience is linked to the Arthurian court. Similarly, the hero who rides out as the court’s representative is a kind of transmitter, whose fictional perception is medially linked to the imaginary perception of the recipient. This link between the court (or its hero) and the recipient can by no means be taken for granted. A view on medieval theory of perception and the so called ›Wunderketten‹ in Heinrich von dem Türlin’s Krone will show that this ›link of perception‹ is always endangered. Thus, there is a kind of crisis that is no longer located on the level of the plot, but on the meta-level of intermediation. In the last part of Heinrich’s Krone the medial ›phasing‹ of the Arthurian court, its representative and the audience is systematically destroyed, while Gawein makes his way to the Grail, only to be finally reinstated with a ›new‹ Arthurian court that is no longer overshadowed by the Grail or its threat to the courtly fiction’s mediality.
I. Dass der auf âventiure ausreitende Ritter ein Repräsentant des Artushofes in einer meist unhöfischen Außenwelt ist, zählt zu den ›Binsenweisheiten‹ der germanistischen Mediävistik. Doch auch der Artushof hat – erweitert man den wissenschaftlichen Fokus um Ebenen jenseits des Texts – eine repräsentierende Funktion: Als Analogie zum lauschenden Publikum der Verlesung eines Romans ist er des Öfteren Spiegelbild der medialen Realität der Texte. Das prominenteste Beispiel für diese Konstellation liefert der Anfang von Chrétiens Yvain1 bzw. Hartmanns Iwein,2 denn in dem Mo-
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Vgl. Chrétien de Troyes, Yvain, übers. von Ilse Nolting-Hauff, München 1962 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2).
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ment als der Ritter Calogrenant/Kalogrenant seine Stimme vor den Mitgliedern des fiktiven Artushofs erhebt, tut ein Rezitator das Gleiche in seiner Rolle als Calogrenant/Kalogrenant vor einem realen Publikum.3 Es handelt sich hier um eine dargestellte Erzähl- oder Aufführungssituation innerhalb der Erzähl- oder Aufführungssituation des Iwein. Dieser Analogie zwischen Artushof und realem Publikum gedenkt der folgende Beitrag nachzugehen. Dabei sollen sich die behandelten Textbeispiele gerade nicht in der Sphäre des fiktiv Höfischen abspielen, um der realen Aufführungssituation nicht nur in ihrer fiktiven Selbstbespiegelung, sondern anhand allgemeiner Mechanismen der Fiktionsvermittlung habhaft zu werden. Das konkretere Ziel dieses Beitrags ist es, das performative Potenzial der Krone
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Vgl. Hartmann von Aue, Iwein. Text und Übersetzung. Text der siebenten Ausg. von G. F. Benecke, 4. Aufl., Berlin, New York 2001. Dieser Beitrag beschränkt sich in seiner Argumentation ausschließlich auf den Vortrag als Präsentationsweise des höfischen Romans. Dabei steht er in einer extremen Tradition, ohne jedoch dieses Extrem gegen seine Opposition, der Annahme, dass es auch eine (stille) Leserschaft der höfischen Romane gab, verteidigen zu wollen. Der programmatische Aufsatz, der in den 1980er Jahren die Bemühungen der mediävistischen Philologien um eine methodische Bearbeitung der Oralität besonders prägte, war Walter Ong, »Orality, Literacy, and Medieval Textualization«, New Literary History 16/1 (1984), 1–11. Eine sehr gute Übersicht zu älteren Forschungsansätzen zur Oralität mittelalterlicher Literatur bis kurz vor Ongs prägendem Beitrag liefert Paul Zumthor; vgl. Paul Zumthor, Einführung in die mündliche Dichtung, übers. von Irene Selle, Berlin 1990 [orig. 1983], 19–70. Zu nennen sind von diesen frühen Positionen aufgrund ihrer Radikalität v. a. Albert Bates Lords Publikationen, in denen die Oralität der hochmittelalterlichen Texte als mit den Techniken der Skripturalität unvereinbar betrachtet werden, die beiden medialen Zustände ›Skripturalität‹ und ›Oralität‹ als »contradictory and mutually exclusive« (Albert Bates Lord, The Singer of Tales, New York 1965, 129). Für die oppositionelle Position, nämlich für eine vehemente Verfechtung der Skripturalität als primäre Medialität des Hochmittelalters, argumentierte seit Beginn der 1980er Jahre Manfred Günter Scholz; vgl. Manfred Günter Scholz, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980. Die Absolutheit beider Fronten in diesem ›Kalten Krieg‹ um die mittelalterliche Medialität hat den Nachteil, dass sie zugunsten der eigenen Position das Material ihrer Texte nicht objektiv behandelt und, meist ohne schlüssige Begründungen, die Existenz von Medien als ein exzeptives Verhältnis betrachtet. Im vergangenen Jahrzehnt wurden die Extreme dieser Debatte zunehmend zugunsten einer gesteigerten textgebundenen Wissenschaftlichkeit mit einem größeren Willen zur Vermittlung der medialen Zustände betrieben; vgl. u. a. Dennis H. Green, Medieval Listening and Hearing. The Primary Reception for German Literature 800–1300, Cambridge 1994. Aus diesem Grund handelt der vorliegende Beitrag auch auf der Basis von ›Performativität‹ als einer dritten Form von Medialtiät, die weder als Mischform noch als Opposition zu einer der bestehenden medialen Zustände gedacht werden muss (siehe Anm. 6).
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Heinrichs von dem Türlin4 näher zu untersuchen. Es soll im Folgenden also weniger um die Ästhetik als vielmehr um die Aisthesis5 des Artusromans bzw. um die Techniken sensueller Affizierung des Zuhörers gehen. Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei den Techniken der Erregung und Erfahrung sensueller Reize nicht um anthropologische Konstanten handelt. Der mediale Zustand der Performativität6, in dem der Artusroman im 12. und 13. Jahrhundert (größtenteils) vermittelt wird, muss genauso wie jede andere Medialität als historisch wandelbar gelten. Um die Wirkung eines Texts in seiner performativen Verwirklichung beschreiben zu können, bedarf es einer Darstellung der sensuellen Verfasstheit des Menschen, welche in zeitlicher Nähe zum Untersuchungsgegenstand vorgenommen wurde. Deshalb soll der Untersuchung der Wunderketten der Krone ein Blick auf die theoretische Abhandlung sensueller Verfasstheit im Welschen Gast Thomasins von Zerklære7 vorausgehen.8 Die Forschung ist relativ einhellig der Meinung, dass die von Thomasin dargebotenen Wissensinhalte für das 12. und 13. Jahrhundert als ein allgemeines und unter den gelehrten Mitgliedern der mittelalterlichen Höfe weit verbreitetes Bildungsgut gelten kann.9
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Vgl. Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 12282–30042), hrsg. von Alfred Ebenbauer und Florian Kragl, Tübingen 2005 (Altdeutsche Textbibliothek 118). Für diese Unterscheidung vgl. Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, v. a.: 135ff. Der Begriff ›Performativität‹ wird hier verstanden als das Aufführen (Verlesen) schriftlich konzipierter Texte, was einen autonomen dritten medialen Zustand neben ›Skripturalität‹ und ›Oralität‹ darstellt. Ausführlicher werde ich hierauf in meiner Dissertation eingehen: Matthias Däumer, Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Untersuchung des performativen Potenzials der höfischen Epen [i. E.]. Im Folgenden wird zitiert nach: Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast. Text (Auswahl). Übersetzung, Stellenkommentar, hrsg. von Eva Willms, Berlin 2004. Für eine intensive Auseinandersetzung mit Thomasin und seiner Darstellung höfischer Öffentlichkeit verweise ich auf Christoph Schanzes Beitrag in diesem Band. Man konnte für diese Lehre Ähnlichkeiten mit der Psychologie der Schule von Chartre feststellen und (u. a.) Alanus ab Insulis, Johannis von Salisbury und Wilhelm von Conches als Hauptquellen der entsprechenden Passagen ermitteln; vgl. Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklære, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, Zürich, München 1988, 48ff. Schon recht früh wurde außerdem bezüglich Thomasins Schematisierungen in diesen Passagen ein starker Bezug zu den frühscholastischen Einteilungen der menschlichen Seele in entsprechende Kammern festgestellt, welche als ein im 12. Jahrhundert allgemein verbreitetes Schema gelten dürfen; vgl. Jürgen Müller, Studien zur Ethik und Metaphysik des Thomasin von Circlaire, Königsberg 1935 (Königsberger deutsche Forschungen 12), 52.
