Klangorganisation. Zur Systematik und Analyse einer Morphologie und Syntax post-tonaler Kunstmusik

May 26, 2017 | Author: Christian Utz | Category: Atonal Music, Music Perception, Music analysis, Musical Analysis, Post-Tonal Music, Musical Morphology
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Klangorganisation Zur Systematik und Analyse einer Morphologie und Syntax post-tonaler Kunstmusik

1. Klangorganisation in post-tonaler Kunstmusik des 20. und 21. Jahrhunderts Theodor W. Adorno schreibt in der Ästhetischen Theorie: »Offen indessen ist die Frage nach der Dimension des Simultanen in der Musik insgesamt, die zum bloßen Resultat, einem Irrelevanten, virtuell Zufälligen degrediert worden war; der Musik wurde eine ihrer Dimensionen, die des in sich sprechenden Zusammenklangs, entzogen, und nicht zuletzt darum verarmte das ungemessen bereicherte Material. Nicht Dreiklänge oder andere Akkorde aus dem tonalen Hausschatz sind zu restituieren; denkbar jedoch, daß, wenn einmal wieder gegen die totale Quantifizierung der Musik qualitative Gegenkräfte sich regen, die vertikale Dimension derart erneut ›zur Diskussion steht‹, daß die Zusammenklänge abermals ausgehört werden und spezifische Valenz gewinnen.«1 Auch wenn sich Adornos Kritik vor allem auf die Musik der frühen 1950er Jahre bezieht und deren technischen Gehalt in zum Teil vereinfachender Weise auf den Aspekt der ›Quantifizierung‹ reduziert, so resoniert in ihr doch bis heute noch – zumindest in der Musiktheorie – eine gewisse Ratlosigkeit in Bezug auf die Deutung musikalischer Zusammenklänge und ihrer Anordnung in der neuen Musik. Dass ›Zusammenklang‹ hier nicht mehr mit ›Harmonik‹ im traditionellen Sinn einer Akkordsyntax gleichzusetzen ist, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, in welchem Ausmaß Erkenntnisse über die psychoakustischen Grundlagen der Klangfarbe von Komponisten spätestens seit Schönberg und Varèse aufgegriffen wurden (vgl. 2.4.1.).2 Unser Beitrag setzt sich vor diesem Hintergrund die Auf1 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (= Gesammelte Schriften 7), Frankfurt a. M. 1997, S. 61. 2 Die Tatsache, dass nichtsdestotrotz immer wieder von der »Harmonik in der Musik des 20. Jahrhunderts« (vgl. Anmerkung 17) oder etwa von der »Harmonic Organization of the Rite of Spring« (so der Titel von Allen Fortes Buch aus dem Jahr 1978) die Rede ist, muss unter diesen Voraussetzungen durchaus kritisch gesehen werden. Schon Carl Dahlhaus hat auf den inflationären und oft unangemessenen Gebrauch des Begriffs ›Harmonik‹, insbesondere in Analysen neuerer Musik, hingewiesen: »[W]enn atonale Zusammenklangserscheinungen unter dem Stichwort Harmonik analysiert oder klassifiziert werden, ist sogar die Grundbedeutung, die das Wort Harmonie in der Umgangssprache bewahrt, ausgelöscht oder in den Hintergrund gedrängt.« (Dahlhaus, Carl: »Relationes harmonicae«, in: AfMw 32/3, 1975, S. 208–227, hier S. 209). Der feine Unterschied zwischen den Begriffen ›Harmonie‹, in dem die hierarchische Überlegenheit konsonanter, verschmelzender Klänge mitschwingt

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gabe, zu einer systematischen Darstellung dessen zu finden, was in Bezug auf die post-tonale Kunstmusik des 20. und 21. Jahrhunderts mit ›Klangorganisation‹ gemeint sein kann. Der Begriff versucht, im Gegensatz zum traditionell poietisch fokussierten und ausschließlich auf Tonhöhenverhältnisse konzentrierten Terminus ›Harmonik‹, eine gleichermaßen von Tonhöhe und Klangfarbe sowie korrespondierenden kompositionstechnischen und kognitionspsychologischen3 Prinzipien ausgehende Auffassung musikalischer Zusammenhänge zu fassen. Die hier vorgestellte Systematik umfasst auf dieser Grundlage Kategorien zur Beschreibung von Morphologie und Syntax von Klangereignissen, -folgen und -transformationen. Sowohl für Morphologie (2.2.) als auch für Syntax (2.3./2.4.) diskutieren wir kurze Fallbeispiele, in denen lediglich mikroformale Organisationsebenen zur Sprache kommen. In weiterer Folge unserer Forschungen wurde die Systematik auch auf größere formprozessuale Dimensionen angewandt und die syntaktische Ebene durch semantische und narrative Deutungsmodelle erweitert.4 Exkurs 1: Zur Wahl des Begriffs Klangorganisation Auch wenn die Bezeichnung Klangorganisation zunächst eine rein produktionsästhetische Sicht vermuten lässt, so kann man doch argumentieren, dass Produktion und Rezeption gleichermaßen durch ein ›Organisieren‹ von Klangereignissen bestimmt sind. Die Musikpsychologie hat den Aspekt einer bewussten und unbewussten Segmentierung, Verknüpfung und Hierarchiebildung von Klangereignissen, die sich eng mit wissensgeleiteten TopDown-Prozessen (vorrangig für ›globale‹, makroformale Ebenen angewandt) und reizgeleiteten Bottom-Up-Prozessen (vorrangig für ›lokale‹, mikroformale Ebenen angewandt) verknüpfen, als Schlüssel zum Verständnis eines Begreifens musikalischer Zusammenhänge zunehmend prominent herausgestellt.5 Umgekehrt haben Studien zur wie sie auf der Grundlage der antiken ›harmonia‹ mittels mathematischer, später physikalischer Proportionen in der Geschichte der Musiktheorie stets herausgestellt wurden, und ›Harmonik‹, in dem deutlich technischer die Art und Folge von Zusammenklängen schlechthin bezeichnet ist, wird von Dahlhaus an dieser Stelle lediglich angedeutet. 3 ›Kognition‹ bezeichnet meist eine verwandten Konzepten wie ›Wahrnehmung‹ oder ›Perzeption‹ bzw. ›Hören‹ übergeordnete Ebene der Informationsverarbeitung, in die u. a. auch kulturelle und (etwa durch Lernen erworbene) biographische Voraussetzungen einfließen. Allerdings ist eine vollkommen schlüssige Abgrenzung von ›Wahrnehmung‹ nicht in allen Fällen möglich. Dies zeigt auch die Definition aus dem Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft: »›Kognition‹ wird als Oberbegriff für die höheren geistigen Fähigkeiten wie Denken, Wahrnehmen, Erkennen und Erinnern benutzt. Dabei handelt es sich um die Gesamtheit der informationsverarbeitenden Prozesse und Strukturen eines intelligenten Systems.« (Rötter, Günther: Art. »Kognition«, in: Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft [Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft 6], hg. von Helga de la Motte-Haber/Heinz von Loesch/Günther Rötter/Christian Utz, Laaber 2010, S. 216f.). 4 Diese Ausweitungen wurden von den Autoren im Rahmen des Forschungsprojekts A Context-Sensitive Theory of Post-tonal Sound Organisation (1. 3. 2012–31. 12. 2014) an der Kunstuniversität Graz durchgeführt. Auf der Projektwebseite ist ein Großteil der im Rahmen des Projekts entstandenen Publikationen im Volltext verfügbar: http://ctpso.kug.ac.at/index.php?id=14740. Die Ergebnisse werden in zwei Monografien zusammengeführt, deren Erscheinen im Jahr 2015 vorgesehen ist. 5 Weiterhin eine zentrale Publikation in diesem Kontext bildet Bregman, Albert S.: Auditory Scene Analysis. The Perceptual Organization of Sound, Cambridge, Mass. 1990. Eine übersichtliche Einführung in den Bereich bietet La Motte-Haber, Helga de: Art. »Global Cues/Local Cues/Bottom Up/Top Down«, in: Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft, S. 160f.

