Maschek, D. 2014. Der Tempel neue Kleider? Rezeptionsästhetische und semantische Aspekte von Bauornamentik im spätrepublikanischen Mittelitalien

June 30, 2017 | Author: Dominik Maschek | Category: History, Ancient History, Archaeology, Classical Archaeology, Aesthetics, Classics, Roman History, Art History, Architecture, Material Culture Studies, Architectural History, Roman Republic, Republican Rome, Material Culture, Roman Temples, History of architecture, Late Roman Republic, Architectural Decoration-Bauornamentik, Roman Architecture, Archaeology, Classical archaeology, Greek and Roman history, Greek Colonization (Magna Graecia and Sicily), Material Culture Studies, Funerary Archaeology, Roman Republican Archaeology, Architecture and Public Spaces, Roman Archaeology, Classics, Roman History, Art History, Architecture, Material Culture Studies, Architectural History, Roman Republic, Republican Rome, Material Culture, Roman Temples, History of architecture, Late Roman Republic, Architectural Decoration-Bauornamentik, Roman Architecture, Archaeology, Classical archaeology, Greek and Roman history, Greek Colonization (Magna Graecia and Sicily), Material Culture Studies, Funerary Archaeology, Roman Republican Archaeology, Architecture and Public Spaces, Roman Archaeology
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Description

Bayerische Akademie der Wissenschaften

Kommission zur Erforschung des antiken Städtewesens

Studien zur antiken Stadt herausgegeben von Paul Zanker

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Dr. Ludwig Reichert Verlag Wiesbaden 2014

Johannes Lipps – Dominik Maschek (Hrsg.)

Antike Bauornamentik Grenzen und Möglichkeiten ihrer Erforschung

Dr. Ludwig Reichert Verlag Wiesbaden 2014

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

Titelfoto: Steinhaufen auf dem Forum Romanum. Foto: D. Maschek

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig – pH 7, neutral)

© Dr. Ludwig Reichert Verlag Wiesbaden 2014 www.reichert-verlag.de ISBN: 978-3-89500-997-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany

Inhalt Vorwort................................................................................................................................................................. 7 Antike Bauornamentik: Bemerkungen zum Forschungsstand und zu den Absichten des vorliegenden Bandes................................ 9 Johannes Lipps – Dominik Maschek Vom Sinn zur Sinnlichkeit. Probleme und Perspektiven des Ornamentbegriffs in der antiken Architektur................................................................................................................................. 25 Andreas Grüner Werkstatt und Muster Zur Methode der Scheidung von Arbeitsprozessen und Stilelementen........................................................ 53 Georg A. Plattner Zum Nutzen multivariater Analyseverfahren für die Erforschung von Fertigungsprozessen antiker Bauornamentik am Beispiel des Nymphäums des C. Laecanius Bassus in Ephesos...................... 69 Christoph Baier Von Marmorblock über Halbfabrikat zu korinthischem Kapitell Zur Kapitellproduktion in der Kaiserzeit........................................................................................................ 83 Natalia Toma Ornament im Kontext Der Beitrag der Bauforschung zur Untersuchung von Architekturdekoration........................................... 99 Ursula Quatember Baalbek und die Freiheit der Ausführung........................................................................................................117 Holger Wienholz Methodische Schwierigkeiten bei der Datierung von kleinasiatischer Bauornamentik der Kaiserzeit – das Beispiel Milet....................................................................................................................129 Reinhard Köster Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Konstanten und Dynamiken antiker Bauornamentik am Beispiel hispanischer Fundgruppen............................................................................................................139 Janine Lehmann Bauornamentik und städtebaulicher Kontext Die Basilika Aemilia und das Forum Romanum in augusteischer Zeit........................................................155 Johannes Lipps

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Inhalt

Architekturdekor und Stadtbild Eine norditalienische Perspektive auf die Handhabung regionaler Eigenheiten..........................................169 Patric-Alexander Kreuz Der Tempel neue Kleider? Rezeptionsästhetische und semantische Aspekte von Bauornamentik im spätrepublikanischen Mittelitalien..............................................................................................................181 Dominik Maschek Der Beitrag der Ornamentforschung zur Rekonstruktion von Dekorprogrammen und Baubedeutung. Das Beispiel des Gartenhippodroms im Kaiserpalast auf dem Palatin in Rom.....................................................................................................................................203 Kristine Iara Das Ornamentale und die Produktion von Atmosphäre Das Beispiel der Domus Aurea.........................................................................................................................219 Annette Haug Farbabbildungen................................................................................................................................................241 Ortsregister.........................................................................................................................................................249

Der Tempel neue Kleider? Rezeptionsästhetische und semantische Aspekte von Bauornamentik im spätrepublikanischen Mittelitalien Dominik Maschek

Summary Traditionally, scientific interest in architectural decoration has been focused on questions of chronology and typology. The focus was primarily directed towards certain type fossils for dating purposes. This way of research proved to be highly prolific in its own regard. However, central questions concerning the cultural aspects of Late Republican Roman and Italic architectural design have not yet been approached convincingly. For that reason, the main intention of the present paper is to show some aspects of the diachronic evolution of temple design and decoration in central Italy and its dependence on superimposed cultural-historical and socio-economic processes. In archaeological scholarship a paradigm of ‘Hellenisation’ has been established to explain cultural merging processes in the regions of central Italy from about 200 BC to the early Imperial period. In this model, the diffusion of various forms and styles of decoration was often ascribed to the activity of mobile Greek workshops or the aesthetic preferences of certain social classes. However, typological analysis and diachronic mapping of monuments results in a thoroughly different picture: first, the application and use of certain motifs need to be distinguished in terms of both chronological and spatial parameters. Second, particular decorative patterns and styles obviously were related to the function of the respective monuments whose material qualities and long-time visibility should always be taken into account. Third, motivic dependencies and specific features of regional production must be isolated and examined with special regard to their historical reciprocity.

Der folgende Beitrag versteht sich in erster Linie als konzeptuelle Skizze. Ausgehend von der einleitenden Frage des Titels sollen keine umfassenden methodologischen Grundlegungen entwickelt, sondern vielmehr anhand aussagekräftiger Beispiele einige vorläufige Denkansätze zu antiker Bauornamentik entworfen werden. Neue Kleider implizieren ja zugleich auch immer die Existenz von alten Kleidern, und die grundlegende Unterscheidung zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ liegt ebensogut im Auge des Betrachters wie in der prozesshaften Entwicklung der geschichtlichen Zeit begründet. Wie in mehreren Beiträgen des vorliegenden Bandes zum Teil ausführlich erläutert, gibt es, gerade innerhalb der deutschsprachigen Klassischen Archäologie, eine deutliche Tendenz dazu, den Dekor von Bauwerken in seine denkbar kleinsten Teile zu zerlegen, sie minutiös zu analysieren, stilistische oder formale Entwicklungsreihen zu bilden und größere kulturgeschichtliche Fragestellungen nur am Rande zu berühren. Oft ist allein die Materialsammlung bereits dermaßen aufwändig, dass sich in den jeweiligen Zusammenfassungen der Blick für große Zusammenhänge historischer Art in der Betrachtung allzu vieler Details verliert. 1 2 3

Als Fallbeispiel für derartige Tendenzen soll in Folge die mittelitalische Tempeldekoration der spätrepublikanischen Zeit in den Fokus genommen werden. Auf diesem Feld lassen sich in den letzten vierzig Jahren mehrere Schwerpunkte nachvollziehen. All diesen Ansätzen gemeinsam ist eine Konzentration auf die Entstehungszeit der Gebäude, das heißt: auf den historischen Kontext ihrer Errichtung und auf die Signifikanz, die den Bauten in diesem Kontext zugeschrieben werden kann. So hat sich etwa Filippo Coarelli in mehreren einflussreichen Beiträgen mit den stadtrömischen Tempeln mittel- bis spätrepublikanischer Zeit beschäftigt und dabei auch Fragen nach Ausstattung und Dekoration behandelt1. Henner von Hesberg arbeitete die Ausprägung der korinthischen Ordnung in der italischen Architektur des 2. und 1. Jhs. v. Chr. heraus2. Laufende Forschungen an Heiligtümern in Mittelitalien haben schließlich das Ihre dazu beigetragen, die Materialbasis für die formale und typologische Analyse republikanischer Heiligtümer zu erweitern und somit das intrinsische Erkenntnispotenzial in signifikanter Weise zu verdichten3.

Siehe u. a. Coarelli 1970/71; Coarelli 1973; Coarelli 1976; Coarelli 1977; Coarelli 1981; Coarelli 1983; Coarelli 1988, bes. 60–105. 113–244; Coarelli 1990b; Coarelli 1996a, bes.18–20. 327–343; Coarelli 2010. von Hesberg 1980, bes. 162–176; von Hesberg 1981/82; von Hesberg 1981; von Hesberg 1992; von Hesberg 1995; von Hesberg 2003; von Hesberg 2005a, 44–51. Exemplarisch seien hier nur einige der neueren Forschungen genannt. Rom, Magna Mater-Tempel: D’Alessio 2006; D’Alessio 2009; Rom, Largo Argentina: Caprioli 2011; Tivoli, Hercules Victor-Tempel: Giuliani 1998–99; Giuliani 2008–09; Giuliani 2010; Fratini – Moriconi 2011; Nemi: Rasmus Brandt u. a. 2000; Ghini 2006; Palestrina: Pittaccio 2001; Gatti 2003; Gatti 2004; Demma 2011–12; Segni: Cifarelli 2003; Cori: Palombi 2003; Altenhöfer 2007; Ferentino: D’Alessio 2007; Itri: Quilici 2003; Pompeji, S. Abbondio: Bielfeldt 2007; Wolf 2007; Pompeji, Venustempel: Curti 2005; Carroll 2008; Curti 2008; Wolf 2009; Carroll 2010; Teano: Balasco 2011; Sirleto 2011. Auch zu größeren Kultlandschaften und ihrer Architektur wurden jüngst umfassende Studien

