INGO H. WARNKE & DANIEL SCHMIDT-BRÜCKEN (Bremen)
Koloniale Grammatiken und ihre Beispiele – Linguistischer Sprachgebrauch als Ausdruck von Gewissheiten
Abstract Grammatical sample sentences are traditionally distinguished by their descriptive and prescriptive function. For the analysis of a corpus of sample sentences in German colonial grammar books of indigenous African languages in the period from 1884 until 1919 (Korpus Kolonialgrammatischer Beispielsätze; KoKoBei) this dyadic differentiation is shown to be insufficient. On the basis of a model of the epistemic reading of grammatical examples and in reference to WITTGENSTEIN’s ‘On Certainty’ we therefore analyze the world views conveyed in sample sentences which must count as a historical repertoire of split certainties. In a generic analysis we concentrate on functional grammatical preferences of expression using the example of predicate classes, sentence mood and denotata of subject expressions. The paper strives to supply a contribution to the foundation of discourse grammatical analyses of colonial linguistics. Likewise it provides preparatory work for a corpus of German colonial language to be built up.
1. Koloniallinguistik im Licht von Deskription und Präskription Der Gegensatz von deskriptiver und präskriptiver Sprachwissenschaft gilt in der Linguistik als konstitutiv für das fachliche Selbstverständnis, dies auch und im Besonderen in der Germanistischen Linguistik, wie bereits KLEIN (2004: 376) feststellt. Dass Sprachwissenschaft mit dem Ziel der Beschreibung oder Normsetzung bzw. Kritik betrieben werden kann, zeigt nicht nur die Geschichte der Grammatik (vgl. GARDT 1999, DÜRSCHEID 2010: 14f.), sondern manifestiert sich auch in zwei aktuellen Ausprägungen der Diskursanalyse, in der so genannten Kritischen Diskursanalyse (vgl. JÄGER 2009) bzw. Critical discourse analysis (vgl. FAIRCLOUGH 2010) einerseits und der aus der Historischen Semantik und deskriptiven Textlinguistik hervorgegangenen Diskurslinguistik (vgl. WARNKE 2007; WARNKE & SPITZMÜLLER 2008) andererseits. Wenngleich der Gegensatz von Beschreibung und Normsetzung nicht zuletzt deswegen fraglich ist, weil jede noch so bemühte Sprachdeskription immer auch zur Normsetzung genutzt werden kann, “u.U. ganz entgegen den Intentionen ihrer Verfasser” (EISENBERG 2004: 2), hat die Unter-
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scheidung zwischen wissenschaftlich-deskriptiv vs. ideologisch-wertend für viele Fachvertreter den Rang eines identitätsstiftenden Antagonismus erlangt (CAMERON 1995). Wissenschaftliche Positionen im Feld der Linguistik lassen sich also an der Beantwortung der Frage, ob man wissenschaftlich (nur) beschreiben oder (auch) bewerten sollte, festmachen: Prescriptivism [. . . ] is the disfavoured half of a binary opposition, ‘descriptive/prescriptive’; and this binarism sets the parameters of linguistics as a discipline. The very first thing any student of linguistics learns is that ‘linguistics is descriptive not prescriptive’ – concerned, in the way of all science, with objective facts and not subjective value judgements. Prescriptivism thus represents the threatening Other, the forbiddden; it is a spectre that haunts linguistics and a difference that defines linguistics. (CAMERON 1995: 5) Beschäftigt man sich mit diskursiven Formationen der deutschen Kolonialzeit (vgl. WARNKE 2009), so liegt es nahe, das politische Potential des Gegenstandes durchaus mit historischer Kritik zu versehen. Gerade die Post-colonial studies (vgl. ASHCROFT et al. 2007) zeigen in vielen Ausprägungen, wie Kritik an herrschenden kolonialen und postkolonialen Gesellschaftsformationen zum wissenschaftlichen Selbstverständnis gehören kann. Nun ergibt sich für jede diskursanalytische Haltung der Gesellschaftskritik aber ein Erkenntnisproblem, das aus der für die Kritik selbst immer wieder genutzten Aussage von der Diskursivität/Relativität/Historizität der Wahrheit zwingend folgt. Wenn etwa die Kritische Diskursanalyse erklärtermaßen zur Veränderung von “gesellschaftlichen Missständen” (JÄGER 2009: 20) aufruft – und was anderes sind koloniale Machtstrukturen –, so verkennt sie dabei regelmäßig, dass die Infragestellung von historischen Wahrheiten nur vor dem Hintergrund eines eigenen, absolut gesetzten Wahrheitsmaßstabes möglich ist. PENNYCOOK (2001: 85) und MILANI & JOHNSON (2008: 367) sprechen vom epistemological dilemma einer so verstandenen Kritik. Das Primat der wissenschaftlichen Deskription ist also nicht nur eine Frage der Position, sondern begründet sich systematisch auch an der Unmöglichkeit von Kritik jenseits einer Relativierung des eigenen Standpunktes. Gerade dort, wo gesellschaftlich umstrittene Sachverhalte in den Blick genommen werden – und Kolonialismus gehört dazu – ist der wissenschaftliche Ruf nach bewertenden Aussagen problematisch; eine für die Bewertung vergangenen Sprechens notwendige Distanzierung von historischen Haltungen, etwa durch Dekonstruktion kolonialer Aussagen, wäre alles andere als frei von aktuellen, zeitgebundenen Auffassungen im Feld politisch korrekter Positionierungen der Kultur- und Geisteswissenschaften und würde fraglos Züge wissenschaftlicher Moden tragen.
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Dass die Analyse kolonialer Kommunikationspraxis andererseits aber nicht affirmativ sein kann, versteht sich aus der politischen Verantwortung vor der Geschichte ebenso. Unser Beitrag fragt vor diesem Hintergrund konzeptionell, wie sich die Diskurslinguistik, wenn sie sich mit Kolonialismus befasst, zur dichotomen Methodenhaltung von Beschreibung vs. Normsetzung/Kritik verhalten kann. Denn gerade für das Interesse an diskursiven Sprachkontaktphänomenen in der Kolonialzeit stellt sich die Frage, wie jenseits des epistemological dilemma zentrale Funktionen der Sprache als Werkzeug im kolonialen Projekt erkennbar gemacht werden können. Dies gilt vor allem dann, wenn als Gegenstand der Analyse die Beteiligung von kolonialer Sprachwissenschaft und Sprachvermittlung selbst gewählt wird. Ganz unabhängig davon, ob die eigene Haltung dabei deskriptiv oder präskriptiv ist, stellt sich hier nämlich die Frage nach Normsetzung und Beschreibung in den historischen Verfahren der koloniallinguistischen Spracharbeit selbst. Wir werden versuchen zu zeigen, dass eine adäquate Analyse der Quellen aber gerade jenseits der starren Dichotomie präskriptiv vs. deskriptiv möglich ist.