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komponierten Musik nach 1945 gezeigt, wie häufig gerade scheinbar hochgradig ›organisierten‹ Klangstrukturen unvorhersehbare und irrationale Elemente inhärent sind. Eine solche Destabilisierung rationaler Materialdisposition ist bereits in den seriellen Methoden der 1950er Jahre und vorausgegangenen Stufen (etwa in Pierre Boulez’ Zweiter Klaviersonate, 1946) angelegt und entfaltet sich später vor allem in den ›anarchischen‹ Elementen der komplexen Strukturpläne bei Komponisten wie Helmut Lachenmann oder Brian Ferneyhough.6 ›Klangorganisation‹ ist also nicht auf den Aspekt der rationalen Kontrolle von Klangmaterial durch einen Komponisten reduzierbar. Ein Anklang an die Begriffsprägung »son organisé«/»organized sound« bzw. »organisation of sound« durch die Schriften und Äußerungen Edgard Varèses und John Cages ist mit unserer Begriffswahl ebenfalls intendiert. Dabei ist zunächst zu beachten, dass die Begriffsbildung bei Varèse keineswegs eindeutig ist. So bezeichnete er mit diesem Begriff im engeren Sinn elektroakustisch erzeugte Klänge, etwa die Interpolationen (1953–61) zu Déserts (1949–54) oder die Poème électronique (1958).7 Andererseits verstand er spätestens seit 1936 »organized sound« als Synonym für Musik insgesamt.8 Dem Begriff liegt in Verbindung mit der von Joseph Maria Hoëné Wronski (1778–1853) übernommenen Vorstellung einer in den Klängen angelegten ›Intelligenz‹ ein autopoietisches Grundkonzept zugrunde.9 Damit ist also bereits bei Varèse auch die Rezeptionsperspektive stets implizit mitbedacht. John Cage hat die ähnliche Bezeichnung »organization of sound« gleichfalls häufig als Synonym bzw. als Alternative für ›Musik‹ verwendet und zwar angeblich unabhängig von Varèse. Cage führt den Begriff insbesondere im 6 Vgl. dazu Cavallotti, Pietro: Differenzen. Poststrukturalistische Aspekte in der Musik der 1980er Jahre am Beispiel von Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Gérard Grisey (Sonus 8), Schliengen 2006. 7 Varèse, Edgard: [Programmtext zu »Déserts«, 1955], in: Die Schriften von Edgard Varèse (1883–1965), hg. von Christine Flechtner, Lizenzarbeit Musikwissenschaft, Universität Fribourg 1983, S. 313–315. Vgl. auch Gertich, Frank: Zur Betrachtung der Tonbandeinschübe in Déserts, in: Edgard Varèse: Die Befreiung des Klanges, hg. von Helga de la Motte-Haber, Hofheim 1992, S. 56–63. Nach Dieter A. Nanz findet sich diese Einengung des Begriffs auf elektronisch erzeugte Klänge erstmals in einem Text aus dem Jahr 1940 in einem Konzeptentwurf zu Filmmusik (Nanz, Dieter A.: Edgard Varèse. Die Orchesterwerke, Berlin 2003, S. 45; vgl. auch Die Schriften von Edgard Varèse, S. 225–229). 8 Varèse datiert diese Formulierung auf die 1920er Jahre: »Although this new music is being gradually accepted, there are still people who, while admitting that it is ›interesting‹, say, ›but is it music?‹ It is a question I am only too familiar with. Until quite recently I used to hear it so often in regard to my own works, that, as far back as the twenties, I decided to call my music ›organized sound‹ and myself, not a musician, but ›a worker in rhythms, frequencies, and intensities‹.« (The Electronic Medium [1962], zit. nach Varèse, Edgard: The Liberation of Sound in: Contemporary Composers on Contemporary Music, hg. von Elliott Schwartz und Barney Childs, New York 1998, 196–208). Der erste schriftliche Nachweis der Formulierung findet sich in einem 1936 entstandenen Vortrag (Nanz, Edgard Varèse, S. 45; Die Schriften von Edgard Varèse, S. 166). Eine wichtige Rolle spielt der Begriff auch im Vortrag Freedom of Music (1939), vgl. Zimmermann, Heidy: »Recycling, Collage,Work in Progress: Varèse’s Thought in Speech and Writing«, in: Edgard Varèse. Composer, Sound Sculptor, Visionary, hg. von Felix Meyer und Heidy Zimmermann, Woodbridge 2006, S. 264–271, hier S. 270. Von Interesse ist in unserem Zusammenhang auch Varèses Äußerung: »Brahms has said that composition is the organizing of disparate elements.« (Music as an Art-Science [1939], zit. nach ebd.). In diesem Zusammenhang ist es auch wesentlich, an den in Varèses Schriften immer wiederkehrenden, von John Redfield (Music, a Science and an Art, 1926) übernommenen Topos zu erinnern, das Rohmaterial von Musik sei Klang (vgl. ebd.). 9 Vgl. Utz, Christian: »Vom ›Sprechen‹ der Natur durch Musik. Die Physiognomie von Salvatore Sciarrinos Luci mie traditrici im Kontext der Naturkonzeptionen bei Wagner, Mahler, Debussy und Varèse«, in: Klanglandschaften – Musik und gestaltete Natur, hg. von Jörn Peter Hiekel und Manuel Gervink, Hofheim 2009, S. 111–139.

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Vortrag The Future of Music ein: »If this word ›music‹ is sacred and reserved for eighteenth- and nineteenth-century instruments, we can substitute a more meaningful term: organization of sound.«10 Die von Cage in Silence gegebene Datierung des Vortrags auf 1937 wird in der jüngeren Cage-Forschung korrigiert und auf 1940 festgesetzt; Cage traf im Mai 1938 mit Varèse in Los Angeles zusammen.11 Spätestens in der zwischen den Jahren 1952 und 1958 erfolgten Wende zur Ästhetik der Unbestimmtheit wurde für Cage jedoch gerade eine solche ›Organisation‹ von Klängen zur Negativfolie, vor der sich sein utopischer Entwurf von für Komponist wie für Hörer nicht-intentionalen Klangfolgen abhob (vgl. unten Exkurs 2). Im deutschsprachigen Raum wurde in jüngerer Zeit ›Klangorganisation‹ auch als übergeordneter Terminus für das Zusammenwirken von Form und Struktur verwendet, insbesondere von John Leigh12, und dabei gleichzeitig explizit auf die produktionsästhetische Perspektive eingegrenzt.

An Versuchen ›post-tonale‹ Musik – Musik, die nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich den Prinzipien der Dur-Moll-Tonalität folgt13 – zu verstehen, herrscht in der Musiktheorie kein Mangel. Allerdings wurde die Anwendbarkeit solcher Versuche oder Modelle, selbst im Fall eines so universalistisch konzipierten Systems wie Allen Fortes pitch class setAnalyse, in der Regel explizit auf ein bestimmtes Repertoire begrenzt – bei Forte zunächst auf prädodekaphone, ›frei atonale‹ Musik.14 Tatsächlich erscheint es zunächst illusorisch – und zudem hochgradig anachronistisch – ein System entwickeln zu wollen, das ein Modell für ›alle‹ Spielarten post-tonaler Musik bereitstellt – zu pluralistisch stellt sich die stilistische Bandbreite der Musik im 20. Jahrhundert dar. Zudem ist eine scharfe Abgrenzung ›tonaler‹ von ›atonaler‹ oder ›post-tonaler‹ Musik in zahlreichen Fällen kaum möglich. Ein evolutionäres Geschichtsmodell, das eine vermeintlich folgerichtige Linie von einer nahezu 300 Jah-

10 Cage, John: The Future of Music: Credo, in: Silence (1968), London R1987, S. 3–6, hier S. 3. 11 Vgl. Miller, Leta E.: »John Cage in Seattle (1938–1940)«, in: John Cage: Music – Philosophy, and Intention, 1933–1950, hg. von David Wayne Patterson, New York 2002, S. 47–82, hier S. 56, 76. 12 Vgl. Kühn, Clemens/Leigh, John: »Was ist Form?«, in: Systeme der Musiktheorie, hg. von Clemens Kühn und John Leigh (= Schriftenreihe der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden), Dresden 2009, S. 122–128, hier 127f. 13 Das Ersetzen des lange Zeit gebräuchlicheren Begriffs ›atonal‹ durch ›post-tonal‹ trägt hier der Tatsache Rechnung, dass zum einen mit (freier) ›Atonalität‹ häufig eine bestimmte Phase vor allem der Wiener Schule zwischen 1910 und ca. 1923 bezeichnet wird (und dies obwohl Schönberg den Begriff ablehnte) und damit eine zu starke historische und regionale Einengung vorgenommen würde, zum anderen impliziert der Begriff ›post-tonal‹, dass Prinzipien tonaler Musik auch über den historischen Bruch um das Jahr 1910 bis in die Gegenwart vielfältig fortwirken (analog zum Weiterwirken, zur Lyotard’schen »Anamnese« moderner Paradigmata in der ›Postmoderne‹). Besonders in US-amerikanischen Schriften ist der Begriff seit Beginn der 1980er Jahre bis zur Gegenwart zunehmend häufig zu finden und wird seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum aufgegriffen. 14 Forte, Allen: The Structure of Atonal Music, Yale 1973, S. ix. Forte merkt dazu allerdings an: »This is not to say that the range of applicability is narrow, however. Any composition that exhibits the structural characteristics that are discussed, and that exhibits them throughout, may be regarded as atonal.« (Ebd.) In weiterer Folge wurde die Anwendung der pitch class set-Analyse denn auch deutlich in beide historische Richtungen ausgeweitet und schließlich für die Diskussion der Tonhöhenorganisation in Werken von Liszt bis zur Gegenwart eingesetzt. Einen Überblick über solche erweiterten Anwendungen gibt etwa Forte Allen, »Pitch-Class Set Analysis Today«, in: Music Analysis 4/1–2 (1985), S. 29–58.

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re lang stabilen über ›vagierende‹, ›erweiterte‹ und ›aufgehobene‹ Tonalität zur Atonalität zieht, verkennt nicht nur die zum Teil radikalen Veränderungen in der Auffassung und Anwendung tonaler Systeme zwischen 1600 und 1900, sondern auch das Fortwirken tonaler Grundprinzipien wie etwa Spannung-Lösung selbst in den scheinbar radikalsten ›anti-tonalen‹ Zusammenhängen: Ursprünglich basierend auf der Polarität von Konsonanz und Dissonanz wirkte dieses Prinzip auch nach der weitgehenden Aufhebung dieser Unterscheidung in vielen Bereichen der neuen Musik weiter (vgl. 2.3.). Helmut Lachenmann hat aus dieser Beobachtung die Konsequenz gezogen, die DurMoll-Tonalität als Rahmen der Deutung von Musik bis in die Gegenwart mit aller Konsequenz zu akzeptieren15, zumal sie weiterhin in Form von populärer Musik und des kanonisierten Konzertrepertoires unseren Hör-Alltag nachhaltig prägt. Umgekehrt wäre es freilich im höchsten Maß irreführend zu folgern, die Musik der Gegenwart ließe sich unter dem Paradigma der Tonalität allein verstehen. Aber kann es ein alternatives Paradigma geben? Ist die Aufsplitterung in höchst individualisierte Systeme der Klangorganisation nicht bereits so unaufhaltsam vorangeschritten, dass sich jede Forderung nach übergreifender Systematik von selbst ad absurdum führt? Denn es kann wiederum kaum Zweifel daran geben, dass die neue Musik, so Mathias Spahlinger, »die erste und einzige musik [ist] (soweit wir wissen), die das syntaktische oder sprachähnliche system ihrer eigenen tradition suspendiert oder aufgehoben hat. sie hat zudem, anders als frühere paradigmenwechsel, keine neue verbindliche konvention an die stelle der alten gesetzt«.16 Konsequenz einer solchen Situation ist ein Typus von musiktheoretischer Darstellung, der entweder – wie Fortes Methode der ausschließlich Tonhöhen einbeziehenden Analyse – von vornherein nicht nur das zu untersuchende Repertoire, sondern auch die zu untersuchenden Parameter begrenzt, oder aber – wie im Falle von Walter Gieselers ver-