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Für Thomasin existieren vier innerliche Kräfte, welche die durch ›die Türen der fünf Sinne‹ (V. 9449–79)10 in den Menschen eindringende Eindrücke beherrschen: imaginatio, memoria, ratio und intellectus (V. 8789– 8803). Diese Kräfte dienen dazu, innerlich, also in der Seele des Menschen, das zu verarbeiten, was von Außen durch seine Sinne auf ihn einwirkt. Die Kräftelehre entnimmt Thomasin ohne große Änderungen seinen Quellen. Bezeichnenderweise weicht Thomasin – wie Christoph Huber dies nachgewiesen hat –11 jedoch gerade an der Stelle von allen bekannten Vorlagen ab, an der es um das für die Darstellung sensueller Mechanismen bei der höfischen Textverlesung besonders wichtige Zusammenspiel von imaginatio und memoria geht: von der êrsten man nimêre weiz, wan daz si bringet die gedanke zer dinge getât, die man lange vor des niht gesehen hât. daz kumt von der krefte rât, diu dâ memorjâ ist genant. sie habent vil nâch ein amt, wan si sint swester, die zwô, memorjâ und imaginâtiô. imaginâtiô ir swester gît, swaz vor den ougen lît. memorjâ behalten kan wol, swaz ir swester ê gewan. (V. 8804–16)
Im Gegensatz zu seinen Quellen ordnet Thomasin der imaginatio nicht nur eine, sondern zwei Funktionen zu: Einerseits nimmt sie die Sinneseindrücke auf und liefert sie zur Aufbewahrung ihrer Schwester, der memoria. Andererseits kann die imaginatio sich ebenso der in der memoria gespeicherten Sinneseindrücke bedienen, um das vor dem inneren Auge entstehen zu lassen, was »man lange / vor des niht gesehen hat«. Letztere Funktion ist wohl das, was wir heute am ehesten unter Imagination verstehen. Auch wenn Thomasins Konstruktion der Doppelfunktion der imaginatio nicht wirklich innovativ ist – schließlich ist die Denkgröße eines immanenten Konvergenz- und Einheitspunktes des gesamten Wahrnehmungsbereichs schon seit Aristoteles’ Definition des sensus communis ein wahrnehmungstheoretisches Konzept –12 bleibt doch die Frage bestehen, warum der höfische Lehrmeister am Anfang des 13. Jahrhunderts zwei Funktionen koppelte, die er in seinen Quellen nur getrennt vorfinden konnte. Ist es
_____________ 10 Das Bild der Türen stammt von Thomasin selbst. 11 Vgl. Huber (wie Anm. 9), 52. 12 Vgl. Thomas Leinkauf, »Sensus communis«, in: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt 1995, 622–633.
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nicht denkbar, dass Thomasin, der an vielen Stellen des Welschen Gast mit literarischen Anspielungen auf den höfischen Roman arbeitet13 und auch seinen eigenen Text – neben der Rezeption über das Lesen – als Objekt einer performativen Umsetzung beschreibt,14 hier an die inneren Mechanismen dachte, welche bei den höfischen Verlesungen von Texten stattfanden? Es ist, wenn auch nicht beweisbar, so doch zumindest einleuchtend, denn gerade beim literarischen Vortrag ist es von entscheidender Bedeutung, dass die imaginatio nicht nur wirklich momentan Existentes, sondern ebenso und vor allem gleichzeitig das Nicht-Vorhandene, das im modernen Wortsinn ›Imaginierte‹, konstruieren können muss. Übertragen auf den medialen Zustand der Performativität agiert imaginatio also nach Thomasin an einem im Rezipienten befindlichen Ort, an dem die realen, die Aufführung begleitenden sensuellen Reize und die durch Fiktion evozierten Eindrücke nebeneinander existieren. Dieses innerliche Wechselspiel von imaginatio und memoria ist im Welschen Gast nicht der einzige Mechanismus, welcher beim Verlesen fiktiver Texte von Bedeutung ist: intellectus und râtiô hânt ane imaginâtiô und an ir swester meisterschaft; die dienent ir nâch eigenschaft. Swaz imaginâtiô begrîft, [...] daz sol si hin zir vrouwen bringen, sô mag ir niht misselingen. râtîo bescheiden sol, waz stê übel ode wol, und sol emphelhen, swaz ist guot der memorjâ ze huot. (V. 8817–30)
Die ratio ist dem Wechselspiel der Schwestern als moralische Instanz zwischengeschaltet: Sie bewertet, was die memoria von den durch die imaginatio aufgenommenen Eindrücken speichern soll. Als Folge dieser Ent-
_____________ 13 Die bekannteste Stelle ist hier Thomasins Aufzählung der jugendlichen Höflingen zu empfehlenden Lektüre in V. 1023–80. Hier sieht man, dass sich Thomasin mit der höfischen Literatur gut auskannte und sich (ein wenig widerwillig) in der vom höfischen Roman dominierten (medialen) Sphäre verortet (vgl. V. 1163–68). Einerseits stellt der Lehrmeister dabei die didaktische Minderwertigkeit der höfischen Literatur dar, die nur etwas für Kinder sei, im Gegensatz zu seiner Dichtung, die den Gebildeten anspreche. Andererseits nutzt er aber auch das Aufrufen der medialen Gegebenheit des höfischen Romans, um seinen eigenen Standpunkt bezüglich der Textvermittlung durch Lesen, Betrachten von Bildern und Vortrag darzulegen (vgl. V. 1081–1162). 14 »der leie sol durch der ôren tür / lâzen die guoten lêre vür. / sperret er der ôren tür vast, / dar in kumt niht der lêre gast« (V. 9469–72).
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scheidung fungiert sie ebenso als der Zensor des von der memoria verwalteten Fundus, auf den die imaginatio bei der Konstruktion nicht-realer Eindrücke zurückgreifen kann. Wenn die ratio der Richter ist, der über den moralischen Wert des Wechselspiels von memoria und imaginatio entscheidet, so ist der intellectus die Kraft, welche die ›legislative Grundlage‹ für den Rechtsspruch der ratio liefert, denn ihre Funktion ist es, eine Verbindung des Menschen zur himmlischen Sphäre herzustellen: »intellectus sol wesen bot / hin zen engeln und ze got« (V. 8831f.). Durch diese Eigenschaft ist der intellectus die allen anderen Kräften übergeordnete Instanz (V. 8833–56).
II. Vor der Folie dieser Vierkräftelehre sollen die Wunderketten der Krone, insbesondere die erste, rezeptionsästhetisch als Partitur performativ vermittelter Sinneseindrücke analysiert werden. Die erste Wunderkette beginnt damit, dass Gawein in Begleitung von anderen Artusrittern zu einem Turnier reitet; sie kommen in einen Wald mit dem viel versprechenden Namen Aventuros (V. 13932); der Protagonist achtet nicht auf seine Gefährten und wird gedankenverloren von seinem Pferd in ein fremdes Gebiet getragen (V. 13925–57). Mit Gaweins Loslösung aus dem gewohnten Sozialgefüge geht eine Loslösung aus dem – dem Zuhörer gewohnten – Handlungsraum und den in ihm üblichen Verhaltensweisen der Figuren einher: Statt aktiv âventiure zu bestehen, zieht Gawein nun an irritierenden Momentaufnahmen vorbei, ohne in das im Vorüberreiten Wahrgenommene einzugreifen. Dort, wo dem Zuhörer – vor allem über den Namen des Walds – Aktion in einem Handlungsraum in Aussicht gestellt wurde, befindet er sich plötzlich in einem Schauraum an die Sinne eines passiven Protagonisten gekoppelt.15 Diese Koppelung schreibt sich bis in die Grammatik der Verse ein. Als Gawein betrachtet, wie über Pferden schwebende Gralswaffen 600 Ritter niedermetzeln, heißt es:
_____________ 15 Zur Unterscheidung von ›Schauraum‹ und ›Handlungsraum‹ und dem im Folgenden verwandten Begriff des Bildes für die Episoden der Wunderketten vgl. Ulrich Wyss, »Wunderketten in der Crône«, in: Peter Krämer (Hrsg.), Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13.9.1980, Wien 1981 (Wiener Arbeiten zu germanistischen Altertumskunde und Philologie 16), 269–291; Johannes Keller, »Diu Crône« Heinrichs von dem Türlin. Wunderketten, Gral und Tod, Bern, u. a. 1997 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 25); Hartmut Bleumer, Die »Crône« Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans, Tübingen 1997, 238– 255.