2. Das dyadische Modell des grammatischen Beispiels Zur Verdeutlichung unseres Vorhabens geben wir zunächst drei Beispiele aus Grammatiken indigener afrikanischer Sprachen bzw. aus Sprachführern der deutschen Kolonialzeit: (1a) Höre rasch auf zu fluchen, sonst werde ich dich schlagen. (Handbuch der Nama-Sprache, PLANERT 1905: 40) (1b) Du musst jedoch wissen, dass die Europäer selbst überhaupt große Gelehrte sind. (Jaunde-Texte, HEEPE 1919, Bd. 1: 74) (1c) Du wirst 25 Schläge bekommen. (Suahili Konversations-Grammatik, SEIDEL 1900: 94) Wir werden auf diese und andere Beispielsätze ausführlich eingehen. Zunächst stellt sich für uns aber die Frage, wie man in der Grammatikographie gewöhnlich die Funktion solcher Sätze einordnet; dazu verweisen wir auf die Etymologie und Bedeutung des Beispielbegriffs. Bei den Sätzen (1a–c) handelt es sich nicht um ein ahd. bīspil bzw. ein mhd. bīspel, also um etwas Hinzuerzähltes, das den Grammatiken einfach beigegeben wäre, z.B. zwecks Illustration. Die Beispielsätze (1a–c) entsprechen vielmehr der Semantik der späteren Lehnbedeutung zu lat. exemplum, es geht in ihnen also um ein Muster für erläuterte grammatische Phänomene bzw. Konstruktionen, vielleicht auch um ein Vorbild. Die grammatischen Beispiele entsprechen mithin dem, was das Duden-Universalwörterbuch (DUDEN 2001: 254) als Bedeutung von nhd. Beispiel paraphrasiert:
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a)
“beliebig herausgegriffener, typischer Einzelfall (als Erklärung für eine bestimmte Erscheinung od. einen bestimmten Vorgang)”
b)
“Vorbild, [einmaliges] Muster”
Fast wortgleich heißt es in der Brockhaus-Enzyklopädie (BROCKHAUS URL s. Literaturverzeichnis): “ein beliebig herausgegriffener, typischer Einzelfall als Erklärung für eine bestimmte Erscheinung oder einen bestimmten Vorgang; Vorbild.” Die Polysemie des Wortes Beispiel entspricht den bereits eingeführten Konzepten der Deskription (typische Einzelfälle nennen) und Präskription (ein Vorbild/Muster geben). Für den Status von Beispielsätzen können wir von deskriptiver vs. präskriptiver Exemplifikation sprechen. Eine deskriptive Exemplifikation ist demnach eine beschreibende Erläuterung durch einen beliebigen Einzelfall, eine präskriptive Exemplifikation eine normative Erläuterung durch ein vorschreibendes Muster. Daraus folgt, dass das Beispiel der deskriptiven Exemplifikation fakultativ ist, es kann dieser oder auch ein anderer Einzelfall einer Kategorie herangezogen werden, während das Beispiel der präskriptiven Exemplifikation obligatorisch genau den gewählten Einzelfall motiviert und von diesem aus eine Klasse vorschreibend hierarchisiert. Die beiden Bedeutungen von Beispiel entsprechen also der herkömmlichen grammatikographischen Einordnung des Sprachbeispiels, die auf Deskription und Präskription bezogen ist. Während sich Grammatiken noch der 1950er Jahre neben der Sprachbeschreibung auch und vor allem vor die Aufgabe der Sprachpflege gestellt sahen und dabei große Leitbilder einer logischen Ordnung der Sprache anführen, verfolgen neuere Grammatiken nach allgemeiner Auffassung das Primat der Deskription: “Man versteht sich als deskriptiv (beschreibend) und will damit zugleich eine präskriptive (vorschreibende, ‘gesetzgebende’) Ausrichtung vermeiden” (KLEIN 2004: 378). Der Übergang ist deutlich an den Vorworten der DUDEN-Grammatik abzulesen, wofür drei Beispiele gegeben seien: Der Sprachpflege galt deshalb neben der Sprachbeschreibung unsere besondere Aufmerksamkeit. (...) Der Benutzer unserer Grammatik wird also nicht nur erfahren, daß es in der Sprache große Leitbilder gibt, die weithin gelten, sondern auch, daß daneben Zonen des Übergangs und sogar des Behelfes bestehen, die außerhalb der ‘logischen’ Ordnung liegen. (DUDEN 1959: Vorwort) (...) strebt an, einer offenen Norm gerecht zu werden, indem sie die Breite des Üblichen, somit auch konkurrierende Wortformen und Verwendungsweisen, beschreibt. Dies bedeutet allerdings keinen Verzicht auf eine gewisse normative Geltung. (DUDEN 1998: Vorwort)
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Besonderes Gewicht haben Autoren und Redaktion außerdem auf die Analyse aktueller Sprachbelege und die entsprechende Auswahl an Beispielen gelegt. (DUDEN 2005: Vorwort) Während PAUL GREBE im Jahr 1959 noch die großen Leitbilder preist und Abweichungen von diesen als Übergänge und Behelfsformen ansieht, bleibt die Duden-Grammatik mit dem unklaren Konzept der offenen Norm im Jahr 1998 indifferent zwischen Beschreibung und Vorschrift. Die Duden-Redaktion beruft sich im Jahr 2005 – wortgleich in der 8. Auflage von 2009 übernommen – schließlich nur noch auf das Beispiel, ohne das problematische Verhältnis von Präskription und Deskription überhaupt noch zu erwähnen. Dies entspricht einer grundsätzlichen und wachsenden Ablehnung der Präskription in der westlichen Linguistik. LYONS (1984: 44) bringt dies auf den Punkt: “Die erste Aufgabe des Linguisten ist jedenfalls, zu beschreiben, wie die Leute tatsächlich ihre Sprache sprechen (und schreiben), nicht vorzuschreiben, wie sie sprechen oder schreiben sollten.” Im Weiteren schränkt LYONS (1984: 44) diese Aussage aber auch ein: “Es soll mit Nachdruck darauf verwiesen werden, dass der Linguist, wenn er zwischen Deskription und Präskription unterscheidet, damit nicht normativen Sprachstudien überhaupt ihre Daseinsberechtigung abspricht.” Der Status des grammatischen Beispiels schwankt also je nach Präferenz der Grammatiker zwischen deskriptiver und präskriptiver Exemplifikation. Wir sprechen vom dyadischen Modell der grammatikographischen Kategorisierung des Beispiels, dem, wie wir gesehen haben, auch die Bedeutungsparaphrasen des Wortes Beispiel mit der Semantik typischer Einzelfall vs. Vorbild/Muster entsprechen. Zusammenfassend halten wir fest: Beim typischen Einzelfall steht das Element für die Klasse mit deskriptiver Funktion fakultativ. Bezugsgröße sind dabei mögliche Formen des Sprachsystems oder Sprachgebrauchs. Beim Muster steht das Element für die Klasse mit präskriptiver Funktion obligatorisch. Bezugsgröße sind dabei als gültig angesehene Normen. Status typischer Einzelfall Muster