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Das Bild, das sich aus den Studien und Materialvorlagen ergibt, ist auf den ersten Blick von beachtlicher Heterogenität geprägt; diese Vielfalt und Vielgestaltigkeit italischer Heiligtümer wurde allerdings nur in wenigen Forschungen auch tatsächlich in entsprechender Weise gewürdigt. Ein wichtiger Aufsatz von Torsten Mattern ging in diese Richtung, hat bislang jedoch kaum zu weiteren vergleichbaren Untersuchungen angeregt4. Stattdessen wurde eher versucht, die Gestaltung von Tempeln mit politischen oder kulturellen Veränderungen zu verbinden, wie es etwa die Vorstellung impliziert, dass ‚indigene Dekorationen‘ in spätrepublikanisch-augusteischer Zeit sukzessive von fortschrittlicheren, ursprünglich ‚hellenistischen‘ Formen in Stein und Marmor (‚Marmorisierung‘) abgelöst worden seien5. Die differenzierte und gleichzeitige Verwendung unterschiedlicher Baumaterialien (so etwa Stein, Holz und Terrakotta) wird nach wie vor oft qualitativ im Sinne eines im Vergleich zu reinen Steinbauten nicht so hohen baulichen Standards oder einer ästhetisch unzulänglichen Zwischenlösung interpretiert6. Den meisten dieser Annahmen liegt der Gedanke einer linearen Entwicklung von altertümlichen hin zu scheinbar modernen Bautypen und Dekorformen zugrunde. Wulf Raeck hat jüngst, ausgehend von Alois Riegl und Franz Wickhoff, einen kurzen Abriss zur Geschichte der ‚Strukturforschung‘ in der deutschsprachigen Klassischen Archäologie geliefert7. Die Überwindung dieser speziellen Ausprägung von streng strukturlogischen Interpretationsmustern ist selbstverständlich zu begrüßen; allerdings wurde von Raeck auch zurecht bemerkt, dass sich im deutschen Sprachraum nach dem Ende der ‚Strukturforschung‘ in den 1960er-Jahren keine wesentlichen übergreifenden Interpretationsmodelle zur römischen Kunst und Architektur mehr herausbildeten8. Stattdessen, so könnte man ergänzen, ist das Konzept der ‚Bilderwelten‘ und der ‚Lebenswelt‘ in Mode gekommen, Schlagworte wie ‚Raum‘ und ‚Kontext‘ wurden ins Feld geführt und auf viele Bereiche und Themenstellungen übertragen; dies geschah mit dem Resultat, dass gerade in der Bauornamentikforschung eine Art Rückzug auf das Wesentliche, also auf die Mate-

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rialbetrachtung und -auswertung stattgefunden hat. Dieser Blick jedoch verliert sich im Detail, arbeitet sich am Detail ab. Möglicherweise auch aufgrund des Scheiterns der ‚Strukturforschung‘ und ihrer ideologischen Verquickung mit rassistisch-volkstümlerischem Gedankengut hat man sich in der deutschen Forschung lange Zeit gesträubt, größere Fragen nach Konstanten oder Unterschieden innerhalb der zeitlichen Entwicklung der italischen und römischen Architektur und Bauornamentik aufzugreifen oder übergreifende Modelle zu deren Lösung vorzuschlagen. Doch nur ein integrativer Umgang, der große Datenmengen aus verschiedenen Materialgruppen mit profunder historischer Analyse vereint, kann eine aussagekräftige Beantwortung der folgenden Kernfrage ermöglichen: Warum wurde ein Gebäude an einem spezifischen Ort zu einer spezifischen Zeit in einer spezifischen Weise dekoriert? Sind diese historischen Fakten aussagekräftig über kulturelle, soziale und politische Zusammenhänge und wenn ja, in welchem Maße? In den letzten dreißig Jahren wurden zwar zum Teil umfangreiche Materialuntersuchungen zur Architektur der spätrepublikanischen Zeit in Mittelitalien durchgeführt, eine umfassende kulturgeschichtliche Auswertung ist jedoch bislang ausgeblieben. Das hat vielfältige Gründe und kann an dieser Stelle nicht in extenso ausgebreitet werden. Meines Erachtens waren es aber besonders die Dominanz rein stilistisch begründeter Entwicklungsreihen sowie das Vorherrschen bestimmter, recht strenger wissenschaftlicher Paradigmata, die eine solche kulturgeschichtliche Bewertung von Architekturdekor verhinderten9. Einerseits wurde von einem Eigenleben der Formen ausgegangen, das man als autonomen Entwicklungsprozess verstand10. Andererseits wurden Dekorformen als Hinweise auf kulturelle Beeinflussungs- und Überlagerungsprozesse gedeutet: So ging die Forschung etwa noch bis in jüngere Zeit davon aus, dass Formen in hellenistischer Zeit in erster Linie von Osten nach Westen ‚gewandert‘ seien und zu einer großmaßstäblichen ‚Hellenisierung‘ der römischen Kultur beigetragen hätten11.

vorgelegt, so etwa zu Samnium (Stek 2009), Campanien (Carafa 2008) und Latium (Gatti – Picuti 2008; Rous 2009; Rous 2010; Ceccarelli – Marroni 2011). Siehe außerdem Rystedt u. a. 1993; Quilici – Quilici Gigli 2003; Edlund-Berry u. a. 2006; Barnabei 2007; Ghini 2008; Rescigno – Lulof 2009; D’Alessio 2010; Strazzulla 2010; D’Alessio 2011; La Rocca 2011. Weitere Lit. zu mehreren monumentalen Heiligtümern Mittelitaliens bei Wallace Hadrill 2008, 103–143. Mattern 1999. So z. B. Heilmeyer 1970, 33 f.; Maischberger 1997, 17–19; Pensabene 2004; von Hesberg 2005a, 42–59 mit älterer Lit.; Pensabene 2005; Pensabene 2007, bes. 8–21. 365–373. Vgl. hingegen das differenzierte Bild bei Mattern 2000, 145. 147–149. So sinngemäß etwa von Hesberg 2005a, 47 f. Kritisch hingegen zuletzt Strazzulla 2010. Raeck 2010. Raeck 2010, 78. Zur ‚Strukturforschung‘ in der Klassischen Archäologie siehe auch Bernbeck 1997, 235–237. Siehe dazu eingehender Maschek 2008a, 102 f. 108–112 mit Lit. und Maschek 2008b, 185–189. Vgl. Bernbeck 1997, 232 f. 235–237; Borbein 2000; Gombrich 2000, 200–211; Graepler 2001; Maschek 2008a, 101 sowie den forschungsgeschichtlichen Überblick von J. Lipps und D. Maschek im vorliegenden Band. So etwa Coarelli 1970/71, 260–265; Gros 1976; Coarelli 1977; Veyne 1979; Torelli 1988, 36–42; Coarelli 1990a, 159–162. 177–188; Coarelli 1990b, 637–670; Gruen 1992, 131–138. 223–273; Hölscher 1994; Zanker 1997, 11 f. 15–41; Stamper 2005, 49–67 sowie, wenngleich bereits deutlich differenziert, La Rocca – Parisi Presicce 2010. Die Möglichkeit einer Herkunft von Einzelformen aus dem westlichen Mittelmeerraum wurde für das hellenistische Griechenland und Kleinasien z. B. bei von Hesberg 1994, 112–114 zwar kurz diskutiert, doch letzten Endes mit der folgenden Feststellung verworfen: „Hiermit sei nicht grundsätzlich ausgeschlossen, daß auch Vorbilder aus der westlichen Architektur [im hellenistischen Osten] verarbeitet werden. Entscheidend aber bleibt dabei, ob man sie im Osten auch entsprechend verstanden hat. Dafür gibt es keine Hinweise und methodisch demzufolge auch keinen Ansatzpunkt, sie zu erkennen.“

Rezeptionsästhetische und semantische Aspekte von Bauornamentik im spätrepublikanischen Mittelitalien

Solche Ansätze wurden vor allem durch vielfältige archäologische und althistorische Forschungen der letzten fünfzehn Jahre stark relativiert, die sich mit dem kulturellen Charakter Italiens in den letzten zwei vorchristlichen Jahrhunderten auseinandersetzten. Man erkannte, dass homogene Akkulturation in dieser Zeit weder in Form von ‚Hellenisierung‘ noch von ‚Romanisierung‘ klar definiert werden kann. Die Rolle lokaler Identitäten und jene von Resistenz- sowie Persistenzphänomenen wurden stärker betont12. Nicht zuletzt nahm man auch die Ereignisgeschichte wieder deutlicher in den Blick und fragte nach Brüchen und Veränderungen, die mit konkreten, punktuellen Ereignissen wie Kriegen und Landreformen in Zusammenhang gebracht werden können13. Diese veränderte Forschungssituation spielte in der Untersuchung spätrepublikanischer Bauornamentik jedoch bis in jüngste Zeit keine wesentliche Rolle. Stattdessen versuchte man auf diesem Gebiet nach wie vor, in erster Linie eine eigenständige Geschichte des Baudekors zu schreiben, der, wie Architektur generell, höchstens als Produkt, kaum jedoch als Quelle für die Rekonstruktion historischer Befindlichkeiten und Vorgänge begriffen wurde14. Drei Faktoren spielten in der archäologischen Betrachtungsweise bei der ausdauernden Suche nach Vorbildern, Vergleichsbeispielen und Datierungen zumeist nur eine marginale Rolle: die Beharrlichkeit, die faktische topographische Einzigartigkeit und die materielle Anwesenheit von Bauwerken. Sind sie einmal errichtet, handelt es sich bei ihnen um massive Präsenzen im öffentlichen Raum in einem recht allgemeinen Bewusstsein. Ihre Wahrnehmung stellt einen nicht zu vernachlässigenden Faktor der longue durée im Sinne von Fernand Braudel dar15. Und selbst wenn es sich bei einem Bauwerk an einem Ort um eine Kopie oder ein Zitat eines Bauwerkes an einem anderen Ort handeln sollte: In der Wahrnehmung seiner physischen, materiellen Präsenz ist es an beiden Orten ein Unikat und trägt zu einer jeweils spezifischen Atmosphäre bei. Das Erscheinungsbild

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der Bauwerke wiederum wird in allen Fällen von Gestaltung und Dekor seiner Oberflächen maßgeblich geprägt. Deshalb soll es bei den folgenden Überlegungen in erster Linie darum gehen, nicht nur den Entstehungs-, sondern auch den Betrachtungs- bzw. Wirkungszeitraum von Bauwerken in den Blick zu nehmen und die zeitgleiche Existenz unterschiedlicher Architekturformen in historischer Hinsicht zu bewerten. Den Anfang macht dabei ein architektonisches Ensemble, das seit den Arbeiten von Richard Delbrueck zu Beginn des 20. Jhs. sozusagen als paradigmatisch für den ‚hellenistischen‘ Charakter der spätrepublikanischen Tempelbaukunst gewertet wurde: das Fortunaheiligtum von Praeneste16. Am Abhang des Monte Ginestro gelegen dominiert der eindrucksvolle Komplex seit seiner Errichtung im letzten Viertel des 2. Jhs. v. Chr. das römische, mittelalterliche und neuzeitliche Praeneste bzw. Palestrina. Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg führten dazu, dass das Bauwerk in den späten 1940erund frühen 1950er-Jahren weitgehend freigelegt wurde17. Bereits aus der Ferne entfaltet es durch seine spektakuläre topographische Lage eine eindrucksvolle Wirkung. Doch nicht nur diese Lage ist als singulär zu bezeichnen, sondern auch der Entwurf und die architektonische Komposition des Komplexes: Bislang bemühte man sich in der Forschung so sehr darum, die Vorläufer, Vorlagen und kulturellen Transferleistungen hinter der Gestaltung des Heiligtums herauszuarbeiten, dass seine faktische Einzigartigkeit darüber beinahe aus dem Blick geraten ist18. Gerade diese aber hatte Architekten seit der Renaissance dazu bewogen, das Ensemble von Praeneste immer und immer wieder zu studieren und zur Inspirationsquelle für eigene Entwürfe zu machen19. Die Singularität beginnt bei der Struktur der Gesamtanlage: Zwar kann man für die Idee eines Terrassenheiligtums hellenistische Beispiele aus dem östlichen Mittelmeerraum anführen, so die Heiligtümer von Lindos oder Kos20, doch übertrifft die am Fortunaheiligtum durch opus