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Wer sie fürte ader wie sie lebten Ader wer mit jnen slüge Ader sie zü strijde trüge, Daz enkunde Gawein nit ersehen, Wenn manig tyost vnd schehen Sah er sie vber den ring nemen, Vnd beyde wonden vnd lemen Sahe er sie one twale, Das ir zĤ iglichem male Wol drijszig vielent vf den sant Dot nach der tyost zü hant Vnd ie nach dem puneiz. So sah man des blütes sweisz 16 An dem spere rynnen zü tal [...]. (V. 14053–66)
Mehrmals – und nicht nur auf den Sehsinn bezogen – findet man in den Wunderketten diese Abfolge: Nach einer mehrmaligen Wiederholung von einem auf die Figur bezogenen ›sah er‹ (bzw. ›hörte er‹) mündet die Konstruktion in ein ›sah man‹ (bzw. ›hörte man‹), das die allgemeine Wahrnehmung des Publikums meint.17 Betrachtet man dieses Phänomen aus der Perspektive der narratologischen Theorie Gérard Genettes,18 so erkennt man in dieser Abfolge eine Variante der generellen Funktion von Fokalisierung19, die hier durch das Einmünden des figuralen in den rezipierenden Blick zu mehr als nur einem Mittel personaler Erzähltechnik wird: Die Distanzhaltung, welche die Rezeption einer fokalisierten Narration prägt (also bspw. das Bewusstsein, die Welt durch die Augen einer Figur zu
_____________ 16 Meine Hervorhebungen. 17 Beispiele für die Zuspitzung der figuralen auf die Wahrnehmung des Zuhörers in der Anfangspassage der ersten Wunderkette sind u. a. die Verse 14058, 14060 und 14065 für die visuelle und V. 13958, 13964 und 14071 für die akustische Wahrnehmung. 18 Vgl. Gérard Genette, »Discours du récit«, in: Gérard Genette, Figures III, Paris 1972, 67–274. 19 Fokalisierung »bezeichnet eine Konstituente der Erzählsituation und bezieht sich auf die Funktion des focalizer, einer narrativen Vermittlungsinstanz, die G. Genette mit den Leitfragen ›qui voit?‹ [...] bzw. ›qui perçoit?‹ [...] erfaßt, im Unterschied zum Erzähler, nach dem er mit ›qui parle?‹ fragt. [...] Bestimmend für eine erkennbare F[okalisation] sind die Existenz eines Perspektivzentrums in der Erzählung, die Partialität der von diesem erfaßten Sachverhalte sowie deren Begrenzung durch einen mit dem jeweiligen Standpunkt gegebenen Horizont.« (Werner Wolf, »Fokalisierung«, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. 2. Aufl., Stuttgart, Weimar 2001, 186f.). Eine umfassende Übertragung der Technik auf die Besonderheiten des höfischen Romans leistet Gert Hübner in seiner Habilitationsschrift Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im »Eneas«, im »Iwein« und im »Tristan«, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44).
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sehen und deshalb der Wahrnehmung im Sinne der erzählerischen Unzuverlässigkeit20 zu misstrauen) wird in den Wunderketten nicht aufgebaut. Gaweins Blick wird zum imaginären Blick des Zuhörers – des einen Auge und des anderen Ohr entsprechen einander in einer Vortrag und Fiktion überbrückenden Analogie. Das bedeutet, dass Gaweins Sicht auf die Geschehnisse in ihrer Vermittlung zum einzigen ›Garanten‹ der fiktionalen Welt wird: Nur das, was Gawein sieht, kann auch erzählt werden. Durch ihre passiv wahrnehmende, d. h. (im engsten Wortsinn eines ›Für-wahrNehmens‹) durch ihre mittels einer fiktiven perzeptiven Leistung illokutionär21 Wahrheit konstituierende Funktion erhält die Figur in dieser Passage einen Status, welcher der Ebene des fiktionalen Geschehens enthoben ist:
_____________ 20 Vgl. Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago 1961. »Booth [...] bezeichnet einen Erzähler als zuverlässig, wenn er für die Normen des Gesamtwerks (d. h. die Normen des impliziten Autors) eintritt oder in Übereinstimmung mit diesen handelt, und als unzuverlässig, wenn ein Widerspruch zwischen den Normen des impliziten Autors und denen des Erzählers auftritt.« (Bruno Zerweck, »Unzuverlässigkeit, erzählerische«, in: Ansgar Nünning (wie Anm. 19), 654f. Nach Booths Definition sorgt (in der modernen Literatur) ein Ich-Erzähler oder aber ein personaler focalizer (siehe Anm. 19) per se für erzählerische Unzuverlässigkeit, da bei diesen Instanzen immer eine Diskrepanz zwischen dem impliziten Autor und der erzählenden oder wahrnehmenden Figur bestehen muss. Rezeptionsästhetisch sorgen Ich-Erzählungen und stark fokalisierte Darstellungen dementsprechend generell zu einer Distanzhaltung, welche aus der Diskrepanz zwischen der Figurenkonzeption (Intention, Wertesystem, etc.) und der Haltung des Lesers, durch (Vor-) Wissen, abweichende Normen etc., entsteht; vgl. Ansgar Nünning: »›But why will you say that I am mad?‹. On the Theory, History and Signals of Unreliable Narration«, Tübingen 1997 (Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 22.1), 83–105. Diese Distanzhaltung ist historisch jedoch keine Selbstverständlichkeit: In Zeiten und unter den medialen Umständen des höfischen Romans wird diese Distanz bspw. durch das körperliche Eintreten eines Rezitators für seine Figur überbrückt. Erst in explizit formulierten Distanzhaltungen, bspw. wenn der Rezitator seiner Verwunderung über seine Quelle, das fiktive Geschehen oder das Verhalten der Figur Ausdruck verleiht, wird diese Kluft gezielt aufgebaut; vgl. Däumer (wie Anm. 6). 21 Diese Verwendung des Begriffs ›illokutionär‹ überträgt die bekannte Begriffsprägung John L. Austins (erstmals in seiner 1955 gehaltenen Vorlesungsreihe How to Do Things With Words. The William James Lectures Delivered at Harvard University, hrsg. von J. O. Urmson, Marina Sbisà, 2. Aufl., Oxford 1982) vom Sprechakt auf die (bei der Verlesung eines Textes über einen Sprechakt) vermittelte fiktive Wahrnehmung der Figur. »Der Vollzug eines illokutionären Akts bedeutet, einer Äußerung eine bestimmte Kraft (›force‹) zuzuweisen. Der illokutionäre Akt vollzieht eine Handlung, ›indem man etwas sagt‹ […].« Uwe Wirth, »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«, in: ders. (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, 9–60, hier: 13. Parallel hierzu bedeutet eine illokutionäre Wahrnehmungsleistung einen perzeptiven Akt, der als Handlung die Wahrhaftigkeit eines Ereignisses sichert, ›indem es wahrgenommen wird‹.