Relationstyp Element steht für die Klasse fakultativ Element steht für die Klasse obligatorisch
Funktion deskriptiv
Bezug System/ Gebrauch
Markierung Möglichkeit
präskriptiv
Normen
Gültigkeit
Tabelle 1: Grammatikographische Kategorisierung des Beispiels im dyadischen Modell 3. Koloniales Beispiel und Gewissheit – epistemische Lesarten
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Nun stellt sich für die Analyse koloniallinguistischer Grammatiken die Frage, ob Sätze des Typs (1a) tatsächlich nur als Deskription einer negativ-konditionalen Konstruktion mit dem Konnektor sonst lesbar sind oder eventuell die Imperativbildung mit Schwa als Norm setzen: (1a) Höre rasch auf zu fluchen, sonst werde ich dich schlagen. (PLANERT 1905: 40) Denn neben der denkbaren grammatischen Funktion von Deskription und Normsetzung drängt sich dem heutigen Leser fraglos die Fremdheit des Beispielsatzes auf, die sich bereits daran ablesen lässt, dass er für heutige Grammatiken ungeeignet scheint. Damit ist ein Problem angesprochen, dass keinesfalls nur für die Koloniallinguistik besteht. So können wir fragen, ob Satz (2) aus der Einführung in die Grammatik der deutschen Gegenwartssprache tatsächlich nur deskriptives Beispiel einer parataktischen Verbindung im Gegenwartsdeutschen ist: (2)
Wir haben die Bürger des Wohnbezirks aufgerufen, die Gebäude zu schmücken und sich an der Demonstration zu beteiligen. (SOMMERFELDT & STARKE 1988: 175)
Um heute eine Demonstration als Aufforderung zum Schmücken von Gebäuden zu verstehen fehlt dem Leser sicherlich Weltwissen, dass bei SOMMERFELD & STARKE vorausgesetzt wird. Ähnlich verhält es sich bei der Nennung eines Beispiels für Präsuppositionen in LEVINSONS Pragmatics: (3)
If the Vice-Chancellor invites the U.S. President to dinner, he’ll regret having invited a feminist to his table. (LEVINSON 1983: 188)
Es handelt sich bei den Sätzen (1), (2) und (3) um jeweils objektsprachliche Belege mit dem Status eines Beispiels für linguistische Phänomene. Jedoch lassen sich die Sätze grammatikographisch nicht hinreichend im dyadischen Modell (s. Tab. 1) kategorisieren. Die Lesarten der Beispielsätze gehen möglicherweise darüber hinaus. Der Satz Höre rasch auf zu fluchen, sonst werde ich dich schlagen ist für den heutigen Leser vermutlich ebenso fremd, wie die Vorstellung, ein Gebäude im Zusammenhang einer Demonstrationsbeteiligung zu schmücken. Auch im Beispiel von LEVINSON erfahren wir nicht nur, dass der US-Präsident vermutlich keine Feministen/Feministinnen mag, sondern das Beispiel legt zudem eine Spur in die Zeit seines Gebrauchs. Linguistische Beispiele geben in einer über Deskription und Präskription hinausgehenden Lesart immer auch Hinweise auf den Beispielgebrauch. Sie sind damit nicht nur objektsprachliche Daten, sondern verweisen auch auf verstehensrelevantes Wissen (vgl. BUSSE 2008), sie sind diskursiv markiert. In einer Grammatik der Suaheli-Sprache aus dem Jahr 1905 lesen wir zwei Sätze, die explizit nur Beispiele des Imperativs geben:
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(4a) Tötet den Sklaven. (SEIDEL ca. 1903: 16) (4b) Wenn Europäer kommen, behandle sie gut! (SEIDEL ca. 1903: 72) Es ist davon auszugehen, dass man sich von diesen Sätzen heute intuitiv distanziert. Diese Distanzierung funktioniert unter der Voraussetzung der Annahme, dass die Sätze Zeugnis geben oder besser ein Beispiel dafür sind, was koloniale Gewissheiten waren; diese Gewissheiten werden heute nicht mehr geteilt. Wir beziehen uns mit dem Gewissheitsbegriff auf WITTGENSTEINS Abhandlung Über Gewissheit/On Certainty von 1950/51. Die Beispiele der Kolonialgrammatiken werfen nicht nur die Frage nach dem Status von Deskription und Präskription auf, sondern sie markieren eine heute befremdliche Gewissheit über die Richtigkeit der kolonialen Machtverhältnisse. So verweist (4a) auf den einfachen Erfahrungssatz Sklaven werden bei Ungehorsam getötet, was uns heute fraglos als inakzeptabel erscheint und damit zur Ablehnung eines solchen Satzes als grammatischer Beispielsatz führt. Weil die in (4a) integrierte koloniale Gewissheit nicht mehr geteilt wird, wäre der Beispielgebrauch für Gegenwartsgrammatiken inakzeptabel. Dies ist die Folge einer Veränderung des verstehensrelevanten Wissens. WITTGENSTEIN schreibt über solche Veränderungen in Gewissheiten: Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dieses Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden. (WITTGENSTEIN 1984: §96) In einem Projekt zur Analyse koloniallinguistischer Grammatiken kommt man folglich mit der grammatikographische Kategorisierung des Beispiels im dyadischen Modell nicht wirklich weit. Sätze des Typs (1), (2), (3) und (4) sind für uns weniger als Deskription oder Präskription interessant, sondern deshalb, weil sie als Beispiele Weltbilder und Gewissheiten vermitteln. Wir schlagen daher vor, die gängige Kategorisierung des grammatischen Beispiels um die Kategorie der epistemischen Lesart zu erweitern.1 Dabei entgeht uns nicht, dass wir nun von Lesarten sprechen. Es geht uns nicht um substantielle Eigenschaften von Beispielen, sondern um die Frage, wie grammatische Beispiel lesbar sind. Man kann Tötet den Skla 1
Wenn wir hier und im Folgenden von epistemisch sprechen, so beziehen wir uns nicht auf die im engeren erkenntnistheoretischen Sinne übliche Semantik von epistemologisch – wie sie auch im bereits behandelten epistemological dilemma vorliegt–, wir beziehen uns mit der Bezeichnung vielmehr auf den an Foucault orientierten und aus altgr. πιστήμη abgeleiteten Begriff Episteme im Sinne einer wissensstrukturierenden, historischen Konstellation. Für die germanistische Linguistik hat BUSSE (vgl. 2003) diese Bedeutung von epistemisch nutzbar gemacht.
