Körper-Gedächtnis, Körper-Archiv: Der Körper als Dokument in künstlerischen Rekon- struktionspraktiken

May 30, 2017 | Author: Dorota Sajewska | Category: Performing Arts, Performance Studies
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Dorota Sajewska Körper-Gedächtnis, Körper-Archiv: Der Körper als Dokument in künstlerischen Rekonstruktionspraktiken

Der Körper im postmemorialen Diskurs Im geschichtswissenschaftlichen Paradigma unserer Zeit, das – maßgeblich geprägt durch die traumatischen Erfahrungen der Shoah und des Zweiten Weltkriegs – im Westen seit den 1980er-Jahren durch intensive Forschungen zum Gedächtnis und zum Archiv bestimmt wird,1 nimmt der Körper lediglich eine Randstellung ein. Sein Dokumentcharakter wird selten angesprochen, obwohl in den NS-Kriegsverbrecherprozessen gerade der Körper des stummen Zeugen ein zentrales Beweismittel war2 und die Oralität der von Shoah-Überlebenden abgelegten Zeugnisse eine radikale Revision des normativen Begriffs der ›historischen Quelle‹ bewirkte. Auch der Zäsur des Jahres 1989 folgte kein Wandel in der Wahrnehmung des Körpers als Dokument, wenngleich die Infragestellung dieser Kategorie und seiner abendländischen Verwendung3 seinerzeit das per1 Bahnbrechend für die Forschungen zur kollektiven Erinnerung waren Mitte der 1980er-Jahre: Pierre Nora: Les Lieux de mémoire. T. I., La République, Paris 1984; Yosef H. Yerushalmi: Zakhor. Jewish History and Jewish Memory, Seattle 1982; Primo Levi: I sommersi e i salvati, Turin 1986; Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987. 2 Siehe Michael Bachmann: Der abwesende Zeuge. Autorisierungsstrategien in Darstellung der Shoah, Tübingen 2010, S. 112–115. 3 Siehe dazu ausführlich u. a. Enzo Traverso: Geschichte als Schlachtfeld. Zur Interpretation der Gewalt im 20. Jahrhundert, übers. v. Paul B. Kleiser u. Ulla Varchmin, Köln 2014, insbesondere die einleitenden Erörterungen zur Geschichtsschreibung um die Jahrhundertwende.

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formative Hervortreten von bis dahin verborgenen, unterdrückten oder zensierten Identitäten ermöglichte. Dies zeigt sich insbesondere im Diskurs über das Nachgedächtnis (postmemory), dessen Hauptmedien textuelle und visuelle Dokumente sind, über die sich Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit herstellen lassen. Für den Körper als Medium des Nachgedächtnisses in der Zeit nahezu ohne Zeugen interessiert man sich indes nur am Rande. Die vorherrschende Perspektive gründet auf der Überzeugung, die Erfahrung der Shoah werde in hohem Maße durch nachgeborene Generationen vermittelt, deren Vorstellungen, Projektionen und Verhaltensweisen durch ein kollektives Archiv von Bildern und Erzählungen strukturiert seien.4 Der Körper, assoziiert mit der Vergänglichkeit des Daseins und der Materialität des Leidens derer, die schon verstorben sind oder bald sterben werden, fungiert in den Forschungen zum »abwesenden«, »verspäteten«, »vererbten« oder »künstlichen« Gedächtnis nur als schwache Erkenntniskategorie.5 Mehr noch, der schwache ontologische Status des leiblichen Subjekts bildet für das erinnernde ›Ich‹ einen fundamentalen Kontrapunkt in der Erzählung von der Shoah – zweifellos spielt hier Agambens Konzept des Muselmanns als extrem degradierter, fast aller anthropomorphen Züge beraubter Körperrest eine wichtige Rolle.6 Man kann daher den Körper – begriffen als in konkrete historische und politische Realia verstricktes und zugleich autonomes und souveränes, zu immer neuen Selbstverortungen in der Welt fähiges Wesen – als »gegengeschichtliche Kategorie« betrachten.7

4 Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory, Cambridge, Mass. 1997. 5 Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture after the Holocaust, New York 2012, S. 3. 6 Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, übers. v. Stefan Monhardt, Frankfurt/M. 2003. 7 Aleksandra Ubertowska: Holokaust. Auto(tanato)grafie [Holocaust. Auto(tatanato)graphien], Warszawa 2014, S. 35.

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Eine Konsequenz dieser Sichtweise, die das Verhältnis zwischen Körper und Ereignis, wie es für die Reflexion der Shoah zentral ist, nicht problematisiert, ist die – im Vergleich zu Geschichtsschreibung, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte oder Bildanthropologie – verschwindend geringe Rolle theatraler (oder im weiteren Sinne performativer) Untersuchungen in der hochgradig interdisziplinären Forschung zum Holocaust. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet in Polen Grzegorz Niziołeks Studie Polski teatr Zagłady (Das polnische Theater der Vernichtung, 2013). Niziołek beschreibt die Marginalisierung des Theaters sowie die Ausblendung der Spezifik szenischer Formen der Erinnerung als Resultat einer »kolonisierenden Unterjochung« des Theaters durch die Reduktion seiner Rolle zum »Lieferanten handlicher Metaphern«.8 Als Antwort auf den basalen#grundlegenden# Mangel an Instrumenten zur Erforschung der dokumentarischen Dimension des Theaters eignet sich Niziołek, der immer dicht an Materie und Praxis des Theaters bleibt, »fremde« Methoden an und entwickelt anhand von Forschungsansätzen aus der Psychoanalyse, Literaturwissenschaft und den Visual Studies eine eigene Konzeption des Theaters als Medium der Erinnerung.9 Im Ergebnis steht eine Pionierarbeit zum Theater als kulturelles Instrument der Eingrenzung des Blickfelds und als spezifische Gedächtnismaschine. Das Theater erscheint hier weniger als Ort der Repräsentation verdrängter Ereignisse denn als Ort der Wiederholung des Aktes der Verdrängung.

8 Grzegorz Niziołek, Polski Teatr Zagłady [Das polnische Theater der Vernichtung], Warszawa 2013, S. 93. Niziołek verweist darauf, dass Theatralitätsmetaphern im Zentrum fast aller wesentlichen Diskurse über die Shoah anzutreffen sind. 9 Niziołek beruft sich im Wesentlichen auf zwei Arbeiten zum Thema Theater und Shoah: Claude Schumacher (Hg.): Staging the Holocaust. The Shoah in Drama and Performance, Cambridge, Mass., New York 1998; Vivian M. Petrarka: Spectacular Suffering. Theatre, Fascism, and the Holocaust, Bloomington 1999.

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In seinem moralisch-philosophischen Traktat über ein ›schlechtes‹ Sehen der Shoah, über die Kadrierung und Reglementierung des Sichtfeldes durch die polnische Gesellschaft, untersucht Niziołek das polnische Nachkriegstheater einerseits im Hinblick auf seine gemeinschaftsbildende Wirkung, andererseits als vielfach vermittelte Kunstform mit immanentem Hang zu Verzerrung, Verschiebung und Kondensation. In Analysen konkreter Aufführungen (von Leon Schiller, Aleksander Bardini und Jan Świderski über Erwin Axer, Jerzy Grotowski, Tadeusz Kantor, Kazimierz Dejmek, Konrad Swinarski und Andrzej Wajda bis hin zu Jerzy Grzegorzewski, Krystian Lupa, Krzysztof Warlikowski und Ondrej Spišak) untersucht Niziołek sowohl die Techniken der bewussten, ideologisch motivierten Manipulation von Geschichte als auch die Mechanismen der unbewussten sukzessiven Verdrängung der Position von Augenzeugen der Shoah ebenso wie die Strategien zur Chiffrierung des Aktes der Zeugenschaft. Die Fokussierung auf die Kategorie des Sehens führt Niziołek zur Charakterisierung der polnischen Gesellschaft wie auch des polnischen Theaters als Theater der Gaffer oder bystanders, also unbeteiligter und passiver Beobachter fremden Leids. Es ist also die Gemeinschaft, die den Bühnenwerken beiwohnt, die hier zum kollektiven Subjekt und Körper eines Theaters wird, in dem Verdrängungsmechanismen ablaufen und in dem vor allem die sich wiederholenden Störungen interessant sind, weil gerade diese das Symptomatische als das Paradigmatische erkennen lassen. Aus dieser Perspektive betont Niziołek zwar die Körperlichkeit als wichtiges Forschungsfeld, doch er begreift sie vor allem als Ko-Präsenz, das heißt als zwischen Bühne und Zuschauerraum wirkende Energie und als Effekt der Relation von Visualität und Affektivität. In dieser Sicht ist der Körper des Schauspielers/ Performers zu partikulär, als dass er zum Gegenstand einer eingehenden Reflexion und Analyse werden könnte. In meinem Text befrage ich diesen nicht nur in der Literatur zur Geschichte des (polnischen) Theaters, sondern auch