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Gawein wird zu einem Medium im Sinne Marshall McLuhans,22 d. h. zu einer Verlängerung der Sinne des Rezipienten oder – um diese Funktion mit einem spezifischen modernen Medium zu vergleichen – zur Kamera, welche die Sinne des Zuhörers bugsiert,23 das Geschehen multisensuell wahrnimmt und die Eindrücke weitervermittelt. Dementsprechend sind auch die Beschreibungen der von Gawein wahrgenommenen Bilder gestaltet: Es handelt sich – im Vergleich zu anderen Passagen der Krone und anderer höfischer Romane – geradezu um ein Feuerwerk sensueller Eindrücke, das auf das Kamera-Ich und – über eine Teilhabe an dessen imaginierter, apparativen24 Körperlichkeit – auch auf den Rezipienten einprasselt. Die erste Wunderkette beginnt mit einem Zustand der sensuellen Taubheit, einer perzeptiven tabula rasa: Der tagträumende Held verliert den Anschluss an seine Gefährten. Sodann »vernam er [Gawein] einen hertten strijt« (V. 13958), eine akustische Sensation, welche in die Leere seines Halbschlafs einbricht. Gawein folgt dem Geräusch. Dabei reitet ihm eine Jungfrau mit einem toten Ritter im Arm entgegen, die lautstark Parzivals Versagen vor dem Gral beklagt. Doch Gawein verweilt nicht bei der Dame, sondern reitet weiter auf den Schlachtenlärm zu. Der Grund für dieses, nach der Logik eines Handlungsraums und dem ritterlichen Ehrenkodex sehr fragliche Verhalten ist der folgende: Nü hat Gawein ir hertzeleit Vernomen vnd nit gesehen. Er begann ir sere nach sehen, Wenn es jne rürende began, Das er sie hett fur gelan Vngefraget diser mere. [...] NĤ horte er aber vor yme da Die ritter strijden also E – Vnd ein stymme rüffen we – Gein einander bitterlichen. NĤ began er fast strijchen
_____________ 22 Vgl. Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extentions of Man, New York u. a. 1964. 23 »Die Kamera bugsiert die Augen des Filmzuschauers [...]« (Dzinga Vertov, »Kinoki – Umsturz« [orig.: 1923], in: Dzinga Vertov, Schriften zum Film, hrsg. von Wolfgang Beilenhoff, München 1973, 11–24, hier: 17). 24 Hier wird auf den ›Apparat‹-Begriff Walter Benjamins angespielt, der in seinen Betrachtungen zum Film die Aufgabe der Kamera wie folgt beschreibt: »Das Publikum fühlt sich [beim Film] in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt.« Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 2006, 38.
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Dar, als er da die stymme vernam, 25 Wenn es yme zü sehen zam. (V. 14010–30)
Beim Verhältnis dieser ersten beiden Stationen handelt es sich um eine Konkurrenz der vom Protagonisten wahrzunehmenden Bilder: Gawein muss entscheiden, ob er das erkannte, doch nicht ergründete Leid der ›Sigune-Kopie‹26 erfahren möchte oder lieber der akustischen Ankündigung einer Schlacht folgt. Dabei wird die Konkurrenz der Bilder in dieser Passage auch als Konkurrenz der Sinne inszeniert: Sigune wird gesehen, doch der Grund ihres Leidens nicht gehört, während der Schlachtenlärm gehört wird und die Akustik eine latente Visualität impliziert, welche dem Helden zü sehen zam. Akustik und Visualität stehen, wie die Bilder selbst, in einem direkten Konkurrenzverhältnis. Diese perzeptive Überforderung Gaweins deckt sich auch mit dem Verweis auf Parzivals Versagen vor dem Gral: Wie Cora Dietl in einer Untersuchung des Frageversäumnisses und des zweiten Sigune-Gesprächs in Wolframs Werk schlüssig darlegt, ist hier der Grund für Parzivals Frageversäumnis ein perzeptorisch-epistemologischer: Parzivals ›Fehler‹ […] besteht in der Wahl des falschen Erkenntniswegs, besser in der mangelnden Einsicht in die Grenzen der eigenen Erkenntnis. So gilt der Gesichtssinn zwar als zuverlässig ad noscendum und zum Erfassen dessen, quae fiunt, was aber jenseits der Reichweite des menschlichen Geistes liegt, kann der (äußere) Gesichtssinn nicht erfassen. […] Um das nicht mehr rational Erfassbare, nicht mehr aus Sinneseindrücken Abstrahierbare zu erfassen, bedarf es des Verzichts auf die Sicherheit des Gesichtssinns und des Sichverlassens auf den sich mitteilenden Gespächspartner.27
Parzival befindet sich vor dem Gral also in einer ganz ähnlichen Misere wie Gawein in den Wunderketten: Soll Parzival dem Visuellen vertrauen oder lieber die Frage stellen? Parzival entscheidet sich für ein ›blindes‹
_____________ 25 Meine Hervorhebungen. 26 Nur bei Wolfram heißt diese Dame ›Sigune‹, ein Name, der durch die Vertauschung der Silben von cousine aus dem Chrétien’schen Text entstand. Es soll hier darauf hingewiesen werden, dass Heinrich in der Wunderkette in Ablehnung der Wolfram’schen Namensgebung die klagende Frau unbenannt lässt. Zu Heinrichs Wolframkritik vgl. v. a. Elisabeth Schmid, »Texte über Texte. Zur Crône des Heinrich von dem Türlin«, Germanisch-Romanische Monatsschrift, N. F. 44 (1994), 266–287. Hier wird die von Cormeau eingeführte Bezeichnung der Dame als »Sigune-Kopie« (Christoph Cormeau, »Wigalois« und »Diu Crône«. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans, Zürich 1977 (MTU 57), 194) aus rein pragmatischen Gründen verwendet und nicht, um eine diesem Umstand widersprechende Lesweise anzubieten. 27 Cora Dietl, »Die Frage nach der Frage. Das zweite Sigune-Gespräch bei Wolfram und Albrecht«, in: Nine Miedema und Franz Hundsnurscher (Hrsg.), Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), 281–295, hier: 285.
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Vertrauen in den Sehsinn und versagt deshalb aufgrund der mangelnden Erkenntnisfähigkeit einer (ohne Unterstützung durch die Frage) auf sich gestellten Wahrnehmung. Dietl stellt des Weiteren fest, dass der Rezipient über den so genannten Bogengleichnis-Kommentar (Parzival, 241, 1–30) von Wolfram zur Teilhabe an dieser Misere gezwungen wird.28 Dieser Zwang wird in Heinrichs Wunderketten umso deutlicher, vergegenwärtigt man sich die zuvor dargelegte Abhängigkeit des Zuhörers vom Kamera-Ich Gawein. Mit der Konkurrenzsituation der Sinne wird für den Rezipienten die Verlässlichkeit der gesamten fiktiven Welt in Frage gestellt: Die Existenz der Fiktion in seiner imaginatio hängt ausschließlich von Gaweins Wahrnehmung ab; dieser befindet sich aber ganz offensichtlich in einer Zwickmühle: Soll er Sigune nach dem Grund ihres Leidens fragen oder lieber dem Schlachtenlärm folgen? Welches Wunder soll er für den Rezipienten wahrnehmen? Die Entscheidung kennt keine richtige Lösung, da so oder so eine potentielle Geschichte verloren geht. Diese Situation stellt einen absoluten Sonderfall der Gattung dar, denn in anderen Artusromanen gibt es keine verlorenen Abenteuer. Selbst wenn sich hier der Held zwischen zwei zu bestehenden Aventiuren entscheiden muss, wartet – den Mechanismen der Bachtin’schen Abenteuerzeit29 entsprechend – das eine Abenteuer noch immer auf ihn, nachdem er das andere bestanden hat. Man denke hier nur an den Riesen vor dem Zauberland Cluse, der für mehrere Aventiuren des Protagonisten harrt, damit dieser ihm endlich den Garaus macht,30 oder die rein auf Figur und Aventiure ausgerichtete Zeitfügung,31 die es Iwein ermöglicht, eine Burg gegen den Riesen Harpin zu verteidigen und trotzdem noch pünktlich
_____________ 28 »Der Erzähler will nicht nur den Wissensvorsprung des Lesers oder Hörers gegenüber dem Helden vermeiden; er will den (fiktiven) Rezipienten auch die Erfahrung machen lassen, dass er nicht in der Lage ist, sich besser zu entscheiden als der Held. So wenig wie für den die Gralsvorgänge betrachtenden Parzival der Verzicht auf die Frage angemessen ist, so wenig scheint für den Hörer die Frage angemessen zu sein, da er nichts sieht, sondern nur die mære zur Verfügung hat.« (Dietl, wie Anm. 27, 284). 29 Zur Bachtin’schen Abenteuerzeit und ihrem Bezug auf den höfischen Roman vgl. Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007, 79–89. 30 Vgl. Stricker, Daniel, hrsg. von Michael Resler, 2. Aufl., Tübingen 1995 (Altdeutsche Textbibliothek 92), V. 970–2844. 31 »Die Zeit der Erzählung ist mit Iwein im Bunde, aber sie liegt nicht allein in der Figur, sondern auch in der Aventiure, die auf die Figur wartet, es ist die Zeit, die der Held für sie braucht, so, wie es Bachtin für die Abenteuerzeit beschrieben hat.« Störmer-Caysa (wie Anm. 29), 124f.; vgl. hier v. a. das Kapitel »Feuer, das nicht brennt« (121–127), in welchem die angesprochene Iwein-Szene im Detail hinsichtlich ihrer Zeitfügung untersucht wird.
