Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2013) 107, 120—128
Online verfügbar unter www.sciencedirect.com
journal homepage: http://journals.elsevier.de/zefq
SCHWERPUNKT I
Krebs - alles ganz anders? Besonderheiten onkologischer Arzneimittel aus Sicht der Arzneimittelzulassung Cancer: Is it really so different? Particularities of oncologic drugs from the perspective of the pharmaceutical regulatory agency Harald Enzmann ∗, Karl Broich Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bonn
SCHLÜSSELWÖRTER Krebs; Arzneimittel; Gesamtüberlebenszeit; progressionsfreie Überlebenszeit; Zulassung; Arzneimittel für seltene Leiden
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Zusammenfassung In der Europäischen Union erfolgt die Zulassung innovativer onkologischer Arzneimittel ausschließlich im zentralisierten Verfahren bei der European Medicines Agency. Wie für Arzneimittel anderer Indikationsgebiete basiert die Zulassungsentscheidung auf der Bewertung von Wirksamkeit, Sicherheit und pharmazeutischer Qualität, während Fragen der Preisgestaltung und der Kostenerstattung nicht berücksichtigt werden. Moderne diagnostische Methoden führen zur Unterscheidung einer steigenden Zahl eigenständiger Krebserkrankungen. Trotz der Unterschiede in deren Pathogenese und Therapieoptionen bleiben Heilung, Gesamtüberlebenszeit und progressionsfreie Überlebenszeit für alle die wichtigsten klinischen Endpunkte. Diese integrativen Endpunkte beinhalten Wirksamkeit UND Sicherheit, da die beobachtete Überlebenszeit die Summe aus der Verlängerung der Überlebenszeit durch die erwünschte Anti-Tumor Wirkung und der Verkürzung der Überlebenszeit durch die Nebenwirkungen des Arzneimittels ist. Gesamtüberlebenszeit und progressionsfreie Überlebenszeit sollten beide (beispielsweise als primäre und sekundäre Endpunkte) den Nutzen eines Arzneimittels belegen. Belastbare Daten zur Wirkung auf die Gesamtüberlebenszeit können für die Zulassung in Ausnahmefällen verzichtbar sein, beispielsweise wenn Verlängerungen der progressionsfreien Überlebenszeit mit hoher Sicherheit eine günstige Wirkung auch auf die Gesamtüberlebenszeit erwarten lassen. In diesem Fall erscheint es nicht vertretbar, weiteren Patientinnen und Patienten die offensichtlich gut wirksame Therapie vorzuenthalten, bis möglicherweise erst nach mehreren Jahren die Verlängerung der Gesamtüberlebenszeit genauer quantifiziert wurde. Durch die zunehmende Zahl als eigenständiger betrachteter Krebserkrankungen verringert sich die Prävalenz der jeweiligen Erkrankungen. Dies führt dazu, dass immer mehr onkologische Arzneimittel als Arzneimittel gegen seltene Leiden anerkannt werden. Damit ist eine Reihe von Vorteilen verbunden, beispielsweise ein Marktexklusivitätsrecht für bis zu zehn Jahre. Unter besonderen Konstellationen kann die Zulassung und Vermarktung konkurrierender Generika
Korrespondenzadresse: PD Dr. Harald Enzmann, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Kurt-Georg-Kiesinger-Allee 3, 53175 Bonn. Tel.: +0228-99-307 3315. E-Mail:
[email protected] (H. Enzmann).
1865-9217/$ – see front matter http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2013.02.003
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sogar noch über diese zehn Jahre hinaus eingeschränkt sein. Eine bedingte Zulassung oder eine Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen kann dazu beitragen, dass ein Arzneimittel die Patientinnen und Patienten schneller erreicht. In beiden Fällen wird vorausgesetzt, dass der Nutzen des Arzneimittels zum Zeitpunkt der Zulassungsentscheidung noch nicht abschließend bewertet werden kann. Dadurch können spätere Entscheidungen zu Preis und Kostenerstattung nachteilig beeinflussen werden, da diese auch Unterlagen und Bewertungen des Zulassungsverfahrens einbeziehen. Die Verfahren zur Zulassung eines Arzneimittels und zu dessen Preisfindung oder Erstattungsfähigkeit sind daher nicht völlig unabhängig voneinander und sollten im Rahmen einer Gesamtstrategie aufeinander abgestimmt werden. (Wie vom Gastherausgeber eingereicht)
KEYWORDS Cancer; medicine; progression free survival; overall survival; marketing authorisation; orphan designation
Summary For innovative oncological medicines the centralised procedure at the European Medicines Agency is mandatory for a marketing authorisation application for the European Union. As with other medical drugs, the marketing authorisation decision is based on the assessment of its efficacy, safety and pharmaceutical quality but does not consider price or reimbursement. More sophisticated diagnostic methods drive an increasing stratification of cancer into a multitude of different diseases. Regardless of their different pathogenesis and therapeutic options the most relevant clinical endpoints remain cure, overall survival and progression free survival. These endpoints include both efficacy and safety, as patient survival reflects the sum of the beneficial anti-tumour effects (increasing survival) AND the adverse effects (decreasing survival). The benefit of an anticancer medicine should be evident from both overall survival and progression free survival (e.g. used as primary and secondary endpoints). Mature data on overall survival may not be needed for marketing authorisation if a clear increase in progression free survival convincingly predicts a beneficial effect on overall survival. In these exceptional cases treatment of patients with an obviously beneficial medicine must not be delayed — possibly for years — until the exact size of the benefit has been established. The continued stratification of the disease cancer results in a lower prevalence for each of the newly distinguished disease entities and an ever increasing number of orphan designations for medicines for rare diseases. Incentives for the development of orphan medicines include market exclusivity for up to ten years. In specific circumstances, however, the orphan legislation may restrict the authorisation and marketing of competing generic products even beyond these ten years. Conditional approval and approval under exceptional circumstances may accelerate patients’ access to a new medicine. Both postulate that the extent of the benefit cannot be determined with sufficient certainty at the time of marketing authorisation. This uncertainty may have a negative impact on price and reimbursement as these decisions may consider data or assessments from the marketing authorisation procedure. Therefore, marketing authorisation applications and subsequent pricing and reimbursement negotiations should not be regarded as completely independent processes, but be included in an overall strategy for the development of oncologic drugs. (As supplied by publisher)
Krebs — ist da alles ganz anders als bei anderen Krankheiten? Wird diese Frage auf die Zulassung von Arzneimittel bezogen, ist die Antwort ,,nein‘‘. Aus regulatorischer Sicht gelten für Krebsmedikamente dieselben allgemeinen Grundsätze der Arzneimittelzulassung wie für andere Arzneimittel auch. Trotzdem gibt es Besonderheiten, die Arzneimittel gegen Krebs von anderen Arzneimitteln unterscheiden. Diese sind auch für die Zulassung von Arzneimitteln zur Behandlung von Krebs wichtig sind und sollten im Rahmen einer modernen Strategie bei der Entwicklung von Arzneimitteln gegen Krebs berücksichtigt werden.