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in den zeitgenössischen performativen Künsten wenig beachteten Aspekt etwas näher: die Rolle des Körpers des Schauspielers/Performers als Dokument und Geschichtsmedium in künstlerischen Praktiken, die auf die Vermittlung der Erfahrung der zweiten und dritten Generation nach der Shoah zielen. Dabei interessieren mich folgende Fragen: Besteht die Körpersprache nur aus »nonverbalen und nonkognitiven Akten des Transfers«,10 die – so Marianne Hirsch – innerhalb der Familie weitergegeben werden und oft symptomatische Form annehmen? Oder lässt sich – jenseits der Biologie, aber auch jenseits einer Metaphysik der Präsenz – auch ein kultureller Körper denken, der die Erinnerung an die Shoah erbt? Wird der Körper im postmemory-Diskurs vielleicht deshalb marginalisiert, weil der gerettete Körper, der die Integrität und Glaubwürdigkeit des Zeugen verbürgt, angesichts seines biologischen Verfalls (seines Todes) dem Vergessen anheimfällt? Oder verweist die periphere bzw. metaphorische Stellung des Körpers in der Shoah-Forschung auf einen grundsätzlichen kulturellen Vorbehalt gegen den Körper als Ort der Dokumentation, Erinnerung und Geschichtsvermittlung?

Körper, Gedächtnis, Archiv In beziehe mich weniger auf Marianne Hirschs gleichwohl methodologisch produktive, # in den Arbeiten Family Frames (1997) und The Generation of Postmemory (2012)11 entwickelte #gleichwohl methodologisch produktive Begrifflichkeit als auf die im Zuge des archival turn in den Performance Studies entstandenen Theorien, die zwar nicht die Erinnerung an die Shoah thematisieren, aber die Problematik des Körpers als Dokument 10 Marianne Hirsch: »The Generation of Postmemory«, in: Poetics Today 29:1 (2008), S. 112. 11 Siehe Anm. 4 u. 5.

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ins Zentrum rücken. Wegweisend für die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Körper/Körperlichkeit und Erinnerung/Erinnern bzw. Archiv/Archivieren waren Arbeiten von Performance-Theoretikern wie Peggy Phelan, José Esteban Muñoz, Rebecca Schneider oder Diana Taylor.12 Ausgehend von unterschiedlichen Fragestellungen – der Untersuchung des mortifizierenden Einflusses von Bildern auf das Handeln (Phelan), der nichtnormativen Präsenz und Repräsentation des Körpers (Muñoz), des Transfers von Erfahrungen von Körper zu Körper in Rekonstruktionspraktiken (Schneider), der Beziehungen zwischen Verhaltensrepertoire und Archiv (Taylor) – gelangen sie alle zu ähnlichen Ergebnissen. Sie betonen die für die westliche Kultur charakteristische Marginalisierung körperlicher Praktiken, die daraus resultiere, dass Körper und Ereignis als etwas Ephemeres gelten, das sich jeglicher Aufzeichnung, Konservierung und Bewahrung entzieht. Auf diese Weise werde der Körper – der angeblich keine dauerhaften Spuren zurücklässt – aus dem Archiv und damit vom Einfluss auf Geschichtsnarration und Identitätspolitik ausgeschlossen. Insbesondere Rebecca Schneider leistet in Performing Remains13 eine gründliche Analyse des Ortes von Körper und Ereignis (darunter auch Performance und Aufführung) in der westlichen Archivkultur. Sie zeigt, wie die auf das Sammeln (sowie Ordnen und Klassifizieren) ausgerichtete Logik des Archivs, um performativ effektiv sein zu können, den agie12 Peggy Phelan: Unmarked: The Politics of Performance, New York 1993; José Esteban Muñoz: »Ephemera as Evidence: Introductory Notes to Queer Acts«, in: Women and Performance. Journal of Feminist Theory 8:2 (1996), S. 5–16; Rebecca Schneider: Performing Remains: Art and War in Times of Theatrical Reenactment, New York 2011; Diana Taylor: The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas, Durham, London 2003. 13 Schneider: Performing Remains: Art and War in Times of Theatrical Reenactment, a.a.O. Siehe vor allem das Kapitel In the meantime: Performance remains, eine grundlegend revidierte Fassung des Textes »Archives. Performance Remains« (in: Performance Research 6 (2001), S. 100–108).

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renden Körper in der Sphäre des Abwesenden verorten musste – als immer vom Tode bedrohter Fremdkörper, der sich der Logik des Archivs entzieht. Schneider dekonstruiert den Mythos vom ephemeren Wesen des Körpers und des Ereignisses im Geiste Derridas, indem sie dessen Kritik an Austins performativen Sprechakten (Signature, événement, contexte, 197214) und am Archiv als Ort der Reproduktion und Repräsentation der patrilinearen Ordnung (Archive Fever, 199515) zusammenführt. Allerdings richtet sie den Fokus nicht wie Derrida auf die Sprache und deren konnotative Kontextrelikte, sondern auf das multipler Mediatisierung unterworfene Körper-Ereignis als spezifisches Geschichtsarchiv. Das bedeutet eine radikale Umkehr der Forschungsperspektive, die nicht nur die Untersuchung körperlicher Praktiken als Formen der Aufzeichnung, Bewahrung und Aktualisierung von Geschichte ermöglicht, sondern auch die Reflexion über kulturelle Phänomene, in denen Kultur als Raum der Vermittlung aktiven Handelns von Körper zu Körper, als Feld leibhaftiger und verkörperter Geschichte erkennbar wird. Schneider entwickelt eine kritische Position zur für das westliche Archiv charakteristischen Zentrierung auf Blick und Wort. Sie verweist auf die Möglichkeit der Übertragung der Vergangenheit in die Gegenwart durch das Medium des Körpers. Ihr Hauptaugenmerk gilt Rekonstruktionspraktiken, in denen die Kritik der für das Archivdenken konstitutiven Idee oder vielmehr Illusion, dass nur schriftliche oder visuelle Relikte einen Zugang zur Geschichte ermöglichen, besonders deutlich wird. Für Schneider sind es insbesondere die als naiv und in der logozentrischen Logik des Archivs als »ludicrous copy of something only vaguely imagined«16 geltenden, von ihr freilich 14 Jacques Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1998, S. 291–314. 15 Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997. 16 Schneider: Performing Remains, a.a.O., S. 101.