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Laudine zu retten, obwohl diese schon längst auf dem Scheiterhaufen brennen müsste (Iwein, V. 3924–5450). Der Zuhörer kann sich im Laufe solcher eingeschobener Aventiuren stets in der Sicherheit wiegen, dass ihm trotz des Verzugs keine Geschichte verloren geht. Dem ist nicht so in der Krone. Hier erweist sich Gawein als Marionette seiner auf Kampf trainierten Sinne, entscheidet sich für die Schlacht und lässt die klagende Dame ungefragt hinter sich. Er begeht so gleich zu Anfang der ersten Wunderkette einen ähnlichen Fehler wie einst Perceval/Parzival, der den Gralskönig nicht nach dem Grund seiner Leiden fragte; im Fall Gaweins (und der Logik der Unverbindlichkeit des Schauraums entsprechend) bleibt dieser Fehler für den Ritter ohne Konsequenzen – nicht jedoch für den Rezipienten, der um ein potenzielles Abenteuer betrogen wird und gewissermaßen anstelle des krisenlosen nachklassischen Superhelden eine Krise auf der Ebene der Fiktionsvermittlung durchlebt. Die von Justin Vollmann vertretene These, Heinrichs Roman sei eine Verschiebung der Krise vom Helden an den Artushof zu attestieren,32 läuft mit dieser Beobachtung konform, wenn man bedenkt, dass genauso wie innerhalb der Fiktion der Artushof durch seine Wahrnehmung des Helden bspw. dessen êre-Status illokutionär zur Existenz beruft, die Zuhörerschaft die endgültige ›Existenz‹ der Fiktion erst durch ihre Imagination begründet. Deshalb ist die Gefährdung der Wahrnehmung des Ritters, die eine Gefährdung der Wahrnehmung des Zuhörers nach sich zieht, auch gleichbedeutend mit einer Gefährdung des Artushofes. Dies wird in Heinrichs Text auch mehrfach verdeutlicht: In der zweiten Wunderkette hält eine Jungfrau Gawein davon ab, entgegen seiner im Bildraum erforderlichen Passivität einen Ritter anzugreifen. Sie erklärt dem Helden die Situation mit den folgenden Worten: Her Gawein, ir vbent schaden, Da mit zü hant wurd geladen Kunig Artus, vwer öheim, Vnd alle vwer vatter heim. Wöllen ir den ritter besteen, Der kumber müsze von uch ergeen, Der von Parcifal geschah, Das er da niht ensprach! (V. 16357–64)
Ein Verstoß gegen seine Aufgabe der passiven sensuellen Aufnahme der Wunderketten würde den Artushof gefährden, der auch an dieser Stelle in seiner illokutionär wahrnehmenden Funktion ein Äquivalent der realen Zuhörerschaft darstellt. Hier wird unter Berufung auf den selben Zusam-
_____________ 32
Vgl. Justin Vollmann, »Krise des Individuums – Krise der Gesellschaft«, in diesem Band.
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menhang auch ein zweites Mal betont, dass Gawein einen ähnlichen Fehler wie Parzival begehen würde – mit dem Unterschied, dass von Parzival vor dem Gral eine Aktion (die Frage), von Gawein hingegen in den Wunderketten eine apparative Passivität erwartet wird.33 Aus der Entsprechung der fiktiven (Artushof) zur realen Größe (Zuhörerschaft) ergibt sich die Erkenntnis, dass die Verschiebung der Krise an den fiktiven Hof und in den realen Wahrnehmungsvorgang somit als zwei Seiten derselben Medaille zu betrachten sind. Ist die Wahrnehmung des Helden in Gefahr, so wird die repräsentative Funktion des Ritters für den Artushof genauso in Frage gestellt, wie die sich im Artushof spiegelnde imaginative Wahrnehmung des Zuhörers auf unsicherem Boden gebaut erscheint. In der ersten Wunderkette bleibt die Gefährdung der fiktiven Welt durch die unsichere Perzeption einer nach subjektiven Entscheidungen wahrnehmenden Instanz über ihren gesamten Verlauf bestehen. Als Gawein dem Lärm gefolgt ist und die ›Sigune-Kopie‹ hinter sich gelassen hat, sieht er den Kampf der über zwei Pferden schwebenden Gralswaffen gegen 600 Ritter. Er beschließt, diesem Wunder auf dem Grund zu gehen, und verfolgt so auf der Suche nach einer rationalen Erklärung des Gesehenen die Pferde. Diese sind ihm jedoch immer ein Stück voraus und er muss deshalb alle weiteren Wunder an sich vorüberziehen lassen. Die gefährdete Wahrnehmung, welche sich als narratologischer Modus der Kette erweist, findet sich dabei auch in den Bildinhalten wieder: (1) Eine alte Frau hat eine Art Feuer unter ihren Augen und kann nur mit Schmerzen in die Welt blicken (V. 14149–97). (2) Gawein reitet an dem Stillleben einer blutüberströmten Rüstung vorbei und hört drei Frauenstimmen klagen – doch die Klagenden bleiben für ihn unsichtbar. Auch hier herrscht eine Konkurrenz des akustischen und des visuellen Sinns, wie sie anhand der ersten beiden Bilder der Kette bereits aufgezeigt wurde (V. 14237–66). (3) Ein von einer Kristallmauer umgebener Palast, der mit seiner Durchsichtigkeit wahrscheinlich eine uneingeschränkte Wahr-
_____________ 33 Ulrich Wyss stellt sich aufgrund dieser beinahe konträren Bedingungen die Frage, »inwieweit Gawein sich von dem Fehler Parzivals warnen lassen soll«, Wyss (wie Anm. 15), 272; ebenso merkt Elisabeth Schmid (wie Anm. 26), 289 zu dieser Stelle an: »Gaweins Aktivität verhält sich somit zum Heil des König Artus wie Parzivals Passivität zur Heilung des Gralskönig. Von Gawein wird gerade verlangt, was in Parzivals Fall Unheil bewirkte: Abstinenz. Wie soll man diese Umkehrung lesen?«. Die obige Antwort auf Schmids Frage sieht in der Perzeption bzw. der perzeptiven Fehlleistung die zentrale Kategorie, in der die gegenläufigen Ansprüche an die Gralshelden sich wieder begegnen.
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nehmung symbolisiert,34 wird von einem »geburen swarz als ein ram« (V. 14286f.)35 zerstört (V. 14269–320). (4) Auf einer Rosenheide sieht Gawein einen an ein Bett geketteten Ritter mit durchstochenen Augen (V. 14334–409). Die Gefährdung der Wahrnehmung ist also ebenso Thema der Fiktion wie sie die Crux ihrer Vermittlung über das Kamera-Ich ist – und dies vor allem deshalb, weil es keine Instanz gibt, die Gawein (oder dem Zuhörer) eine rationale Erklärung des Geschehens bieten könnte.