12 Positionen zu ‚Romanisierung‘ bei Bruun 1975; Coarelli 1991b; Delplace 1993; Freeman 1993; Patterson 1993; Torelli 1993; Guidobaldi 1995; Torelli 1995; Coarelli 1996b; Woolf 1997; Zanker 1997, 264–279. 309 f. 312–328; Häussler 1998; Terrenato 1998a; Terrenato 1998b; Woolf 1998, 1–23. 238–249; Keay – Terrenato 2001; Bradley 2002; Colivicchi 2002, 456–468; Mattingly 2002, 537–539; Lomas 2004, 191–194; Roth 2007, 6 f. 9–16. 21–27; Van Dommelen – Terrenato 2007; Colivicchi 2008; Wallace-Hadrill 2008, 9–14; Stek 2009. Zum Konzept der ‚Hellenisierung‘ siehe Gallini 1973; Zanker 1976; Veyne 1979; Guldager Bilde – Nielsen 1993; La Rocca – Parisi Presicce 2010 sowie kritisch Curti – Dench – Patterson 1996; Flaig 1999, 81–84. 92–99. 109–111; Stewart 2008, 12–18 und Wallace-Hadrill 2008, 7–32. 13 z. B. de Ligt 2004; Rosenstein 2004; Bispham 2007; Rosenstein 2008. 14 So etwa bei Börker 1965; Heilmeyer 1970; Leon 1971; Börker 1973; Lauter-Bufe 1987; Gans 1992; Schörner 1995; Golda 1997; Mathea-Förtsch 1999. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. 15 Braudel 1998, 15–22. Vgl. Maschek 2008a, 103. 16 Delbrueck 1907, 47–90; Delbrueck 1912, 1–4; Fasolo – Gullini 1953; Kähler 1958; Degrassi 1969; Gullini 1973; Coarelli 1978; Lauter 1979, 390–415; Coarelli 1982; Gullini 1983; Gullini 1984; Coarelli 1987, 35–84; Coarelli 1991a, 264–267; Nünnerich-Asmus 1994, 189–196; Zevi 1994; Pittaccio 2001; Caliò 2003; Gatti 2003; Gatti 2004; Wallace-Hadrill 2008, 111–116; Ceccarelli – Marroni 2011, 396–406 mit Lit. 17 Zu den Arbeiten siehe Fasolo – Gullini 1953, 3–14. Vgl. zuletzt auch Demma 2011–12, 6–11. 18 Die Suche nach Vorbildern und Vorläufern ist so alt wie die Erforschung des Heiligtums selbst und zieht sich durch alle maßgeblichen Darstellungen, so etwa bei Delbrueck 1912, 124–128. 137 f. 178–180; Rakob 1976, 368; Lauter 1979, 409–415; Coarelli 1983, 193–195; Lauter 1986, 108; Coarelli 1987, 66 f. 79–82; Merz 2001, 21–24; Caliò 2003, 70–72. Die singulären Qualitäten des Fortunaheiligtums von Praeneste wurden bereits früh von Fasolo – Gullini 1953, 441–449, und Kähler 1958, 217–219 hervorgehoben, allerdings jeweils in der Absicht, eine ‚italische‘ von einer ‚hellenistischen‘ (östlichen) Architektursprache zu scheiden. 19 Siehe Fasolo – Gullini 1953, 459–462 sowie v. a. Merz 2001. 20 Vgl. u. a. Fasolo – Gullini 1953, 442–445; Gullini 1973, 796; Gros 1978, 52; Lauter 1986, 108 f.; Merz 2001, 25.

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Abb. 1 Praeneste, Fortunaheiligtum, Monopteros von der ‚Hemizyklenterrasse‘.

caementicium-Substruktionen ermöglichte Staffelung von unterschiedlich gegliederten geometrischen Körpern der einzelnen Terrassen all diese scheinbaren Vorbilder. Die Bauaufgabe an dem steilen Hang wurde durch eine Kombination von Rampen, Portiken, Exedren, Fassadenelementen und Rundbauten gelöst, wie sie de facto ohne Vorlage in der bis dahin ausgeführten antiken Architektur war21. Ebenso bezeichnend ist freilich, dass das Fortunaheiligtum, abgesehen von seiner Wirkung auf Architekten seit der frühen Neuzeit, als Gesamtentwurf seinerseits auch keine direkten

Nachfolger im Bauwesen der direkt im Anschluss folgenden Jahrhunderte hatte. Das heisst: der Entwurf blieb einzigartig; er übertrug sich nicht auf weitere Heiligtümer. In rezeptionsästhetischer und semantischer Hinsicht bedeutet das: Er blieb unverwechselbar. Zusätzlich zu dieser einzigartigen Verklammerung der Bauformen ist am Heiligtum von Praeneste aber auch ein hochgradig differenzierter Einsatz von Baudekoration zu erkennen (Farbabb. 10). So war etwa die Verteilung der Ordnungen auf den einzelnen Terrassen und auch im Sinne der Gesamtanlage hierarchisch gestaffelt22. Die unterste Terrasse verfügte über eine Stützmauer aus Polygonalmauerwerk, die darüber verlaufenden schrägen Rampen waren nach außen geschlossen, nach innen wurden ihre Portiken von dorischen Säulen gestützt. In der Fassade der ‚Hemizyklenterrasse‘ setzte man in den Exedren ionische, in den Säulenhallen dorische Kapitelle ein. Die darüber liegende ‚Fornixterrasse‘ wies nur ionische Kapitelle auf, während die Portiken auf der ‚Cortinaterrasse‘ mit korinthischen Normalkapitellen ausgestattet waren. Diese dreifache Staffelung im Sinne dessen, was man in neuzeitlicher Terminologie als ‚Superposition‘ versteht, wurde aber noch weiter verfeinert, indem man am abschließenden Gebäude mit Cavea und Rotunde zwischen korinthischen Kapitellen vom Normaltypus sowie vom italischen Typus differenzierte. Eine analoge Situation liegt im sogenannten complesso inferiore vor, etwa bei der Wandverkleidung der bekannten ‚Aula Absidata‘, in der sich das berühmte Nilmosaik befand. Durch die gezielte Schöpfung eines dekorativen Gesamtkonzeptes, das von der geometrischen Oberflächengliederung über die Kombination von Baudekor aus Stein, Stuck, Farbe und Mosaik reichte, wurde hier ein komplexes Gesamtbild von Außen- und Innendekoration erreicht23. Gerade die Ausstattung kultisch wichtiger Orte innerhalb der riesigen Gesamtanlage, wie etwa der Grotte mit dem Fischmosaik oder des Monopteros über der Fundstelle der Orakellose, macht wiederum deutlich, dass es sich dabei um einen in jeder Hinsicht singulären Dekor handelte, der in höchstem Maße an das Monument und seine spezifische Kulttopographie gebunden war (Abb. 1)24. Aus diesem Grund ist die Vergleichbarkeit der Architektur von Praeneste mit anderen Heiligtümern spätrepublikanischer

21 Zur geometrischen Durchgestaltung und Komposition vgl. Fasolo – Gullini 1953, 391–414; Lauter 1979, 395–412; Gullini 1983; Gullini 1984; Coarelli 1987, 41–45. 22 Herausgearbeitet von Lauter 1979, 402–409. Vgl. von Hesberg 2005a, 44–46. Grundlegend für die Strukturierung und Gestaltung der Terrassen ist die Befundbeschreibung von Fasolo – Gullini 1953, 57–193 mit Korrekturen im Detail bei Kähler 1958; Gullini 1973; Gullini 1983; Gullini 1984. 23 Zur ‚Aula Absidata‘ und zum Baubefund sowie zu den unterschiedlichen Dekorkonzepten vgl. Delbrueck 1907, bes. 77–90 Taf. 15–20; Fasolo – Gullini 1953, 17–51; Kähler 1958, 195–197; Coarelli 1982, 135–137; Coarelli 1987, 38–41. 61 f. 81 f.; Krumme 1990, bes. 161–163; Nünnerich-Asmus 1994, 189–196; Pittaccio 2001, 19–42. 114. 176; Gatti 2003; Gatti 2004; Ceccarelli – Marroni 2011, 396 f. mit Lit.; Demma 2011–12, 33 f. Die jüngst von Tombrägel 2012, 48 f. geäußerte Vermutung einer chronologischen Trennung zwischen dem ‚complesso inferiore‘ und dem ‚complesso superiore‘ wurde offenbar in Unkenntnis der neueren Bauuntersuchungen getroffen, aus denen die Gleichzeitigkeit der beiden Komplexe eindeutig hervorgeht: siehe bes. Demma 2011–12. 24 Zum Fischmosaik siehe Delbrueck 1907, 58–62 Abb. 50; Fasolo – Gullini 1953, 25–27. 309–313 Abb. 428–432; Coarelli 1987, 40 f.; Andreae 2003, 127–139 mit Lit. Zum Monopteros auf der ‚Hemizyklenterrasse‘ siehe Fasolo – Gullini 1953, 148–153. 140 Abb. 224; 150 Abb. 225; 152 Abb. 227–229; 153 Abb. 230 Taf. 21, 1–6; Kähler 1958, 201–203 Abb. 4; Coarelli 1987, 48–52 Abb. 15; Rambaldi 2002, 55–57 Kat. Nr. 7; 56 Abb. 43–44.

Rezeptionsästhetische und semantische Aspekte von Bauornamentik im spätrepublikanischen Mittelitalien

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Abb. 2  Rom, Rundtempel am Tiber.