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ven auch als normatives Beispiel des deutschen Imperativsatzes lesen. Doch das ist mehr als unwahrscheinlich, um in den Worten von WITTGENSTEIN zu sprechen: die flüssige Kolonialerfahrung ist erstarrt, der Satz befremdet, seine Gewissheit ist fossiliert. Analytisch ist der Satz deshalb Beispiel kolonialer Weltbilder und Gewissheiten; wir sprechen vom epistemischen Beispiel: Status typischer Einzelfall Muster
Präferenz
Relationstyp Element steht für die Klasse fakultativ Element steht für die Klasse obligatorisch Element steht für die Klasse historisch
Funktion deskriptiv
Bezug System/ Gebrauch
Markierung Möglichkeit
präskriptiv
Normen
Gültigkeit
epistemisch
Repertoire
Gewissheit
Tabelle 2: Lesarten des grammatischen Beispiels im triadischen Modell Betrachtet man Präferenzen für bestimmte Sprachformen, so stehen diese mit epistemischer Funktion für die Klasse historisch, also in jeweils zeitlich üblichen Gebrauchskontexten. Bezugsgröße sind dabei Repertoires kommunikativ vermittelter Gewissheiten. Die Herleitung dieser Triadik ist keinesfalls willkürlich, denn sie bezieht sich auf die morphologische Verbkategorie der Person (Ich/Wir, Du/Ihr, Er,Sie,Es/Sie). BÜHLER (1934: 24ff.) hat diese Dimensionen bekanntlich funktional umgedeutet (‘Ausdruck’, ‘Appell’, ‘Darstellung’); wir leiten aus den drei Kommunikationsdimensionen die drei Lesarten des Beispiels ab: Die epistemische Lesart markiert meine jeweils zeitgebundenen Gewissheiten als Ich, die präskriptive Lesart appelliert an ein Du, Normen als richtig anzuerkennen, die deskriptive Lesart stellt Möglichkeiten in sachdistanzierter Beschreibung dar. Von Interesse sind die Beispielsätze kolonialer Grammatiken für uns also deshalb, weil wir sie als Teil zeitgebundener kommunikativer Repertoires verstehen und in ihnen Spuren von Gewissheit im WITTGENSTEIN’schen Verständnis sehen. Wir nennen den damit gewählten Fokus auf die Beispielsätze eine epistemische Lesart. Mit WITTGENSTEIN gilt dabei: Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide. (WITTGENSTEIN 1984: §93) Es stellt sich die Frage, welche Hintergründe grammatische Beispiele zu erkennen geben und welche epistemischen Lesarten rekonstruierbar sind. Die Historizität auch dieser Lesarten ist dabei stets zu bedenken. Damit
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weisen wir auf grammatikographische Probleme hin, die bisher weder für Kolonialgrammatiken noch überhaupt für das grammatische Beispiel näher untersucht wurden. Für die Rekonstruktion eines zeitgebundenen Common-Sense im Sinne von Gewissheiten sind Grammatiken aber besonders interessante Quellen, weil ihr beispielhaftes Sprechen implizit ist; explizit geht es ja um Präskription oder Deskription. Die epistemische Lesart relativiert die Beispielsätze also grundsätzlich. Sie erscheinen aus der historischen Distanz als problematisch, dies jedoch nicht, weil wir uns mit ihren grammatischen Vorannahmen oder Intentionen nicht einverstanden erklären können, sondern weil das in ihnen geteilte und vorausgesetzte Wissen in einer historischen Distanz steht. Ein Satz wie (1b) Du musst jedoch wissen, dass die Europäer selbst überhaupt große Gelehrte sind. (HEEPE 1919, Bd. 1: 74) überzeugt heute als grammatisches Beispiel nicht mehr, weil die Akzeptabilitätsbedingungen des heutigen Lesers oder Nutzers der Grammatik distinkt zum Jahr 1919 sind. HABERMAS (1981) hat in der Theorie des kommunikativen Handelns WITTGENSTEINS Gewissheits-Text auf die damit angesprochene Dimension der Akzeptabilität bezogen. Er beschreibt recht genau, was in uns vorgeht, wenn wir Sätze des Typs (1), (2), (3) und (4) lesen oder hören: Die Relativität der wörtlichen Bedeutung eines Ausdrucks entdecken wir vielmehr erst durch eine Art der Problematisierung, die wir nicht ohne weiteres in der Hand haben. Sie ergibt sich infolge objektiv auftretender Probleme, die unser natürliches Weltbild erschüttern. Dieses fundamentale Hintergrundwissen, welches die Kenntnis der Akzeptabilitätsbedingungen sprachlich standardisierter Äußerungen stillschweigend ergänzen muß, damit ein Hörer deren wörtliche Bedeutung verstehen kann, hat merkwürdige Eigenschaften: es ist ein implizites Wissen, das nicht in endlich vielen Propositionen dargestellt werden kann; es ist ein holistisch strukturiertes Wissen, dessen Elemente aufeinander verweisen; und es ist ein Wissen, das uns insofern nicht zur Disposition steht, als wir es nicht nach Wunsch bewußt machen und in Zweifel ziehen können. (HABERMAS 1981, Bd. 1: 450) Die Holistik impliziten Wissens ist aber durchaus analytisch fassbar. Wir leisten das durch systematische Untersuchungen der epistemischen Lesart des Beispiels in Kolonialgrammatiken. Zwecks Darstellung der Empirie wenden wir unsere deduktiven Überlegungen zur Grammatikographie in eine induktive Perspektive und argumentieren im Weiteren datengestützt. 4. Vorüberlegungen zur Empirie epistemischer Lesarten des kolonialen Beispiels
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Eine Empirie des epistemischen Beispiels versucht eine Antwort auf die Frage, wie erstarrte Gewissheiten an konkretem Sprachgebrauch fassbar gemacht werden können. Untersuchungsgegenstand ist dabei ein Korpus von Beispielsätzen in kolonialen Grammatiken: Korpus Kolonialgrammatischer Beispielsätze (KoKoBei). Zugrunde liegen Grammatiken und Sprachführer zu indigenen afrikanischen Sprachen, die in den ehemaligen Kolonien des Deutschen Reiches von 1884 bis 1919 gesprochen wurden. In diesem Zeitraum, von der Berliner Konferenz 1884/85 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, fand koloniale Machtausübung des Deutschen Reiches auf dem afrikanischen Kontinent statt. In diskurslinguistisch-methodologischer Hinsicht setzen die Erhebungen gemäß DIMEAN (vgl. WARNKE & SPITZMÜLLER 2008) auf der intratextuellen Ebene im Bereich der propositionsorientierten Analyse an. Hinsichtlich der forschungspraktischen Bearbeitung der Fragestellung verfolgt unser Beitrag einen korpuslinguistischen Zugang, wie ihn BUBENHOFER (2009) mit dem Konzept der Sprachgebrauchsmuster umreißt. Laut BUBENHOFER sind Muster der Sprachverwendung in einem überzufällig häufigen Auftreten von Wörtern und Konstruktionen im Korpus realisiert. Exemplarisch dafür kann der Befund gelten, den eine Wortfrequenzanalyse mit WordSmith Tools erbringt. Nach Stopwörtern (Funktionswörter, wie Artikeln und Konjunktionen, die auch in einem rezenten Korpus die häufigsten Vorkommen aufweisen), sind die häufigsten Inhaltswörter in KoKoBei die Substantive Leute (45 Vorkommen, 0,41% aller Token), Sklaven (41 Vorkommen, 0,38% aller Token) und Europäer (38 Vorkommen, 0,35% aller Token) sind. Daraus lässt sich für einen lexik-orientierten Ansatzes eine erste Arbeitshypothese formulieren, nach der im Gebrauch der kolonialgrammatischen Beispielsätze offensichtlich nicht nur der sprachliche Verweis auf Menschen im Allgemeinen, also Leute, wichtig war, sondern auch die dichotome Kategorisierung in Sklaven auf der einen und Europäer auf der anderen Seite. Jedoch drücken sich Sprachgebrauchsmuster – und das ist der zentrale analytische Ansatz unseres Beitrags – nicht nur in der Wortsemantik, in lexikalisch transportierten Bedeutungen aus, sondern erstrecken sich auch und gerade auf grammatische Konstruktionen. Wir interessieren uns folglich für grammatische Bedeutungen und ihre diskurslinguistische Relevanz. Warum sollten aber gerade grammatische Konstruktionen in Beispielsätzen einen Aufschluss über Gewissheiten innerhalb eines Diskurses geben? Wodurch wird die grammatische, das heißt insbesondere die syntaktische Gestalt eines Beispielsatzes, zu einem epistemischen Beispiel? Man kann davon ausgehen, dass die Grammatik einer Sprache starrer und nachhaltiger ist als ihr Wortschatz. Sprachwandel findet auf der syntaktischen Ebene langsamer statt als auf der lexikalischen Ebene. Das alltäglich genutzte Lexikon erfährt Änderungen mitunter im Laufe einer Generation, dasselbe lässt sich aber nicht vom Gros der grammatischen Aus-
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drucksmöglichkeiten einer Sprache sagen (vgl. NÜBLING et al. 2008: 131). Gleichzeitig tritt die Bedeutung einer grammatischen Konstruktion nicht in demselben Maße offensiv in den Vordergrund, wie die eines lexikalischen Elementes. Und dennoch haftet die grammatische Bedeutung einem Satz stets auch neben der lexikalischen Bedeutung an. Wir können bei der syntaktischen Form eines Satzes bereits mit ERBEN (1984: 30) von einer “semantischen Trägerstruktur” sprechen. Die Wahl bestimmter grammatischer Mittel realisiert also gleichzeitig auch die Wahl bestimmter Bedeutungen, die diesen grammatischen Mitteln inhärent sind. Auch diese grammatischen Bedeutungen sind es, die Gewissheiten ausdrücken; sie sind dem Korpus von Beispielsätzen kolonialer Grammatiken eingeschrieben, und dies nicht nur an der Oberfläche des Wortschatzes, sondern in den Tiefen ihrer syntaktischen Strukturen. In systemischer Hinsicht ändern sich diese Strukturen weniger schnell und sind als bedeutungstragende Sprachelemente der Untersuchung von Diskurssemantik und Sprachgeschichte ebenso nutzbar zu machen, wie die schnelleren Wandlungen unterworfene Lexik. Ungeachtet dessen wurden grammatische Bedeutungen in bisherigen diskursanalytischen Untersuchungen vernachlässigt. Diesem Umstand, der aus einer funktionalgrammatischen Perspektive als Desiderat gewertet werden muss, will der vorliegende Beitrag begegnen. Wir gehen also unter anderem mit POLENZ (2008: 49) und ZIFONUN et al. (1997: 597) davon aus, dass grammatische Strukturen Bedeutungen haben.