III. Um diese Misere der Wahrnehmung besser erklären zu können, ist es nötig, auf eine Tradition hinzuweisen, in der die Wunderketten stehen, die zwar schon mehrmals in Analysen anklang,36 jedoch meist nicht weiter
_____________ 34 Diese Interpretation des Kristallpalasts ist natürlich nur eine von vielen Möglichkeiten. Sie hat jedoch gegenüber anderen Lesweisen die Vorzüge, dass sie sich intertextuell verankern lässt. Man kann hier an Gottfrieds »kristallîne[] wortelîn« (Gottfried von Straßburg, Tristan. Band 1: Text, hrsg. von Karl Marold, Berlin, New York 2004, V. 4627) ebenso denken wie an den von Wirnt in eine dem Fegefeuer ähnelnden Anderswelt verorteten Kristallpalast (vgl. Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text, Übersetzung, Stellenkommentar, hrsg. von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005, 4594–4606). Gerade letztes Beispiel steht in enger Beziehung zu zwei Urbildern des Motivs aus der Offenbarung des Johannes, in der das den Thron Gottes umgebende Meer (Apc 4, 6) und die Mauern des himmlischen Jerusalems (Apc 21, 11) als kristallen beschriebenen werden. In beiden Fällen symbolisiert der Kristall ein Ideal der uneingeschränkten (göttlichen) Wahrnehmung, eines der von Jan-Dirk Müller beschriebenen »Phantasmen totaler Sichtbarkeit«: Jan-Dirk Müller, »Phantasmen totaler Sichtbarkeit«, in: Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2006, 318–323. 35 Eigentlich: ›ungeschlachter Kerl, [...] der schwarz war wie von Rüstungsschmutz‹; eine alternative Lesweise des Verses ist, dass hier eine Nebenform zu rabe gemeint ist: ›ungeschlachter Kerl, [...] der schwarz war wie ein Rabe‹, vgl. Gudrun Felder, Kommentar zur »Crône« Heinrichs von dem Türlin, Berlin, New York 2006, 380. 36 Vgl. Alfred Ebenbauer, »Fortuna und Artushof. Bemerkungen zum ›Sinn‹ der Crône Heinrichs von dem Türlin«, in: Alfred Ebenbauer (Hrsg.), Österreichische Literatur zur Zeit der Babanberger. Vorträge der Lilienfelder Tagung 1976, Wien 1977 (Wiener Arbeiten zur germanistischen Altertumskunde und Philologie 10), 25–29, hier: 41; Lewis Jillings, »Diu Crone« of Heinrich von dem Türlein: The Attempted Emancipation of Secular Narrative, Göppingen 1980 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 258), 107; Arno Mentzel-Reuters, Vröude. Artusbild, Fortunaund Gralkonzeption in der »Crône« des Heinrich von dem Türlin als Verteidigung des höfischen Lebensideals, Frankfurt a. M. 1989 (Europäische Hochschulschriften I/1134), 258; Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und
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vertieft wurde:37 die Abhängigkeit der Wunderketten von der Visionsliteratur.38 Die teils grausamen Bilder der ersten Kette erinnern, genauso wie der passive und zwischen plastischem und abstraktem Raum oszillierende Wahrnehmungsmodus, stark an die Jenseitsdarstellungen dieser Gattung, die im 12. und 13. Jahrhundert vor allem in Form der auf die apokryphe Paulusapokalypse bezogenen Schauungen bekannt war.39 Dieser Archetypus der Visionsliteratur-Texte40 war in der lateinischen Übersetzung41 des griechischen Urtexts weit verbreitet,42 obwohl auch die mittelalterliche Kirche ihn – wahrscheinlich aufgrund der vehementen Ablehnung durch
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poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichsepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 12), 133. Die Ausnahme bilden die Ausführungen von Neil Thomas, der die Wunderketten als einen Reflex auf einen zeitgenössischen theologischen Diskurs zum Fegefeuer sieht. Hier wird jedoch an keiner Stelle auf die oben behandelte wahrnehmungstheoretische Verbindung zwischen Wunderketten und Visionsliteratur Bezug genommen; vgl. Neil Thomas, »Diu Crône« and the Medieval Arthurian Cycle, Cambridge 2002 (Arthurian Studies 50), 61f. Für einen Überblick über die Entwicklung dieses Genres bis hin zu seinen Ausformungen im 12. Jahrhundert vgl. Peter Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23); Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Mittelalterliche Visionsliteratur. Eine Anthologie, Darmstadt 1989; Jaques Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbilds im Mittelalter, übers. von Ariane Forkel, München 1990. Auf die weite Verbreitung der Visionsliteratur und ihren Bekanntheitsgrad, der für das hohe Mittelalter aller Wahrscheinlichkeit nach höher zu veranschlagen ist, als der der höfischen Epen, weist Peter Dinzelbacher hin; vgl. Dinzelbacher, Mittelalterliche Visionsliteratur (wie Anm. 38), 8 und 16. Ausgehend von den überlieferten Handschriften war wohl die ca. 1150 von einem Bruder Marcus verfasste lateinische Visio Tnugdali am weitesten verbreitet, zumal sie schon im 12. Jahrhundert mindestens zwei Übertragungen in die Volkssprache erhielt: Albers Tundalus von ca. 1190 und die Niederrheinischen Fragmente aus dem 12. Jahrhundert; vgl. Albrecht Wagner, »Einleitungen«, in: Visio Tnugdali. Lateinisch und Altdeutsch, hrsg. von Albrecht Wagner, Hildesheim u. a. 1989 [orig.: 1882], I–LXXI, hier: XL. »Von den zahlreichen eschatologischen jüdischen und christlichen Apokryphen, die in der Alten Kirche im Umlauf waren, repräsentiert die Visio Pauli die Einzelvision über die andere Welt par excellence.« (Dinzelbacher, Mittelalterliche Visionsliteratur (wie Anm. 38), 22). Für den lateinischen Text vgl. Apocalypse of Paul. A New Critical Edition of Three Long Latin Versions, hrsg. von Theodore Silverstein und Anthony Hilhorst, Genf 1997 (Cahiers d’orientalisme 21). Eine deutsche Übersetzung findet sich in: Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2, Tübingen 1989, 647–675. Vgl. Schneemelcher (wie Anm. 41), 644.
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Augustinus43 – nicht anerkannte.44 Er basiert auf einer Stelle aus dem Korintherbrief, in der Paulus berichtet, dass er eine Vision des Jenseits hatte, von der ihm jedoch zu sprechen verboten worden sei. (1) si gloriari oportet / non expedit quidem / veniam autem ad visiones et revelationes Domini (2) scio hominem in Christo ante annos quattuordecim / sive in corpore nescio / sive extra corpus nescio / Deus scit / raptum eiusmodi usque ad tertium cælum [...] (4) quoniam raptus est in paradisum / et audivit arcana verba quæ non licet homini loqui (5) Pro eiusmodi gloriabor [...]. (II Cor 12, 1–5)45 (1) Es ist mir das Rühmen nichts nütze, ich will jedoch [trotzdem] auf die Erscheinung und Offenbarung des Herrn [zu sprechen] kommen. (2) Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er in dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel [...], (4) der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann. (5) Für denselben will ich mich rühmen [...].46
Der biblische Text ist voller Bescheidenheits- und Unsagbarkeitstopoi und schweigt so auch in letzter Konsequenz über das in der Entraffung Erfahrene. Die Paulusapokalypse ignoriert die arcana verba des Korintherbriefs zwar nicht, überwindet aber die Schwierigkeit, dass der Bibeltext sich demütig in Schweigen hüllt, indem zwischen solchen Dingen, über die Paulus nicht berichten durfte, und anderen, zu deren Wiedergabe er Erlaubnis bekam, unterschieden wird.47 Generell wird so im apokryphen Text die Unsagbarkeit des Heiligen zurückgedrängt zugunsten einer wahrnehm- und deutbaren Plastizität des Jenseitsreichs. Der durch das Jenseits reisenden Seele wird in der Paulusapokalypse ein Engel zur Seite gestellt, der angelus interpres – ein topischer Bestandteil aller späteren Texte der Visionsliteratur: In der im 13. Jahrhundert besonders populären Visio Tnugdali taucht er bspw. in Form eines persönlichen Schutzengels und in der späten profanisierten Spielart der Gattung, in Dantes Göttlicher Komödie, in Form des Dichters Vergil auf, der wiederum seinem Unterweltreisenden Aeneas die Cumaeische Sibylle zur Seite gestellt hatte. In allen Texten ist es die Hauptaufgabe des Engels
_____________ 43 Vgl. Aurelius Augustinus, »In Joannis Evangelium«, in: Patrologiæ Cursus Completus, hrsg. von J.-P. Migne, Bd. 35, Paris 1841, XCVIII, 8. 44 Vgl. Dinzelbacher, Mittelalterliche Visionsliteratur (wie Anm. 32), 22. 45 Biblia Sacram Iuxa Vulgatam Versionem, hrsg. von Robert Weber u. a., Bd. II: Proverbia – Apocalypsis, Stuttgart 1969, 1800. 46 Grundlage dieser Übersetzung ist die Lutherbibel; vgl. Lutherbibel, Standardausgabe mit Apokryphen, hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1999, 213. In II Cor 12, 1 habe ich Luthers Abweichungen dem lateinischen Text angeglichen und die Sprache generell geglättet. 47 Vgl. Schneemelcher (wie Anm. 41), 645.