Zeit sowohl in Mittelitalien als auch im östlichen Mittelmeerraum letzten Endes in höchstem Maße begrenzt. Das Erscheinungsbild des Fortunaheiligtums war zu seiner Errichtungszeit in jedem Fall ein ‚neues Kleid‘, man kann sogar sagen: eine Maßanfertigung. Doch auch für die restliche Zeit seines Bestehens blieb es ein Unikat. Es steht zu vermuten, dass nicht nur die massive materielle Präsenz an exponierter Stelle, sondern auch die Wertschätzung gegenüber alter und beeindruckender Architektur das Heiligtum vor radikalen Umbauten bewahrten. Wenn Iuvenal in seiner dritten Satire schwärmerisch vom „kühlen Praeneste“25 spricht, so war es mit Sicherheit in besonderem Maße die ‚hellenistische‘ Erscheinung des Fortunaheiligtums, die noch im 1. Jh. n. Chr. das dortige Stadtbild bestimmte. Der differenzierte Umgang mit den verschiedenen Ordnungen in Praeneste führt uns zu dem übergeordneten Feld der Rezeptionsästhetik. Es geht dabei um die Frage, wie im Bewusstsein von Erbauern und Nutzern – um nicht von den übermäßig strapazierten ‚Betrachtern‘ zu sprechen – die Einzelform innerhalb des Gesamten verortet wurde, und nach welchen Regeln der Angemessenheit die Gestal-

tung der Bauwerke erfolgte. Die entwurfsbezogene Singularität des Fortunaheiligtums von Praeneste zeigt deutlich, dass man hier mit Bedacht urteilen sollte: Die Faktoren, nach denen sich das angemessene Aussehen von Bauwerken von Region zu Region, von Stadt zu Stadt richtete, waren vielfältig und sind somit von vornherein nicht eindeutig zu benennen. Es kann sogar vorkommen, dass bestimmte Formen und ihre Kombinationen innerhalb des überlieferten Denkmälerbestandes absolute Einzelfälle bleiben. In der Vergangenheit wurde oft eine vielbeschworene ‚Hellenisierung‘ angeführt, um die Übernahme griechischer Bauformen in die mittelitalische Architektur seit dem 2. Jh. v. Chr. zu begründen. Diese neuen, also griechischen Kleider seien eine moderne Formensprache gewesen, mit deren Aneignung die Auftraggeber eine Botschaft kultureller Verfeinerung transportiert hätten26. Cum grano salis habe also die Oberschicht ihren Führungsanspruch in der spätrepublikanischen Zeit durch die Stiftung griechisch aussehender Bauwerke immer stärker betont. Aber verfängt eine solche Deutung, und wenn ja, bis zu welchem Grad? Auch diese Frage soll wiederum anhand eines konkreten Beispiels etwas eingehender behandelt

25 Iuv. Sat. 3, 190. 26 So etwa Coarelli 1968; Coarelli 1970/71; Coarelli 1976; Gros 1978; Coarelli 1990a; Gruen 1992, 131–138; Hölscher 1994; Sauron 1994; Zevi 2003; von Hesberg 2005a, 41–51. 87–91; von Hesberg 2005b; Stamper 2005, 49 f.; Bratengeier 2010, 26–30. Kritisch: Wallace-Hadrill 2008, 73–210; D’Alessio 2010, 57–62; Strazzulla 2010, 87–93.

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Abb. 5 Praeneste, Portikus auf der ‚Cortinaterrasse‘, korinthisches Normalkapitell.

Abb. 3 Rom, Rundtempel am Tiber, Kapitell der Gruppe A (hellenistisch).

Abb. 4 Athen, Olympieion, Kapitell der Peristasis.

werden. Es handelt sich um ein Bauglied, das bislang immer wieder als klarer Beweis dafür angeführt wurde, dass die mittelitalische Architektur abrupt und umfassend durch direkten Import griechischer Handwerker überformt worden sei: das korinthische Normalkapitell. Bereits in seiner grundlegenden Untersuchung zu Aufkommen und Verbreitung dieses Bauelements in der römischen Architektur äußerte Wolf-Dieter Heilmeyer die Vermutung eines direk-

ten Einflusses attischer Dekorformen auf die spätrepublikanische Bauornamentik27. Diese Argumentation stützte er nur wenige Jahre darauf durch die Analyse der Kapitelle des Rundtempels am Tiber in Rom (Abb. 2). Bekanntermaßen begegnen an diesem Bauwerk zwei Gruppen von korinthischen Normalkapitellen, die sich aufgrund von Motivik, Stil und Material unterscheiden lassen28. Nach Heilmeyer definieren diese Gruppen zwei chronologische Blöcke: Die Gruppe A aus pentelischem Marmor (Abb. 3) wurde von ihm spätesthellenistisch datiert und als von griechischen Bauleuten nach attischen Vorlagen gefertigt bezeichnet; die Gruppe B/C aus lunensischem Marmor hingegen wurde einer Renovierung des Gebäudes in tiberischer Zeit zugeschrieben und als von einheimischem Baupersonal ausgeführt klassifiziert29. Hierfür ausschlaggebend war Heilmeyers Bemerkung, die Kapitelle der Gruppe A seien hinsichtlich ihrer stilistischen und motivischen Eigenschaften mit den Kapitellen des athenischen Olympieions (Abb. 4) sowie anderen attischen Beispielen eng verwandt30. Obwohl diese Annahme in Folge von der Forschung weitgehend unhinterfragt übernommen wurde, kann der Vergleich in keinem Fall überzeugen. Der hauptsächliche und schwerwiegendste Unterschied besteht in der Ausarbeitung der Blattösen sowie der Detailproportionierung v. a. der Kranz- und Hochblätter. Die von Heilmeyer als signifikant betrachteten Proportionen des Gesamtkapitells dürfen als einziges Kriterium für Zuweisung und Datierung nicht ausschlaggebend sein. Vielmehr muss nach Handwerkstraditionen gesucht werden, in denen die gesamte Motivik der Kapitelle nachweisbar ist. Trotz gewisser oberflächlicher Ähnlichkeiten in der Binnengestaltung der Akanthusblätter bieten die festlandgriechischen Beispiele hier keine Lösung.

27 Heilmeyer 1970, 33–36. 39–44. 28 Zur Forschungsgeschichte siehe zuletzt Bratengeier 2010, 13 f. mit Lit.; Lipps 2011, 21 f. Abgesehen von der dort aufgeführten Literatur sind die folgenden Beiträge zum Rundtempel von Relevanz: De Monte u. a. 1991; Brands – Maischberger 1995; Filetici 1997. 29 Rakob – Heilmeyer 1973, 19 f. 21 f. Zu einer Revision der Datierung von Gruppe B/C siehe jüngst Lipps 2011, bes. 26 f. Zur Verteilung der Gruppen am Bau siehe Rakob – Heilmeyer 1973, Beil. 1. 14 sowie Bratengeier 2010, 260 Abb. 24–25. 30 Siehe Heilmeyer 1970, 34 mit Anm. 130 sowie ders. in: Rakob – Heilmeyer 1973, 19–21. 23–28. In dieser Beurteilung folgte Heilmeyer eindeutig einem schon von Delbrueck 1912, 43. 162 f. geäußerten Verdikt.

Rezeptionsästhetische und semantische Aspekte von Bauornamentik im spätrepublikanischen Mittelitalien

Stattdessen begegnet eine eng verwandte Blattgestaltung am Kenotaph für Gaius Caesar in Limyra, hier allerdings mit gestaffelten Blattösen31. Ähnlich ist auch das Kapitell vom Appuleius-Monument in Klaros gestaltet, wenngleich an diesem Stück einerseits die parallel gebohrten Blattfinger fehlen, zum anderen bereits klar erkennbare spitzovale Blattzacken ausgeführt wurden32. Noch charakteristischer sind schließlich mehrere Kapitelle aus Ephesos, die aufgrund stilistischer Untersuchungen bislang in das 1. Jh. v. Chr. bis in augusteische Zeit datiert wurden33. In Hinblick auf Übereinstimmungen in der Motivik ist besonders der kleine Caulis zu nennen, der hier das Stützblatt trägt. Gerade das Motiv des en face gezeigten, vor den Blütenstengel gelegten Hüllblattes ist außergewöhnlich und wurde auch von den lunensischen Kapitellen der frühkaiserzeitlichen Gruppe B weiter geführt. Es liegt an keinem der von Heilmeyer angeführten festlandgriechischen Vergleichsbeispiele vor, allerdings sehr wohl an Stücken aus Milet34, Ephesos35 und Lagina36, deren Blattgestaltung jedoch wiederum gänzlich verschieden ist. Des Weiteren ist es für die Normalkapitelle aus den Portiken der ‚Cortinaterrasse‘ des Fortunaheiligtums von Praeneste charakteristisch (Abb. 5)37. Das kleine, vertikal gesetzte Akanthusblatt, allerdings ohne Cauliculus, begegnet auf korinthischen Kapitellen des Heiligtums von Tegea38, am Arsinoeion und am Ptolemaion von Samothrake39, am Bouleuterion von Sagalassos40, am Säulenmonument für Menandros in Mylasa41 sowie am

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Hekateion von Lagina42. Am Olympieion von Athen, dessen Kapitelle ja Heilmeyer zufolge den engsten Vergleich zu Gruppe A des Rundtempels am Tiber darstellen, ist eine solche Lösung hingegen nicht festzustellen43. In dieselbe Richtung deutet eine chronologisch differenzierte Verbreitungsanalyse der für die älteren Kapitelle des Rundtempels am Tiber charakteristischen Abakusblüte. Diese spezifische Form der Blattarazee wurde in hellenistischer Zeit an korinthischen Kapitellen generell nur sparsam umgesetzt. Vom griechischen Festland ist einzig ein Vergleichsbeispiel aus Orchomenos zu nennen44. Demgegenüber zeichnet sich wiederum ein stärkerer Schwerpunkt im direkten Umfeld der westkleinasiatischen Küste ab, wie mehrere Stücke aus Milet, Ephesos und Samos belegen45. Offenbar gibt es für die Kapitelle der Gruppe A des Rundtempels am Tiber also keine direkten Vergleichsbeispiele im westlichen Griechenland, insbesondere nicht in Athen. Stattdessen finden sich deutlich engere Parallelen in der kleinasiatischen Bauornamentik ab der Mitte des 2. Jhs. v. Chr., verstärkt jedoch im fortgeschrittenen 1. Jh. v. Chr. und hier besonders in Ephesos. Die zeitliche Verteilung der vergleichbaren Stücke zeigt schließlich keinen eindeutigen Hinweis auf eine klare, von Osten nach Westen verlaufende Beeinflussung. Doch nicht nur die Beurteilung der Kapitelle war in der Publikation von Rakob und Heilmeyer von der Idee eines griechischen Architekturimports in das spätrepublikanische Rom maßgeblich beeinflusst worden. Auch aus dem Bau-