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als körperliche Art des Umgangs mit Geschichte angesehenen Nachstellungen historischer Ereignisse (Reenactments), welche die überkommende#überkommene# Differenzierung zwischen der Dokumentation eines Ereignisses und seines ephemeren Charakters in Frage stellen. Ein Reenactment ist schließlich ein wiederholtes Ereignis, das »Reste« hinterlässt. Sie setzen sich im Körper fest, der eingeflochten ist »in a network of body-to-body transmission of affect and enactment«.17 Von diesem Standpunkt aus werden die Körper der Teilnehmer eines Reenactments zu einer Art Ruine oder vielmehr – in der performativen Wiederholung – zu lebendigen Geschichtsrelikten. Schneider begreift die körperliche Übertragung als eine Art Gegen-Gedächtnis (counter memory)18 und betrachtet nicht nur das Ereignis als eine Form der Dokumentation, sondern möchte auch die Geste des Archivierens selbst als Ereignis verstanden wissen, das der Ordnung des Ephemeren unterliegt. Jede Art des Dokumentierens, auch der scheinbar dauerhaften wie in Texten, Fotografien oder Filmen, könne sich vom Kontext der ›Quelle‹ und den restriktiven Prinzipien des »archontic house arrest«19 lösen und eine autonome Kraft erlangen, welche die semantische Differenz zum Original komplett zu verwischen imstande sei. Ich möchte im Folgenden Rebecca Schneiders Theorieansatz – den ich als Reaktion auf das in den 1990er-Jahren entstandene erinnerungskulturelle Paradigma in der Geschichtswissenschaft begreife – rekontextualisieren, indem ich die Erkenntnisse zum Dokumentarischen in Theater und Performance auf das Terrain der wesentlich mit Fragen der Erinnerung und des Archivs befassten Holocaust-Forschung übertrage. Besonders interessieren mich dabei künstlerische Praktiken, die auf dem Nachstellen, der performativen Wieder17 Ebd., S. 100. 18 Ebd., S. 105. 19 Im Original: »archontic house arrest«, ebd.

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holung oder der mehrfach mediatisierten Verkörperung von Geschichte (und Geschichtsbildern) gründen. Sie bilden aufgrund ihres metamedialen Charakters eine spezielle Variante erkenntnistheoretischen Handelns, die neben den Strategien und Praktiken des Erinnerns an die Shoah auch den Status von Quellen, Zeugnissen und Dokumenten reflektiert. Bewusst mit der kulturellen Opposition von Körper und Dokumentation operierende künstlerische Rekonstruktionspraktiken implizieren den Glauben an die Möglichkeit eines lebendigen Zugangs zur Vergangenheit über den Körper. Indem sie aber den Akt der Rekonstruktion auf vorhandene (zugängliche) Dokumentationen gründen, stellen sie zugleich die Singularität und Unwiederholbarkeit des Ereignisses in Frage. Zumal Letzteres ist ein fundamentaler und kontroverser Aspekt, weil damit die für die westliche Kultur zentrale Überzeugung von der nicht reduzierbaren geschichtlichen Singularität und Unwiederholbarkeit der Shoah erschüttert wird.20 Die Analyse künstlerischer Praktiken, die mittels des Körpers die Shoah-Erfahrung rekonstruieren, impliziert überdies die Frage nach dem Ort der »originalen«, »authentischen« Version des Ereignisses: Sind es die nach dem Ereignis entstandenen visuellen Dokumente? Oder die Berichte der Zeugen? Oder ist es – unmittelbar präsent oder im Rahmen medialer Vermittlung – der Körper des Schauspielers/ Performers mit seiner Fähigkeit zur wiederholten Aktualisierung des vergangenen Ereignisses? In meiner Reflexion über den Körper als eine spezifische Form der Dokumentation und zugleich Instrument der Geschichtsschreibung im Kontext der Transmission der Shoah-Erfahrung greife ich auf Jerzy Grotowskis Anthropologie 20 Zur Relation zwischen dem gedächtniszentrierten Paradigma und dem Status des Holocaust als irreduziblem Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts sowie der potentiellen Vergleichbarkeit von Völkermorden siehe Traverso: Geschichte als Schlachtfeld, a.a.O., insbesondere das Kapitel: »Shoah, Genozide und Totalitarismus«, S. 135– 161.

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zurück, die einzige genuin polnische Theorie auf dem Feld der performativen Künste, die das Verhältnis zwischen Körper, Performer und Erinnerung in den Mittelpunkt stellt. In ihren Grundzügen, so Grzegorz Niziołek in seinem Essay über Grotowskis Akropolis,21 ist dessen Konzeption beeinflusst durch die nicht vollständig artikulierte, im kollektiven Unbewussten seinerzeit aber allgegenwärtige Erfahrung der Shoah. Für besonders aufschlussreich halte ich Grotowskis 1969 entstandenen und erst zehn Jahre später erstmals veröffentlichen Text ćwiczenia (Übungen).22 Dieser Text nimmt eine Grenzstellung ein: Er ist Resümee von Grotowskis Arbeit an der Schauspieltechnik und Abschluss der Phase theatraler Aufführungen, gleichzeitig eröffnet er die Phase der konzeptionellen Arbeit und der anthropologischen und philosophischen Forschungen. Aus der szenischen Praxis und #den konkreten Anweisungen für das tägliche Training zur Verbesserung der körperlichen Fähigkeiten des Schauspielers leitet Grotowski wichtige theoretische Verallgemeinerungen ab: die Idee der Quelle, des Aktes, der Erfüllung und der Ganzheit. In dieser doppelten Perspektive – schauspielerische Praxis und Erkenntnistheorie – wird in Übungen das Konzept des Körper-Gedächtnisses formuliert. »Körper-Gedächtnis. Man denkt, das Gedächtnis existiere unabhängig vom kompletten Rest. […] Nein, der Körper hat nicht nur ein Gedächtnis. Er ist das Gedächtnis. Die Aufgabe besteht darin, das Körper-Gedächtnis zu entsperren. […] Oder das Körper-Leben? Denn es ist mehr als das Gedächtnis. Das Körper-Leben oder Körper-Gedächtnis diktiert, was wir zu tun haben im Zusammenhang mit den Erfahrungen und Zyklen unseres Lebens. Oder vielleicht den Möglichkeiten?«23 21 Grzegorz Niziołek: »Teatr poza zasadą przyjemności« [Theater jenseits des Lustprinzips], in: ders.: Polski teatr Zagłady, S. 281–308. 22 Jerzy Grotowski: »Ćwiczenia« [Übungen], in: Dialog 12 (1979), S. 127–137. 23 Jerzy Grotowski, »Ćwiczenia«, in: ders.: Teksty zebrane, hg. v. Agata Adamiecka-Sitek u.a., Warszawa 2013, S. 379–395, hier S. 388.

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Diese Formulierungen lassen an Rebecca Schneiders Gedanken zur körperlichen Dimension der Erinnerung denken, doch trotz mancher Parallelen steht bei Grotowski letztlich die anthropologisch motivierte Privilegierung der nicht dokumentarisch vermittelten Erfahrung und damit einhergehend die Ausblendung der Kategorie des Archivs. Das lässt sich zum einen begreifen als radikale (und teils auch politisch zu verstehende) Ablehnung jeglicher Dokumentation der unmittelbaren Präsenz des Schauspielers/Performers. Zum anderen manifestiert sich hier implizit die Überzeugung vom emanzipatorischen Wesen des Gedächtnisses gegenüber der repressiven Institution des Archivs. In diesem Kontext sei an Michel Foucaults ebenfalls 1969 entwickeltes und für die postmoderne Kritik (darunter auch Derrida und Schneider) fundamentales Konzept des Archivs erinnert. In der Archäologie des Wissens definiert Foucault das Archiv nicht nur als »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht«, sondern auch als »das, was an der Wurzel der Aussage selbst als Ereignis und in dem Körper, in dem sie sich gibt, von Anfang an das System ihrer Aussagbarkeit definiert« und, indem es »den Aktualitätsmodus der Aussage als Sache« bestimmt, zum »System ihres Funktionierens« wird.24 Das Archiv zeigt demnach die Gesetzmäßigkeiten der Praktiken, die das Fortbestehen und die Transformation von Aussagen regeln. In seinem Entwurf einer alternativen Methodologie der Geschichtsschreibung hinterfragt Foucault zugleich den Begriff des Dokuments als passives Objekt, auf dessen Grundlage die historische Wahrheit rekonstruiert wird. Dem auszudeutenden Dokument der Geschichte stellt er das »Monument«25 entgegen – ein Sinnesfundament, ein lebendiges Gewebe, mit dem man verfahren müsse wie 24 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/M. 1981, S. 187f. 25 Ebd. S. 198.