15 »Tonalität ist so bestimmt von einer – wie sich inzwischen gezeigt hat – unendlich strapazierbaren Dialektik von Konsonanz und Dissonanz, welche es ermöglicht und erzwingt, jegliche Musikerfahrung, und sei sie noch so fremdartig, dem tonalen Prinzip zuzuordnen als Dissonanzerfahrung, deren Spannungsreiz in dem Maß noch zunimmt, wie sie sich von der tonalen Mitte weg in welche Peripherien auch immer entfernt. Anders gesagt: Es gibt nichts, was mit den Kategorien der Tonalität nicht erfaßbar und entsprechend nutzbar wäre.« (Lachenmann, Helmut: »Vier Grundbestimmungen des Musikhörens« [1979], in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden 1996, S. 54–62, hier S. 55.) Vgl. dazu auch Lachenmanns Aussage: »Unser Ohr ist […] voll Erinnerungen und Assoziationen gegenüber dem sich ergebenden Klanggeschehen. Vielleicht sollte deshalb die Ausgangssituation jeglichen Analysierens die Tonalität sein – als kollektive Übereinkunft, in der wir aufgewachsen sind und deren vielleicht veraltete Hörkategorien es in jedem Werk erneut außer Kraft zu setzen gilt.« (Lachenmann, Helmut/Gadenstätter, Clemens/Utz, Christian: »Klang, Magie, Struktur. Ästhetische und strukturelle Dimensionen in der Musik Helmut Lachenmanns«, in: Musik als Wahrnehmungskunst. Untersuchungen zu Kompositionsmethodik und Hörästhetik bei Helmut Lachenmann, hg. von Christian Utz und Clemens Gadenstätter (= musik.theorien der gegenwart 2), Saarbrücken 2008, S. 13–66, hier S. 18). 16 Spahlinger, Mathias: »dies ist die zeit der konzeptiven ideologien nicht mehr«, in: MusikTexte 113, 2007, S. 35–43, hier S. 35.

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dienstvoller Publikation zur Harmonik in der Musik des 20. Jahrhunderts17 – sich zum einen auf die rein poetische Perspektive begrenzt (durchaus in der propädeutischen Tradition der deutschen Musiktheorie), zum anderen dabei überhaupt auf eine systematische Betrachtungsweise zugunsten einer (wenn auch übersichtlich gegliederten) Dokumentation einzelner, konkreter kompositorischer Methoden verzichtet. Auch die 2008 erschienene umfassende Studie von Emmanouil Vlitakis18, die mit großer Deutlichkeit der Klangfarbe primäre Bedeutung für die Analyse zumisst und in ihren Fragestellungen in vieler Hinsicht mit dem von uns angestrebten Vorhaben vergleichbar ist, verlässt die produktionsästhetische Perspektive kaum und verzichtet nahezu völlig auf übergreifende Analyse- und Deutungskategorien zugunsten werkspezifischer Methodik. Die gängige Forderung, analytische Methoden hätten sich dem jeweiligen Werk- oder Œuvre-Kontext anzupassen, führt also nicht selten dazu, dass jeglicher Theorie-Anspruch aufgegeben wird und einem historisch-dokumentarischen Relativismus weicht, der allzu oft den von den Komponisten selbst vorgelegten Beschreibungskategorien folgt.19 Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang Johannes Menkes Schlussfolgerung: »Advanced harmonic phenomena have always eluded systematization. […] If it is truly open to new discoveries, music theory must lay aside its systematic compulsion and recuperate that which is individual.«20 Zwischen einem ideologisch überzogenen Systemanspruch, wie er in der Vergangenheit besonders für die konservativen Theoretiker der Tonalität charakteristisch war und wie er sich noch in vergangenen Jahrzehnten etwa in kognitiven Theorien musikalischer Systeme mit einer Polemik gegen die musikalische Avantgarde verband21, und einem überall nur ›Individuelles‹ erblickenden Relativismus aber liegt der maßgebliche Raum, in dem sich eine flexible und modular konzipierte Theorie der Klangorganisation entfalten kann. Sie muss nicht zuletzt Fragen der Kognition und der Wahrnehmung stärker als in den meisten Musiktheorien bislang geschehen, berücksichtigen und diese nicht lediglich der Musikpsychologie bzw. einer ausschließlich kognitiv ausgerichteten Musiktheorie überlassen, in denen post-tonale Musik bislang nur in

17 Gieseler, Walter: Harmonik in der Musik des 20. Jahrhunderts. Tendenzen – Modelle, Celle 1992. 18 Vlitakis, Emmanouil: Funktion und Farbe. Klang und Instrumentation in ausgewählten Kompositionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Lachenmann – Boulez – Ligeti – Grisey (sinefonia 11), Hofheim 2008. 19 Von dieser Kritik muss Vlitakis’ Studie explizit ausgenommen werden, entwickelt sie doch stringente eigenständige Analysekategorien. Damit soll zudem nicht gesagt sein, dass eine Rekonstruktion der Autorintention, wie sie in vorbildlicher Weise etwa Pietro Cavallotti (Differenzen, vgl. Anmerkung 6) für Werke Lachenmanns, Ferneyhoughs und Griseys leistet, vollkommen unerheblich wäre. Allerdings führt eine autorzentrierte Analysemethode letztlich zu einem dokumentarischen Forschungsansatz, der einem emphatischen Theoriebegriff entgegen steht. 20 Menke, Johannes: »Thoughts on Harmony Today«, in: The Foundations of Contemporary Composing, hg. von Claus-Steffen Mahnkopf (= New Music and Aesthetics in the 21st Century 3), Hofheim 2004, S. 69–84, hier S. 72. 21 Das bekannteste Beispiel dafür bietet Lerdahl, Fred: »Cognitive Constraints on Compositional Systems«, in: Generative Processes in Music. The Psychology of Performance, Improvisation, and Composition, hg. von John Sloboda, Oxford 1988, S. 231–259.

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ganz wenigen Einzelfällen genauer thematisiert wurde.22 Denn zahlreiche Komponisten haben bereits seit den 1960er Jahren (damit die genannten Tendenzen vom Beginn des 20. Jahrhunderts aufgreifend) zunehmend Fragen und Phänomene der musikalischen Wahrnehmung thematisiert, sodass man mit einigem Recht davon sprechen kann ›Wahrnehmung‹ habe im Verlauf der letzten Jahrzehnte ›Struktur‹ als zentrale Metapher der neuen Musik abgelöst.23

2. Morphologie und Syntax von Klangorganisation: Entwurf einer Systematik 2.1. Historische und terminologische Voraussetzungen

Vor einem solchen Hintergrund könnte es ratsam sein, zunächst zu einer Art elementarer Phänomenologie zurückzukehren, und sich Gedanken darüber zu machen, was tatsächlich geschieht, wenn Musik – zunächst unabhängig von ihrem historischen Kontext – ›sich ereignet‹ (vgl. zum Folgenden das Diagramm in Abb. 1). Auf einer denkbar allgemeinen Ebene könnte man festhalten, dass Musik immer aus mehr oder weniger deutlich distinkten Klangereignissen besteht. Stille oder Klänge geringerer Dichte (z. B. Nachklänge, Resonanzen) stellen dabei offensichtliche Möglichkeiten dar, Klangereignisse voneinander unterscheidbar zu machen und damit die Wahrnehmung distinkter Klangereignisse zu provozieren. Weitere Möglichkeiten der Abgrenzung können Klangfarbe (Instrumentation), Lautstärke, Struktur, Dichte, Lage etc. sein. Mit dieser Grundannahme sind nun zumindest zwei Fundamentalfragen verbunden: 1. Wie kann ein ›Klangereignis‹ genau definiert werden? 2. Wie lassen sich die Möglichkeiten Klangereignisse voneinander abzugrenzen präziser erfassen und beschreiben? In der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts wurde ›Klang‹ mehrdeutig verwendet – einerseits prägte Helmholtz die Bedeutung des Begriffs als Synonym für einen (periodisch schwingenden) komplexen Ton (im Gegensatz zum aperiodisch schwingenden Geräusch 22 Eine der wenigen Ausnahmen bietet Rösing, Helmut: Die Bedeutung der Klangfarbe in traditioneller und elektronischer Musik. Eine sonagraphische Untersuchung (Schriften zur Musik 12), München 1972. 23 »Die Frage des adäquaten Hörens von neuer Musik gerinnt aber m. E. erst in den 1980er Jahren zu einem Diskurs, d. h. zu einer Problematik, die als selbstverständlicher Faktor des Komponierens betrachtet und als das allgegenwärtige Gegenüber des Werks eingesetzt wird. Die Beförderung der Wahrnehmung zur Leitmetapher und zur causa finalis des Komponierens bedeutet, dass auch ein Musikwerk (und nicht eine Klanginstallation) nicht ausschließlich als dramatisierte Struktur, sondern zugleich als umfangende Situation angelegt und verstanden werden kann: Das Werk als zu decodierende Struktur und später irgendwann einmal aufzuarbeitende Vorlesung soll nun zugleich eine den Hörer sofort ansprechende Klangsituation sein, sodass auch das erste Vernehmen aufgewertet wird.« (Kaltenecker, Martin: »Subtraktion und Inkarnation. Hören und Sehen in der Klangkunst und der ›musique concrète instrumentale‹«, in: Musik als Wahrnehmungskunst, S. 101–126, hier S. 115).