31 Rumscheid 1994, 36 Kat. Nr. 131 Taf. 77, 4. In Bezug auf die Blattgestaltung unter gewissen Vorbehalten vergleichbar: Blattfragment vom Tempel der Hera Basileia in Pergamon (Rumscheid 1994, 56 Kat. Nr. 207.8 Taf. 120, 5; Datierung: 159–138 v. Chr.); Kompositkapitelle des Festtors zur oberen Terrasse des pergamenischen Gymnasions (Rumscheid 1994, 59 Kat. Nr. 221.1 Taf. 131, 5. 6; Datierung: sicher nach 197 v. Chr.). Vergleichbare Formung der Blattösen bei überzeichneter Binnengestaltung: Sagalassos, Kapitell des Bouleuterions: Rumscheid 1994, 79 Kat. Nr. 326.2 Taf. 173, 1 (Datierung: Ende 2. Jh. v. Chr.); Sagalassos, Kapitell vom ‚Großen Heroon‘: Rumscheid 1994, 79 Kat. Nr. 328.2 Taf. 173, 3 (Datierung: 3. Viertel 2. Jh. v. Chr.); Side, Kapitell: Rumscheid 1994, 84 Kat. Nr. 342 Taf. 182, 9 (Datierung: knapp nach Mitte des 1. Jhs. v. Chr.); Stratonikeia, Rankenkapitell: Rumscheid 1994, 85 Kat. Nr. 349 Taf. 183, 5. 32 Rumscheid 1994, 26 Kat. Nr. 84 Taf. 56, 5. 33 Rumscheid 1994, 20 Kat. Nr. 53–55 mit Lit. Taf. 45, 1–4. Auf die Ähnlichkeiten zwischen den korinthischen Kapitellen der Gruppe A vom Rundtempel am Tiber in Rom und ephesischen Stücken wies bereits Anton Bammer hin: Bammer 1979, 82. Nicht zuletzt in der Ornamentik des ephesischen Oktogons lassen sich klare Parallelen zur Ausarbeitung der Kapitelle der Gruppe A erkennen: Alzinger 1974, 40–43. 84 f. Taf. 70, 109; Rumscheid 1994, 19 Kat. Nr. 48.2 Taf. 41, 4. 34 Rumscheid 1994, 48 Kat. Nr. 165. 167 Taf. 107, 3–4. 35 Rakob – Heilmeyer 1973, Taf. 31, 6; Rumscheid 1994, 20 Kat. Nr. 53. 55 Taf. 45, 1. 4. 36 Rumscheid 1994, 33 f. Kat. Nr. 122, 2; 122, 14 Taf. 69, 1. 2; 75, 1. 37 Borsari 1902; Vaglieri 1907 692 f. Abb. 16; Fasolo – Gullini 1953, 176. 178 f. Abb. 260–261. 263 Taf. 23, 9; Bauer 1973, Taf. 34, 1; Rakob – Heilmeyer 1973, 27 f. Taf. 34, 1. Die Formung der Blattösen lässt sich des Weiteren gut mit den Kapitellen des Iuppitertempels auf dem Forum von Pompeji vergleichen, wenngleich der Stengel der Abakusblüte hier nicht durch ein Stützblatt verdeckt wurde (siehe von Hesberg 1981, 23. 38 Abb. 7; vgl. Lauter 1979, 430–434; Zanker 1993, 73; Wolf 2009, 298–204 mit Lit.). 38 Bauer 1973, Taf. 21, 1–2; 23, 2–3. 39 Arsinoeion: Rumscheid 1994, 93 Kat. Nr. 375 mit Lit. Taf. 201, 3 (Datierung: 299–270 v. Chr.); Ptolemaion: Rumscheid 1994, 94 f. Kat. Nr. 377.7 mit Lit. Taf. 203 (Datierung: 285–246 v. Chr.). 40 Rumscheid 1994, 79 Kat. Nr. 326.2 Taf. 173, 1. 41 Rumscheid 1994, 49 Kat. Nr. 173 Taf. 109, 1–2 (Datierung: 40 v. Chr. bis 14 n. Chr.). 42 Rumscheid 1994, 33 f. Kat. Nr. 122.14 Taf. 69, 1–2 (Datierung: bald nach 81 v. Chr.). 43 Rumscheid 1994, Taf. 190, 5–6; Tölle-Kastenbein 1994, Beil. Z. 15–18 Taf. 16–21. 44 Bauer 1973, 119 Taf. 31, 5 (Datierung: um 265–260 v. Chr.). 45 Milet, Laodikebau: Bauer 1973, 121 f. Taf. 30, 5; 31, 6; 32, 4; Rumscheid 1994, 48 Kat. Nr. 163.2 mit Lit. Taf. 105, 6–7 (Datierung: 259–253 v. Chr.); Ephesos, Museum Selçuk Inv. 2.6.74: Leon 1971, 156 Taf. 56, 2; Rakob – Heilmeyer 1973, 26 mit Anm. 51 Taf. 31, 6; Alzinger 1974, 83 Nr. CVCI Taf. 69, 107; Rumscheid 1994, 20 Kat. Nr. 53 mit Lit. Taf. 45, 1 (Datierung: ausgehendes 2. Jh. v. Chr.); Ephesos, Museum Selçuk Inv. 3.7.77: Alzinger 1974, 83 f. Nr. CVC2 Taf. 70, 108; Rumscheid 1994, 20 Kat. Nr. 54 Taf. 45, 2 (Datierung: 1. Hälfte 1. Jh. v. Chr.); Samos, hellenistische Villa von Kastro Tigani: Tölle-Kastenbein 1974, 42 Anm. 61; Rumscheid 1994, 25 f. Kat. Nr. 80.24 mit Lit. Taf. 55, 5 (Datierung: um 100 v. Chr.).

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entwurf selbst glaubte man unzweifelhafte Beweise für einen solchen Import ableiten zu können. Anhand von metrologischen Studien ermittelte Rakob ein griechisches, nämlich das pheidonische Fußmaß, auf dem der Grundriss beruhe46. Für das Aufgehende postulierte er hingegen den römischen pes monetalis. Dagegen arbeitete Ruud De Zwarte überzeugend ein Basismaß des Rundtempels von 11 ¼ römischen Fuß statt 10 pheidonischen Fuß heraus47. Er ging zu Recht davon aus, dass in erster Linie nicht ein ganzzahlig rundes Fußmaß wichtig sei, sondern eines, das sich auch durchgängig in den anderen Elementen des Baus wiederfinden lässt. Dies ist mit den 11 ¼ Fuß eindeutig auch im Aufgehenden der Fall, womit es keine Diskrepanz mehr zwischen den Konstruktionsmaßen von Grund- und Aufriss gibt. Die Höhe der Kapitelle wiederum hat einen Mittelwert von 1,252 m. Dies entspräche, anstelle einer überaus sperrigen Zahl von 3 4/5 pheidonischen Fuß, einem wesentlich feineren und vor allem der Sechzehntelteilung in digiti entsprechenden Wert von 4 ¼ römischen Fuß48. Vorbehaltlich der Möglichkeit, dass, abgesehen vom pheidonischen oder römischen Fußmaß, nicht auch noch ein anderes, bislang unerkanntes Maßsystem im Produktionsvorgang der Bauteile eine Rolle gespielt haben könnte, verdeutlicht bereits diese knappe Übersicht die Unwahrscheinlichkeit eines zweifachen Entwurfsmaßes für den Rundtempel am Tiber49. Zudem ergaben neue archäometrischen Untersuchungen, bei denen von mehreren Stellen des Baus Proben genommen wurden, dass das Kapitell von Säule 750, stilistisch gesehen klar der älteren Gruppe A zugehörig, aus prokonnesischem Marmor besteht51. Damit löst sich die Annahme von der homogenen, einzig aus den Steinbrüchen von Penteli importierten Materialgruppe auf. Für diese interne Differenzierung sind drei Erklärungsmodelle denkbar: Zum Ersten könnte das fragliche Stück auch aus einem von den üblichen Charakteristika abweichenden pentelischen Marmor gefertigt sein, für den es freilich in der Forschung noch keine Referenz gibt. Zweitens wäre eine Verwendung prokonnesischen Marmors in der späteren Kaiserzeit im Zuge einer partiellen Ausbesserung anzunehmen, was aber weder durch historische Evidenz, noch durch die bautechnische und stilistische Analyse gedeckt wird. Die dritte und nach dem derzeitigen Wissensstand wahrschein-

lichste Erklärungsvariante lautet, dass das Kapitell der Säule 7 als Einzelstück innerhalb der ursprünglichen pentelischen Gruppe zu betrachten ist. Gestützt auf die archäometrischen Daten sowie auf die konventionelle Annahme einer formalen Abhängigkeit von attischem Baudekor ging man zunächst davon aus, dass das Stück zuerst von Kleinasien nach Griechenland exportiert, dort bearbeitet und dann wiederum von dort nach Rom gebracht worden sei52. Diese Erklärung scheint jedoch übermäßig kompliziert, auch gerade in Hinblick auf die oben herausgearbeiteten motivischen Verbindungen von Gruppe A zu westkleinasiatischen Kapitellen des späten Hellenismus. Viel naheliegender ist es, das Kapitell aus prokonnesischem Marmor als Musterstück zu bewerten, das, ohne den Umweg über Athen, in bereits ausgearbeitetem Zustand von Kleinasien nach Rom gebracht wurde, um dort für die in griechischem Marmor gearbeiteten Kapitelle als Vorlage zu dienen53. Die anderen Kapitelle der Gruppe A wurden, wie Rakob und Heilmeyer aufgrund von Beobachtungen an den Fugen der aus zwei Blöcken zusammengesetzten Stücke nachvollziehen konnten, jedenfalls erst am Bau ausgearbeitet54. Mit diesen Überlegungen zu den älteren Kapitellen und zum Entwurf des Rundtempels am Tiber in Rom sind einer der wichtigsten Stützen für das Modell einer linearen Überformung römischer Tempelarchitektur durch griechische Architekten und Bauleute im späten 2. Jh. v. Chr. die argumentativen Grundlagen entzogen. Offenbar lässt sich sowohl in Hinblick auf die Bauplanung im Gesamten als auch auf die Formen der Ornamentik im Detail keineswegs ein einfacher, von Osten nach Westen verlaufender Akkulturationsprozess postulieren. Vielmehr mischte sich am Rundtempel auf dem Forum Boarium ein auf römischen Maßen basierender Grundriss mit kleinasiatischen und attischen Marmorsorten sowie einer Gestaltung der unteren Kannelurenenden, wie sie für die mit Stuck überzogenen Tuff- und Travertinarchitekturen Mittelitaliens typisch war (Abb. 6)55. Das Gebäude wurde zudem in einem stadtrömischen Kontext für einen mit hoher Wahrscheinlichkeit römischen Auftraggeber geschaffen, der sich damit zugleich den Geschmacksurteilen eines römischen Publikums aussetzte. Es ist zwar denkbar, dass hierbei eine reine

46 Rakob – Heilmeyer 1973, 16–18 Beil. 21. 47 De Zwarte 1994, 128–131 mit Tabelle 5. 48 Zur Praxis der Achtel- und Sechzehnteleinteilung in der römischen Architektur vgl. Hecht 1979, 135 f.; Bankel 1983, 67; Coulton 1989, 87–89; Rottländer 1991, 54–63; De Zwarte 1994; Rottländer 1994, 2; Wesenberg 1995, 212–215; DeLaine 1997, 47 f. Eine weitere eingehende Studie zum Produktionsmaß der Kapitelle der Gruppe A vom Rundtempel am Tiber und der zugehörigen Säulentrommeln durch den Verf. befindet sich zur Zeit in Vorbereitung. 49 Die prinzipielle Möglichkeit, dass mehrere Maßsysteme an einem Bauwerk zur Anwendung kamen, wird zwar durch Funde wie das metrologische Relief von Salamis (siehe bes. Wilson Jones 2000a, 88–90) tendenziell bestätigt. Wenn sich allerdings aus den zur Verfügung stehenden Baumaßen ein kohärentes System auf plausible Weise ermitteln lässt, so besteht grundsätzlich keine Notwendigkeit, die kompliziertere Verfahrensweise zu postulieren. 50 Zur Nummerierung siehe Rakob – Heilmeyer 1973, Beil. 1. 14 und Bratengeier 2010, 260 Abb. 24–25. 51 Gorgoni u. a. 2002, 309–314 Abb. 2. 7. 52 Gorgoni u. a. 2002, 314. 53 Zu solchen Prozessen, allerdings für die Kaiserzeit, vgl. Plattner 2002; Plattner 2004, 19 f. 27–30; Plattner 2007a, 126–130; Plattner 2007b, 559 f.; Plattner 2008, 228 f. sowie die Beiträge von N. Toma und G. A. Plattner im vorliegenden Band. 54 Rakob – Heilmeyer 1973, 20 f. 23. 55 Siehe Rakob –Heilmeyer 1973, 6 f. mit Anm. 59 Taf. 21,4. In dieselbe Richtung weisen die Eigentümlichkeiten der Verdübelung zwischen den Baugliedern: Rakob – Heilmeyer 1973, 7 mit Anm. 61.