Entwicklung, Ziele und Inhalte der staatlichen Arzneimittelzulassung Historische Entwicklung der Arzneimittelzulassung Die Sicht auf Arzneimittel, deren Rolle in der Medizin und deren staatliche Kontrolle hat sich in der Vergangenheit in
unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich entwickelt. In Europa ist ein erster, früher Ansatz einer staatlichen Regelung im Edikt von Salerno von 1241 zu finden. In diesem wird durch Friedrich den Zweiten Ärzten der Handel mit Arzneimitteln untersagt und dieser den Apothekern vorbehalten, was zur ersten gesetzlich geregelten Trennung der Berufsstände der Ärzte und Apotheker führte. Gleichzeitig — und dies erscheint schon sehr modern — werden die Preise für manche Arzneimittel reglementiert. Die Regulation von Arzneimitteln im heutigen Sinne, genauer deren staatliche Zulassung, entwickelt sich erst im 20. Jahrhundert, vorangetrieben jeweils von Ereignissen, bei denen Patientinnen und Patienten geschädigt wurden. In den USA war dies die Sulfanilamid-Katastrophe von 1937. Mehr als hundert Patientinnen und Patienten starben nach der Einnahme des ,,Erkältungssaftes‘‘ Elixir Sulfanilamide. Dabei war nicht der Wirkstoff Sulfanilamid die Ursache, sondern die Beimischung von Diethylenglykol in den mit Himbeergeschmack aromatisierten Sirup. Diese süß schmeckende, leicht einzunehmende Darreichungsform
122 war vor allem für Kinder attraktiv, weshalb auch zahlreiche Kinder unter den Opfern waren. Als Folge wurde mit dem Federal Food, Drug and Cosmetic Act von 1938 in den USA eine staatliche Aufsicht über Arzneimittel geschaffen. Für Deutschland führte erst die Thalidomid-Katastrophe zu einer entsprechenden Gesetzgebung. Weder Hersteller noch Behörden erkannten 1961 die teratogene Wirkung von Thalidomid, sondern die praktizierenden Ärzte McBride und Lenz [1] — leider erst nach der breiten Vermarktung und häufigen Anwendung von Thalidomid, zu spät für die weltweit über 10 000 Thalidomid Opfer. Heute besteht ein weltweiter Konsens, dass zum Schutz der Patientinnen und Patienten Arzneimittel im Unterschied zu anderen Konsumgütern einer besonderen staatlichen Überwachung bedürfen. Wesentlicher Bestandteil ist dabei ein Zulassungsprozess, in dem die Wirksamkeit, Sicherheit und pharmazeutische Qualität eines neuen Arzneimittels vor dessen Marktzulassung bewertet werden.
Inhalte der Arzneimittelzulassung In Europa erfolgt die Zulassung neuer, innovativer Arzneimittel (beispielsweise Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen) ganz überwiegend im zentralisierten Verfahren bei der European Medicines Agency (EMA). Für innovative onkologische Arzneimittel ist das zentralisierte Verfahren bereits seit 2004 das in der Europäischen Union (EU) einzig mögliche Zulassungsverfahren. Die Zulassung wird dabei von der Europäischen Kommission (EUK) verbindlich für alle Länder der EU und die Mitglieder der Europäischen Freihandelszone, Island, Liechtenstein und Norwegen erteilt. Die EMA führt das wissenschaftliche Bewertungsverfahren, das die Grundlage für die Entscheidung der EUK bildet. Gemäß Artikel 5 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 [2] ist der Ausschuss für Humanarzneimittel (Committee for Medicinal Products for Human Use, CHMP) der EMA bzw. sind dessen Gutachten (scientific opinions) maßgeblich für die Zulassungsentscheidung. Der genaue prozedurale Ablauf des zentralisierten Verfahrens einschließlich der für onkologische Arzneimittel wichtigen Sonderfälle des beschleunigten Zulassungsverfahren (accelerated assessment), der bedingten Zulassung (conditional approval) und der Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen (under exceptional circumstances) wurde in deutscher Sprache anderswo ausführlich beschrieben [3]. Inhaltlich konzentrieren sich die Gutachten des CHMP im Sinne der EU-Gesetzgebung, insbesondere Direktive 2001/83/EC [4] auf die Wirksamkeit, Sicherheit und Qualität von Humanarzneimitteln. Fragen der Preisgestaltung und der Kostenerstattung durch Versicherungen oder das staatlichem Sozialsystemen spielen dabei keine Rolle. Die Wirksamkeit soll in der Regel durch prospektive, doppel-blinde und randomisierte klinische Studien im Vergleich mit einer geeigneten Kontrollgruppe belegt werden. Eine geeignete Kontrollgruppe können je nach Arzneimittel keine Behandlung, Plazebobehandlung oder eine anerkannte Vergleichstherapie sein. Im letzteren Fall ist zu beachten, dass für eine positive Zulassungsentscheidung nicht eine bessere Wirksamkeit gezeigt werden muss; die Nicht-Unterlegenheit gegenüber der eingeführten Vergleichstherapie genügt. Wichtig ist die klinische Relevanz
H. Enzmann, K. Broich des zum Nachweis der Wirksamkeit untersuchten Endpunkts. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass die Patientin oder der Patient es ,,merken‘‘ muss, nur der Nachweis der pharmakologischen Aktivität mit einem komplizierten diagnostischen Verfahren ist für sich allein nicht ausreichend. Die für onkologische Arzneimittel wichtigsten Endpunkte, das Gesamtüberleben und das progressionsfreie Überleben werden weiter unten in Detail diskutiert. Die Sicherheit eines neuen Arzneimittels wird auf drei Ebenen untersucht: erst in präklinischen Studien einschließlich Tierversuchen, dann während der (klinischen) Entwicklung und letztlich fortlaufend während der Verwendung des Arzneimittels nach der Markteinführung. Für die präklinischen Studien muss jeweils die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Anwendung des Arzneimittels beim Menschen kritisch betrachtet werden. Die Relevanz eines in den präklinischen Untersuchungen gefundenen Effektes muss hinterfragt werden, um nicht die Entwicklung innovativer Produkte zu behindern, ohne dass dies zu einer besseren Sicherheit der Arzneimittel führt. In diesen Zusammenhang gewinnt gerade für Verunreinigungen das Konzept eines Schwellenwerts für die toxikologische Relevanz (threshold of toxicological concern) zunehmend an Bedeutung [5]. Während der Entwicklung werden in den klinischen Studien die unerwünschten Arzneimittelwirkungen parallel zur Wirksamkeit der Arzneimittel untersucht, wodurch auch für unerwünschte Effekte die direkte Gegenüberstellung mit einer anerkannten Vergleichstherapie (oder Plazebobehandlung) erfolgt. Nach Markteinführung ist die Überwachung von Nebenwirkungen im Rahmen der Pharmakovigilanzaktivitäten unverzichtbar, insbesondere für seltene und sehr seltene Nebenwirkungen, die im Rahmen der klinischen Studien aufgrund der begrenzten Zahl von Patientinnen und Patienten nur ungenügend oder gar nicht erfasst werden können. Die pharmazeutische Qualität von Arzneimitteln ist bei Zulassung innovativer Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen (anders als bei generischen Arzneimitteln) praktisch nie prohibitiv. Ist, basierend auf Wirksamkeit und Sicherheit, ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis ableitbar, können Probleme und offene Fragen zur pharmazeutischen Qualität eigentlich immer gelöst werden.