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und dem [›reinen‹] Ton = Sinuston)24, andererseits wurde in der Theorie der Harmonik, insbesondere von Hugo Riemann, von ›Klang‹ als abstrakter harmonischer Referenzeinheit gesprochen (›Oberklang‹, ›Unterklang‹, ›Parallelklang‹, ›Leittonwechselklang‹ etc.), die man sich in der Regel in Form eines ›Akkords‹ vorstellte.25 Gleichgültig ob man bereits einen aus zwei oder mehr Sinustönen bestehenden komplexen Ton in der Tradition Helmholtz’ als ›Klang‹ bezeichnet oder erst einen Zustand, der aus mehreren solchen komplexen Tönen gebildet wird, so kann man davon ausgehen, dass jedes Klangereignis induktiv oder deduktiv bestimmt sein kann: Es kann sich aus Einzelkomponenten zusammensetzen (in elektronischer Musik durch additive Synthese, in Instrumentalmusik z. B. durch ein sukzessives Einsetzen von Liegetönen wie es sich etwa in der Musik Edgard Varèses häufig findet) oder im Gegenteil aus einem Klangtotal ›herausgeschnitten‹ sein (in elektronischer Musik als Filtern von weißem Rauschen oder einem anderen Klangtotal, in instrumentaler Musik z. B. als Bildung komplementärer Teilmengen eines Tonvorrats, etwa der zwölf Tonhöhenqualitäten – ein Verfahren, das aus ›freier Atonalität‹ und Dodekaphonie als Zwölftonkomplementarität bekannt ist26). Induktive und deduktive Genese 24 Helmholtz, Hermann v.: Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik [1863], Braunschweig 61913, S. 15f.: »Die Empfindung eines Klanges wird durch schnelle periodische Bewegungen der tönenden Körper hervorgebracht, die eines Geräusches durch nicht periodische Bewegungen.« Ebd., S. 39: »[E]s ist durchaus nötig, in der Akustik zwischen dem Klang, d. h. dem Eindruck einer periodischen Luftbewegung überhaupt, und dem To n , dem Eindruck einer einfachen Schwingung, zu unterscheiden.« Helmholtz verwendet aber selbst in seiner Schrift den Begriff durchaus nicht konsequent in dieser ›akustischen‹, sondern auch in seiner ›musiktheoretischen‹ Bedeutung (vgl. Oehler, Michael: Art. »Klang«, in: Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft, S. 212–214). Die heutige Akustik hat zwar die Definition Helmholtz’ grundsätzlich beibehalten (vgl. Auhagen, Wolfgang: Art. »Akustik. II: Akustische Grundbegriffe«, in: MGG2, Sachteil 1, Kassel 1994, Sp. 371), in der Praxis wird jedoch in der Regel zur Verdeutlichung von ›reinem Ton‹ (engl. ›pure tone‹ = Helmholtz: ›Ton‹) und ›komplexem Ton‹ (engl. ›composite tone‹ = Helmholtz: ›Klang‹) gesprochen. Auch die Bezeichnung ›Zusammenklang‹ hatte bei verschiedenen Autoren unterschiedliche Bedeutungsnuancen: Sprach Helmholtz sowohl vom Zusammenklingen verschiedener Töne in Form eines ›Klangs‹ als auch vom Zusammenklingen verschiedener ›Klänge‹ (etwa verschiedener Instrumente; vgl. Die Lehre von den Tonempfindungen, S. 39), so wurden damit mitunter auch musikalische Situationen bezeichnet, die nicht mehr als ›Klang‹ im Sinne von ›Akkord‹ aufgefasst werden können, sondern vorwiegend horizontal verstanden werden müssen (vgl. Mooney, Kevin: Art. »Klang« (ii), in: Grove Music Online, , 7. 1. 2010). 25 In jüngster Zeit wurde verstärkt herausgearbeitet, dass sich mit einer (tendenziell älteren) skalenbezogenen Tonalitätsauffassung, wie sie vor allem in der impliziten Theorie der Generalbasslehren und Partimenti erfasst ist, und der akkordbezogenen (bzw. ›klang‹-bezogenen) Auffassung, die die Musiktheorie des 19. Jahrhunderts prägte, zwei Paradigmen gegenüber stehen, zwischen denen es allerdings vielfältige Vermittlungsstufen gibt (vgl. Holtmeier, Ludwig: »Zum Tonalitätsbegriff der Oktavregel«, in: Systeme der Musiktheorie, hg. von Clemens Kühn und John Leigh (= Schriftenreihe der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden), Dresden 2009, S. 7–19). 26 Das Verfahren wurde insbesondere von Milton Babbitt systematisch beschrieben, vgl. Babbitt, Milton: »Twelve-Tone Invariants as Compositional Determinants«, in: Musical Quarterly 46, 1960, S. 246–259 (auch in:

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des Klangs können entweder in der Endfassung einer Komposition für den Hörer nachvollziehbar gemacht werden (vgl. unten Notenbeispiel 1 und 2) oder Bestandteil eines ›vorkompositorischen‹ Prozesses sein, der sich dann im Endprodukt kaum oder gar nicht mehr mitteilt. Eine Konsequenz aus der Erschließung aller nur denkbaren Schattierungen zwischen Tonhöhen- und Geräuschstrukturen in der Musik nach 1945 ist es freilich, dass die ein ›Klangereignis‹ konstituierenden ›Klänge‹ nicht mehr wie bei Helmholtz auf harmonische Teiltonstrukturen begrenzt bleiben können, sondern vielmehr alle Zwischenstufen umfassen müssen zwischen eindeutig bestimmbaren Tonhöhen und einem Rauschen, Knacken oder Pochen, durch das keinerlei Tonhöhenempfindung mehr hervorgerufen wird. Eine kategoriale Trennung zwischen Klang und Geräusch hat vor dem Hintergrund der kompositionsgeschichtlichen Entwicklung der letzten 60 Jahre ihre Sinnhaftigkeit verloren.27 [Sinuston]

[komplexer Ton]

induktiv

Kognition rezeptionsästhetisch kognitionspsychologisch

[Tongruppe]

Klangfolge

distinkte Klänge

Hörbiographie

Syntax

Klangereignis Transformation, Kontinuum

[Tonvorrat]

Kulturelle Prägung

Klangtransformation

Strukturprinzipien produktionsästhetisch kompositionstechnisch

[»Klangtotal«]

Intra-Opus / Extra-Opus

Regeln Logik

deduktiv [farbiges Rauschen]

[weißes Rauschen]

Algorithmen

Notat

Dauer Tonsystem

Wechselwirkung

Klang

Stimmführung [Linienführung]

»Trennschärfe«

Hüllkurve / ADSR [Ein-/Ausschwingvorgang]

»Akkorde«

»Flächen«

»Gewebe«

»Felder«

Tonhöhen

Artikulation/ 12-tönig spektral alternativ Phrasierung/ Dynamik Instrumentation gleichstufig mikrotonal/ temperiert makrotonal

Spektrum / Spektralanalysen / Obertonstruktur Psychoakustik [Maskierung, Residualtöne, »virtuelle Töne«, Differenz/Summationstöne]

Simultankomplexe Sonoritäten Klangaggregate Farbe … Fluktuation … Textur … Struktur [Helmut Lachenmann: Klangtypen]

*Besetzung *Genre/Gattung *Mischung/ Schichtenbildung

»Topoi« [Intervalle in Halbtönen]: -Stufenbewegung (2, 1 ↑↓) -Kadenzschritte (5, 7 ↑↓) -Gegenbewegung -Parallelbewegung -Seitenbewegung -»Distanzharmonik« (2,3,4,6 ↑↓) -Spektralharmonik (Teiltonreihe) -Kanon  Mikropolyphonie -Imitation -große Sprünge (11, 13 etc.)

Morphologie

Abbildung 1: Klangorganisation (Morphologie und Syntax) in post-tonaler Musik: Diagramm

The Collected Essays of Milton Babbitt, hg. von Stephen Peles, Stephen Dembski, Andrew Mead und Joseph N. Straus, Princeton 2003, S. 55–69). 27 Häufig wird in diesem Zusammenhang zwischen ›Klängen‹ (Dominanz der Tonhöhenwahrnehmung), ›Geräuschen‹ (keinerlei Tonhöhenwahrnehmung) und ›Klang-Geräusch-Gemischen/Mischungen‹ gesprochen. Allerdings sind in jedem Vokal- oder Instrumentalklang Geräuschanteile enthalten, die, selbst wenn sie nicht immer bewusst wahrgenommen werden, die Charakteristik dieser Klänge entscheidend mitprägen. Umgekehrt können die zahlreichen Abstufungen zwischen Helligkeit und Dunkelheit in vielen ›Geräuschen‹ bei aufmerksamem Hören sich einer Tonhöhenwahrnehmung annähern. Vgl. dazu genauer Utz, Christian: »›Liberating‹ Sound and Perception. Historical and Methodological Preconditions of a Morphosyntactic Approach to PostTonal Music«, in: Organized Sound. Klang und Wahrnehmung in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts (musik.theorien der gegenwart 6), hg. von Christian Utz, Saarbrücken 2013, S. 11–46, hier S. 19–21.