Rezeptionsästhetische und semantische Aspekte von Bauornamentik im spätrepublikanischen Mittelitalien

Abb. 6  Rom, Rundtempel am Tiber, Säulenbasis.

Emulation griechischer Formen bereits den gewünschten Zweck erfüllt haben könnte. In diesem Fall wäre die oben konstatierte Mischung verschiedener Einflüsse tatsächlich als einigermaßen kuriose Hybridität einer frühen Beeinflussungsphase zu verstehen, die dem auf die Architektur des klassischen Athen gestützten Kanon der Klassischen Archäologie nur schwerlich behagen kann. Doch stuft man mit dieser Erklärung nicht nur das Potenzial des römischen Architekturbetriebs des 2. Jhs. v. Chr. bewusst herab, sondern verstellt auch den Blick auf eine außergewöhnliche Fähigkeit zur kreativen Adaption und Innovation56. Diese äußert sich jedoch nicht bloß in dekorativen Details; vielmehr steht die Herkunft der Bauform ‚korinthischer Tempel‘ in ihrer Gesamtheit zur Debatte. Bekanntermaßen handelt es sich bei dem Rundtempel am Tiber nicht um den ältesten Sakralbau mit korinthischen Normalkapitellen in Mittelitalien. Etwa eine Generation früher wurden der Mars-Tempel in circo in Rom und das Fortunaheiligtum von Praeneste errichtet, an denen die frühesten Beispiele für diese Kapitellform in der mittelitalischen Steinarchitektur archäologisch nachweisbar sind. Für den von Dec. Iunius Brutus Callaicus gelobten Mars-

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Tempel in circo ist zudem mit Hermodoros von Salamis auch der Architekt überliefert57. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei dem Bau um die Strukturen bei S. Salvatore in Campo58. Ein sekundär auf dem Marsfeld verbautes korinthisches Kapitell und mehrere Säulentrommeln wurden von Fulvia Bianchi aufgrund des Fundorts und der Dimensionen als zugehörig erkannt59. Insofern scheint der Sachverhalt klar: Der erste korinthische Tempel in Rom wurde 132 oder 131 v. Chr. auf Geheiß eines römischen Triumphators von einem griechischen Architekten in Marmor errichtet60. Nun konnte aber bereits Heiner Knell in einem wichtigen Beitrag zum Aufkommen der korinthischen Ordnung zeigen, dass es für die Benutzung korinthischer Kapitelle in der Außenordnung von Tempeln keine Beispiele im klassischen und frühhellenistischen Griechenland selbst gibt61. Das erste korinthische Kapitell begegnet bekanntlich in der Innenordnung des Apollo-Tempels von Bassai; ebenfalls in der Innenordnung wurden die korinthischen Kapitelle der Tholos von Epidauros und des Philippeion in Olympia verwendet. Das Lysikrates-Denkmal in Athen stellt die einzige nennenswerte Ausnahme dar: allerdings ist hier die korinthische Ordnung eher Teil einer Wandverkleidung und nicht Bestandteil einer frei tragenden Säulenarchitektur, zumal das Denkmal selbst bei weitem nicht den Maßstab oder die konstruktiven Spezifika von Tempelbauten erreicht62. So bleibt schließlich einzig das Olympieion in Athen, dessen Normalkapitelle ja von Heilmeyer, wie bereits oben dargelegt, als beste Vergleichsbeispiele für den Rundtempel am Tiber bezeichnet wurden (Abb. 4). Es handelt sich um einen gewaltigen oktostylen Dipteros ionisch-korinthischer Ordnung, der im Jahr 174 v. Chr., also etwa vierzig Jahre vor dem Mars-Tempel in circo, von Antiochos IV. gestiftet wurde63. Auch in diesem Fall ist die Person des Architekten bekannt: ein Römer namens Cossutius64. Die Entwürfe von Tempeln mit rundem und rechteckigem Grundriss und korinthischer Ordnung scheinen also ab dem zweiten Viertel des 2. Jhs.

56 Zuletzt zu Recht hervorgehoben von D’Alessio 2010, 54 f. 58–62. 57 Corn. Nep. in Prisc. gramm. 8, 4, 17; Gros 1973; Tortorici 1989; D’Alessio 2010, 58 f. 58 Zevi 1976; Tortorici 1989; Zevi 1996; Haselberger 2008, 164 f. Mit Zuschreibung an Neptun hingegen Coarelli 1968; Coarelli 1970/71 sowie, freilich bereits deutlich relativiert, noch Coarelli 1997, 492–497. Diese Identifikation, die sich in erster Linie auf den Fundort der sogenannten Ara des Domitius Ahenobarbus stützte, wurde jedoch bereits von Zevi 1976, 1057–1062 mit stringenter Argumentation widerlegt. Ohne eindeutige Zuweisung schließlich Ziolkowski 1992, 117–119 und von Hesberg 2005a, 91. 59 Bianchi – Tucci 1996, 54–60. 76 f. Abb. 18–21; 82 Abb. 31. 60 Die nach 167 v. Chr. im Anschluss an einen Seesieg über den Makedonenkönig Perseus errichtete Portikus des Cn. Octavius in der Nähe des Circus Flaminius besaß nach Plinius bronzene korinthische Kapitelle und könnte vorbildhaft für die Übernahme der Dekorform in die Außenordnung von Tempelbauten gewirkt haben (Plin. Nat. Hist. 34, 13). Vgl. Gros 1976, 388–392; Gruen 1992, 137 f. Allein aus der literarischen Beschreibung wird freilich nicht klar, ob es sich dabei um Kapitelle vom Normaltypus handelte, wie es etwa D’Alessio 2010, 59 vermutete. 61 Knell 2005. 62 Bauer 1977, 204–219 Abb. 3 a. b; Knell 2000, 149–155 Abb. 105–111; Knell 2005, 187 f. Abb. 3. 63 Zur Baugeschichte des hellenistischen Olympieions siehe ausführlich Tölle-Kastenbein 1994, 142–152. 64 Rawson 1975, 36 f.; Tölle-Kastenbein 1994, 144 f.; Donderer 1996, 33. 58. 66; von Hesberg 2005a, 90; Gros 2006, 51–73; WallaceHadrill 2008, 147. 152. Zwar glaubte Renate Tölle-Kastenbein, eine „aus allen Baugliedern ersichtliche Schulung des Cossutius an klassischen Bauten Athens und an korinthischen, musterhaften Normalkapitellen Griechenlands“ erkennen und daraus ein „Studium griechischer Architektur vor Ort“ ableiten zu können (Tölle-Kastenbein 1994, 145), doch steht ja gerade die Umsetzung einer korinthischen Außenordnung an einem Tempel in auffälligem Widerspruch zu den griechischen Entwurfstraditionen der Klassik. Die Schulung des Cossutius hat demzufolge ganz offensichtlich nicht nur die Architektur des griechischen Ostens umfasst.

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Abb. 7 Cori, sog. Herculestempel, dorischer Fries.

v. Chr. in auffälliger Weise mit der römischen Sphäre verknüpft – sei es in Athen am Großbau eines Seleukiden, der einen römischen Architekten in Lohn und Brot genommen hatte, sei es in Rom selbst am marmornen Peripteraltempel eines römischen Consuls und Triumphators, der aus Kriegsbeute einen griechischen Architekten beschäftigte. Die Vermutung liegt nahe, dass die ostentative Verwendung des korinthischen Kapitells in der Außenordnung von Sakralbauten letztlich der ästhetischen Erwartungshaltung eines von Rom geprägten Architekturbetriebes entsprach, keineswegs jedoch in toto aus dem Osten nach Rom importiert wurde. Diese historische und kulturelle Vielschichtigkeit in der Wahl von Bau- und Dekorformen wird weiterhin deutlich durch die Rolle des sogenannten italisch-korinthischen Kapitells. Auch parallel zur Verwendung von Normalkapitellen wurde dieser Kapitelltypus nämlich an Tempeln eingesetzt, in Mittelitalien bis in das erste Viertel des 1. Jhs. v. Chr.65, in Norditalien sogar noch länger66. Es gab hier

offenbar keine klar voranschreitende Ablösung einer ‚alten‘, ‚indigenen‘ Bauform durch eine ‚moderne‘, ‚importierte‘, sondern starke regionale Konventionen. Die Hierarchie der Ordnungen am Fortunaheiligtum von Praeneste zeigt schließlich, dass zwischen Normalkapitellen und italischkorinthischen Kapitellen auch in der Platzierung innerhalb derselben Gesamtanlage in subtiler Weise unterschieden werden konnte (Farbttaf. 1)67. Bedeutsam für die mittelitalische Tempelarchitektur zwischen Latium und Apulien war des Weiteren die korinthisch-dorische Mischform, die später in den Schriften des Vitruv als ästhetisch ungenügend abgelehnt wurde68. Der Tempel auf dem Forum von Paestum etwa, der, entgegen der von Filippo Coarelli auch jüngst noch vertretenen Datierung an die Wende vom 3. zum 2. Jh. v. Chr., aufgrund des bauhistorischen und stratigraphischen Befundes an das Ende des 2. Jhs. v. Chr. datieren muss69, verfügte über attische Basen, kannelierte Säulen, korinthische Kopfkapitelle

65 Siehe etwa von Hesberg 1981; Lauter-Bufe 1987; Schenk 1997, 52–54. Noch bei von Hesberg 2005, 51 wird das italisch-korinthische Kapitell in der italischen Architektur einem Entwicklungsprinzip unterworfen, das scheinbar nicht nur formalen, sondern auch funktionalen Prinzipien gehorcht: „Neben neu aufgenommenen oder entwickelten Formen des Baudekors existierten im 2. und 1. Jh. v. Chr. noch die alten, neben den korinthischen Normalkapitellen etwa […] die italisch-korinthischen Kapitelle […]. Deren Verwendung wurde zwar möglicherweise eingegrenzt auf eher kleinere Bauten wie die Atria […] oder Peristyle […] von Häusern. Ihre Verwendung als Zeichen wurde auf einen bestimmten Bereich eingeschränkt. Damit deutet sich eine gewisse Hierarchie in den Impulsen an, welche die Wahl der Ornamente bestimmten.“ Diese Verlagerung der italisch-korinthischen Formen in das Innere von Wohnhäusern bedeutet freilich nicht, dass zur gleichen Zeit die älteren Tempel mit entsprechendem Bauschmuck aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden wären. Im Gegenteil: Viele dieser Gebäude wurden bis in die Kaiserzeit hinein immer wieder renoviert, ihr Formenschatz muss folglich nach wie vor einen wichtigen Faktor in der ästhetischen Beurteilung von Sakralbauten gebildet haben. 66 Siehe dazu insbesondere den Beitrag von P.-A. Kreuz im vorliegenden Band (mit weiterer Lit.). 67 Siehe Lauter 1979, 392 Anm. 14; 301 Abb. 6; 403–407. 68 Vitr. De Arch. 1, 2, 6. Zu Mischordnungen in der hellenistischen italischen Architektur vgl. Knell 1991, 33 mit Anm. 108; Ortolani 1997, 19 f. 22–24; Wilson Jones 2000b, 111–113. 69 Das mittelrepublikanische Comitium wurde durch den Tempel teilweise überbaut und geriet damit außer Funktion: Theodorescu 1989, 117–119; Torelli 1992, 74–85; Greco u. a. 1995, 56 f.; Schenk 1997, 55–57; Dally 2000, 103–105; Edlund-Berry 2008, 446; Greco 2008, 30; Polito 2010, 29 Anm. 23. Die mit diesem unzweifelhaften baulichen Befund nicht in Einklang zu bringende Datierung in das späte 3. Jh. v. Chr. findet sich hingegen bei Coarelli 1996c, 228 Anm. 133 sowie jüngst noch bei Coarelli 2011, 111.