5. Zum Korpus Kolonialgrammatischer Beispielsätze (KoKoBei) Unser Korpus Kolonialgrammatischer Beispielsätze (KoKoBei), das als Pilotkorpus für weitergehende Analysen zu verstehen ist, umfasst 1.078 deutschsprachige Beispielsätze aus 14 Kolonialgrammatiken von 11 Autoren mit insgesamt 10.881 Token. Es handelt sich, in chronologischer Reihenfolge, um folgende Texte: – – – – – – – – – –
SAINT PAUL-ILLAIRE (1896): Swahili-Sprachführer VIEHE (1897): Grammatik des Otjiherero SEIDEL (1900): Suahili Konversations-Grammatik SEIDEL [ca. 1903]: Praktische Grammatik der Suaheli-Sprache PLANERT (1905): Handbuch der Nama-Sprache MEINHOF (1909): Die Sprache der Herero MEINHOF (1910 [41941]): Die Sprache der Suaheli WESTERMANN (1911): Die Sprache der Haussa MEINHOF (1912): Die Sprache der Duala SCHÜRLE (1912): Die Sprache der Basa
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DUISBURG (1913): Grundriss der Kanuri-Sprache NEKES (1913): Die Sprache der Jaunde DEMPWOLFF (1916): Die Sandawe HEEPE (1919): Jaunde-Texte
Hinsichtlich der Textsortenzuordnung handelt es sich bei den Quellen um Grammatiken, Lehrbücher und Sprachführer. Unter “Grammatik” wird hier ein linguistisch-ethnographisch orientiertes, metasprachliches Werk mit überwiegend deskriptiver Funktion verstanden. Als “Lehrbuch” werden grammatische Darstellungen mit primär didaktisch-praktischer Funktion im Sprachenunterricht bezeichnet. “Sprachführer” schließlich sind Texte, die vorwiegend Hilfestellungen bei praktisch-situativer Sprachverwendung geben wollen. Die Textsortenkategorisierung kann aus der Titelgebung sowie aus den konzeptionellen Hinweisen der Verfasser in den Vorwörtern der Texte abgeleitet werden. Alle Quellen sind primär metasprachliche, nicht-fiktionale Texte. Im Folgenden wird deshalb verallgemeinernd und der Einfachheit halber von “Grammatiken” im weiteren Sinne gesprochen, wobei die Binnendifferenzierung mitzudenken ist. Innerhalb eines noch zu erstellenden größeren deutschen Kolonialkorpus, dessen mögliche Konturen in WARNKE (2009: 40ff.) skizziert sind, wären die im vorliegenden Beitrag behandelten Grammatiken den Textsorten der Deskription zuzurechnen. Das Korpus der Beispielsätze aus den 14 Grammatiken wurde vor Beginn der syntaktischen Analyse semantisch vorstrukturiert. Jeder der 1.078 Beispielsätze ist heuristisch einem semantischen Feld zugeordnet, das wir im Sinne eines Lebens- und Weltausschnittes als Zuordnungsgröße der jeweiligen Sätze nutzen. Dabei ergeben sich zwölf Felder im Sinne einer induktiven Ontologie des Kolonialen, die als heuristisches Kategorienraster am Datenmaterial erneut überprüft und systematisiert sind: – – – – – – – – – – – –
Mission, Schule, Bildung Natur Wirtschaft, Handel Hauswirtschaft, Ernährung Koloniale Machtbeziehungen Körper, Medizin Kulturelle Praxis Nutzung der Natur Perspektive auf Europa Recht Reisen Sozialbeziehungen
Wir verdeutlichen das Vorgehen exemplarisch durch die folgende Tabelle, die Beispiele für die jeweiligen Kategorien gibt: Lebens- und Weltausschnitt
Beispielsatz
Koloniale Grammatiken und ihre Beispiele Koloniale Machtbeziehungen
Kulturelle Praxis
Mission, Schule, Bildung
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Wenn deine Mutter eine Sklavin ist, dann gehörst auch zu den Sklaven. (DUISBURG 1913: 146) Viele Haussa sind Soldaten der Europäer. (WESTERMANN 1911: 19) Bevor man ein Haus betritt, ruft man stets zunächst ein oder mehrere Male hodi. (SAINT PAUL-ILLAIRE 1896: 334) Mit dem Rotschminken prunken auch die Weibsleute. (PLANERT 1905: 72) Der Mann hat seine Kinder nach Otjimbingue gebracht, um sie in die Schule zu thun. (VIEHE 1897: 57)
Tabelle 3: Beispiele semantischer Vorstrukturierung in KoKoBei Diese Ontologie dient als Ordnungsstruktur, um bestimmen zu können, mit welchen Ausschnitten kolonialen Denkens die Bedeutungen grammatischer Phänomene korrelieren. Die eigentlichen Analysen grammatischer Konstruktionen sind daher stets auf ein bestimmtes semantisches Feld bezogen. Quantitativ ergibt sich folgender Befund: Lebens- und Weltausschnitt Koloniale Machtbeziehungen Reisen Mission, Schule, Bildung Sozialbeziehungen Hauswirtschaft, Ernährung Natur Kulturelle Praxis Nutzung der Natur Körper, Medizin Perspektive auf Europa Wirtschaft, Handel Recht
absolute Häufigkeit 260 126 115 107 97 86 82 72 45 39 25 24
relative Häufigkeit (N = 1.078) 24,1% 11,6% 10,6% 9,9% 8,9% 7,7% 7,6% 6,6% 4,1% 3,6% 2,3% 2,2%
Tabelle 4: Induktiv gewonnene semantische Ontologie in KoKoBei Die Explikation des zentralen linguistischen Gedankens – die sprachliche Wirkungsmacht der Bedeutung grammatischer Konstruktionen im Diskurs – wollen wir im Weiteren anhand von drei Phänomenen verdeutlichen, denen in satzsemantischer Hinsicht eine anerkannte Funktion bei der Konstitution von Aussageinhalten zukommt; wir untersuchen (1) die Prädikatsklasse des im jeweiligen Satz realisierten Prädikatsausdruckes, (2) den Satzmodus und (3) das Denotat des Subjektausdruckes als thematisch relevantes Satzgliedes. 6. Exemplarische Analyse kolonialer Grammatikbeispiele in KoKoBei 6.1. Prädikatsklassen
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Prädikatsklassen, die in funktionaler Hinsicht den Aussagegehalt einer Prädikation entscheidend bestimmen, lassen Rückschlüsse auf die Art und Weise des Prädizierens im kolonialen Diskurs zu. Man unterscheidet Handlungs-, Vorgangs-, Zustands-, Eigenschafts- und Gattungsprädikate (POLENZ 2008: 159f.). Bei der Ermittlung der Prädikatsklasse in KoKoBei wurde von der unmodalisierten Form des jeweiligen Prädikatsausdruckes ausgegangen, da durch Modalverben oder Verbmodi geleistete Modalisierungen eine zusätzliche grammatisch-semantische Ebene und damit ablenkende Komplexität beisteuern. Die analytische Eliminierung dieses Faktors wird damit begründet, dass der Fokus auf den rein satzsemantischen Aspekten der Prädikatsklasse den epistemisch-pragmatischen Aspekt der Modalität vernachlässigen kann. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass eine weitergehende Analyse von Modalität im Diskurszusammenhang eine lohnende Ergänzung der hier angeregten ersten Perspektiven auf eine Grammatik des Kolonialdiskurses darstellen würde. In Korrelation mit den Feldern der beschriebenen semantischen Ontologie zeigt sich für die Prädikatsklassen in KoKoBei folgende Verteilung: Lebensund Weltausschnitt Koloniale Machtbeziehungen (N = 260) Reisen (N = 126) Mission, Schule, Bildung (N = 115) Sozialbeziehungen (N = 107) Hauswirtschaft, Ernährung (N = 97) Natur (N = 86) Kulturelle Praxis (N = 82)