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ein Archäologe mit seinen Quellen. Das Monument sei nicht »Zeichen für etwas anderes, als Element, das transparent sein müsste, aber dessen Undurchsichtigkeit man oft durchqueren muss, um schließlich dort, wo sie zurückgehalten wird, die Tiefe des Wesentlichen zu erreichen«.26 Man müsse seine Diskontinuität akzeptieren und die Beziehungen im Inneren des Dokumentes selbst erforschen, um auf diese Weise »formale Identitäten« und »Begriffsübertragungen«27 aufzuspüren. Den Horizont archäologischer Forschung markiert für Foucault die »Verzahnung von Interpositivitäten, deren Begrenzungen nicht auf einmal festgelegt werden können«; der archäologische Vergleich habe »keine vereinheitlichende, sondern eine vervielfachende Wirkung«.28 In Foucaults Sicht bedeutet Geschichte demnach das Formen und Beleben der dokumentarischen Materie, welches selbst immer eine diskontinuierliche Form des Fortbestehens darstellt, den Körper als das lebendigste Gewebe eingeschlossen. Jerzy Grotowski, der sein Konzept des Körper-Gedächtnisses zeitgleich mit Foucault formuliert, sucht offenbar ähnlich wie dieser die lebendige Geschichte in alternativen Formen der Vergegenwärtigung des Vergangenen im Jetzt. Radikal anders als Foucault begreift Grotowski aber das lebendige Gewebe als Medium der Erinnerung, denn er sieht den Körper immer als Zeichen für etwas anderes, das auf die der unmittelbaren Erkenntnis unzugänglichen geistigen, transzendentalen und metaphysischen Dimensionen verweist, welche der Materialität des Körpers erst einen Sinn verleihen. Obwohl Grotowski in der anthropologischen Suche nach Möglichkeiten zur Vervollkommnung und Öffnung des Körpers auf außereuropäische Konzeptionen (orientalisches Theater und Hatha Yoga) zurückgreift, so ist doch die Verbindung von Gedächtnis und 26 Ebd. 27 Ebd., S. 184. 28 Ebd., S. 228.

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Körper unschwer als Reaktion auf die in der Epoche des Zerfalls und auf den Ruinen der westlichen Philosophie entstandenen Subjektivitätskonzepte zu erkennen. Gleichwohl frappiert die Tatsache, dass die historische Dimension dieser Erfahrung verschwiegen wird, wodurch in Grotowskis Denken sowohl Körper als auch Gedächtnis auf eigentümliche Weise abstrakt und universell werden. Die Öffnung des Körper-Gedächtnisses bedeutet auch keineswegs die Akzeptanz des fragmentarischen Charakters der Erfahrung, der Unvollkommenheit des Körpers oder der ihm innewohnenden Desintegration, sondern wird – ganz im Gegenteil – dem Streben nach absoluter Leistungsfähigkeit untergeordnet. So deutet sich hier schon die vertikale und patrilineare Konzeption des Körper-Gedächtnisses an, die in späten Texten und Manifesten wie Tu et#es le fils de quelqu’un (1986) bzw. Performer (1988) ihren vollen Ausdruck findet.29 Dort sollte die Erforschung des Körper-Gedächtnisses zum Mysterium des Anfangs führen, zum ersten Erscheinen des Menschen oder vielmehr »Menschensohns«, zur Quelle, d.h. zu »einer Zeit, einem Land, einem Ort, einer Landschaft« und »dem, der als erster ein Lied sang«.30 In meinen Überlegungen zum Körper als postmemoriales Medium möchte ich ein Konzept des Körper-Archivs vorschlagen, das im Gegensatz zur Idee des Körper-Gedächtnisses seinen dokumentalen und dokumentarischen Charakter hervorhebt. Es unterstreicht sowohl das Fragmentarische der Erinnerung als auch die Diskontinuität der Geschichte; es legt das Fehlen der ursprünglichen Erfahrung offen und zeigt, auf welche Weisen »der Ursprung« performativ konstituiert und medi-

29 Jerzy Grotowski: »Tu et#es le fils de quelqu’un«, »Performer«, in: ders.: Teksty zebrane, a.a.O., S. 799–811, 812–816. Zum Aspekt der Universalisierung der männlichen Erfahrung im Konzept des »Performers« bei Grotowski siehe Agata Adamiecka-Sitek, Weronika Szczawińska: »Płeć performera« [Das Geschlecht des Performers], in: Didaskalia 100 (2010), S. 56–62. 30 Grotowski: »Tu et#es le fils de quelqu’un«, a.a.O., S. 810.

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atisiert wird; und schließlich gibt es dem Körper (oder dessen dokumentalem Rest) seine historische und politische Dimension zurück. Der Begriff Körper-Archiv illustriert darüber hinaus schon durch seine sprachliche Gestalt die Unbestimmbarkeit der Grenze zwischen belebter und unbelebter Materie und problematisiert so die grundlegende Unterscheidung zwischen Handeln und seiner Dokumentation, zwischen Performativität und Visualität, zwischen Geschichte und Gedächtnis. Das Konzept des Körper-Archivs erlaubt auch die Betrachtung der Kunst als »theoretisches Objekt«,31 in dem nicht nur die Geschichte immer mit der Theorie verflochten ist, sondern auch das Partikuläre zum Paradigmatischen wird, während die Ideen ihre Begründung in der konkreten Materie und der Praxis finden. Aus dieser Perspektive ist die Kunst, wie Andrzej Leśniak schreibt, »ein Ort des Denkens, ein Phänomen, in dem sich der Gedanke auf eine Weise aktualisiert, die sich auf keine andere zurückführen lässt«, und daher »darf sie nicht nur durch Theorie, sondern muss auch als Theorie erfasst werden«.32 Auch die Kriterien für die Auswahl eines solchen Objekts bedürfen keiner Begründung – sie sind nämlich »im Objekt selbst enthalten. Sein theoretischer Wert offenbart sich in der Interpretation.«33 Man könnte also sagen, dass weniger das künstlerische Objekt eine Theorie in sich birgt, sondern vielmehr diese Theorie – die, mit Grotowskis Worten, »entsperrt« werden muss – das eigentliche Untersuchungsobjekt ist. Ausgehend von der Prämisse, dass sich die Idee des Körper-Archivs mittels der Analyse konkreter, auf die körperliche Rekonstruktion von

31 Andrzej Leśniak verwendet diesen Begriff – der durch Theoretiker der visuellen Kultur wie Luis Marin, Hubert Damisch oder auch Mieke Bal inspiriert wurde – in seinen Studien zum Bild als geschichts- und theoriebildendes Phänomen. Siehe Andrzej Leśniak: Ikonofilia. Francuska semiologia pikturalna i obrazy [Ikonophilie. Die französische pikturale Semiologie und die Bilder], Warszawa 2013. 32 Ebd., S. 161. 33 Ebd., S. 205.

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multipel remedialisierten Bild- und Textdokumenten gestützter performativer Praktiken herausarbeiten lässt, möchte ich im Folgenden einige Arbeiten betrachten, in denen zeitgenössische Künstler die Problematik der körperlichen Repräsentation der Holocaust-Erfahrung aufgreifen.