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Aus einem so geformten Klangereignis können nun in der Zeit Klangfolgen – die Sukzession distinkter Klangereignisse – oder Klangtransformationen – metamorphosenartige Verwandlungen nicht klar abgrenzbarer Klangereignisse – werden. Klangereignisse, Klangfolgen und Klangtransformationen können je nach analytischer Perspektive auf verschiedenen Dimensionen der Struktur oder Form wahrgenommen bzw. konzipiert werden, von der Mikrozeit bis zur Makrozeit der Großform. Auf mikroformaler Ebene kann etwa die klangfarbliche Veränderung eines einzelnen Tons oder Akkords als ›Klangtransformation‹ beschrieben werden, Klangereignis und Klangtransformation können also ineinander fallen. Umgekehrt können auf makroformaler Ebene größere formale Abschnitte oder auch ganze Werke als ein einziges Klangereignis (gegebenenfalls mit inhärenter Klangtransformation oder inhärenter Klangfolge) aufgefasst werden – erinnert werden kann hierbei an Lachenmanns zugespitzte Auffassung des Zusammenfallens von ›Form‹ und ›Klang‹, ausgedrückt durch das als identisch verstandene Begriffspaar Strukturklang/Klangstruktur28: »Form wird so erfahren als ein einziger überdimensionaler Klang, dessen Zusammensetzung wir beim Hören von Teilklang zu Teilklang abtasten, um uns auf diese Weise Rechenschaft zu geben von einer unsere bloß simultane Erfahrung übersteigenden Klangvorstellung.«29 Grundsätzlich kann die Dauer eines Klangereignisses also von wenigen Millisekunden (ein Klangereignis, das nach Lachenmann als »Impulsklang«30 zu bezeichnen wäre) bis zu ausgedehnten Folgen oder Transformationen von mehreren Minuten Dauer reichen, sofern diese als eine unteilbare Struktureinheit konzipiert und/oder wahrgenommen werden. Gerade dabei deutet sich freilich auch an, dass vom Autor konzipierte und vom Hörer wahrgenommene Klangereignisse keinesfalls kongruent sein müssen (siehe unten). Damit sind wir bei der Frage, wie Klangereignisse sinnfällig voneinander abgegrenzt werden können. Eine schlüssige Segmentierung des musikalischen Verlaufs ist ein Fundamentalproblem in der Analyse neuer Musik, das insbesondere im Kontext der pitch class set-Analyse intensiv diskutiert wurde.31 Denn nur in den seltensten Fällen sind klangliche Einheiten unzweideutig voneinander abgehoben, etwa durch homophone oder blockartige Organisation. Vielmehr kann unser Vermögen einzelne Klangereignisse aus einem komplexen Klangbild zu extrahieren beträchtlich variieren, abhängig von der Trennschärfe simultan oder sukzessiv auftretender Klangereignisse, die u. a. gekoppelt ist an Aspekte der Stimmführung, den Grad an Eigenständigkeit einzelner Stimmen und die Instrumentation. Diese musikalischen Dimensionen stehen untereinander in einer komplexen Wechselwirkung und bewirken einen kontinuierlichen Fokuswechsel potenziell wahrnehmbarer Klangereignisse.

28 Lachenmann, Helmut: »Klangtypen der Neuen Musik« [1966/93], in: Musik als existentielle Erfahrung, S. 1–20, hier S. 17–20. 29 Ebd., S. 20. 30 Ebd., S. 3f. 31 Vgl. z. B. Haimo, Ethan: »Atonality, Analysis, and the Intentional Fallacy«, in: Music Theory Spectrum 18/2, 1996, S. 167–199, v. a. S. 182ff.

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2.2. Morphologie von Klangereignissen, -zuständen und -transformationen

Eine Morphologie von Klangereignissen, -zuständen und -transformationen wurde etwa in Helmut Lachenmanns »Klangtypen«32 oder – vorrangig für das Gebiet der elektronischen bzw. elektroakustischen Musik – in Pierre Schaeffers Morphologie der Klangobjekte33 und Denis Smalleys »Spektromorphologie«34 entworfen. So verdienstvoll diese theoretischen Annäherungen an die Gestaltkonzeption und -wahrnehmung von Klängen auch sind, so sehr offenbaren sie doch das Dilemma, dass eine rein morphologische Auffassung musikalischer Zusammenhänge tendenziell zu einer abbildhaften Beschreibung des Notentextes, eines Sonagramms oder des Klangresultats (in aller Regel werden Mischformen angewendet) verleitet und darüber hinaus kaum produktions- oder rezeptionsästhetische Aussagen über Schlüssigkeit/Zerfall, Logik/Anti-Logik, Sinn/Sinnsubversion der Klänge und Klangverbindungen gemacht werden können. In gewisser Weise wiederholt sich damit die Problematik in den Anwendungen der Gestalttheorie auf musikalische Zusammenhänge, die auch in der Musikpsychologie bis zur Gegenwart immer wieder zu tendenziell tautologischen Untersuchungsmethoden führt.35 Auf der anderen Seite ist es offensichtlich, dass Komponisten im 20. Jahrhundert immer stärker in ›morphologischen‹ Kriterien gedacht haben – nicht zuletzt auch um eine durch den Zerfall der Tonalität und vor allem durch die Serialisierung der rhythmischen und metrischen Parameter zunächst zu entgleiten scheinende Gestalthaftigkeit des Materials zurückzugewinnen.36 32 Lachenmann, »Klangtypen der Neuen Musik«. 33 Schaeffer, Pierre: Traité des objets musicaux. Essai interdisciplines, Paris 1966, S. 389–472. 34 Smalley, Denis: »Spektromorphologie. Ein Zeichensystem zum Verständnis einer neuen Klangkunst« [1995], in: Kunst, Zeichen, Technik. Philosophie am Grund der Medien, hg. von Marianne Kubaczek u. a., Münster 2009, S. 157–200. 35 Auf allgemeiner Ebene (nicht im spezifischen Kontext von Anwendungen der Gestalttheorie) wurde eine ähnliche Kritik eindrücklich von Helga de la Motte-Haber formuliert: »Fast alle diese psychologischen Forschungen [, die sich mit der sogenannten wissensgeleiteten Wahrnehmung beschäftigen,] bringen triviale, aus der Musiktheorie bekannte Regeln ans Licht.« (Der einkomponierte Hörer, in: Der Hörer als Interpret, hg. von Helga de la Motte-Haber und Reinhard Kopiez [= Schriften zur Musikpsychologie und Musikästhetik 7], Frankfurt a. M. 1995, S. 35–41, hier S. 38f.). Die Anwendungen der Gestalttheorie in musikalischen Kontexten sind allerdings zu vielfältig und heterogen, um ein einheitliches Bild zu ergeben. Ausreichend ist daran zu erinnern, dass so unterschiedliche Theorien wie Ernst Kurths Energetik, Fred Lerdahls und Ray Jackendoffs Generative Theorie tonaler Musik und Robert Hattens semiotische Theorie musikalischer Gesten Impulse der Gestalttheorie verarbeiten. Erinnert werden kann hier auch an die Kritik von Dahlhaus, die von der Gestalttheorie vertretene These vom Vorrang des Ganzen über die Details sei einseitig, der Hörvorgang folge tatsächlich jedoch primär einer Sukzession von Teilen, ggf. mit der Möglichkeit der Antizipation; erst rückwirkend sei ein Einfluss des Ganzen auf die Einordnung der Teile möglich (Über einige Voraussetzungen der musikalischen Analyse [1971/72], in: Gesammelte Schriften 2, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2001, S. 233–245). Dem entspricht die zunehmende Aufmerksamkeit, die die Musikpsychologie der Kognition lokaler Strukturbeziehungen widmet, und damit Alternativen zum vorrangig global orientierten Gestaltkonzept entwickelt (vgl. La Motte-Haber, Helga de: Art. »Global Cues/Local Cues«). 36 Vgl. dazu u. a. Mahnkopf, Claus-Steffen/Cox, Frank/Schurig, Wolfram (Hg.): Musical Morphology (= New

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Auch unsere Morphologie ist freilich vor dieser ›Tautologie-Falle‹ nicht gefeit und so ist eine ihrer Vorbedingungen, dass von Anfang an Morphologie und Syntax in ihrer Wechselwirkung bedacht werden müssen. Denn nicht nur kann jede ›Gestalt‹ – jedes Klangereignis – in ihrer/seiner Substruktur prozessual aufgefasst und damit Gegenstand musikalischer Syntax werden, eine Definition unterschiedlicher Typen von Klangereignissen ist ohne eine Berücksichtigung der üblicherweise der syntaktischen Ebene zugeordneten Zeitdimension gar nicht möglich. Dies ist in der folgenden morphologischen Typologie zunächst eher implizit angedeutet und wird in Punkt 2.3. dann detaillierter ausgeführt. Unsere Systematik von Klangereignissen (vgl. wiederum Abb. 1) unterscheidet zwischen ›Akkorden‹ (blockartige homophone Klangereignisse), ›Flächen‹ (blockartige, relativ homogene Klangereignisse mit komplexerer Innenstruktur als Akkorde), ›Geweben‹ (stärker heterogene, meist mehrschichtige, jedoch vorwiegend zuständliche Klangereignisse) und ›Feldern‹ (heterogene, mehrschichtige, vorwiegend entwicklungsartige Klangereignisse). Innerhalb dieser vier Kategorien nimmt die Trennschärfe einzelner Klangereignisse ab und gleichzeitig der Polyphoniegrad und damit eine Tendenz zum Gesamtklang als – unter Umständen nicht mehr vollständig ›kontrollierbares‹ bzw. erfassbares – Resultat polyphoner Linien zu.37 Konsequenz dieser Morphologie ist nicht zuletzt, dass insbesondere bei ›Geweben‹ und ›Feldern‹ nicht immer deutlich zwischen ›Klangereignissen‹ und ›Klangtransformationen‹ unterschieden werden kann: Oft werden zwei Sicht-/Hörweisen plausibel sein: Ein ›transformatorisches Klangereignis‹ und eine aus mehreren – geschichteten, verknüpften, prozessualen – Klangereignissen sich zusammensetzende Klangtransformation können beides sinnfällige Beschreibungen ein und desselben musikalischen Zusammenhangs sein. Mikro- und makroformale Organisation müssen sich dabei keinesfalls entsprechen: So kann eine makroformale Klangtransformation aus ›Akkorden‹ oder ›Flächen‹ bestehen, die zwar auf der mikroformalen Ebene deutlich voneinander unterschieden werden können, makroformal jedoch transformatorisch ineinander greifen (vgl. unten Notenbeispiel 2). Umgekehrt können auf mikroformaler Ebene transformatorisch angelegte Felder in eine makroformale Klangfolge gebracht werden, indem sie (etwa durch Generalpausen) explizit Music and Aesthetics in the 21st Century 2), Hofheim 2004. Auch die Renaissance des ›Figur‹-Begriffs bei prominenten Komponisten wie Ferneyhough, Grisey, Sciarrino und Donatoni seit den 1980er Jahren ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben (vgl. Klassen, Janina/Utz, Christian: Art. »Figur«, in: Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft, S. 117–119). 37 Die Vorstellung, dass Zusammenklänge zunehmend Resultat der Stimmführung – und nicht mehr ohne weiteres auf harmonische Stufen rückführbar – seien, wurde bekanntlich prominent durch Arnold Schönberg vertreten: »Die moderne Musik, die sechs- und mehrstimmige Akkorde verwendet, scheint sich in dem Stadium zu befinden, welches der ersten Epoche der polyphonen Musik entspricht. Danach dürfte man eher durch einen Vorgang, wie es die Generalbaßbezifferung war, zu einem Urteil über die Zusammensetzung der Akkorde kommen, als zur Klarheit über ihre Funktion durch die Methoden der Rückführung auf Stufen. Denn anscheinend, und wahrscheinlich wird das immer deutlicher werden, wenden wir uns einer neuen Epoche des polyphonen Stils zu, und wie in den früheren Epochen werden die Zusammenklänge Ergebnis der Stimmführung sein: Rechtfertigung durchs Melodische allein!« (Schönberg, Arnold: Harmonielehre [1911], Wien 31922, S. 466).