Eigenschaftsprädikate abs. % 21 8,0
Gattungsprädikate abs. 8
% 3,0
Handlungsprädikate abs. % 176 67,6
Vorgangsprädikate
Zustandsprädikate
abs. 16
% 6,1
abs. 39
% 15
12
9,5
6
4,7
86
68,2
8
6,3
14
11,1
10
8,7
8
6,9
73
63,4
9
7,3
15
13,0
19
17,7
12
11,2
57
53,2
5
4,6
14
13,0
14
14,4
3
3,0
61
62,8
3
3,0
16
16,4
22
25,5
2
2,3
33
38,3
19
22,0
10
11,6
25
30,4
5
6,1
42
51,2
6
7,3
4
4,8
15
20,8
7
9,7
39
54,1
5
6,9
6
8,3
Nutzung der Natur (N = 72)
Koloniale Grammatiken und ihre Beispiele Körper, Medizin (N = 45) Perspektive auf Europa (N = 39) Wirtschaft, Handel (N = 25) Recht (N = 24)
15
10
22,2
5
11,1
17
37,7
8
17,7
5
11,1
13
33,3
3
7,6
21
53,8
1
2,5
1
2,5
4
16,0
1
4,0
16
64
4
16,0
0
0,0
2
8,3
3
12,5
9
37,5
7
29,1
3
12,5
Tabelle 5: Häufigkeitsverteilung (absolut und relativ) der Prädikatsklassen auf die semantischen Felder in KoKoBei Aus Tabelle 5 geht hervor, dass Handlungsprädikate in allen semantischen Feldern die bei weitem häufigste Prädikatsklasse im Korpus darstellen. Wir gehen davon aus, dass die satzsemantische Kategorie der Handlungsprädikate typischerweise in Handlungs- oder Tätigkeitsverben ihre formale Realisierung findet. Insofern deckt sich der korpusanalytische Befund mit der Feststellung der Duden-Grammatik (DUDEN 1984: 92), dass “Tätigkeitsverben [...] den Hauptteil der Verben [bilden]”, und entspricht der Bemerkung von HENTSCHEL & WEYDT (2003: 36): “Handlungsverben gelten aus der Sicht der kognitiven Linguistik wie der Universalienforschung als prototypische Verben.” Beispielsätze im Korpus kolonialer Grammatiken mit Handlungsprädikaten sind etwa die Sätze (5) bis (7): (5)
Der Wäscher hat viele Anzüge verbummelt. (SAINT PAUL-ILLAIRE 1896: 542)
(6)
Die Knechte suchen die Rinder und Ziegen. (MEINHOF 1909: 9)
(7)
Er hat mir eine Ohrfeige gegeben. (SEIDEL 1900: 32)
Neben den quantitativ auffälligen Prädikatsklassen sind im Diskurszusammenhang vor allem die semantischen Felder interessant, die in nennenswertem Maße markierte Prädikatsklassen aufweisen. Zu diesen können die Eigenschafts- und Gattungsprädikate gerechnet werden, die in Bezug auf Gewissheiten und Wissensbestände im Diskurs deshalb aussagekräftig sind, weil sie prädikative Relationen vom Typ X ist Y realisieren. Mit POLENZ (2008: 163) können Eigenschaftsprädikate als “Aussagen über Zustände von Lebewesen, Sachen oder Abstraktbegriffen” definiert werden, “die grundsätzlich unveränderlich sind, also zu ihren dauerhaften Merkmalen gehören”. Im Feld Perspektive auf Europa machen solche generischen Aussagen, d.h. alle Aussagen mit Eigenschafts- und Gattungsprädikaten, 41,0% aller analysierten Sätze aus. Im Feld Kulturelle Praxis sind es 36,5% der Sätze; vgl. hierzu die Beispiele (8) und (9):
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(8)
An jenem Tage habe ich erkannt, daß die Europäerinnen stark und kräftig sind. (HEEPE 1919, Bd. 1: 107)
(9)
Er trug haussanische Kleider, aber er war ein Heide. (WESTERMANN 1911: 42)
Die selbstreflexive Gewissheit, etwas, das laut Beispiel erkannt werden kann, nämlich daß Europäerinnen stark und kräftig sind, drückt sich in der Verwendung der prädikativen Konstruktion in (8) aus. In Satz (9) wirken die generische Zuschreibung der Religionsunzugehörigkeit er war ein Heide und die adversative Aussagenrelation aber bei der Reproduktion einer ethnographischen Gewissheit zusammen, indem der Religionszugehörigkeit, die durch das Tragen bestimmter Kleider präsupponiert wird, eine diese Präsupposition aufgreifende und negierende Gattungszuschreibung entgegengesetzt wird. 6.2. Satzmodus Der Satzmodus als grammatische Kategorie, die etwas über die Wissensqualität einer Äußerung vermittelt, korrespondiert eng mit dem, was am epistemischen Beispiel als epistemisch zu bezeichnen ist (vgl. Fn. 1). Die Diskurslinguistik, die in ihrem Erkenntnisinteresse auf sprachlich reproduzierte Gewissheiten und Wissensbestände in größeren Textzusammenhängen fokussiert ist, erhält einen Zugriff auf Wissensstatus und Verbindlichkeitsqualität von diskursiv geäußerten Propositionen (ZIFONUN et al. 1997: 618ff.) auch über den genuin grammatischen Aspekt der Satzmodalität. Gemäß der basalen, in ZIFONUN et al. (1997: 618) genannten “Funktionstypen ‘Aussage’, ‘Entscheidungsfrage’, ‘Ergänzungsfrage’ (zusammengefaßt auch: ‘Frage’), ‘Aufforderung’” untersuchen wir die Satzmodi Deklarativ, Imperativ und Interrogativ. Dabei sind vorrangig die als Aussagesätze geäußerten Propositionen von Interesse, da diese den Status des “repräsentativen Wissens” mit der Verbindlichkeitsqualität “ich sage das/ich sage das nicht” koppeln (vgl. ZIFONUN et al. 1997: 625). Bezogen auf die kolonialgrammatischen Beispielsätze in ihrer Lesart als epistemische Beispiele ergibt sich daraus, dass ein formal unmarkierter Aussagesatz – relativ zu den anderen Satzmodi – den höchsten Grad an Gewissheit über das So-und-nicht-anders-Sein des durch ihn ausgedrückten Sachverhalts transportiert. Auf die semantischen Felder der kolonialen Ontologie übertragen, ergibt sich für die Analyse der Beispielsätze nach Satzmodi folgende Häufigkeitsverteilung: Lebens- und Weltausschnitt
Deklarativsätze abs.