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(bzw. der diese Funktion erfüllenden Gestalt), der entrafften Seele das von ihr Erblickte zu erläutern. Dabei ist, neben der Erklärung, eine weitere Funktion des angelus interpres, dass er sich der sensuellen Wahrnehmung des Jenseitsreichs durch den Visionär versichert. Er achtet darauf, dass der Wahrnehmungsvorgang des Jenseitsreisenden »funktioniert«, der Charismatiker das Jenseits ›für wahr nimmt‹, so dass eine Übermittlung des Gesehenen an die Nachwelt möglich ist. Setzt man diese Funktion in Analogie zum anhand des Welschen Gasts dargelegten Modell der Wahrnehmung, so gleicht der angelus interpres dem intellectus, der Verbindung zur himmlischen Sphäre, welche der menschlichen ratio ein Begreifen des sensuell Wahrgenommenen garantiert. Der Wahrnehmungsmodus der Vision sieht also, formuliert in den Termini der Vierkräftelehre, wie folgt aus: Die imaginatio des Paulus nimmt die Sinneseindrücke auf, sein intellectus, personifiziert durch den Engel, ordnet die Wahrnehmung des Jenseitigen und erklärt es bezüglich der himmlischen Gesetzmäßigkeiten, so dass seine ratio es nach profanmoralischen Mustern begreift und über Einschreibung in seine memoria den Mitmenschen kommunizierbar macht. Der Engel der Visionsliteratur wird dabei einer Funktion gerecht, die ihm – wie Sybille Krämer dies herausarbeitet – von jeher innewohnt: [D]ie konstitutionelle Unsichtbarkeit, Undarstellbarkeit und Unnahbarkeit Gottes wird also ergänzt durch ein Angebot der Sichtbarkeit, Darstellbarkeit und Nachbarschaft des Heiligen zum Menschen, die in den Engeln zur allegorischen Gestaltung finden. Engel sind nicht einfach da, sondern sie sind tätig: »angelus enim officii nomen est, non natura« bemerkt Augustinus. ›Engel‹ ist also der Name eines 48 Amtes, einer Funktion.
Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren ist also Wesen und Funktion des Engels, so wie beim höfischen Roman die Sichtbarmachung der Fiktion die Aufgabe des Dichters und die Sichtbarmachung des Texts die des vortragenden Rezitators ist.49 Diese letzte Analogie führt zur Frage: Wo ist der Engel der Wunderketten? Obwohl es zumindest in der ersten Wunderkette Gaweins Hauptbestreben ist, eine Erklärung für das Gesehene zu finden, wird der Ritter im Gegensatz zu allen Charismatikern der Visionsliteratur in seiner Kon-
_____________ 48 Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008, 122. 49 Auch Krämer (ebd., 112) stellt diese Verbindung her: »Wo immer Boten thematisch werden, stoßen wir auf die Unterscheidung zwischen vertikaler, sakraler sowie horizontaler, säkularer Botschaftsübermittlung. [...] Zu den vertikalen Vermittlern zählen [neben den Engeln] auch die Dichter und Rhapsoden, die als ›Dolmetscher der Götter‹ oder, im Falle der Rhapsoden, als ›Dolmetscher der Dichter‹ ihre Kunde übermitteln«.
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frontation mit den hermetischen Bildern allein gelassen. Die einzigen Helfergestalten in diesen Passagen50 erklären Gawein (und dem Zuhörer) absolut nichts zu den Bildinhalten, sondern sorgen nur dafür, dass der Ritter sich an den passiven Wahrnehmungsmodus der Ketten hält. Wenn Heinrich mit diesen Passagen also bewusst die Topoi der Visionsliteratur zitiert, so tut er dies unter gezielter Streichung des angelus interpres. Er deaktiviert die den intellectus und die ratio bedienenden Konventionen und reduziert damit den Rezeptionsvorgang der Wunderketten (für die Figur wie für den Zuhörer) auf ein ›unzensiertes‹ Wechselspiel von imaginatio und memoria.
IV. Diese Wahrnehmung ohne rationale oder auf Gott bezogene seelische Leitkräfte endet im Falle der Wunderketten in der Wahrnehmung des Grals.51 Nachdem Gawein – und mit ihm der Rezipient – die drei Bilderfolgen durchwandert hat, gelangt er in das Gralsschloss, wo ihm eine groß angelegte Prozession vorgeführt wird: Erst erscheinen zwei Jungfrauen mit Kerzen, dann zwei junge Herren mit der Lanze und weitere zwei Jungfrauen mit einem in siglad eingehüllten toblire. Die darauf eintretende Jungfrau übertrifft die vorigen noch an Schönheit und trägt auf ihrem Haupt eine Krone.52 Sie bringt Jn einem tùren plialt Ein cleinat, das was gestalt Als ein rost von golde rot. Daruff ein ander cleinot Was gestalt vnd gemaht, Deswar, das niht swaht: Gestein was es vnd goldes rich. Einer clepffzen was es glich, Die vf einem altar stet. (V. 29378–86)
_____________ 50 Gemeint sind hier die Jungfrau Gerner von Kartis (vgl. V. 14410–567) in der ersten, der im Dienst der Sælde stehende Aanzin (vgl. V. 15933–95) und seine Schwester (vgl. V. 16352–499) in der zweiten und die göttinne (vgl. V. 28262– 607) in der dritten Wunderkette. 51 Dieser Zusammenhang zwischen den Wunderketten und der Gralssphäre erklärt der Gralsherr in seinem Schlussmonolog: »Vnd wisze das fur war, / Was du auenture hast gesehen, / Das sie von dem grale sint geschehen.« (V. 29549–51). 52 Wie Keller (wie Anm. 15), 397 feststellt, »sind goldene Kronen in Heinrichs Crône immer auch poetologisches Signal«. Die Krone dient an dieser Stelle – im Sinne der obigen Analyse – dazu, die Aufmerksamkeit des Zuhörers durch die Ankündigung von etwas Besonderem zu schärfen, das die Poetik des Artusroman im Allgemeinen betrifft.