Besonderheiten bei der Zulassung onkologischer Arzneimittel Krebserkrankungen sind insgesamt sehr häufig, und trotz der ansehnlichen Erfolge der letzten Jahre besteht weiterhin dringender Bedarf für neue Behandlungsoptionen. Wie für Arzneimittel anderer Indikationsgebiete werden neue onkologische Arzneimittel im Rahmen der Zulassung gemäß der oben ausgeführten, allgemeinen Grundsätze der Arzneimittelzulassung auf Basis von Wirksamkeit, Sicherheit und pharmazeutischer Qualität bewertet. Onkologische Arzneimittel zeigen jedoch als Besonderheit die Verwendung sehr einheitlicher klinischer Endpunkte trotz einer stark zunehmenden Stratifizierung der Krebserkrankungen. Einerseits werden sowohl für hämatologische Krebserkrankungen wie für die große und heterogen Gruppe der Tumoren einheitliche Endpunkte definiert. Andererseits findet sich eine starke und sich verstärkende Aufsplitterung in eine Vielzahl von Krebserkrankungen deren Pathogenese, Prognose und
Krebs - alles ganz anders? Besonderheiten onkologischer Arzneimittel aus Sicht der Arzneimittelzulassung Therapieoptionen deutlich unterschiedlich sein können. Dadurch wird die Anzahl von Patientinnen und Patienten in einer Indikation immer kleiner. Dies erschwert die Entwicklung neuer onkologischer Arzneimittel und führt dazu, dass immer mehr onkologische Arzneimittel als Arzneimittel gegen seltene Leiden anerkannt werden, mit den daraus resultierenden Folgen für Zulassung und Kostenerstattung.
Endpunkte und deren klinische Relevanz Als klinisch relevante Endpunkte für den Nachweis der Wirksamkeit kommen der Heilung, der Gesamtüberlebenszeit (overall survival, OS) und der progressionsfreien Überlebenszeit (progression free survival, PFS) besondere Bedeutung zu [6,7]. Diese sollen nach Möglichkeit in Verbindung miteinander als primäre und sekundäre Endpunkte betrachtet werden. Für die Ableitung einer klinisch relevanten Wirkung wird erwartet, dass die Ergebnisse für die beiden Endpunkte nicht zueinander in Widerspruch stehen. Dabei ist zu beachten, dass sowohl das Gesamtüberleben als auch das progressionsfreie Überleben nicht notwendigerweise ausschließlich die Wirksamkeit des Arzneimittels widerspiegeln. Beides sind vielmehr umfassende, integrative Endpunkte, die Wirksamkeit UND Sicherheit beinhalten. Die Dauer des Überlebens der Patientinnen und Patienten hängt nicht nur vom Fortschreiten der Krebserkrankung ab, sondern auch von der Verträglichkeit bzw. den Nebenwirkungen des Arzneimittels und auftretenden Komplikationen. Bei der Betrachtung des Nutzen-Risiko-Verhältnis ist daher wichtig zu berücksichtigen, dass das Leben verkürzende unerwünschte Effekte des Arzneimittels in der beobachteten Überlebenszeit bereits erfasst sind. Es kann also nicht sinnvoll sein, eine gegenüber einer Vergleichsgruppe verlängerte Überlebenszeit im Rahmen der Nutzen-Risiko Betrachtung gegen die Häufigkeit der letalen Nebenwirkungen abzuwiegen. Die beobachtete Überlebenszeit ist bereits die Summe aus der Verlängerung der Überlebenszeit durch die erwünschte Anti-Tumor Wirkung des Arzneimittels und der Verkürzung der Überlebenszeit durch die unerwünschten Effekte des Arzneimittels, ist somit bereits der ,,NettoGewinn‘‘ an Lebenszeit. Eine (nochmalige) Abwägung der Häufigkeit der letalen unerwünschten Effekte gegen den integrativen Endpunkt der Verlängerung des Gesamtüberlebens wäre damit eine ,,Doppelwertung‘‘ der unerwünschten Wirkungen gegenüber der erwünschten Wirkung, nämlich der Verzögerung des Fortschreitens der Krebserkrankung. Die hohe Bedeutung einer Verlängerung der Gesamtüberlebenszeit für Patientinnen und Patienten ist offensichtlich. Die statistisch signifikante Verlängerung der Gesamtüberlebenszeit oder zumindest eine Veränderung der Gesamtüberlebenszeit, die zwar nicht statistisch signifikant, aber in Richtung und Größenordnung der Verlängerung der progressionsfreien Überlebenszeit vergleichbar ist, wird daher in der Regel die Basis für eine positive Bewertung der Wirksamkeit sein müssen. Ein vollständiger Verzicht auf den Beleg einer günstigen Wirkung auf die Gesamtüberlebenszeit ist nur in Ausnahmefällen angebracht. Dies gilt in erster Linie, wenn belastbare Daten zur Gesamtüberlebenszeit aus ethischen oder methodischen Gründen nicht erhoben werden können oder nicht in einem vertretbaren Zeitrahmen zu erwarten sind. Eine derartige Situation liegt vor, wenn
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beispielsweise ungewöhnlich große Verlängerungen der progressionsfreien Überlebenszeit mit hoher Sicherheit eine günstige Wirkung auch auf die Gesamtüberlebenszeit erwarten lassen, es aber wegen des relativ langsamen Verlaufs der Erkrankung eine lange Zeit dauern wird, bis belastbare Daten zur Gesamtüberlebenszeit vorliegen können. In diesem Fall kann es nicht vertretbar sein, weiteren Patientinnen und Patienten die offensichtlich gut wirksame Therapie vorzuenthalten, bis möglicherweise erst nach mehreren Jahren die Verlängerung der Gesamtüberlebenszeit genauer quantifiziert wurde. Eine ähnliche Problematik entsteht, wenn für Patientinnen und Patienten, deren Krebserkrankung unter der Therapie mit dem neuen Arzneimittel