Künstlerische Rekonstruktionspraktiken als theoretische Objekte Besonders deutlich wird die bislang theoretisch und geschichtlich umrissene Differenzierung zwischen Körper-Gedächtnis und Körper-Archiv in Bożena Keffs (geb. 1948) Utwór o Matce i Ojczyźnie (2008, dt. Ein Stück über Mutter und Vaterland, 2010), das in gewisser Weise eine Antwort des ›jüdischen Matriarchats‹ auf Jerzy Grotowskis anthropologischen Ansatz darstellt. Die bisher zweimal – 2010 in Stettin (Teatr Współczesny, Regie: Marcin Libera) und 2011 in Breslau (Teatr Polski, Regie: Jan Klata) – aufgeführte Theaterpartitur basiert auf den durch die Tochter rekonstruierten Erinnerungen ihrer Mutter, der einzigen Shoah-Überlebenden ihrer Familie, die über die Erinnerung und die »kalte Asche aus den Archiven des Jüdischen Historischen Instituts«34 wacht. Neben der institutionalisierten Form des Archivs, das einst der – durch die häufig benutzte Bezeichnung »Mater« symbolisch überhöhten – Mutter den unumstößlichen Beweis der Erschießung ihrer eigenen Mutter in einem Wald unweit von Lemberg lieferte (»Ich habe – spricht sie und schaut / direkt ins Nichts [das bin ich, vor ihr, auf einem Stuhl] – ein Dokument gefunden«35), existiert in diesem außergewöhnlichen Text ein privates Archiv – die Wohnung der Mutter, gelegen in Muranów, einem auf den sterblichen Überresten 34 Bożena Keff: Ein Stück über Mutter und Vaterland, übers. v. Michael Zgodzay, Leipzig 2010, S. 15. 35 Ebd.

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der Bewohner des Warschauer Ghettos errichteten Stadtteil von Warschau. Und gerade die Wände dieses Privatarchivs erweisen sich als ideale Kulisse für die tragisch-groteske Klage der Mutter über die Shoah, die in Keffs Text zu einer Musik-Performance wird, in der sich die ambivalente, emanzipatorisch-repressive Dimension der aktiven Vermittlung von Geschichte (und zugleich Erfahrung) von Körper zu Körper offenbart. Dem endlosen Klagelied der Mutter, die ihren endgültigen Verlust beweint und zugleich aufschiebt, wird der Protest der Tochter gegen den oppressiven Diskurs der Vererbung eines fremden Traumas gegenübergestellt. Die Klage der Mutter lässt an Gershom Scholems Abhandlung Über Klage und Klagelied denken, in der die Klage als sprachliche Paraphrase des Falls, der Vertreibung und der Entfernung von Gott und zugleich als Verheißung der Offenbarung gedeutet wird.36 Demgegenüber erinnert das Lamento der Tochter eher an Walter Benjamin,37 für den die Klage des Verbannten, von der ursprünglichen Fülle Vertriebenen die vertikale Ordnung aufbricht und zur Anklage wird, in der sich nichts als die Trennung selbst artikuliert. Diese Verknüpfung und zugleich Gegenüberstellung des Religiösen (Klage) und des Weltlichen (Anklage) ist insbesondere deswegen bemerkenswert, weil sie – so Sigrid Weigel – die Grundlage für die Unterscheidung von Zeugnis (als Dokument) und Zeugenschaft (als Akt des Bezeugens) bildet.38

36 Mehr dazu bei Adam Lipszyc: »Skarga referencji, referencja skargi. Gershoma Scholema teologia lamentacji« [Klage der Referenz, Referenz der Klage. Gershom Scholems Theologie des Klagelieds], in: ­Podteksty 1:11 (2008): http://podteksty.amu.edu.pl/podteksty/?action=dynamic&nr=12&dzial=4&id=268. 37 Siehe Walter Benjamin: »Karl Kraus«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/1, Frankfurt/M. 1977, S. 334–367. 38 Sigrid Weigel schreibt ausführlich über die Relation zwischen den Begriffen »Klage« und »Anklage« bei Benjamin im Kontext des Holocaust-Zeugnisses, siehe Sigrid Weigel: »Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage. Zur Differenz verschiedener Gedächtnisorte und -diskurse«, in: Jakob Tanner, Sigrid Weigel (Hg.): Gedächtnis,

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Die Überlagerung verschiedener Typen von Oralität als Form der Dokumentation der Shoah macht Keffs Text zu einer Montage der Diskontinuitäten und Intervalle des Gedächtnisses, in der »Fakten, Archive, Filme, Dokumente« der Erzählerin aufstoßen, »als hätte ich eine Leiche in mir oder eine Leere, / buurp«,39 und dem Zuhörer dieses Oratoriums eine kritische Haltung aufzwingen (wie das Theater der im Text aufgerufenen symbolischen Mutter Elfriede Jelinek), die ihn von der Immanenz des zur ewigen Wiederholung des Leidens und des Opfers zwingenden Mythos befreien soll. Die intermediale Montage als Gegenteil des Rituals (oder eher des rituellen Theaters) legt hier nicht nur die nichtaristotelische Gestalt der Welt bloß, sondern fördert auch ein politisches Subjekt zutage, das – weil es keinen schützenden Mythos besitzt – die Verantwortung für die Erschaffung einer Ordnung und einer Erzählung auf sich nimmt. Dieses Subjekt ist – wenn wir Keffs Texts autobiographisch lesen – die Autorin selbst, eine jüdisch-polnische Feministin. Damit wird nicht nur die von Michał Głowiński ins Spiel gebrachte Kategorie der ›Angemessenheit‹ in der Holocaust-Literatur missachtet,40 sondern auch die kulturelle Kontinuität zwischen dem Körper der jüdischen Opfer und der Erfahrung des Holocaust aufgebrochen. Indem Keff die für die feministische Kulturkritik fundamentale Mutter-Tochter-Beziehung ins Zentrum der Reflexion über die Shoah rückt, blendet sie die ethnische Identität der Opfer in gewissem Sinne aus. In einem rebellischen Akt neutralisiert sie die Singularität und Unwiederholbarkeit der Shoah, indem sie diese ironisch der Geschichte patriarchalischer und kolonialer Unterdrückung einschreibt41

Geld und Gesetz. Um#Zum? Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges, Zürich 2002, S. 39–62. 39 Keff: Ein Stück, a.a.O., S. 8. 40 Michał Głowiński u.a. (Hg.): Stosowność i forma. Jak opowiadać o Zagładzie? [Angemessenheit und Form. Wie lässt sich über die Shoah erzählen?], Kraków 2005. 41 Ubertowska: Holokaust, a.a.O., S. 128 und 130.

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(»Sie haben es nicht verdient, / dass hier auch nur ein Jude lebt, / egal welche Nationalität, welches Geschlecht, Sexualität oder Hautfarbe er hätte.«42). Keff verstößt also nicht nur gegen das Postulat der Angemessenheit, sondern propagiert im Gegensatz zu Głowiński den radikalen Bruch mit der mechanisch konstruierten Kette moderner Minderheiten. Wenn Keff neben misogynen auch antisemitische, homophobe und rassistische Invektiven reproduziert, dann will sie damit keineswegs die analoge kulturelle Stellung von Juden, Frauen, Homosexuellen oder schwarzer Sklaven als typisch moderne Figuren der Exklusion betonen. Vielmehr will sie zeigen, dass diese scheinbar emanzipatorische Analogie auf einem Repertoire kultureller Imaginationen gründet und nicht auf einem Archiv von realen, in unterschiedlichen historischen und politischen Kontexten ausgeschlossenen Körpern. Während Keff auf die Dokumentation von »Prozessen der psychoanalytischen Dekonstruktion«43 und die performative Rekonstruktion der Narration der Mutter als Shoah-Überlebender abzielt, rekonstruiert Artur Żmijewski (geb. 1966) in seinem Film 80064 (2004) die für die Lagererfahrung fundamentale Schlüsselszene der Stigmatisierung des Leibes, indem er die Lagernummer des 92-jährigen ehemaligen Auschwitz-Häftlings Józef Tarnawa erneuern lässt. Für den Künstler ist Tarnawas Haut ein »Blatt, auf dem Geschichte geschrieben wurde« und die Tätowierung ein »renovierungsbedürftiges Monument«.44 Das bedeutet eine Privilegierung des Körpers als historisches Dokument gegenüber der erinnernden Narration des Zeugen. Deutlich wird dies in einem Kommentar des Künstlers:

42 Keff: Ein Stück, a.a.O., S. 50f. 43 Szczuka: Rewolucja jest kobietą, a.a.O. 44 »Porozmawiajmy o 80064. Dialog między Agatą Araszkiewicz i Arturem Żmijewskim« [Lass uns über 80064 sprechen. Ein Dialog zwischen Agata Araszkiewicz und Artur Żmijewski]: www.obieg.pl/rozmowy/5691.