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voneinander abgegrenzt werden (vgl. unten Notenbeispiel 4). Diese Beobachtungen entsprechen der von Lachenmann präzisierten Doppelpräsenz von Zustand und Prozess38: Es handelt sich nicht um einander ausschließende Prinzipien musikalischer Formgestaltung, sondern um komplementäre, ineinander greifende Wahrnehmungskonzepte, die in nahezu jeder Musikerfahrung gleichzeitig (zu unterschiedlichen Graden) präsent sind. Zur Verdeutlichung der hier entwickelten Terminologie seien nun einige knappe Beispiele angeführt: 1. Deduktives Klangereignis/Akkord/Klangfolge: Helmut Lachenmanns Filter-Schaukel aus Ein Kinderspiel (1980, Notenbeispiel 1) für Klavier dient als einfaches Beispiel einer aus deduktiven Klangereignissen bestehenden Klangfolge in Form von Akkorden. Durch ›Fingerpedal‹ werden aus dem zehntönigen Cluster des1-b1 immer neue Dreiton-, später auch Fünf- und Mehrtonklänge gefiltert. Freilich ergibt sich gerade durch die Statik des Ausgangsclusters und die ständig variierten Resonanzklänge auch hier ein deutlich prozessuales bzw. transformatorisches Element: Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Veränderung der gefilterten Nachklänge im Verhältnis zum stets gleich bleibenden Ausgangscluster.

Cluster

Dreitonklang

Notenbeispiel 1: Lachenmann: Filter-Schaukel aus Ein Kinderspiel (1980), T. 1–8. © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden, 1982

38 Lachenmann/Gadenstätter/Utz, »Klang, Magie, Struktur«, S. 40–42.

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Notenbeispiel 2: Xenakis: Metastasis (1953/54), T. 1–34. © Boosey & Hawkes, London, 1967

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2. Induktives Klangereignis/Fläche/Klangtransformation: Die ersten 34 Takte von Iannis Xenakis’ Metastasis für Orchester (1953/54, Notenbeispiel 2) beschreiben zunächst ein induktives Klangereignis: Aus einem Einzelton (g) wird durch Glissandieren in den geteilten Streichern (12/12/8/8/6) bis Takt 34 ein 46-stimmiger ›stehender‹ Cluster (Umfang E1-ais3). (Am Ende des Werkes wird dieser Vorgang umgedreht und aus einem Cluster entsteht ein um einen Halbton höherer Einklang aller Streicher auf gis – hier könnte man umgekehrt

Notenbeispiel 3: Berg: Altenberg-Lieder op. 4, Nr. 1 (1912), T. 1–3. © Universal Edition, Wien, 1953

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also von einem deduktiven Klangereignis sprechen.39) Morphologisch ließe sich das Klangereignis wohl als Fläche beschreiben: Die homogene Klangfarbe (nur Streicher), die analoge Grundbewegung (Glissando), die klare Zäsur durch das ›Stehenbleiben‹ aller Stimmen in Takt 34 bieten wenig Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Fläche. Ein transformatorisches Element ergibt sich durch die steigende Geschwindigkeit der sukzessiv einsetzenden Glissandolinien.40 Auf makroformaler Ebene allerdings müsste diese Fläche wohl trotz ihrer klaren Konturen als Bestandteil einer übergeordneten Klangtransformation aufgefasst werden, die zumindest bis Takt 54 reicht (eine deutliche großformale Zäsur bringen erst die Takte 55–57 durch eine Generalpause in den Streichern, während der echoartig Triangel und Xylophon erklingen). 3. Gewebe/Klangfolge: Am Beginn des ersten Satzes aus Alban Bergs Fünf Orchesterliedern nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg op. 4 (1912, Notenbeispiel 3) steht ein langgezogenes Klangereignis, das aus ostinaten Figuren in einzelnen Instrumenten ein bunt schillerndes Gewebe entstehen lässt (T. 1–14). Eine Unterteilung dieses Klangereignisses ist vor allem deshalb nicht möglich, weil die einzelnen ostinaten Schichten unterschiedliche Dauer haben und sich so immer neu verzahnen – ein für den Gewebe-Charakter grundlegendes Merkmal. Da der Gewebe-Abschnitt makroformal deutlich schließt (T. 14, mit darauffolgenden ›abkadenzierenden‹ fallenden Skalen T. 15–17 und verklingendem Schlussakkord T. 18–19) müsste man auf makroformaler Ebene von einer Klangfolge sprechen. 4. Feld/Klangfolge: In der Gruppe 122 aus Karlheinz Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1955–57, Notenbeispiel 4) wird eine auffällig deutliche Gliederung einzelner in sich sehr polyphon-disparater Klangereignisse durch Generalpausen erreicht. Aufgrund der heterogenen Instrumentation, Dynamik, Figuration bzw. Gestik müssten die einzelnen Klangereignisse als Felder kategorisiert werden, die sich jedoch aufgrund der deutlichen Trennung zu einer makroformalen Klangfolge zusammenschließen.

39 Eine detaillierte Analyse des Werkes bietet Baltensperger, André: Iannis Xenakis und die stochastische Musik. Komposition im Spannungsfeld von Architektur und Mathematik (= Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft 2/36), Bern/Wien [u. a.] 1996, S. 237–341. 40 Vgl. ebd., S. 296f.

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Notenbeispiel 4: Stockhausen: Gruppen für drei Orchester (1955–57), Gruppe 122 (Erstes Orchester). © Universal Edition, London, 1963

2.3. Voraussetzungen einer Theorie der Klang-Syntax

Eine solche Klang-Morphologie sagt nun zunächst noch wenig über die Kriterien aus, nach denen Klangfolgen oder -transformationen ›organisiert‹ sind, mithin über ihre Syntax. Dieser Begriff impliziert, dass sich allgemeine Prinzipien, eventuell gar ›Regeln‹ bzw. eine ›Logik‹ aus ihnen ableiten lassen, die einsichtig machen, dass ihre Abfolge nicht willkürlich ist oder zumindest – etwa im Falle von Zufallskomposition oder Unbestimmtheit – ein syntaktischer Sinn nachträglich ›interpoliert‹ werden kann. Auch hierbei können sowohl lokale als auch makroformale Strukturbeziehungen untersucht werden. Anders als im Fall der Morphologie scheint es zwar zunächst fast aussichtslos, die oft labyrinthischen und teils gezielt dekonstruktivistischen poietischen Verfahren der neuen Musik, insbesondere nach 1945, auf allgemeine syntaktische Prinzipien zurückführen zu wollen. Auf der anderen Seite wurde gezeigt, dass Fragen musikalischer Syntax eng mit den differenzierten Abstufungen

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zwischen Spannung und Lösung zusammenhängen.41 Im Sinne des oben angedeuteten Weiterwirkens der Polarität Spannung-Lösung in post-tonaler Musik wären daher jene kompositorischen Mittel und Wirkungen zu untersuchen, die Klangereignisse, -folgen und -transformationen in ›spannungsvolle‹ – und damit syntaktische – Konstellationen bringen. Dies setzt freilich zumindest voraus, den Syntaxbegriff nicht, wie oft geschehen, rein produktionsästhetisch, sondern auch rezeptionsästhetisch zu verstehen. So ist etwa die Möglichkeit musikalische Erwartungssituationen zu schaffen, ›einzulösen‹ oder zu ›enttäuschen‹ aufs Engste mit einem intuitiven Erfassen musikalischer Syntax seitens eines Hörers verbunden – und diese Möglichkeit muss, wie Christian Utz an anderer Stelle u. a. anhand der Musik György Ligetis gezeigt hat42, durchaus auch für post-tonale Musik eingeräumt werden. Deutlich wird hierbei u. a., dass auch semantische und pragmatische Dimensionen der Syntax immer mitbedacht werden müssen (vgl. dazu wieder Abb. 1). Anhand der Diskussionen zur musikalischen Syntax wird das Desiderat einer Integration produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektiven besonders klar deutlich: Das Hören und Verstehen von Musik basiert, wie bereits angedeutet (vgl. Exkurs 1), auf Vorgängen wie der Segmentierung des musikalischen Flusses in Klangereignisse, -gestalten, -figuren und deren In-Beziehung-Setzen in der Zeit sowie der Hierarchiebildung von mehr und weniger salienten Klangereignissen. Diese kognitive Organisation von Klangsyntax, der komplexe individuelle und soziokulturelle Voraussetzungen zugrunde liegen, muss jedoch keineswegs mit den syntaktischen Setzungen der produktionsästhetischen Ebene übereinstimmen. Daher müssen auch Fragen bezüglich des Verhältnisses zwischen Notat und Klangergebnis (darstellbar zum Teil anhand eines Spektrogramms43) untersucht werden. Eine angemessene Analyse muss demnach immer konzipierte und notierte ebenso wie perzeptiv erfassbare Strukturen gleichermaßen in die Deutung einbeziehen, um fundierte Aussagen über syntaktische Bildungen treffen zu können (vgl. 2.4.1.). 41 Vgl. genauer Utz, Christian: »Entwürfe zu einer Theorie musikalischer Syntax. Morphosyntaktische Beziehungen zwischen Alltagswahrnehmung und dem Hören tonaler und posttonaler Musik«, in: Musik-Sprachen. Beiträge zur Sprachnähe und Sprachferne von Musik im Dialog mit Albrecht Wellmer (musik.theorien der gegenwart 5), hg. von Christian Utz, Dieter Kleinrath und Clemens Gadenstätter, Saarbrücken 2013, S. 61–101. Eine erschöpfende Darstellung von Konzepten musikalischer Syntax, die überwiegend für dur-moll-tonale Musik entwickelt wurden, geht über den hier gesetzten Rahmen hinaus; als prominente Beispiele seien lediglich genannt Lerdahl, Fred/Jackendoff, Ray: A Generative Theory of Tonal Music, Cambridge, Mass. 1983 und, daran direkt anknüpfend, Temperley, David: The Cognition of Basic Musical Structures, Cambridge, Mass. 2001. Siehe auch Eberlein, Roland: Die Entstehung der tonalen Klangsyntax, Frankfurt a. M. 1994. 42 Utz, Christian: »Das zweifelnde Gehör. Erwartungssituationen als Module im Rahmen einer performativen Analyse tonaler und post-tonaler Musik«, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 10/2 (2013), i. V. 43 Es ist freilich zu beachten, dass einige psychoakustische Effekte (Residualtöne, Summen-/Differenztöne) nicht anhand eines Spektrogramms erfassbar sind. In manchen Fällen kann in diesem Kontext ev. das Verfahren der Auto-Korrelation zur Klanganalyse herangezogen werden. Vgl. Fricke, Jobst Peter: »Psychoakustik des Musikhörens. Was man von der Musik hört und wie man sie hört«, in: Musikpsychologie, hg. von Helga de la Motte Haber und Günther Rötter (= Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 3), Laaber 2005, S. 101–154, hier S. 134–137.