eine Progression zeigt, weitere Therapieoptionen zur Verfügung stehen. Nicht nur die längere Zeitdauer, sondern auch die Wirkung der sich anschließenden Therapien kann die Erhebung aussagekräftiger Daten zur Gesamtüberlebenszeit beeinträchtigen. Je länger der Überlebenszeitraum nach Ende der Behandlung mit dem neuen Arzneimittel ist und je mehr Folgebehandlungen sich anschließen, desto schwieriger wird es sein, die Wirkung des neuen Arzneimittels auf die Gesamtüberlebenszeit im Vergleich zur Kontrollgruppe zu messen. Es ist daher sinnvoll, in diesen Situationen den Daten zur progressionsfreien Überlebenszeit mehr Bedeutung zu geben, so dass sie auch ohne aussagekräftige Daten zur Gesamtüberlebenszeit zur wesentlichen Stütze einer positiven Zulassungsentscheidung werden können; allerdings unter der wichtigen Voraussetzung, dass es keinerlei Hinweise auf einen negativen Effekt des Arzneimittels auf die Gesamtüberlebenszeit gibt. Ebenso kann im Fall eines offensichtlich sehr deutlich überlegenen Sicherheitsprofils eines neuen Arzneimittels bei absehbar mindestens vergleichbarer Wirksamkeit eine Zulassungsentscheidung im Wesentlichen auf Daten zur progressionsfreien Überlebenszeit gestützt werden. Wenn irgend möglich soll aber sichergestellt werden, dass aussagekräftige Daten zur Gesamtüberlebenszeit so früh wie möglich, wenn auch erst nach Markteinführung erhoben werden. Die sich hier anbietende Möglichkeit des ,,conditional approval‘‘ mit ihren Vor- und Nachteilen wird weiter unten diskutiert. Ein Verzicht auf belastbaren Daten zur Gesamtüberlebenszeit ist demgegenüber sehr kritisch zu sehen, wenn er im Design der Studien begründet liegt, ohne dass dies aus den oben genannten Gründen unvermeidbar war. Dies gilt auch für den fehlenden Nachweis der Wirkung auf die Gesamtüberlebenszeit, wenn dies die Folge eines zahlenmäßig bedeutenden Wechsels von Patientinnen und Patienten aus der Vergleichsgruppe in die mit dem neuen Arzneimittel behandelte Gruppe ist. Vor der Erhebung von aussagefähigen Daten zur Wirkung eines Arzneimittels auf die Gesamtüberlebenszeit ist ein derartiges cross-over zu einem Arzneimittel, dessen Nutzen eben noch nicht gezeigt wurde, nicht im Interesse der Patientinnen und Patienten und nicht im Interesse einer aussagekräftigen Untersuchung des (postulierten) Nutzens des Arzneimittels.
Zunehmende Stratifizierung und Orphanisierung Krebs ist nach kardiovaskulären Erkrankungen die häufigste Todesursache in Deutschland und kann entsprechend
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Abbildung 1 Die historische Entwicklung einer zunehmend genaueren histologischen Diagnostik als Basis für Behandlungsentscheidungen.
als Volkskrankheit betrachtet werden [8]. Unter ,,Krebs‘‘ werden jedoch eine Vielzahl unterschiedlicher Erkrankungen subsummiert, die große Unterschiede in Pathogenese und klinischem Verlauf zeigen können und für die zum Teil völlig unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Bisher wurde die, auch und gerade für die Wahl der Therapie wichtige Unterscheidung verschiedener Krebsarten auf der Grundlage der histopathologischen Diagnose getroffen. Die Erkenntnis, dass die Wirksamkeit pharmakologischer Behandlungen von Tumoren durch die histologische Diagnose prognostiziert werden kann, datiert zurück bis zur Unterscheidung von Karzinom und Sarkom im 19. Jahrhundert [9]. Seitdem erfolgte, allein schon durch die Unterscheidung verschiedener histologisch definierter Krebsarten, eine kontinuierliche Stratifizierung (Abbildung 1). Die jüngste, auf konventioneller Histopathologie basierende Differenzierung der Chemotherapie von Tumoren war bei nicht-kleinzelligen Lungenkarzinomen die Unterscheidung von einerseits adenoiden oder großzelligen Karzinomen und andererseits Plattenepithelkarzinomen, wobei nur für die erstgenannten eine gute Wirkung vom Pemetrexed gezeigt wurde. Eine über diese, auf der Histopathologie basierende Stratifizierung hinausgehende Auswahl der Therapie in Abhängigkeit von spezifischen Tumoreigenschaften wurde etwa 1980 durch die Untersuchung der Hormonrezeptoren in Brustkrebszellen eingeleitet. Die zunehmende Anwendung von molekularbiologischen Methoden, die Untersuchung von Tumoren auf Mutationen oder Veränderungen der Expression relevanter Gene hat die Abgrenzung immer kleinerer Subgruppen noch deutlich beschleunigt. Durch die zunehmende Stratifizierung der Krebserkrankungen sinkt die Anzahl der Patientinnen und Patienten mit einer bestimmten, die Therapie bestimmenden Diagnose. Dadurch wird es schwieriger, die für aussagekräftige Studien notwendige Zahl an Patientinnen und Patienten zu rekrutieren und auch der mögliche wirtschaftliche Wert der Entwicklung des Arzneimittels wird durch die Erwartung vermindert, dass das Arzneimittel möglicherweise nur für wenige Patientinnen und Patienten von Nutzen sein wird. Um trotzdem die Behandlungsmöglichkeiten für seltene Krankheiten zu verbessern, wurden von der EU verschieden Förderungsmechanismen für die Entwicklung von Arzneimitteln