Imperativsätze %
abs.
%
Interrogativsätze abs.
%
Koloniale Grammatiken und ihre Beispiele Koloniale Machtbeziehungen (N = 260) Reisen (N = 126) Mission, Schule, Bildung (N = 115) Sozialbeziehungen (N = 107) Hauswirtschaft, Ernährung (N = 97) Natur (N = 86) Kulturelle Praxis (N = 82) Nutzung der Natur (N = 72) Körper, Medizin (N = 45) Perspektive auf Europa (N = 39) Wirtschaft, Handel (N = 25) Recht (N = 24)
17
182
70,0
48
18,4
30
11,5
85
67,4
30
23,8
11
8,7
80
69,5
25
21,7
10
8,7
87
81,3
7
6,5
13
12,1
58
59,7
35
36,0
4
4,1
79
97,8
4
4,6
3
3,4
67
81,7
12
14,6
3
3,6
57
79,1
10
13,8
5
6,9
39
86,6
2
4,4
4
8,8
36
92,3
3
7,6
0
0,0
21
84
2
8
2
8
22
91,6
2
8,3
0
0,0
Tabelle 6: Häufigkeitsverteilung (absolut und relativ) der Satzmodi auf die semantischen Felder in KoKoBei Im semantischen Feld Natur liegt mit 97,8% eine hohe Konzentration von Deklarativsätzen relativ zu anderen Satzmodi vor. Bezüglich des kolonialen Blicks auf Afrika können die Aussagen über Flora und Fauna einerseits in wertneutrale, deskriptive Beobachtungen und in evaluierende Feststellungen mit einem deutlichen Akzent auf der “Gefährlichkeit des schwarzen Kontinents” unterschieden werden. Sätze vom ersten Typus sind etwa die folgenden: (10) Das Holz ist nicht dürr, es ist noch grün. (DUISBURG 1913: 129) (11) Jetzt ist die Zeit der vielen Winde. (SEIDEL 1900: 76) (12) Wenn es Tag wird, so erblassen die Sterne. (VIEHE 1897: 73) Über das repräsentative Wissen der Naturbeschreibung in den Sätzen (10) bis (12) hinausgehend, kommt den Beispielen (13) bis (15) in epistemischer Lesart eine Art warnende Funktion zu: ein permanenter impliziter Vergleich mit vertrauten Verhältnissen, europäischen Gewissheiten:
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(13) Das Klima dieses Landes ist schlecht. (SAINT PAUL-ILLAIRE 1896: 270) (14) Ein Löwe hat zwei von meinen Sklaven getötet. (SEIDEL 1905: 29) (15) Wir wollen das Nilpferd sehen, das die Europäer getötet hat. (MEINHOF 1910: 25) Die Modalität der Deklaration in diesen Sätzen evoziert in Verbindung mit den Aussagegehalten – die vergleichsweise abwertend (13) oder eine natürliche Bedrohung markierend (14, 15) wirken – eine Vorstellung des “wilden/gefährlichen/öden Afrika”, die im Diskurs in besonderem Maße als Hintergrundfolie für weitere Vorstellungsbildung wirken kann, da Handlungen und Prozesse als räumlich gebunden wahrgenommen und in eine wie immer geartete Natur verankert gedacht werden. Diese funktionalgrammatische Perspektive auf die Konstitution von Raum als Gewissheit im Diskurs wäre idealerweise durch eine lexikalisch orientierte Toponymanalyse zu überprüfen, die im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht geleistet werden kann; wir verweisen hier auf LAUER (2009). 6.3. Denotat des Subjektausdrucks Ausgehend von traditionellen Satzgliedbestimmungen, die die syntaktische Kategorie des Subjekts als den Satz- oder Redegegenstand auffasst, als dasjenige, worüber gesprochen wird, nutzen wir für die Analyse von KoKoBei das Konzept der Funktionalen Satzperspektive. Bekanntlich fällt dem Subjektausdruck häufig der thematische Satzteil zu, dem der rhematische Informationsgehalt gegenübersteht (vgl. DUDEN 2009: 1119). Seinem Denotat, dem außersprachlichen Referenten bzw. konzeptuellen Äquivalent, fällt insofern eine zentrale Rolle in der Konstitution der Satzaussage zu. Aus korpuslinguistischer Perspektive ist davon auszugehen, dass den Entitäten, auf die häufig durch den Subjektausdruck referiert wird, qua thematischem Primat der syntaktischen Funktion eine prominente Position im Diskurs zukommt. Wie im Fall der analytisch vernachlässigten Modalisierung von Satzprädikaten klammern wir hier den Faktor der perspektivischen Umkehrung, also Passivierung, aus. Eine Analyse, deren zentrales Anliegen die Thema-Rhema-Gliederung deutscher Sätze ist, müsste die mögliche perspektivische Verschiebung selbstredend berücksichtigen (vgl. EROMS 1986, DUDEN 2009: 1120). Wir beschränken uns aber auf die Analyse der Denotate von Subjektausdrücken ohne Unterscheidung von Aktiv- und Passivsätzen. Weiterhin kann für Satzarten ohne realisiertes Subjekt – insbesondere Imperativsätze – keine Analyse des Subjektdenotats vorgenommen werden, sofern es nicht in Ausnahmefällen explizit genannt wird. Kontextuell lässt sich zwar in vielen Fällen eine Aussage über den Adressaten, beispielsweise einer Aufforderung,
Koloniale Grammatiken und ihre Beispiele
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machen, aber die Segmentierung des Korpus von Beispielsätzen ohne ihre jeweiligen Kontexte lässt solche Folgerungen nur bedingt zu, weshalb sich die Gesamtanzahl der Beispielsätze hier auf N = 907 verringert. Hinsichtlich der Vielfalt möglicher Denotate von Subjektausdrücken in einem Korpus kolonialer Grammatiken wird primär die Opposition Afrika vs. Europa in den Blick genommen. Die Analyse erfolgt daher nach den Hyperonymen “Afrikaner”, “Europäer”, “Afrikaner und Europäer”, “Andere”, worunter neben Personen auch “Entitäten der Natur” fallen, sowie einer Kategorie “unklar”, wenn – etwa im Falle von Proformen – auf das Denotat des Subjektausdrucks nicht mit Sicherheit geschlossen werden kann. Die Verteilung der Denotatkategorien auf die semantischen Felder stellt sich wie folgt dar: Lebensund Weltausschnitt Koloniale Machtbeziehungen (N = 216) Sozialbeziehungen (N = 101) Reisen (N = 97) Mission, Schule, Bildung (N = 90) Natur (N = 82) Kulturelle Praxis (N = 71) Hauswirtschaft, Ernährung (N = 63) Nutzung der Natur (N = 61) Körper, Medizin (N = 43)