Rezeptionsästhetische und semantische Aspekte von Bauornamentik im spätrepublikanischen Mittelitalien

und einen Metopen-Triglyphen-Fries mit figürlichen Szenen70. Vergleichbaren Dekor weisen der zeitgleiche Tempel von S. Leucio bei Canosa in Apulien oder der ‚Tempel B‘ aus dem samnitischen Heiligtum von Pietrabbondante auf71. Korinthische Kopfkapitelle begegnen darüber hinaus bekanntermaßen im Typenschatz der pompejanischen Baudekoration des 2. und frühen 1. Jhs. v. Chr.72 Über das Bindeglied der dorisch-korinthischen Mischformen gelangt man schließlich zur dorischen Ordnung, die der chronologisch differenzierten Verbreitung korinthischer Bauten mit Gewinn gegenübergestellt werden kann. Eine umfassende typologische Untersuchung hat gezeigt, dass dorische Friese in Mittelitalien ab dem zweiten Viertel des 2. Jhs. v. Chr. in der monumentalen Architektur aufkommen73. Zunächst konzentriert sich dieses Auftreten auf Podiumsverkleidungen, Altarbekrönungen und Tempelbauten in Latium und dem nördlichen Campanien. An Heiligtümern in Pompeji, Pietrabbondante, Fregellae und Cori überzog man die Friese mit Stuck (Abb. 7). Im Fortunaheiligtum von Praeneste sowie an Sakralbauten in Samnium und Paestum kann hingegen ab dem späten 2. Jh. v. Chr. die parataktische Reihung von in Stein skulptierten Dekormotiven, wie etwa bestimmter Rosettenformen, Bukranien und Opferschalen, nachvollzogen werden. Nach dem ersten Drittel des 1. Jhs. v. Chr. verschwand der dorische Fries allerdings beinahe vollständig aus der öffentlichen Monumentalarchitektur. Bereits etwas früher verlagerte sich seine Verwendung in den Bereich der Grabdenkmäler. Dieser Prozess lässt sich in erster Linie im stadtrömischen Umfeld verorten, wo im Dekor der Grabbauten die vertrauten Muster der Sakralarchitektur aufgegriffen wurden. Vor dem Bundesgenossenkrieg ist eine bewusst militärisch konnotierte Symbolik an diesen Gräbern mit dorischem Fries noch nicht greifbar. Bei der Verwendung der dorischen Ordnung in der mittelitalischen Architektur spätrepublikanischer Zeit zeigt sich also wiederum, dass keine lineare Formentwicklung vorliegt, sondern offenbar regionale Vorlieben dominierten, besonders in Campanien und Latium. Das Ende dieser Dekorform an Heiligtümern hängt mit der Zäsur des Bundesgenossenkrieges und einer semantischen Umorientierung zusammen, die den dorischen Fries als konstitutiv für öffentliche Gebäude im weiteren Sinne (Basiliken, Forumsportiken) erscheinen ließ74. Das letzte Beispiel in der monumentalen Tempelarchitektur stellt bezeichnenderweise der Fries des sogenannten Tabulariums in Rom dar. Das von Sullas Gefolgsmann Q. Lutatius Catulus errich-

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tete Bauwerk wurde zuletzt von Pier Luigi Tucci überzeugend als Substruktion für einen großen Tempelkomplex gedeutet. Zudem brachte jüngst Filippo Coarelli eine Reihe gewichtiger Argumente für eine Identifikation dieses Tempels mit dem sullanischen Venus Victrix-Heiligtum vor75. Zeitgleich mit der Errichtung dieser monumentalen Anlage begegnet der dorische Fries an Grabbauten, die sich von Latium und Rom ausgehend auch verstärkt in die nach dem Bundesgenossenkrieg ‚befriedeten‘ Gebiete verbreiteten. Hier übernahm die römische bzw. romtreue Elite in ihrer sepulkralen Repräsentation ganz offensichtlich einen überkommenen sakralen Habitus, der als angemessen für die spezifische Bauform galt. In frühaugusteischer Zeit schließlich kam es zu einer bemerkenswerten Renaissance der dorischen Ordnung in der monumentalen öffentlichen Architektur. Einerseits schöpfte man dafür, wie etwa im Dekor des Augustusmausoleums, aus dem kanonischen Formenrepertoire der späthellenistischen Baukunst. Zum anderen zeigt die zur selben Zeit zu konstatierende Wiederaufnahme altertümlicher Profilformen eindeutig, dass die Vorbilder für die maßgeblichen Entwürfe des sogenannten augusteischen Klassizismus auch aus dem Studium älterer Bauwerke in Rom und Latium gewonnen wurden. All diese Indizien unterstreichen den Befund, den wir bereits anhand des Rundtempels am Tiber und der Verwendung der korinthischen Ordnung in der mittelitalischen Architektur gewonnen haben: Die Beeinflussungen und Kristallisationspunkte innerhalb der spätrepublikanischen Architekturästhetik waren offensichtlich komplex und in jedem Fall deutlich vielschichtiger als die bisherige Annahme einer recht geradlinigen ‚Hellenisierung‘ mittelitalischer Bauformen. Für das 2. und 1. Jh. v. Chr. sind abschließend, ebenso wie die Langlebigkeit der Formen, nochmals die Vielgestalt und regionale Diversität der Tempelbauten zu betonen. Diese Phänomene finden bemerkenswerte Parallelen in der generationsübergreifenden Verwendung von diversen lokalen Gesteinen, Terrakotta und Holz. Für die spezifische Materialwirkung dieser Baustoffe herrschte offenbar ein hohes Bewusstsein, wie etwa der Befund des ‚Tempels B‘ im samnitischen Heiligtum von Pietrabbondante deutlich macht. Das äußere Erscheinungsbild dieses Gebäudes wurde im Zuge des Bundesgenossenkriegs einer radikalen ästhetischen Veränderung unterzogen: Man füllte die Kanneluren der korinthischen Säulen mit Stuck und überzog diesen danach flächig mit rotbrauner Farbe, die an Holz und Terrakotta erinnerte. Auf diese Weise wurde ganz au-

70 Zum Bau und seinem Dekor siehe ausführlich Krauss – Herbig 1939. 71 S. Leucio bei Canosa: Polito 1998, 112 f.; Dally 2000; Pietrabbondante, sogenannter Tempel B: Strazzulla 1973, 23–28. 35–40; Coarelli – La Regina 1984, 252; Strazzulla 2006, 30 f. 72 Zu mittelitalischen Kopfkapitellen mit besonderem Schwerpunkt auf Pompeji siehe von Mercklin 1962, 60–82. 73 Zum Folgenden siehe Maschek 2012, 210–243. 74 Ein analoges Phänomen ist in der Architekturmalerei des Zweiten Stils erkennbar: Auch hier kennzeichnete der dorische Fries ab dem 1. Jh. v. Chr. im Allgemeinen nobilitierte Architektur, aber keine Tempelbauten, vgl. etwa Tybout 1989, 33 f. Taf. 34, 2; Pfrommer 1992, Taf. 6, 3; 7, 1; Sauron 1994, 334–349 Abb. 4–6; Mazzoleni – Pappalardo 2005, 92 f. 126. 133–135. 143; Falzone 2007, 33–35 Abb. 4. 75 Tucci 2005; Coarelli 2010.

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Abb. 8 Rom, S. Nicola in Carcere, sog. Tempel C vom Forum Holitorium.

Abb. 9 Assisi, sog. Minervatempel.

genscheinlich versucht, der vergleichsweise progressiven korinthisch-dorischen Steinarchitektur einen altertümlichen, italischen Habitus zu verleihen. Aufgrund der baugeschichtlichen Einordnung dieser Maßnahme liegt es nahe, für die optische Transformation des Tempels nicht nur Fragen des architektonischen Geschmacks, sondern auch eine eminente politische Absicht verantwortlich zu machen76. Dass die Annahme von sich in linearem Voranschreiten gegenseitig ablösenden Baumaterialien zu einem verzerrten Bild führen kann, zeigt schließlich das in der Forschung weit verbreitete Konzept der ‚Marmorisierung‘ in spätrepublikanischer und besonders früh- bis mittelaugusteischer Zeit. Wie bereits Torsten Mattern zeigen konnte, war etwa

die Tempelarchitektur dieses Zeitraums in deutlich geringerem Maße von Marmorbauten geprägt, als es gemeinhin angenommen wurde77. Einerseits lässt sich sogar an den prominentesten Beispielen für die extensive Verwendung von Marmor in der augusteischen Architektur eine hochgradig rationalisierte Mischbauweise unter Verwendung mehrerer Steinsorten feststellen78. Andererseits wurden bis nach der Zeitenwende weiterhin Sakralbauten errichtet, die gänzlich ohne Marmor auskamen und bewusst altertümliche Vorbilder aufgriffen: So handelt es sich bei dem Tempel der Spes auf dem Forum Holitorium um einen Neubau aus augusteischer Zeit, den man unter Imitation der alten Bauformen in stuckiertem Travertin ausführte (Abb. 8)79.

76 Strazzulla 1973, 26; Schenk 1997, 56; Stek 2009, 29–33. 39–44. 77 Mattern 2000. Vgl. Strazzulla 2010, 86 f. 90 f. 78 So etwa am Saturntempel (Pensabene 1984, 20–23. 43. 122–123) und am Mars Ultor-Tempel (Ganzert 1996, 102–116. 136–138. 282 f.). 79 Crozzoli Aite 1981, 67–71 Abb. 84; 111.