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Ein solches Desiderat würde freilich auch für die Analyse dur-moll-tonaler Musik gelten. Nun wäre es naheliegend zu argumentieren, dass post-tonale Musik, im Gegensatz zur tonalen, eben keine verbindliche Vorordnung und damit auch keine verbindlichen Syntaxregeln für die Aufeinanderfolge von Klängen mehr akzeptiere und gleichzeitig auf rezeptionsästhetischer Seite die Relevanz der kulturellen Prägung und des ›Extra-Opus-Wissens‹ für das Verstehen von Musik signifikant abnehme. Für das Verständnis etwa der abrupten Modulationen in Schuberts Musik stellt die Hörerfahrung mit der Musik von Schuberts Zeitgenossen bzw. das konkrete Wissen darüber, wie selten solche Wendungen gebraucht wurden, eine wohl nicht unwesentliche Voraussetzung dar. Für ein ›adäquates Hören‹ – wie immer dieses problematische Konzept auch definiert werden mag44 – von Giacinto Scelsis Streichquartetten oder Iannis Xenakis’ Orchesterwerken dagegen ist Erfahrung mit dur-moll-tonaler Musik und ihrer Syntax keine unabdingbare Voraussetzung mehr. Die Orientierungspunkte eines musikalischen Verständnisses scheinen hier vielmehr vorrangig im Bereich eines ›Intra-Opus-Wissens‹ zu liegen, also in einem spontanen bzw. bei mehrmaligem Hören allmählich angeeigneten Begreifen wesentlicher werkimmanenter Zusammenhänge klanglicher Syntax. (Wiewohl andererseits eine Erfahrung im Hören post-tonaler Werke die Auffassung anderer, neuer, unbekannter post-tonaler Werke sehr wohl erleichtern kann und das ›Extra-Opus-Wissen‹ somit keineswegs vollkommen irrelevant sein dürfte.) John Cages Ästhetik der ›Unbestimmtheit‹ schließlich hat wohl am radikalsten das Syntax-Prinzip insgesamt in Frage gestellt: Zum einen weil sowohl von Seiten des Komponisten als auch von Seiten des Hörers Klänge ›einfach nur Klänge‹ und nicht in übergeordnete Spannungsverläufe eingebunden sein sollen45; zum anderen weil vorübergehende Spannungsbeziehungen, die gegebenenfalls im Rahmen einer konkreten Realisation eines ›unbestimmten‹ Konzepts für die Ausführenden oder Hörer entstehen, den Charakter von Flüchtigkeit und Einmaligkeit haben und somit kaum exemplarisch für allgemeine syntaktische Prinzipien oder Regeln stehen können. Exkurs 2: Cages Emanzipation der Klänge: Ende der musikalischen Syntax? Das Argument, mit John Cages radikaler Emanzipation der Klänge von jeglicher vorgegebenen Struktur sei nicht nur produktions-, sondern auch rezeptionsästhetisch jeglicher musik-syntaktische Rahmen ganz bewusst zerstört und durch das Ideal einer kontemplativen, gerade nicht von ›Spannungen‹ und ›Lösungen‹ bestimmten Abfolge bzw. Wahrnehmung von Klängen ersetzt worden, wirkt zunächst plausibel. Eben gegen jegliche ›Organisation‹ von Klängen – beim Komponieren wie beim Hören – richtet sich Cages Ästhetik. Es gibt für Cage so auch keine Hierarchie von Klängen mehr, also keine mehr oder weniger wichtigen Klangereignisse: »Die Aufmerksamkeit der

44 Vgl. dazu genauer Christian Utz, »Vom adäquaten zum performativen Hören. Diskurse zur musikalischen Wahrnehmung als Präsenzerfahrung im 19. und 20. Jahrhundert und Konsequenzen für die musikalische Analyse«, in: Acta Musicologica 86/1, 2014, im Druck. 45 Vgl. John Cage: »History of Experimental Music in the United States« [1959], in: Silence. Lectures and Writings [1968], London 1978, S. 67–75: »sounds are to come into their own, rather than being exploited to express sentiments or ideas of order« (69); »Where people had felt the necessity to stick sounds together to make a continuity, we […] felt the opposite necessity to get rid of the glue so that sounds would be themselves« (71).

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Hörer soll nicht auf einen vorgeprägten Zusammenhang gerichtet sein, sondern auf das Hören selbst, oder, wie Cage es ausdrückt, es gehe ihm darum, ›not focussing attention but letting attention focus itsel‹.«46 In der Tat zeigt nicht nur die wortgleiche Formulierung Helmut Lachenmanns, der Gegenstand von Musik sei »die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung«47, sondern auch sein Gegenüberstellen eines unvoreingenommenen (Hin-)Hörens auf die Aura und Eigenarten der Klänge, auf das seine eigene Musik wesentlich abzielt, und eines dem entgegen stehenden Zuhörens, das Klänge quasi ohne Umschweife innerhalb eines Systems gewohnter Hörkategorien einordnet, klassifiziert und bewertet, dass er von dieser Fundamentalkritik Cages grundlegend beeinflusst ist.48 Die zum verwandten Ziel eingesetzten kompositorischen Mittel könnten freilich kaum gegensätzlicher sein. Denn Lachenmann misstraut zutiefst einer Aura von Klängen, die »nichts als Klänge« sein sollen. Klänge sind, hier folgt Lachenmann Adorno, stets etwas gesellschaftlich Präformiertes und erst ein Komponieren, das diese gesellschaftlichen Bedingungen in sich aufgenommen hat, kann sie gegebenenfalls wieder »freisetzen«. Tatsächlich haben längst mehrere Autoren im selben Sinn das herausgearbeitet, was man das »Bedeutungs-Paradoxon« von Cages musikalisch-ästhetischen Verfahren nennen könnte: Die Kunstwelt und ihr soziologisches Umfeld bieten Cages »nicht-intentionalen« Klängen und Geräuschen einen Kontext, der diesen am Ende doch wieder eine semantische Funktion verleiht und eine Matrix bereitstellt, in der musikalische Ereignisse zu ›Gesten‹ werden und damit unweigerlich Bedeutung annehmen.49 So bedeutsam und folgenreich Cages Emanzipation der Klänge von syntaktischer Organisation kompositionsgeschichtlich also zweifellos war, so deutlich sind im historischen Rückblick ihre kultursoziologischen Bedingungen. Hörbar wird dies nicht zuletzt in der Entwicklung der von Cages Befreiung des Einzelklangs so grundlegend geprägten Musik Morton Feldmans: So sehr sich Feldmans Musik nachhaltig in einzelne Klänge vertieft – unüberhörbar in der häufig angewendeten Methode ihrer vielfachen Wiederholung – so offensichtlich ist damit auch ein implizites syntaktisches Prinzip verbunden: Je länger ein Einzelklang nämlich wiederholt oder ausgehalten wird, desto einschneidender wirkt das Eintreten eines neuen Klangs, einer neuen »Filterung«, Variante oder Klangkomponente: Vorausgehendes und nachfolgendes Klangereignis gehen eine ›unlösbare‹ Beziehung ein. Die oft gleichsam zeitlupenartige Dehnung von Einzelklängen steht dieser grundlegenden syntaktischen Beziehung nicht entgegen, sie spitzt diese vielmehr zu. Auch für Cages eigene Musik wären möglicherweise ähnliche syntaktische Beziehungen herauszuarbeiten, auch wenn sie hier wohl weniger ›offen liegen‹ als in der Musik Feldmans. Selbst beim Versuch, jegliches ›Extra-Opus-Wissen‹ beim Hören auszuschalten (wie es Cage und Lachenmann gleichermaßen fordern), ist es also unvermeidlich, dass die Differenzierung klanglicher Einheiten50 und damit unweigerlich auch deren Beziehungen zueinander weiterhin wesentliche Grundlagen musikalischer Wahrnehmung bilden. Und diese Beziehungen müssen dabei, wie hier bereits mehrfach ausgeführt, keineswegs mit den vom Komponisten ›nahe gelegten‹ Klang-Relationen identisch sein – ein Grundsatz, der freilich für jede Art von Musik gilt, selbst wenn es mehr Mühe bereiten mag, eine Beethoven-Sinfonie unabhängig von einer rezeptionsgeschichtlich etablierten Form von kompositorischer ›Intentionalität‹ zu hören als etwa Cages oder Lachenmanns Musik; auch 46 Wellmer, Albrecht: Versuch über Musik und Sprache (Edition Akzente), München 2009, S. 222; Zitat im Zitat: Cage, A Year from Monday. New Lectures and Writings, Middletown 1967, S. 78. 47 Lachenmann, Helmut: »Hören ist wehrlos – ohne Hören«, in: Musik als existentielle Erfahrung, S. 116–135, hier S. 117. 48 Vgl. dazu Kaltenecker, »Subtraktion und Inkarnation«, S. 115–117 sowie Lachenmann, Helmut: »John Cage« [1992], in: Musik als existentielle Erfahrung, S. 306. 49 Vgl. u. a. Carroll, Noël: »Cage and Philosophy«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 50/1, 1994, 93–98, hier S. 95. Vgl. auch die ausführliche Diskussion dieser Frage in Utz, Christian: Neue Musik und Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 51), Stuttgart 2002, S. 105–116. 50 Bereits wenn Cage von ›Klängen‹ spricht, die nichts als Klänge sein sollen, gibt er eine solche Differenzierung gleichsam vor, nämlich die Abgrenzung einzelner – wie immer auch definierter – ›Klänge‹ untereinander.