Andere
unklar
abs. 23
% 10,6
abs. 58
% 26,8
0,9
15
14,8
20
19,8
2
2,0
10
10,3
26
26,8
12,2
8
8,9
20
22,2
30
33,3
2
2,4
0
0,0
51
62,2
20
24,3
40,8
2
2,8
2
2,8
14
19,7
24
33,8
9
14,2
5
7,9
0
0,0
23
36,5
26
41,2
15
24,5
4
6,5
0
0,0
27
44,2
15
24,5
9
20,9
8
18,6
0
0,0
7
16,2
19
44,1
14
38,3
17
47,2
0
0,0
1
2,7
4
11,1
Afrikaner
Europäer
Afrikaner und Europäer abs. % 2 0,9
abs. 75
% 34,7
abs. 58
% 26,8
51
50,5
14
13,8
1
40
41,2
19
19,5
21
23,3
11
9
10,9
29
Perspektive auf Europa (N = 36)
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20 Recht (N = 24) Wirtschaft, Handel (N = 23)
16
66,6
0
0,0
0
0,0
4
16,6
3
12,5
5
21,7
5
21,7
0
0,0
4
17,3
9
39,1
Tabelle 7: Häufigkeitsverteilung (absolut und relativ) der Denotate der Subjektausdrücke auf die semantischen Felder in KoKoBei Die größte relative Häufigkeit von Subjektausdrücken mit dem Denotat “Afrikaner” weisen die semantischen Felder Recht mit 66,6% und Sozialbeziehungen mit 50,5% auf. Die satzthematische Fokussierung auf Afrikaner, d.h. unter kolonialem Machteinfluss stehende Menschen, belegt, dass hier in besonderem Maße eine Form der sozialen Deskription vorgenommen wird. Als exemplarisch dafür können die folgenden Sätze gelten. (16) Wenn der Häuptling gestorben ist, so wird sein Erstgeborener Nachfolger. (HEEPE 1919, Bd. 1: 60) (17) Sie pflegen mit ihren Kebsweibern zu wohnen, damit sie ihnen das Essen kochen. (SAINT PAUL-ILLAIRE 1896: 130) (18) Die Kinder betragen sich, wie die Eltern sich betragen haben. (VIEHE 1897: 73) (19) Wenn ein Mann ein noch nicht beschnittenes Mädchen beschläft und das Kind vergewaltigt, wenn das Gerede herauskommt, so daß es ihr Vater erfährt, so muß er einen Ochsen herausholen. (DEMPWOLFF 1916: 122) Außer der Tatsache, dass die Subjektausdrücke in so gut wie allen Sätzen der Felder Recht und Sozialbeziehungen generische, unpersönliche Denotate haben (der Häuptling, ein Mann, die Kinder etc.), wird die zu kolonialer Gewissheit erstarrte ethnographische Perspektive in diesen Bereichen in kausalen/finalen Aussagenverknüpfungen (wenn ... so, damit) und Abstraktverben (pflegen) ausgedrückt, die die generalisierende Thematisierung durch syntaktisch-lexikalische Mittel mit einem absoluten Geltungsanspruch ausstatten. Eine Art sprachliche Brücke innerhalb der Afrika-Europa-Opposition wird im semantischen Feld Mission, Schule, Bildung geschlagen, wo mit immerhin 8,89% der höchste Anteil des Denotats “Afrikaner und Europäer” verzeichnet wird. Die Sätze sind im Duktus von theologischer Dogmatik und Religionsdidaktik formuliert, wie der folgende Satz zeigt: (20) Denn die Menschen, welche das Wort Gottes verwerfen, werden verloren gehen. (VIEHE 1897: 64) Doch auch hier macht sich im Kontext die Gewissheit kolonialer bzw. christlicher Überlegenheit bemerkbar:
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(21) Nach dem Tode werden wir auferweckt werden. Am letzten Tage werden alle Menschen aus den Gräbern auferstehen. Ihr wißt das nicht. (SAINT PAUL-ILLAIRE 1896: 463) Im Attestat eines (Noch-)Nicht-Wissens wird die scheinbare religiöse Egalisierung in zivilisatorische Hierarchisierung umgelenkt.
7. Fazit Die Analyse von Quellen kolonialer Textsorten lässt eine kritische Haltung im Sinne distanzierter Einordnungen erwarten. Für die Untersuchung des Beispielgebrauchs kolonialer Grammatiken läge es daher nahe, den normativen Gehalt von Beispielsätzen herauszuarbeiten. Jedoch zeigt sich bei näherer Beschäftigung, dass die dyadische Unterscheidung von deskriptiver und präskriptiver Exemplifizierung für das grammatikographische Interesse nicht hinreichend ist. Vielmehr gibt es neben Beschreibung und Normsetzung noch eine Lesart, die auf zeitgebundene Wissenskonstellationen verweist und damit historische Gewissheiten markiert. Diese epistemische Lesart deckt die in Beispielsätzen impliziten Weltbilder auf, die sich stets auf ein Repertoire historischer Annahmen beziehen. Wir haben mit exemplarischen Analysen eines Korpus Kolonialgrammatischer Beispielsätze (KoKoBei) zu zeigen versucht, dass historisch erstarrte Gewissheiten gerade an grammatischer Bedeutung fassbar werden. Eine Reihe weiterer Analysen wäre geeignet zu zeigen, dass Diskurslinguistik sich nicht allein auf Lexik und Topoi konzentrieren sollte. Eine funktionale Grammatik in Sinne der hier skizzierten diskursgrammatischen Interessen wäre dabei ein sicherer Orientierungspunkt für zukünftige koloniallinguistische Forschungsperspektiven. Literatur Quellen DEMPWOLFF, OTTO (1916): Die Sandawe. Linguistisches und ethnographisches Material aus Deutsch-Ostafrika. Hamburg: Friederichsen. DUISBURG, ADOLF VON (1913): Grundriss der Kanuri-Sprache in Bornu. Berlin: Reimer. HEEPE, MARTIN (Hrsg.) (1919): Jaunde-Texte von Karl Atangana und Paul Messi nebst experimentalphonetischen Untersuchungen über die Tonhöhen im Jaunde und einer Einführung in die Jaunde-Sprache. Hamburg: Friederichsen. LEVINSON, STEPHEN C. (1983): Pragmatics. Cambridge: Cambridge University Press. MEINHOF, CARL (1909): Die Sprache der Herero in Deutsch-Südwestafrika. Berlin: Reimer. MEINHOF, CARL (1910[1941]): Die Sprache der Suaheli in Deutsch-Ostafrika. 4., durchges. Aufl. Berlin: Reimer, Andrews & Steiner. MEINHOF, CARL (1912): Die Sprache der Duala in Kamerun. Berlin: Reimer. NEKES, HERMANN (1913): Die Sprache der Jaunde in Kamerun. Berlin: Reimer.
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