H. Enzmann, K. Broich gegen seltene Leiden (AMSL) geschaffen [10]. Eine Förderung als AMSL ist demnach möglich, wenn ein schweres Leiden vorliegt, für das keine ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten bestehen, ein erheblicher Nutzen des neuen Arzneimittels zu erwarten ist und die Prävalenz der Erkrankung nicht mehr als 5 zu 10000 ist. Arzneimittel zu Behandlung von Krebs sind die mit Abstand häufigste, von AMSL beanspruchte Indikation. Der prozedurale Ablauf und die Inhalte des Verfahrens zur Ausweisung eines AMSL wurden in deutscher Sprache ausführlich anderswo beschrieben [11]. Mit Anerkennung eines Arzneimittels als AMSL sind eine Reihe von Vorteilen verbunden, wie Gebührenermäßigung oder —erlass für Zulassungs- und Beratungsverfahren bei der EMA, besserer Zugang zu nationalen Förderprogrammen und — als wichtigstes — für 10 Jahre nach der Zulassung das Marktexklusivitätsrecht [10]. Während dieser 10 Jahre ist die Zulassung und Vermarkung ähnlicher (similar) Produkte bis auf wenige, klar definierte Ausnahmen ausgeschlossen. Die Ähnlichkeit zweier Arzneimittel wird dabei auf Ebene der aktiven Substanz (Struktur des Moleküls und Wirkungsmechanismus) und auf Ebene des Produkts (Anwendungsgebiet) definiert. Neben den genannten Vorteilen, die den AMSL bewusst gewährt werden, kann noch auf eine andere Art und Weise von der Ausweisung als AMSL profitiert werden, die vom Gesetzgeber vermutlich nicht beabsichtigt war. Selbst nach Ende der Marktexklusivität für ein AMSL kann unter bestimmten Umständen die Gestaltung der Rechtslage genutzt werden, um die Vermarktung generischer Produkte zu einem AMSL zu verhindern. Dies scheint möglich, wenn ein Nachfolgeprodukt für dieselben Indikationen vorhanden ist, das folgende Kriterien erfüllt: eine hinreichende Ähnlichkeit der Struktur und des Wirkungsmechanismus mit dem ursprünglich zugelassenen AMSL, bei vergleichbarer oder überlegener Wirksamkeit und/oder Sicherheit und Zulassung und Ausweisung als AMSL vor Ablauf der Schutzfrist des zuerst zugelassenen Produkts. Das zuerst zugelassene Produkt (AMSL1) besitzt nach der Zulassung und der Bestätigung des erheblichen Nutzens (significant benefit) eine Marktexklusivität für 10 Jahre. In diesen 10 Jahren ist die Zulassung und Vermarkung ähnlicher (similar) Produkte grundsätzlich ausgeschlossen. Ein ähnliches Produkt (AMSL2) kann jedoch unter bestimmten Bedingungen auch während dieser 10 Jahre zugelassen werden. Dies ist möglich, wenn es klinisch in Bezug auf Wirksamkeit oder Sicherheit überlegen ist oder wenn der Zulassungsinhaber von AMSL1 einverstanden ist. Dieses Produkt kann seinerseits ebenfalls wieder die Anforderungen an ein AMSL erfüllen und als solches anerkannt werden (AMSL2). AMSL2 hat damit Anspruch auf alle den AMSL gewährten Vorteilen, einschließlich einer mit seiner Zulassung beginnenden zehnjährigen Marktexklusivität. Produkte, die ähnlich sind zu AMSL2, können also in diesem Zeitraum nicht zugelassen und vermarket werden. Dies betrifft auch wirkstoffidentische, generische Produkte zu AMSL1, obwohl der Schutz für AMSL1 abgelaufen ist. Wenn im Rahmen des Zulassungsverfahrens festgestellt wurde, dass AMSL2 ähnlich ist zu dem zu diesem Zeitpunkt noch unter Marktexklusivität stehenden AMSL1, gilt natürlich auch für generische Produkte zu AMSL1, dass diese in Bezug auf die molekulare Struktur des Wirkstoffs und den Wirkungsmechanismus zu AMSL2 ähnlich sind. Daher steht die Marktexklusivität von
Krebs - alles ganz anders? Besonderheiten onkologischer Arzneimittel aus Sicht der Arzneimittelzulassung AMSL2 einer Zulassung und Vermarktung von generischen Produkten für AMSL1 für alle Indikationen entgegen, die für AMSL2 gewährt wurden. Es erscheint unwahrscheinlich, dass es die Intention war, in diesen speziellen Fällen über die zehnjährige Marktexklusivität hinaus einen Schutz vor einer Konkurrenz durch generische Produkte zu schaffen. Die Marktexklusivität für ein AMSL hat noch eine weitere, vermutlich nicht beabsichtigte Folge. Die Monopolstellung des Produktes bedeutet, dass die Patientinnen und Patienten von der Verfügbarkeit dieses Produktes abhängen. Sollte das Produkt nicht oder nicht in ausreichender Menge verfügbar sein, hieße das, dass den Patientinnen und Patienten eine wirksame und in den meisten Fällen alternativlose Therapie vorenthalten würde. Dies Problem wird in Verordnung 141/2000/EG [10] dadurch adressiert, dass die Marktexklusivität aufgehoben wird, wenn der Hersteller nicht in der Lage ist, allen Patientinnen und Patienten sein Produkt zur Verfügung zu stellen. Diese Regelung greift jedoch in manchen Fällen zu kurz. Wenn die Produktionskapazität für die Zahl der Patientinnen und Patienten in der EU eigentlich nicht ausreicht, so könnte durch entsprechende Preisgestaltung die ,,Nachfrage‘‘ in weiten Bereichen manipuliert werden. Durch entsprechend hohe Preise kann der tatsächliche Zugang der Patientinnen und Patienten zum Produkt eingeschränkt werden, da die Kosten nicht von den Patientinnen und Patienten getragen werden können, und Versicherungen oder Sozialsysteme die Kosten nicht übernehmen. Solange jedoch das Produkt für alle Patientinnen und Patienten, die den geforderten Preis bezahlen können (!) zur Verfügung steht, besteht kein rechtlich hinreichender Grund, die