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Diese Beschreibung des Zentrums der Prozession ist voller Uneindeutigkeiten. Die Unterlage sowie der Gegenstand selbst werden vage als cleinat bezeichnet, was nichts über ihre Gestalt, nur etwas über ihren Wert aussagt. In der Beschreibung des Untergestells und in den letzten beiden Versen, in welchen das Bild von clepffze und altar evoziert wird, wird ausdrücklich betont, dass es sich lediglich um Vergleiche handelt (»was gestalt / Als«, V. 29379f. und »was es glich«, V. 29385). Wyss sieht in dem Gegenstand auf dem rost den Gral.53 Diese Zuschreibung mag jedoch nicht recht überzeugen, da der Gralsherr später mit einem unspezifischen Verweis (»Es ist der grale, den du siehest«; V. 29469) den Gral als »gottes wonder« (V. 29463) bezeichnet. Wie Hartmut Bleumer dies überzeugend darlegt, ist mit gottes wonder vor allem der nach dem ›eucharistischen Wandel‹ vollzogene Umgang des Gralsherren mit den Gralsrequisiten bezeichnet, wenn dieser der clepffze einen Brotkrumen entnimmt, den dritten Teil davon verzehrt und das von der Lanze tropfende Blut aus dem ihm dargereichten toblire trinkt. Gemeint ist mit grale und gottes wonder also nicht nur der kelchartige Gegenstand auf dem Altar, auch nicht der toblire, welcher mit gleichem Recht als der Gral gelten könnte, sondern der gesamte eucharistisch geprägte Umgang mit allen Elementen der Prozession.54 Der Gral wird so – für den Zuhörer – zum diffusen Sammelbegriff für ein obskures Zeremoniell aus Schwert, Speer und Schüssel, Behälter und Untergestell, Blut und Brot und deren symbolisch aufgeladener Präsentationsweise.55 Damit wird die Erwartung des Zuhörers willentlich enttäuscht: Aufgrund eines Bilds der dritten Wunderkette (ein auf ein Monstrum gebundener Greis hält in seinen Händen ein Gefäß, aus dem ein Duft entsteigt, der Gawein erfrischt, V. 28702–32) durfte der Zuhörer einen konkreten, literarisch vorgeprägten und somit leicht darstellbaren Gral erwarten, also entweder eine Schüssel oder einen Kelch. Doch der Signifikant ›grale‹ bleibt am Ende der Krone ohne zugewiesenes Bild, da er sich weder eindeutig auf ›clepffze‹ noch auf ›toblire‹ beziehen lässt, sondern ein quasi-eucharistisches Wunder meint. ›grale‹ verweist statt auf das Konkrete ins Transzendente; es ist eine ebenso heilige wie vage sprachliche Geste, die statt zu erklären im Zuhörer nur umso stärker die Frage aufwirft, was
_____________ 53 Vgl. Wyss (wie Anm. 15), 285. 54 Vgl. Bleumer (wie Anm. 15), 232. 55 »Es wird aber nicht klar, ob die ›kefse‹, der ›rôst‹, das ›tobliere‹ oder Schwert und Speer mit dem Gral zu identifizieren sind. Diese Unschärfe legt nahe, den Gral in allen Elementen der Prozession zu sehen«, Keller (wie Anm. 15), 397. Eine ähnliche Einschätzung trifft auch Mentzel-Reuters (wie Anm. 36), 280ff.
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genau die materielle Form des Grals sein könnte.56 Doch jegliche Antwort bleibt aus; das Zentrum der Gralsprozession kommt für den Zuhörer niemals richtig, um zur Beschreibungsmetapher der Kamera zurückzukehren, ›in den Fokus‹. Diese Unschärfe steht im Kontrast zu den Bestätigungen, dass Gawein alles fehlerlos wahrnimmt: »Gaweinen bedrog niht sin synn« (V. 29396). Erinnert man sich an die enge Verbindung von Zuhörer und Gawein, wie sie in den Wunderketten etabliert wurde, so zeigt sich in der Gralssphäre der entgegengesetzte Wille, die Vermittlung der sensuellen Reize durch die Kamera-Figur Gawein mit aller Konsequenz zu unterbrechen und die Verbindung von Figur und Zuhörer zu kappen. Eine Erklärung für diese von Heinrich konstruierte, jegliche Fokalisierung zerstörende Unschärfe findet sich in den abschließenden Worten des Gralsherren: ›Dis gottes wonder, Gawein, Mag niht werden gemein, Ez müsz wesen taugen. [...] Von dem grale wurt dir nit me gesagt, Wann als du hast gesehen [...].‹ (V. 29463–77) Vnd seyte yme, daz er wesse war, Daz ymmer mere so offenbar Der grale wurd gesehen, Sitt das were geschehen, Das er es hette herfarn, Und nyman getörste erbarn Von dem grale von gottes vorchten; Dorch die er gar verworchte Das götlich taugen. Wann was man mit den augen Dar an ersehen kunde, Das were von gottes gunde; Aber sin bezeichenung, Die nye getorst kein zung Vor gotte furbasz gesagen. (V. 29588–602)
Aus Gottesfurcht (von gottes vorchten) muss das wahre Wesen des Grals verschwiegen bleiben. Gawein hat es mit seinen Augen gesehen, doch jenseits seiner sensuellen Wahrnehmung kann und darf es nicht weiter kundgetan werden. Und damit ist nicht nur die Kundgebung in der fiktiven Welt gemeint: Keine Zunge wird den Gral beschreiben – auch nicht die des Vortragenden. Der Konkurrenzkampf der Sinne, dem Gawein in der ersten Wunderkette ausgesetzt war, ist entscheiden: Die Visualität hat gesiegt;
_____________ 56 Wyss (wie Anm. 15), 288 spricht von einer »Blässe des Gralsgeschehens«, was wohl dasselbe Phänomen meint, ihm jedoch implizit eine Intentionalität von Seiten des Dichters abspricht.
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allerdings ist es eine Visualität, an welcher der Zuhörer im Vermittlungsvorgang des Textvortrags nicht mehr akustisch teilhaben kann, weil er ebenso wenig wie die Bewohner der fiktiven Welt zu den Erwählten gehört, denen der Gral vor Augen stehen darf. Die Misere, welche in Wolframs Parzival noch Figur und Rezipient betraf,57 ist nunmehr einzig ein Problem des Zuhörers. Wertet man diesen Kunstgriff der Unschärfe im Rahmen von Heinrichs Zitat der Visionsliteratur, bedeutet dieses Finale im Ungewissen, dass der Dichter mit der gezielten ›Entsinnlichung‹ des Zuhörers das Bestreben der Paulusapokalypse umkehrt: So wie diese aus dem biblischen Verschweigen des Heiligen einen visionären Schauraum erschuf, lässt Heinrich seinen Schauraum (die Wunderketten) im Verschweigen des Heiligen enden. Das profane Wechselspiel von imaginatio und memoria, welches in den Wunderketten durch figurale Perspektivierung direkt – also im Gegensatz zur Visionsliteratur ohne textuelle Unterstützung der ratio oder des intellectus – angesprochen wurde, erweist sich in dem Moment, in dem es mit dem Heiligen in Berührung kommt, als nicht erkenntnisfähig. Die auf die imaginatio des Zuhörers ausgerichteten sensuellen Vorgänge in der Aufführung werden so implizit zum Objekt einer Medienreflexion, die in der Verweigerung von Veranschaulichung die epistemologischen Grenzen performativer Fiktionsvermittlung sichtbar macht. Mit dieser Kritik gerät der Artushof, der einerseits selbst das Zentrum der illokutionär Wahrheit konstituierenden Perzeption in der fiktiven Welt und andererseits Spiegelbild des die Fiktion bewahrheitenden Publikums ist, in den Status einer gefährdeten Instanz: Die Unsicherheit der illokutionären Wahrnehmung bezeichnet seine wie auch des Rezipienten Krise. Erst mit der Überwindung der Krise durch den selbst nicht krisenhaften Helden, also durch Gaweins Befreiung des Gralshofs in die Nicht-Existenz, schwindet die Sphäre der perzeptiven Unsicherheit aus der fiktiven Welt und der Status Quo der älteren, nicht von der Gralssphäre überschatteten Artushöfe ist im Ideal eines ›neuen‹, den Gral überwunden habenden Artushofes wieder hergestellt – trotz eines bleibenden Beigeschmacks der Verunsicherung auf Seiten des Rezipienten.
_____________ 57 Vgl. Dietl (wie Anm. 27), 282ff.; siehe Abschnitt II dieses Beitrags.
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Report "Matthias Däumer, ›Hje kam von sinen augen / Das wunderlich taugen‹. Überlegungen zur Sinnesregie in den Wunderketten- und Gralspassagen der \"Krone\" des Heinrich von dem Türlin, in: Däumer/Dietl/Wolfzettel (Hg.): Artusliteratur und Artushof, Berlin 2010, 215-235. "