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»Die Menschen mit den Nummern – Zeugen, Zuschauer/ Beteiligte, auf denen die Erinnerung lastet … eine heute schon zerbröckelnde Erinnerung. 80- oder 90-jährige Greise. Nach 60 Jahren erinnern sich die Auschwitz-Häftlinge an verdrehte und deformierte Bruchstücke, weit entfernt von einer getreuen Wiedergabe des Geschehens. Sie stehen an der Schwelle zur Dissoziation, zum Zerfall und zum Gedächtnisverlust. Übrig bleiben Fragmente, aufblitzende Bilder, Flickwerk, Aneinanderreihungen geretteter Motive. Aus alldem erschaffen sie ihre Erzählung immer wieder neu, und wir sind Zuhörer, Betrachter des Panoramas der Vernichtung. […] Die Erzählungen der Überlebenden sind ›konstruiert‹, und die Zeugen selbst vermögen die Ereignisse nicht mehr genau zu rekonstruieren – ihre Erinnerung versteckt sich vor ihnen. Noch etwas ist verborgen – die Gefühle. Die Gefühle aus der Zeit der Shoah, die Gefühle der Zeugen sind in ihnen verschlossen – sie ans Tageslicht zu befördern, bedeutete womöglich ein stärkeres Zeugnis als das Wort, mächtiger als jeder Text. Es wäre der unumstößliche Beweis für die Grausamkeit der vergangenen Ereignisse, und für uns Zuschauer zugleich ein Schauspiel lebendiger Geschichte, das heißt von Geschichte, die im Menschen lebt […]. Eine Geschichte, die echte Wunden schlagen kann – und am meisten gefährdet ist der Zeuge. Solch ein Zeugnis ist unwiderlegbar, es ist aggressiv und durchdringt die Gefühle des Zuschauers wie ein Schmerz den Körper.«45 Żmijewski artikuliert die Notwendigkeit einer kritischen Analyse der Figur des Zeugen – auch in Hinblick auf den kör45 Es handelt sich um Notizen zu einem Kommentar zu einer Ausstellung mit Publikumsgespräch in Brétigny-Sur-Orge (6.1.2005), wo im Centre d’Art Contemporain der Film erstmals gezeigt wurde. Siehe Artur Żmijewski: »Komentarz do filmu 80064« [Kommentar zum Film 80064]: www.obieg.pl/rozmowy/5691.

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perlichen Verfall der Überlebenden und die Biologie, die de facto den Prozess des kulturellen Erinnerns determiniert. Dies erfordert eine Neubewertung des Zeugnisses als zentrale ›Quelle‹ der Holocaust-Forschung. Zugleich thematisiert Żmijewski damit die ontologische Differenz zwischen Körper-Gedächtnis und Körper-Archiv. Während Ersteres aufgrund der Bindung an die partikuläre Erfahrung des Individuums der Vernichtung anheimfällt und manipulierbare Narrationsreste hinterlässt, eröffnet Letzterem die ›Ruinierung‹ die Perspektive einer lebendigen Geschichtsschreibung mit Wirkungspotential in der Gesellschaft, die im gedächtniszentrierten Paradigma bedeutungslos wird.46 Indem Żmijewski den Körper des Häftlings als Archiv behandelt, manipuliert er zugleich durch die performative Wiederholung die historische Zeit. Konstitutiv für die Struktur von 80064 ist der Akt des Zeugnisses, den der Shoah-Überlebende vollzieht – im Rahmen eines Gesprächs mit dem Künstler. Diese Konstellation, die uns in Gestalt einer Videodokumentation präsentiert wird, verweist auf Formen der Vermittlung der Shoah-Erfahrung, die Annette Wieviorka in L’Ère du témoin als charakteristisch für die dritte Phase der Zeugenschaft beschreibt.47 Diese auf die Wende von den 1970er- zu den 1980er-Jahren datierte dritte Etappe ist zum einen gekennzeichnet durch die erneute Aufwertung der Augenzeugen als Beteiligte und Erzähler, zum anderen durch die Verbreitung dokumentarischer Audio- und Videotechniken, die den Akt

46 Vgl. Traverso, Geschichte als Schlachtfeld, a.a.O. [A.d.Ü.: Hier zitiert nach der im Original angegebenen polnischen Fassung: Enzo Traverso: Historia jako pole bitwy. Interpretacja przemocy w. XX. wieku, Warszawa 2014, S. 13.] 47 Die erste Phase besteht in der Dokumentation des Schicksals der Juden während des Krieges, die zweite Phase wird bestimmt durch den Eichmann-Prozess und das Verständnis des Zeugnisses als Anklage (in dieser Phase wären auch die Frankfurter Prozesse zu verorten), in der dritten Phase kommt es zur erneuten Aufwertung der Zeugen als Beteiligte und Erzähler. Siehe Annette Wieviorka, L’Ère du témoin, Paris 2002.

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des Zeugnisses aufzeichnen.48 Wie Paweł Mościcki anmerkt, offenbart erst dieser Übergang vom Zeugen zum Video-Zeugen den theatralen Charakter, genauer gesagt den ereignis- und schauspielhaften Aspekt des Zeugnisses.49 Dies unterstreicht auch James E. Young: »Anders als in der geschriebenen Darstellung, die dazu neigt, die Zwischenräume zwischen Worten und Gedanken auszuheben, bleiben im Videozeugnis die Pausen und das Zögern beim Erzählen einer Geschichte erhalten. Das Gefühl der Inkohärenz der Erfahrungen, der assoziative Charakter ihrer Rekonstruktion, das sichtbare Suchen nach Begriffen und Sprache, all das bleibt im Video konserviert und wird ebenso Teil des textlichen Gehalts des Videozeugnisses wie die Geschichte des Überlebenden.«50 In 80064 erfasst Żmijewski geschickt die theatrale Dimension des Videozeugnisses. Das Erneuern der Lagernummer in einem Tattoo-Studio in Anwesenheit des Regisseurs ist eigentlich die Rekonstruktion einer Body-Art-Aktion, in der allerdings bezeichnenderweise die selbstzerstörerische Geste an die anderen delegiert wird. Der eine Körper des Performers wird aufgesplittet in die drei Körper des Häftlings, des Künstlers und des anonymen Tätowierers. Aus Sicht des Postholocaust-Diskurses könnte man von einer Analogie zu den drei Hauptfi-

48 Eine der wichtigsten Initiativen zur audiovisuellen Aufzeichnung von Überlebendenberichten war die Gründung des Video Archive of Holocaust Testimonies an der Universität Yale im Jahr 1979. Ziel des Projekts war die Schaffung einer oralen Geschichte der Shoah auf Grundlage von Aufnahmen mündlicher Augenzeugenberichte. Wenig später begann Claude Lanzmann mit der Arbeit an seinem Film Shoah (1985), der auf Gesprächen mit den Zeugen basiert. 49 Paweł Mościcki: »Karski – paradoks o świadku« [Karski – Paradox über den Zeugen], in: Agata Adamiecka-Sitek, Dorota Buchwald (Hg.): Nowe historie 03. Nowe biografie [Neue Geschichten 03. Neue Biographien], Warszawa 2012, S. 47–62. 50 James E. Young: »Video- und Filmzeugnisse des Holocaust: Die Dokumentierung des Zeugnisses«, in: ders.: Beschreiben des Holocaust, übers. v. Christa Schuenke, Frankfurt/M. 1997, S. 243–265, hier S. 249f.