Marktexklusivität aufzuheben, auch wenn de facto zahlreiche Patientinnen und Patienten keinen Zugang zu dem Produkt haben. Eine weitere Besonderheit ist, dass wegen der Marktexklusivität häufig keine (gleichwertige) alternative Behandlungsoption zu einem AMSL zur Verfügung steht. Dies kann beispielsweise im Fall von Mängeln in der pharmazeutischen Qualität zu einem Dilemma für die Regulatoren führen. Bei Fehlern in der Herstellung und der pharmazeutischen Qualität des Produkts, die bei bestehenden Therapiealternativen zu einer Aussetzung der Vermarktung führen würde, ist das bei alternativlosen Produkten nicht immer zu rechtfertigen. Vielmehr muss in diesen Fällen eine Abwägung getroffen werden, ob für die Patientinnen und Patienten die Behandlung selbst mit einem mangelhaften Produkt besser ist als zumindest zeitweise ganz auf das Produkt zu verzichten. Die Ausweisung als AMSL und die daraus resultierende Marktexklusivität kann so in gewissem Maße zu einem Schutz vor der regulatorischen Durchsetzung von Qualitätsstandards in der Herstellung werden. Die zunehmenden Stratifizierung und die häufige Ausweisung onkologischer Arzneimittel als AMSL können regulatorische Besonderheiten mit sich bringen, die über die Zulassungsentscheidung hinaus bedeutsam werden können. Die Anerkennung als AMSL wird bei der Nutzenbewertung im Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz ausdrücklich berücksichtigt und kann diese vereinfachen, und die explizite Bestätigung des erheblichen Nutzens (significant benefit) durch den Ausschuss für Arzneimittel für seltene Krankheiten (Committee for Orphan Medicinal Products, COMP) kann hilfreich sein. Andere regulatorische Besonderheiten wie die Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen oder
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eine bedingte Zulassung können sich jedoch auch nachteilig auswirken. Bei Anwendung dieser Verfahren wird vorausgesetzt, dass der Nutzen des Arzneimittels zum Zeitpunkt der Zulassungsentscheidung noch nicht abschließend bewertet werden kann. Im Falle einer bedingten Zulassung sind daher weitere Untersuchungen zwingend erforderlich. Im Falle einer Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen wird davon ausgegangen, dass es auch zukünftig nicht möglich sein wird, wegen der geringen Zahl von Patientinnen und Patienten Studien durchzuführen, die eine verlässliche Abschätzung der Größe des klinischen Nutzens ermöglichen. Beides ist natürlich keine ideale Basis für eine Einordnung des Nutzens der Arzneimittel unter vergleichenden Gesichtspunkten im Rahmen eines HTA. Eine bedingte Zulassung oder eine Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen kann dazu beitragen, dass ein Arzneimittel schneller vermarktet werden kann und damit die Patientinnen und Patienten schneller erreicht. Die damit verbundene, geringere Belastbarkeit der zu Wirksamkeit und Sicherheit vorgelegten Daten kann aber bei Fragen zu Preisgestaltung und Kostenübernahme nachteilig werden. Dies gilt besonders, wenn diese Fragen in enger zeitlicher Nähe zur Zulassung zur Entscheidung anstehen und daher nur wenig zusätzliche Daten zu erwarten sind. Der Zulassungsprozess mit dem zu diesem Zweck zusammengestellten Dossier des Antragstellers und der Bewertungsberichte der Assessorinnen und Assessoren kann also nicht isoliert betrachtet werden. Da diese auch in nachfolgende Bewertungen beispielsweise durch HTA Einrichtungen einbezogen werden, muss die Zulassung als ein Teilschritt von mehreren in der Entwicklung eines onkologischen Arzneimittels begriffen werden, und Auswirkungen auf andere, über die Zulassung hinaus gehende wichtige Entscheidungen müssen bedacht werden. Daher erscheint es sinnvoll, auch die Zulassung im Kontext einer umfassenden Gesamtstrategie für die Entwicklung eines onkologischen Arzneimittels zu betrachten.
Die Zulassung als Teil einer umfassenden Entwicklungsstrategie für onkologische Arzneimittel Die Entwicklung eines onkologischen Arzneimittels ist sowohl aus medizinischer wie aus wirtschaftlicher Sicht erfolgreich, wenn es zur Behandlung von Patientinnen und Patienten (häufig) eigesetzt wird. Der Weg eines onkologischen Arzneimittels aus dem Forschungslabor zu den Patientinnen und Patienten gliedert sich in verschiedene sequentielle Abschnitte, die jeweils erfolgreich absolviert werden müssen. Aus regulatorischer Sicht sind dabei drei Ebenen zu unterscheiden, die sich gegenseitig beeinflussen, nämlich die Genehmigung der klinischen Prüfungen, die Marktzulassung und die Frage der Kostenerstattung oder Preisgestaltung. Die auch innerhalb dieser Ebenen zum Teil unterschiedliche Verteilung der Zuständigkeiten auf europäische, nationale und regionale Einrichtungen ist in Abbildung 2 dargestellt. Für die Genehmigung klinischer Studien sind in Deutschland die regionalen Ethikkommissionen und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) oder das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) als nationale Behörden zuständig.
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Abbildung 2 Die Verteilung der Zuständigkeiten für Humanarzneimittel in Deutschland und der Europäischen Union.