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Auch der Magna Mater-Tempel auf dem Palatin wurde in spätaugusteischer Zeit in stuckiertem Peperin erneuert80. Außerhalb Roms ist der sogenannte Minervatempel von Assisi zu nennen, der in den 40er oder 30er Jahren des 1. Jhs. v. Chr. aus lokalem Kalkstein mit Stucküberzug über einem forumsseitigen Podium mit bronzenem Rankenfries errichtet wurde (Abb. 9)81. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, doch würde dies weit über den Rahmen und die Ziele des vorliegenden Beitrags hinausgehen. Stattdessen soll abschließend auf einen weiteren Aspekt hingewiesen werden, der gerade am ‚Minervatempel‘ von Assisi gut nachvollzogen werden kann und sich komplementär neben das Phänomen der Errichtung von Neubauten in scheinbar ‚altertümlichem‘ Material stellt: die bewusste Pflege und Renovierung überkommener Bauwerke innerhalb eines städtischen Gefüges oder einer Kulturlandschaft. So bezieht sich eine Inschrift auf der Substruktionsmauer der Tempelterrasse von Assisi auf nachträgliche Stuckierungsmaßnahmen und die Aufbringung von Malerei82. Marcello Gaggiotti brachte dieses epigraphische Zeugnis mit der Außendekoration der Cella des ‚Minervatempels‘ in Verbindung83. Unter der Nennung der für die Ausstattung des Neubaus verantwortlichen lokalen Magistraten wird ein C. Attius Clarus genannt, der aus seinen eigenen Mitteln auf Beschluss des städtischen Senats weitere Stukkatur- und Malerarbeiten durchführen ließ. Diese Maßnahmen können aufgrund der abweichenden Buchstabengröße, der untergeordneten, nicht symmetrischen Positionierung und der fehlenden Magistratur des Attius Clarus auf Renovierungsarbeiten am Tempelgebäude bezogen werden und dürften bereits in das 1. Jh. n. Chr., also zumindest zwei Generationen nach Errichtung des Tempels, zu datieren sein84. Dasselbe Phänomen einer sorgfältigen Pflege und Renovierung republikanischer Bausubstanz begegnet am Apollo-Tempel von Pompeji, dessen hellenistisches Gesamtensemble ursprünglich der Mitte des 2. Jhs. v. Chr. zuzuschreiben ist. Hier wurde vor allem im Bereich der Portiken wohl in augusteischer Zeit eine sekundäre Stuckierung vorgenommen (Abb. 10) Wandmalereien des Vierten Stils deuten auf weitere Renovierungen im dritten Viertel des 1. Jhs. n. Chr. hin, bei denen trotz des partiellen Hinzufügens moderner Elemente die originale Bausubstanz weitgehend intakt blieb85.

Abb. 10 Pompeji, Apollotempel, Architrav und Fries des 2. Jhs. v. Chr. mit Spuren sekundärer Stuckierung.

Als letztes Beispiel für diese bis in die Kaiserzeit hinein bewusst gepflegte Materialvielfalt mag schließlich der republikanische Tempel aus der Via di S. Gregorio in Rom dienen, dessen eindrucksvoller Terrakottagiebel aufgrund stratigraphischer Beobachtungen erst in neronischer Zeit deponiert wurde und folglich vom 2. Jh. v. Chr. bis in die Sechziger Jahre des 1. Jhs. n. Chr. am Gebäude sichtbar gewesen sein muss86. Trotz dieser eindeutigen Fundsituation fällt die Beurteilung derartiger Dekorensembles und ihres Materials nach wie vor zwiespältig aus, wie es etwa Henner von Hesbergs Formulierung deutlich macht: „Die prachtvollen hellenistischen Statuen wohl des 2. Jhs. v. Chr. besitzen nur einen Mangel: Sie sind aus Ton verfertigt, und einen Besucher aus dem griechischen Osten hätte zutiefst überrascht, daß neben den Marmortempeln zugleich derartige Gestaltungsweisen möglich waren.“87 Die Färbung dieser Passage zeigt eindeutig, dass der Autor sowohl sich selbst als auch den potenziellen Leser eher in der Rolle des „Besucher[s] aus dem griechischen Osten“ sehen möchte, dessen Vorstellung von ‚kanonischer‘ Architektur durch die eigenwillige Materialwirkung der mittelitalischen Bauten nachhaltig irritiert wird. Dies äußert sich auch direkt im Anschluss, wenn das Material Terrakotta für die Giebelfiguren nochmals explizit als „kurios“ und die Mischformen der Stein-, Holz- und Terrakottaarchitektur des 2. Jhs. v. Chr. in ihrer Wirkung als „besonders kraß“ bezeichnet werden. Eine solche Sicht- und Ausdrucksweise täuscht jedoch über die Tatsache hinweg, dass der scheinbar ‚kuriose‘ und ‚überraschende‘ Dekor bis weit in die Kaiserzeit hinein bewahrt wurde, woraus bei

80 Mattern 2000. 81 Heilmeyer 1970, 42 f. 56; Gaggiotti u. a. 1980, 160; von Hesberg 1980, 200 f.; Strazzulla 1983, 158 f.; Gros – Theodorescu 1985. 82 CIL XI 8201; Umzeichnung der Fassade bei Gros – Theodorescu 1985, Abb. 2. Zur Transkription und Lesung siehe Sensi 1983, 173 Nr. 4; Strazzulla 1985, 46. 96 Nr. 6 mit Lit.; Bispham 2007, 327. 493 f. Q67. 83 Gaggiotti u. a. 1980, 160. Vgl. Gros – Theodorescu 1985, 880 f. 84 Vgl. Strazzulla 1985, 46. 85 Stuckierung: Mau 1908, 79 f. Abb. 35; Carroll – Godden 2000, 746–748 Abb. 4–7 Wandmalereien: Carroll – Godden 2000, 752 mit Anm. 33. Die bei von Hesberg 2005, 38 geäußerte Datierung beider Ausstattungsmaßnahmen in die Zeit unmittelbar nach dem Erdbeben 62 n. Chr. ist in Hinblick auf die Malerei plausibel. Die antithetischen Greifen auf dem sekundären Stucküberzug des dorischen Frieses fügen sich jedoch, nicht zuletzt aufgrund der Motivik, des zugehörigen Rankendekors sowie der stratigraphischen Evidenz, besser in eine epigraphisch belegte Renovierungsphase augusteischer Zeit, siehe Carroll – Godden 2000, 745 f. 752; Barnabei 2007, 16. 86 Ferrea 2002; Ferrea 2006; La Rocca – Parisi Presicce 2010, 157 Abb. I.2; 247 f. Kat. Nr. I.2 mit Lit.; Strazzulla 2010, 87 f. 87 von Hesberg 2005, 47 mit Anm. 76.

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aller gebotenen Vorsicht doch wohl eine ästhetische Wertschätzung dieses charakteristischen Aussehens abgeleitet werden darf88. Gerade diese ständige Sichtbarkeit älterer Formen spielt zweifelsohne auch eine Schlüsselrolle in der Analyse von Dekormotiven: So kann etwa die Übernahme von ursprünglich in Terrakotta verbreiteten Formen des 2. und 1. Jhs. v. Chr. in die steinerne Ornamentik des Divus Iulius-Tempels oder des Augustusforums auf die aufmerksame Rezeption noch bestehender älterer Bauwerke durch die entwerfenden Architekten zurückgeführt werden89. Bauwerke wurden also offenbar bewusst in Hinblick auf ihre spezifische Materialität gepflegt und instandgehalten. Die Oberflächenwirkung von Gebäuden spielte eine klare Rolle in zeitgenössischen ästhetischen Diskursen und war mit bestimmten Konnotationen belegt (alt, neu, nachahmenswert etc.). Eine einfache, lineare Entwicklung, in der alte Bauformen jeweils durch neuere, aktuellere abgelöst wurden, kann anhand der Befunde nicht nachvollzogen werden. Stattdessen folgten die Dekorelemente und ihre Gestaltung immer einer in hohem Maße beabsichtigten Auswahl, die unter Gesichtspunkten der Angemessenheit und Akzeptanz getroffen wurde. In der Analyse von Bauornamentik muss folglich ein konsequenter Schritt hin zur Wahrnehmungs- und Bedeutungsanalyse vollzogen werden. Die Menge an publiziertem Material ist mittlerweile enorm und wächst zusehends, ebenso wie die Dichte an durch Publikationen in ihrem Ensemblecharakter erschlossenen Einzelbauten. Diese Situation verlangt nach Synthesen und Betrachtungskonzepten, die das gesamte Aussehen von Bauwerken zu einem bestimmten Zeitpunkt, aber auch diachron, durch verschiedene Zeiträume hinweg, verfolgen.

Die rezeptionsästhetischen Bedingungen für die Produktion von Architekturdekor schließen die Gleichzeitigkeit des scheinbar Unzeitgleichen – gleichgültig, ob damit verschiedene Ornamentformen oder Baumaterialien gemeint sind – nicht mehr aus, im Gegenteil: Sie zeigen, dass bewusste Rückgriffe auf alte Bausubstanz und deren Konnotationen sowie die Pflege von überkommenen Gebäuden ein wesentlicher Bestandteil in der Prägung von lokal und regional einzigartigen Architekturen waren. Ein Reisender, der sich in der ersten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. durch Mittel­ italien bewegte, konnte etwa signifikante Unterschiede im Erscheinungsbild der Kultbauten wahrnehmen (Farbtaf. 2): In Rom und seiner direkten Umgebung sowie in römischen Bürgerkolonien waren diese vorrangig in korinthischer Ordnung gehalten, in Latium und Samnium hingegen oft in Mischordnungen oder dorischer Ordnung. Durch Bauornamentik wurde somit eine sehr konkrete und spezifische Wahrnehmung von Architektur in größeren, gegen einander abgrenzbaren und doch zeitlich parallel existierenden Landschaften ermöglicht. Es muss demnach in Zukunft klarer zwischen chronologischen, chorologischen und semantischen Aspekten des Dekors unterschieden werden. Gerade die Veränderung von Kultkontinuitäten und Votivweihungen in den mittelitalischen Regionen während des 2. und 1. Jhs. v. Chr. vermittelt einen lebendigen Eindruck davon, welchen Bedeutungsschwankungen die einzelnen Heiligtümer im Laufe ihres Bestehens unterworfen gewesen sein können90. Derartige komparatistische Studien tragen maßgeblich dazu bei, historische Faktoren wie Kontinuität und Veränderung auch für architektonische Anlagen in ein besseres Verhältnis zu setzen.

Abbildungsnachweis Abb. 1 nach Fasolo – Gullini 1953, Taf. 21, 5.

Abb. 4–10 und Farbabb. 10−11 Verf.

Abb. 2–3 nach Lipps 2011, Abb. 1. 2.

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88 Dazu vgl. grundlegend Plin. Nat. Hist. 35, 158 sowie Strazzulla 2010. 89 Divus Iulius-Tempel, Fries mit Rankenfrauen: Montagna Pasquinucci 1971–73, 265–280 Nr. I–XII Taf. 7 b; 8. 9 a. c; Vgl. Strazzulla 2006, 31 Abb. 3.8; Portiken des Augustusforums: Kraus 1953, 49–51. 55–57; Spannagel 1999, 12 f. Vgl. Strazzulla 2006, 28–31 Abb. 3.7; 3.9. 90 Vgl. hierzu etwa die quantitativen Analysen von Benjamin Rous zur Transformation der latinischen Kulttopographie: Rous 2009.

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Farbabbildungen

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Farbabb. 10 Praeneste, Fortunaheiligtum, differenzierter Einsatz der Ordnungen – blau: dorisch; rot: ionisch; grün: italisch-korinthisch; gelb: korinthisch (Normalkapitelle).

Farbabb. 11  Sakralbauten in Mittelitalien, Errichtungszeit 150–75 v. Chr.



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