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guren der Shoah sprechen #wollen: Opfer, Täter, Zuschauer.51 Dagegen spricht aber die Tatsache, dass Żmijewski in der von ihm inszenierten Dokumentarsituation den Prozess der Konstituierung des Zeugnisses sowie die daraus resultierende Art der Auslegung des Geschehens offenlegt. Überdies zeigt sich in der Vermittlung des Gewaltaktes per Video und in der spezifischen Remedialisierung von Körperlichkeit (anstelle einer live vollzogenen Handlung), dass die Lust an der Gewalt nicht nur auf Seiten von Künstler und Täter liegt. Sie offenbart sich auch im Verhalten des Opfers, das sich schnell und leicht der ihm zugefügten Gewalt fügt – Tarnawas anfängliche Ablehnung einer Erneuerung der Tätowierung beruht vor allem auf seiner Sorge, das Lager-Stigma sei dann nicht mehr authentisch, womit er seinen Status als glaubwürdiger Shoah-Zeuge verlöre. Berücksichtigen wir dann noch die – für 80064 zentrale – voyeuristische Haltung des Zuschauers als passiver Beobachter der inszenierten Gewaltszene, so zeigt sich, dass weder das inzwischen verstorbene Auschwitz-Opfer noch der dem Tätowierer im Vollzug des Gewaltaktes assistierende Künstler Hauptfiguren des Films (oder exponierte Shoah-Zeugen) sind. Der eigentliche Protagonist ist – in jedem Rezeptionsakt aufs neue – der Zuschauer. Seine stark affektive Reaktion auf das Werk garantiert den Fortbestand der Erinnerung an die Shoah. Indem Żmijewski den Körper des Augenzeugen in gewissem Sinne enteignet, überführt er ihn gleichzeitig bewusst in die Sphäre der »prothetischen Gedächtnisse« (prosthetic memories), wie Alison Landsberg Gedächtnisformen nennt, die »circulate publicly, and although they are not organically based, they are nevertheless experienced with a person’s body as a result of an engagement with a wide range of cultural technologies. […] that memories are not ›natural‹ or ›authentic‹ and yet they organize and energize the bodies and subjectivities that 51 Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, übers. v. Hans Günter Holl, Frankfurt/M. 1992.

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take them on.«52 Żmijewskis Rekonstruktion, die aus der Radikalität der Performance Art und dem Repertoire manipulativer Dokumentartechniken schöpft und überdies die Geschichte der medialen Aufzeichnung der Shoah-Erfahrung reflektiert, erzeugt somit eine spezifische Prothese des Körpers: ein performatives Video am Schnittpunkt einer Handlung am Körper und einer Bildhandlung. Sie zeigt – entgegen dem theatralen Vorurteil von der Überlegenheit der unmittelbaren Präsenz des Körpers –, dass auch im Zusammenspiel mit Technologie und visueller Kultur die Materialität, Effektivität und Wirkmächtigkeit des Körpers keineswegs abgeschwächt werden, sondern dieser ganz im Gegenteil die Kraft einer politischen Intervention entfalten kann. Gleichwohl kann auch der unmittelbar präsente Körper als Archiv begriffen werden, als Medium, das Geschichte vermittelt durch die Übertragung fragmentarischer Affekte und Emotionen wie auch durch Inszenierungen, die unmittelbar von Körper zu Körper wirken und eine Translation und Dislokation der Shoah-Erfahrung jenseits von Konzepten wie Rasse, Geschlecht und Nationalität zulassen. Dies illustriert anschaulich die aus Schauspielern mit Behinderung bestehende Berliner Theatergruppe Ensemble Kalibani in ihrer Arbeit Hommage à Tadeusz Kantor – »Die tote Klasse«.53 Genau genommen handelt es sich um die Wiederholung einer Wiederholung, denn die Inszenierung, der die Hommage gilt, war – wie Konstanty Puzyna formuliert – selbst schon »eine Art Hommage oder Epitaph für eine untergegangene Welt, für ein ausgestorbenes Milieu, für 52 Alison Landsberg: Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture, New York 2004, S. 25f. 53 Dieses besondere Reenactment wurde in Polen zweimal aufgeführt: 2008 beim Festival Warszawa Centralna »Stygmaty Ciała« [Körperstigmata] zusammen mit Artur Żmijewskis Videodokumentation 80064 sowie 2009 im Rahmen des Projekts Domino der Lubliner Theatertherapie, zu dessen wesentlichen Bestandteilen auch ein von Alessandro de Michele filmisch festgehaltener Besuch der Künstler im ehemaligen Lager Majdanek gehörte.

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eine vergangene Epoche […]«54 Die deutschen Schauspieler verkörpern also auf der Bühne die Welt und das Milieu der Juden, die keine drei Jahrzehnte nach Ausbruch des in Kantors Toter Klasse angesprochenen Ersten Weltkriegs der Shoah zum Opfer fielen. In der Eröffnungsszene treten zwar anders als im ›Original‹ keine Puppen von Jungen und Mädchen neben den echten Schauspielern auf, doch der Zuschauer hat von Anfang bis Ende den Eindruck, als schleppten die Akteure ihre eigenen toten Schatten hinter sich her, als nähmen – wie Jan Kott im Zusammenhang mit Kantors Arbeit schreibt – »die Toten neben sich selbst Platz, neben ihrem einstigen Ich, neben dem Ich, das sie einst waren.«55 Gleichzeitig gehört die Rekonstruktion von Kantors Toter Klasse durch Schauspieler mit unterschiedlich schweren körperlichen und geistigen Behinderungen zu einem Typ von Theater, in dem die für Grotowskis Methode fundamental dilemmatische Unterscheidung zwischen »Ich« und »mein Körper« keine Rolle spielt, sondern vor allem die Beziehung von belebter und unbelebter Materie problematisiert wird. Hommage à Tadeusz Kantor – »Die tote Klasse« tritt in einen spezifischen Dialog mit dem postmemory-Diskurs: Es handelt sich um eine Performance historischer Relikte, die auf Zitaten und der Vermittlung fremder, aber auch eigener Erfahrungen gründet. Das Fehlen des körperlichen Lagerstigmas, mit dem der Auschwitz-Überlebende in 80064 seine Authentizität begründete, fungiert im Falle der deutschen Schauspieler, deren Körpern das Potential der Auslöschung eingeschrieben ist, als gleichsam queerer Beweis (a queer kind of evidence).56

54 Konstanty Puzyna, Andrzej Wajda, Tadeusz Różewicz: Rozmowa o »Umarłej klasie« [Gespräch über die »Tote Klasse«, in: Dialog 2 (1977), S. 135–142, hier S. 136. 55 Jan Kott: »Teatr esencji: Kantor i Brook« [Das Theater der Essenz: Kantor und Brook], in: ders.: Pisma wybrane [Ausgewählte Schriften], Bd. 3: Fotel recenzenta [Der Sitz des Rezensenten], hg. v. Tadeusz Nyczek, Warszawa 1991, S. 346–354, hier S. 346. 56 Schneider: Performance remains, a.a.O., S. 101.