Wissenschaftler des BfArM oder PEI bewerten sowohl die Anträge zur Genehmigung klinischer Studien als auch Zulassungsanträge, einschließlich der bei der EMA eingereichten Zulassungsanträge für innovative onkologische Arzneimittel, und sie sind an den nationalen und europäischen wissenschaftlichen Beratungsverfahren beteiligt. Daher können die Assessorinnen und Assessoren bei der Genehmigung der klinischen Studien ihr Wissen aus den Zulassungsverfahren einbringen und umgekehrt. Dabei ist aber zu beachten, dass bei der Genehmigung klinischer Prüfungen und bei der Zulassung von Arzneimitteln unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Bei der Genehmigung der klinischen Studien ist das wesentliche Ziel, dass die in die Studien eingeschlossenen Patientinnen und Patienten nicht gefährdet werden. Bei der Zulassung von Arzneimitteln ist entscheidend, ob für die beantragte Indikation ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis belegt werden kann. Dies ist nicht deckungsgleich. Obwohl beides möglicherweise von derselben Behörde oder sogar denselben Assessorinnen und Assessoren bearbeitet wird, kann die Bewertung unterschiedlich ausfallen. Dass die Durchführung einer klinischen Studie genehmigt wurde, bedeutet nicht zwangsläufig, dass das auch ein geeignetes Studiendesign ist, um ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis zu belegen. Beispielweise spricht bei der Genehmigung einer klinischen Prüfung grundsätzlich nichts dagegen, den Patientinnen und Patienten einen Wechsel von der Kontrollgruppe in die mit dem neuen Wirkstoff behandelte Gruppe zu ermöglichen; die spätere Verwendbarkeit der Studie für die Zulassung des Arzneimittels kann dadurch aber stark eingeschränkt sein. Über die Marktzulassung eines innovativen onkologischen Arzneimittels wird von der EUK entschieden. Die Basis für die Entscheidungen der EUK bilden die Empfehlungen der verschiedenen Ausschüsse der EMA. Während über die Ausweisung als potenzielles AMSL der COMP meist früh in der Entwicklung entscheidet, wird die wichtige Frage der Ähnlichkeit mit einem anderen AMSL während des Zulassungsverfahrens vom CHMP bewertet. Auch die Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnis erfolgt im CHMP. Wenn dieser auf ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis erkennt, ist im Falle eines AMSL wiederum der COMP gefordert zu prüfen, ob auch ein erheblicher Nutzen (significant benefit) vorliegt. Nur in diesem Fall wird dem Arzneimittel auch die bis zu zehnjährige Marktexklusivität gewährt. Wenngleich die EMA die zentralisierten Zulassungsverfahren führt, sind es
H. Enzmann, K. Broich im Wesentlichen die Assessorinnen und Assessoren in den verschiedenen nationalen Zulassungsbehörden, die die wissenschaftliche Bewertung vornehmen. In diese Bewertungen kann daher das Wissen der Assessorinnen und Assessoren über ähnliche Wirkstoffe oder Produkte aus den Anträgen zur Genehmigung klinischer Prüfungen oder anderen, früheren oder parallelen Zulassungsverfahren einfließen. Für die Erkennung von Klasseneffekten kann beispielsweise die Kenntnis von Unterlagen zu parallel in der Entwicklung befindlichen Konkurrenzprodukten sehr hilfreich sein. Die ausführlichen Bewertungsberichte und die Angaben in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels (Summary of Product Characteristics, SmPC), die während des zentralisierten Verfahrens erstellt werden, sind von großer Bedeutung für die Wahrnehmung des Arzneimittels durch Ärztinnen und Ärzte, durch Patientinnen und Patienten und beeinflussen auch die spätere Bewertung durch HTA Einrichtungen. Für die Antragsteller kann es daher wichtig sein, bereits bei der Zulassung eine für sie günstige Weichenstellung anzustreben. Nicht alle Antragsteller scheinen sich der großen Transparenz des europäischen Zulassungsprozess bewusst und nützen diese entsprechend. Auf der Homepage der EMA ist veröffentlicht, wie der detaillierte Aufbau und die Inhalte der Bewertungsberichtes sein sollen, und worauf Assessorinnen und Assessoren bei der Bewertung und bei der Erstellung des Berichts besonders achten sollen [12,13]. Bei der Zusammenstellung der mit dem Antrag auf Zulassung eingereichten Unterlagen kann es hilfreich sein, diese zu berücksichtigen und so Fragen oder Kritik der Assessorinnen und Assessoren zu antizipieren und schon in den eingereichten Unterlagen inhaltlich klar und gut sichtbar zu adressieren. Bewertungsberichte und SmPC reflektieren bei Konsensentscheidungen die Position des gesamten CHMP, bei Mehrheitsentscheidungen die Position von mindestens 17 Ausschussmitgliedern aus EU-Ländern. Die detaillierte Bewertung der eingereichten Unterlagen ist aber im wesentlichen Aufgabe der Rapporteure und Corapporteure des jeweiligen Verfahrens. Die vom CHMP bestimmten Rapporteure und Corapporteure bearbeiten mit ihren nationalen Teams die eingereichten Unterlagen deutlich intensiver als die anderen Mitglieder. Abbildung 3 zeigt dies schematisiert; die schwarz dargestellten Zeitphasen, in denen die Rapporteure und Corapporteure die Unterlagen bearbeiten sind deutlich größer als die weiss dargestellten Zeitphasen, in denen sich die anderen Ausschussmitglieder mit ihren Teams mit dem jeweiligen Antrag befassen. Rapporteur und Corapporteur schreiben auch mit ihren Assessorinnen und Assessoren den Entwurf der Bewertungsberichte und nehmen so wesentlich Einfluss darauf, wie gut diese Berichte geeignet sind, in eine spätere Bewertung durch HTA Einrichtungen einzufließen. Preis und Erstattungsfähigkeit werden bei der Zulassung eines Arzneimittels in keiner Weise in die Entscheidung einbezogen oder bewertet. Die verschiedenen, nationalen oder regionalen Entscheidungsträger zu Preis und Kostenerstattung bauen aber häufig ihre eigenen Bewertungen zumindest in Teilen auf den schon während des Zulassungsverfahrens verwendeten Unterlagen und auch auf den Bewertungen durch die Zulassungsbehörden auf. Eine 2010 eingerichtete, gemeinsame Arbeitsgruppe von EMA und dem europäischen Netzwerk der HTA Einrichtungen (EUnetHTA) arbeitet daran,
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Abbildung 3 Die Arbeitsverteilung zwischen Rapporteuren und anderen Mitgliedern des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) im zentralisierten Zulassungsverfahren der EMA. Schwarz: Rapporteur und Co-Rapporteur bearbeiten den Antrag. Weiss: Beiträge der anderen Ausschussmitglieder. Grau: Festlegung der Position des Ausschusses, wobei die Rapporteure wesentlich zur Diskussion beitragen.
die Schnittstellen zwischen regulatorischer Bewertung und HTA zu verbessern und die Verwendung der im Rahmen der Zulassung erarbeiteten Bewertungen für die Arbeit der HTA zu erleichtern. Studien zu Wirksamkeit und Sicherheit (post approval safety and efficacy studies), die zwar aus Forderungen im Rahmen der Zulassungsentscheidung resultieren, deren Ergebnisse aber erst nach Marktzulassung vorliegen, nehmen an Häufigkeit zu. Auch dies zeigt, dass die Bewertungen im Rahmen der Zulassung und durch HTA Einrichtungen zunehmend ineinander greifen. Gemeinsame Beratungen von Zulassungsbehörden und HTA Einrichtungen können während der Entwicklung eines neuen Arzneimittels hilfreich sein und sind auf europäischer und nationaler Ebene möglich.