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Die gleichzeitige Vergegenwärtigung der verbrecherischen Vergangenheit und der virtuellen Opferrolle im behinderten Körper markiert hier keinen Bruch mit der eigenen gesellschaftlichen Identität, wie ihn die Protagonistin einer anderen Arbeit Żmijewskis vollzieht.57 Dort entscheidet sich Lisa, ebenfalls eine Deutsche, in Israel ein neues Leben zu beginnen, nachdem sie sich auf einem Foto von KZ-Opfern als ermordeten jüdischen Jungen gesehen hat. Bei den Schauspielern des Ensemble Kalibani ist die Verbindung zur Vergangenheit sowohl auf perverse Weise usurpiert als auch ererbt; rekonstruiert und zugleich konstruiert. Die Schauspieler der Berliner Toten Klasse entstammen einer Generation, die nicht unmittelbar mit der NS-Ideologie in Berührung kam#gekommen ist, doch ausgerechnet sie – als in der Enkelgeneration wiederkehrende Verkörperung der von den Nationalsozialisten liquidierten ›Antinorm‹ – rufen diese Zeit ins Gedächtnis zurück, indem sie in szenischen Collagen auf Pogrome, Konzentrationslager und Einzelschicksale von Auschwitz-Opfern verweisen und die Ideen von Rassenhygiene, Körperdisziplin, Unterdrückung, wertem und unwertem Leben verkörpern. Die Akteure auf der Bühne sind jedoch vor allem im Hier und Jetzt verortet, sie stehen in ihrem affirmativen, teils grotesken, teils tragischen Duktus vor uns als ›lebendige Leichen‹ in ihrer ganzen ›Andersartigkeit‹ und ›Behinderung‹, die in jeder Gesellschaft anders bewertet wird. Sie gehören einer Gruppe von Menschen an, die in Polen gesellschaftlich und politisch fast unsichtbar sind, aber im heutigen Deutschland, das »auch auf den Ruinen von Auschwitz errichtet [wurde] – als freiheitlich-demokratischer, dem Schutz der Menschenrechte verpflichteter Gegenentwurf zu Hitler-Diktatur und Rassenwahn«,58 als professionelle und institutionalisierte

57 Artur Żmijewski: Lisa, Video, 11 Min., 2003. 58 Berthold Kohler: »Auch Auschwitz?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.1.2015: www.faz.net/aktuell/politik/inland/auschwitz-gehoert-zur-deutschen-geschichte-13393844.html.

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Theatergruppe agieren können. Die Bühnen-Performance der Schauspieler des Ensemble Kalibani ist somit eher die Vorführung eines körperlichen Stigmas, das zwar unabhängig von der historischen Zeit, der Nationalität oder der Vergangenheit einer Gesellschaft existiert, das aber jedes Mal (im performativen Akt) in einem bestimmten gesellschaftlichen und politischen Kontext aktualisiert wird. Die Arbeit der Berliner Gruppe an der Rekonstruktion von Tadeusz Kantors Inszenierung führt unweigerlich zur Problematik der Kategorien Gedächtnis und Archiv. Schließlich sind hier nicht die sprachlichen oder visuellen Zeugnisse, die nach dem Tod der unmittelbaren Zeugen eine privilegierte Stellung in den institutionalisierten Archiven einnehmen, entscheidend für die Rekonstruktion des Geschehens, sondern gerade die (biologisch und kulturell) markierten Körper der auftretenden Schauspieler. Zugleich liefert Hommage à Tadeusz Kantor – »Die tote Klasse« Impulse zur Reflexion des Begriffs ›Gesellschaft‹, der – wie Enzo Traverso schreibt – »zwischen den 1960er und den 1980er Jahren in den Werkstätten der Historiker eindeutig vorherrschend war«59 und nach der Hinwendung zu Fragen des kulturellen Gedächtnisses seine dominante Stellung verlor. Die szenische Rekonstruktion bedeutet nämlich weniger ein Reenactment vergangener Ereignisse als vielmehr eine Verkörperung der Shoah durch die Schauspieler des Ensemble Kalibani, die gleichsam den Diskurs des Todes durch ihre Körper strömen lassen. Die deutschen Akteure erzählen uns weder mit Worten eine Geschichte, noch kommunizieren sie – wie Marianne Hirsch es wollte – mit Hilfe von persönlichen Fotos, Gegenständen oder Familienerzählungen ihre eigenen Erfahrungen. Sie evozieren stattdessen die in den Archiven der deutschen Kultur existierenden Bilder der Medikalisierung 59 Traverso: Geschichte als Schlachtfeld, a.a.O. [A.d.Ü.: Hier zitiert nach der im Original angegebenen polnischen Fassung: Traverso: Historia jako pole bitwy. Interpretacja przemocy w. XX. wieku, a.a.O., S. 13.]

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und Pathologisierung kranker Körper und enthüllen ihre eigenen Körper vor uns – in ihrer ganzen gesellschaftlich konstituierten Nicht-Normativität, die wir üblicherweise als körperliche oder geistige Behinderung bezeichnen. Indem sie diese im theatralen Hier und Jetzt vor uns offenlegen und indem sie auf der Bühne biologische, ja sexuelle Energie freisetzen, öffnen sie sich gewissermaßen für die Heimsuchung durch die Geister der Vergangenheit: nicht nur der Opfer der Shoah, sondern auch der deutschen Täter, deren Enkel sie ja sein könnten. In ihrem für die Performance-Theorie grundlegenden Text The Ontology of Performance: Representation without Reproduction schreibt Peggy Phelan, die Performance – und im weiteren Sinne jedes Ereignis – existiere nur in der Gegenwart, sie »cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations«;60 das Wesen der Performance bzw. des Ereignisses indes gründe – analog zu der sich aus diesem Ansatz abzeichnenden Ontologie der Subjektivität – auf dem Verschwinden.61 Die analysierten zeitgenössischen Rekonstruktionspraktiken, die den Körper als Dokument wie auch als Geschichtsmedium begreifen, belegen das Gegenteil: Die Performance bzw. das Ereignis konstituiert sich nicht im Verschwinden, sondern im erneuten Erscheinen, in der Wiederholung unter neuen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. Insbesondere die Arbeiten Artur Żmijewskis und des Ensemble Kalibani bestätigen gleichsam die Schlussfolgerung, zu der Rebecca Schneider in ihrer ­Pionierstudie zum Körper als Archiv gelangt:

60 Peggy Phelan: Unmarked. The Politics of Performance, New York 1993, S. 146. 61 Peggy Phelan: »Ontologia performansu. Reprezentacja bez reprodukcji« [Ontologie der Performance. Repräsentation ohne Reproduktion], übers. v. Agnieszka Kowalczyk, in: Sonia Nieśpiałowska-Owczarek, Katarzyna Słoboda (Hg.): Przyjdźcie, pokażemy Wam, co robimy. O improwizacji tańca [Kommt her, wir zeigen euch, was wir machen. Über Improvisationstanz], Łódź 2013, S. 267–287, hier S. 270.

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»When we approach performance not as that which disappears (as the archive experts), but as both the act of remaining and a means of reappearance […] we almost immediately are forced to admit that remains do not have to be isolated to the document, to the object, to bone versus flesh. […] Still, we must be careful to avoid the habit of approaching performance remains as a metaphysic of presence that fetishizes a singular ›present‹ moment. As theories of trauma and repetition might instruct us, it is not presence that appears in the syncopated time of citational performance but precisely (again) the missed encounter – the reverbarations of the overlooked, the missed, the repressed, the seemingly forgotten.«62 In dieser Perspektive offenbart der Körper seine spezifische dokumentarische Dimension: Er wird zum Medium, das zum einen diejenigen Aspekte des Ereignisses bewahrt, die sich gelenkten Formen der Aufzeichnung und Konservierung von Geschichte entziehen, und zum anderen dasjenige festhält, was in der Kultur marginal ist oder marginalisiert wird. Die besprochenen Beispiele zeitgenössischer künstlerischer Rekonstruktionspraktiken zeigen anschaulich, dass körperliche Archivstrategien nicht darauf abzielen, als Ergänzung des traditionellen Archivs die Dokumentation zu vervollständigen. Ganz im Gegenteil unterstreicht das Körper-Archiv – aufgrund seines aus der Multiplizität der Vermittlungsprozesse resultierenden metamedialen Charakters – im performativen Akt die Unvollständigkeit, Unvollkommenheit und Fragmentarizität der Erinnerung sowie die Relativität der auf dieser Basis konstruierten Geschichtserzählungen. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

62 Schneider: Performing remains, a.a.O., S. 101f.

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