Schlussfolgerungen Am Ende einer jeden Arzneimittelentwicklung soll die Anwendung des Arzneimittels an Patientinnen und Patienten stehen. Dies ist das gemeinsame Ziel aller Beteiligten, vom Entdecker der Wirksubstanz bis zum behandelnden Arzt. Die Nutzung des Arzneimittels durch Patientinnen und Patienten ist maßgeblich dafür, ob die Entwicklung letztendlich erfolgreich war. Dabei beinhaltet der ,,Erfolg‘‘ sowohl den für die Patientinnen und Patienten maßgeblichen medizinischen Behandlungserfolg wie den für den Hersteller wichtigen ökonomischen Erfolg. Um dies mit vertretbarem Aufwand und möglichst zügig zu erreichen, dürfen die einzelnen Teilschritte aus Genehmigung der klinischen Prüfungen, Marktzulassung und Kostenerstattung nicht isoliert betrachtet werden. Wenngleich in unterschiedlichen Teilschritten verschiedene Bewertungsschwerpunkte gesetzt sind, so ist es wesentlich, die Überschneidungen und die daraus resultierenden Möglichkeiten zur Nutzung von Synergien zu erkennen. Es kann sinnvoll sein, bereits bei Zusammenstellung der Zulassungsunterlagen zu
berücksichtigen, welche Bedeutung die eingereichten Unterlagen und die darauf aufbauenden Bewertungen durch die Zulassungsbehörden später für Nutzenbewertung durch HTA Einrichtungen bekommen können. Mit der zunehmenden Bedeutung von HTA und der Zusammenarbeit von HTA Einrichtungen und Zulassungsbehörden wird eine in sich abgestimmten Gesamtstrategie für die Entwicklung von onkologischen Arzneimitteln noch wichtiger werden.
Literatur [1] Lancaster PA. Causes of birth defects: lessons from history Congenit Anom (Kyoto) 2011;51(1):2—5. [2] Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur. Amtsblatt der Europäischen Union, 30. April 2004, L136/1-33. [3] Enzmann H, Schneider C. Die Rolle des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) bei der europäischen zentralen Zulassung. Bundesgesundheitsblatt 2008;51(7):731—9. [4] Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel. http://eur-lex. europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:2001L0083: 20070126:de:PDF [5] Hennes EC. An overview of values for the threshold of toxicological concern. Toxicol Lett 2012;211(3):296—303. [6] EMA 2012. Guideline on the evaluation of anticancer medicinal products in man. http://www.ema.europa.eu/docs/en GB/ document library/Scientific guideline/2013/01/WC500137128. pdf [7] EMA 2012. Appendix 1 to the guideline on the evaluation of anticancer medicinal products in man. Methodological consideration for using progression-free survival (PFS) or disease-free survival (DFS) in confirmatory trials. http://www.ema.europa. eu/docs/en GB/document library/Scientific guideline/2013/ 01/WC500137126.pdf
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[8] Statistisches Bundesamt 2012. Fachserie 12 Reihe 4. Gesundheit Todesursachen in Deutschland 2011 https://www.destatis. de/DE/Publikationen/Thematisch/Gesundheit/Todesursachen/ Todesursachen2120400117004.pdf? blob=publicationFile [9] Coley BC. Treatment of inoperable malignant tumors with the toxins of erysipelas and the bacillus prodigiosus. American Journal of the Medical Sciences 108, 1894, 50-66. Nachdruck in: Shimkin MB. Some classics of experimental oncology. NIH Publication No. 80-2150, 1980. [10] Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/ LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:018:0001:0005:de:PDF
[11] Enzmann H, Lütz J. Förderung von Arzneimitteln für seltene Leiden durch die Europäische Gemeinschaft. Bundesgesundheitsblatt 2008;51(5):500—8. [12] EMA 2011. Guidance document for the content of the rapporteur day 80 critical assessment report. http://www. ema.europa.eu/docs/en GB/document library/Regulatory and procedural guideline/2009/10/WC500004856.pdf [13] EMA 2012. Guidance document on the content of the rapporteur day 80 critical assessment report. Overview and list of questions. http://www.ema.europa.eu/docs/ en GB/document library/Regulatory and procedural guideline/ 2009/10/WC500004800.pdf
Neuauflage: Empfehlungen zur Therapie akuter Atemwegsinfektionen und der ambulant erworbenen Pneumonie Im Februar 2013 sind die „Empfehlungen zur Therapie akuter Atemwegsinfektionen und der ambulant erworbenen Pneumonie‘‘ erschienen. Dabei wurde die 2. Auflage aus dem Jahre 2002 vollständig überarbeitet und aktualisiert. Akute Atemwegsinfektionen gehören zu den häufigsten Erkrankungen weltweit und sind auch in Deutschland für erhebliche direkte und indirekte Krankheitskosten verantwortlich. Atemwegsinfektionen betreffen große Teile der Bevölkerung mehrfach im Jahr, vor allem Kinder im Vorschulalter können vier- bis achtmal pro Jahr daran erkranken. Die Behandlung dieser Infektionen erfolgt überwiegend im vertragsärztlichen Bereich. Aufgrund ihrer zumeist viralen Genese und des überwiegend komplikationsfreien Verlaufs
sollten Antibiotika in dieser Indikation nicht routinemäßig verordnet werden — zumal diese auch mit einem erhöhten Risiko unerwünschter Wirkungen und Resistenzentwicklungen verbunden sind. Untersuchungen aus der Allgemeinmedizin weisen darauf hin, dass es auch in Deutschland durchaus Möglichkeiten zur Reduktion des Antibiotikaverbrauches gibt. Aufgabe der nun vorliegenden Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft ist es daher zu prüfen, für welche medikamentöse Behandlung, besonders mit Antibiotika, hinreichende Belege anhand von klinischen Studien vorliegen, die eine Empfehlung rechtfertigen. Für die Mehrzahl der Fälle — sofern es sich nicht um eine Lungenentzündung
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handelt — ist eine Antibiotikagabe nicht erforderlich. Grundlage für die Therapieentscheidung ist jedoch immer eine Risikostratifizierung, die Besonderheiten im Individualfall berücksichtigt. Die Therapieempfehlungen können Sie ab sofort bestellen. Die Schutzgebühr für das Einzelheft beträgt 8,00 Euro inkl. Porto und Versand. Im Rahmen eines Jahresabonnements erhalten Sie die von der AkdÄ sechsmal jährlich herausgegebene Zeitschrift „Arzneiverordnung in der Praxis‘‘ (AVP) mit den Sonderheften „Therapieempfehlungen‘‘ zu unterschiedlichen Indikationen. Weitere Informationen: http://www.akdae.de/ Arzneimitteltherapie/ TE/index.html