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diese Unterscheidung aber wäre wiederum anzuzweifeln, ist doch gerade in der neuen Musik ein umfangreicher journalistisch-wissenschaftlicher Begleitapparat zwischen Musik und Hörer geschaltet, der den Rezipienten die Autorintention oft in massiver Weise ›aufdrängt‹ und damit ein von dieser Autorintention unabhängiges Hören bzw. ein überhaupt ›intentionsloses Hören‹ nachhaltig erschwert.

Es wäre vielleicht an diesem Punkt sinnvoll, eine grundsätzliche Unterscheidung zu treffen zwischen jenen musikalischen Ästhetiken,Werken und Situationen, in denen intertextuelle Beziehungen unterschiedlichen Grades51 zur dur-moll-tonalen Musik bzw. zu (musik-) geschichtlich präfigurierten Modi der Wahrnehmung hergestellt werden und damit (wie in vielen Werken Lachenmanns) unsere nachhaltige soziokulturelle Prägung durch dur-molltonale Musik seitens des Komponisten ganz bewusst thematisiert wird, und jenen, in denen jegliche Erinnerung oder Beziehung zu solchen präfigurierten Prinzipien gerade vermieden bzw. vollkommen ausgeschaltet werden soll (eine für die Entwicklung serieller Techniken nach 1950 wie für Cages Ästhetik wohl gleichermaßen zentrale Motivation). Dies schließt jedoch nicht aus, dass auch bei letzteren Werken die soziokulturelle Prägung mit dur-molltonaler Musik, der wir unausweichlich und in hohem Maße durch die Medien ausgesetzt sind, unseren Rezeptionsvorgang mit beeinflusst.

2.4. Wege zu einer Theorie der Klang-Syntax: Analysen

Die beiden folgenden skizzierten Analyse-Beispiele sollen vor diesem Hintergrund nun Diskussionsmaterial für eine Präzisierung des Syntax-Begriffs im vorliegenden Zusammenhang bringen und dabei helfen, zwei mit der Herausbildung von syntaktischen Prinzipien verknüpfte Problemfelder gleichsam ›unter der Lupe‹ schärfer sichtbar zu machen: Die Beziehung und Differenz zwischen Notat und Klangereignis und ihr Verhältnis zur Konzeption und Rezeption der Klangsyntax (Edgard Varèse, Intégrales) und die Rolle eines Weiterwirkens dur-moll-tonaler Klangbildungen und Prinzipien im post-tonalen Kontext (Igor Strawinski, Le Sacre du Printemps). Als Fallbeispiele dienen also bekannte und bereits häufig analysierte Werke, nicht zuletzt um den Erkenntnisgewinn unserer Forschungsperspektive leichter nachvollziehbar zu machen. Die Beispiele dienen dabei zugleich einer Differenzierung unserer morphologischen Terminologie in Ausweitung der unter 2.2 nur sehr knapp andiskutierten Fälle (Notenbeispiele 1–4).

51 Hilfreich wäre hierbei wohl die von Michael L. Klein (Intertextuality in Western Art Music, Bloomington 2005, S. 11ff.) getroffene Kategorisierung in »poietische Intertextualität« (vom Komponisten bewusst gesetzte Bezüge zu anderen musikalischen oder sonstigen Texten), in Intertextualität innerhalb von Stilen, Epochen oder eines Werkkanons oder aber, im Gegensatz dazu, in »aleatorisch« durch Zeit und Raum vagierende Interpretationsmodelle. Offensichtlich ist, dass solche intertextuelle Bezüge in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Deutlichkeit »markiert« sein können (Tischer, Matthias: »Zitat – ›Musik über Musik‹ – Intertextualität: Wege zu Bachtin«, in: Musik & Ästhetik H. 49, 13/1, 2009, S. 55–71). Vgl. dazu Utz, Christian: Art. »Intertextualität«, in: Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft, S. 198f.

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2.4.1. Edgard Varèse: Intégrales (1924/25), T. 1–29 In dem Moment, wo eine verbindliche Vorordnung des Materials in Bezug auf Tonhöhen entfällt, wird der Bereich der Klangfarbe gleichsam automatisch aufgewertet. Vielen um 1910 wirkenden Komponisten war das in hohem Maße bewusst und Schönbergs Konzept der Klangfarbenmelodie basierte auf der u. a. durch Hermann von Helmholtz, Ernst Mach und Hugo Riemann verbreiteten Überzeugung, dass Tonhöhenwahrnehmung letztlich nur die untergeordnete Manifestation einer vorrangig klangfarblich orientierten Wahrnehmung von Klängen sei.52 Einen besonderen Einfluss übten solche Überlegungen auch auf Edgard Varèse aus, der ausgehend von einer Emanzipation nicht mehr tonhöhengebundener Schlaginstrumente nach Klangspektren suchte, die sich schlüssig mit den unharmonischen Teiltonreihen der Schlaginstrumente verbinden ließen. Mit besonderem Interesse verfolgte er daher u. a. Helmholtz’ Darstellung von Schwebungen bei großen Septimen und kleinen Nonen53 sowie der Spektren von Stimmgabeln, Glocken und Membranophonen.54 Eine Konsequenz dieses Vorstoßes in unbekannte klangliche Regionen war es, dass die Dauer von Einzelklängen sich deutlich erhöhen konnte. Die längere Dauer von Klängen ist kognitionspsychologisch höchst bedeutsam, lässt sie die Erwartung auf eine Klangveränderung doch stark anwachsen, sodass dann das tatsächliche Eintreten eines neuen Klanges umso einschneidender wirkt. Ein Großteil der Musik Morton Feldmans etwa ist auf diesem Prinzip aufgebaut (vgl. Exkurs 2). Das bekannteste Beispiel bei Varèse bietet wohl der Beginn von Intégrales55: Die ersten 23 Takte enthalten ausschließlich einen siebentönigen Klang (Klang a) – der sich durch wechselnde Instrumentalfarben und einen kontinuier52 Cramer, Alfred: »Schoenberg’s Klangfarbenmelodie: A Principle of Early Atonal Harmony«, in: Music Theory Spectrum 24/1, 2002, S. 1–34. 53 Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen, S. 120–127. 54 Ebd., S. 290–324. Von spezieller Relevanz für Varèses Klangstrukturen ist ein von Helmholtz beschriebener Klang einer gespannten Membran mit einer Obertonstruktur aus 8–5–1–5–3 [13–1–8] Halbtönen (ebd., S. 126). Zum Einfluss von Helmholtz’ Schrift, die Varèse bereits in seinen Studienjahren (ca. 1905) gelesen hatte, vgl. auch La Motte-Haber, Helga de: Die Musik von Edgard Varèse. Studien zu seinen nach 1918 entstandenen Werken, Hofheim 1993, S. 43f., 47, 116, 153 und Decroupet, Pascal: »Via Varèse«, in: Edgard Varèse: Die Befreiung des Klanges, hg. von Helga de la Motte-Haber, Hofheim 1992, S. 28–40. 55 Die folgende Analyse ist hier nur zusammengefasst und wird in einer zur vorliegenden Darstellung komplementären Veröffentlichung detailliert ausgearbeitet: Utz, Christian/Kleinrath, Dieter: »Klang und Wahrnehmung bei Varèse, Scelsi und Lachenmann. Zur Wechselwirkung von Tonhöhen- und Klangfarbenstrukturen in der Klangorganisation post-tonaler Musik«, in: Klangperspektiven, hg. von Lukas Haselböck, Hofheim 2011, S. 73–102. Zu Methodik der Analyse von Varèses Werken (mit Beispielanalysen zu Arcana) vgl. auch Utz, Christian: »Immanenz und Kontext. Musikalische Analyse mehrfach kodierter Formen bei Liszt und Varèse«, in: Österreichische Musikzeitschrift 60/09, 2005, S. 16–25. Die zahllosen vorliegenden Analysen von Intégrales stoßen nur selten in die hier anvisierten Detailstrukturen des Klangresultats vor. Nur eine neuere Untersuchung geht einen ähnlichen Weg und kommt zu durchaus verwandten Ergebnissen. Allerdings verbleiben die dort aus der Spektralanalyse abgeleiteten Folgerungen sehr im Allgemeinen und tendieren zur Tautologie: Lalitte, Philippe: »Son organisé et spéculation sur les distances chez Varèse«, in: Les Cahiers de la Société Québécoise de Recherche en Musique 9/1–2 (2007), S. 125–140 (zit. nach: »Varèse’s Architecture of Timbre: Mediation of Acoustics to Produce Organized Sound«, in: Proceedings of the Conference on Interdisciplinary Musico-

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lichen Dialog von Einzeltönen bzw. -linien (Figuren) und nach Registern geschichteten ›Akkorden‹ auszeichnet.56 Der Wechsel zu einem elftönigen zweiten Klang (Klang b) in Takt 24–29 (Notenbeispiel 5) wird damit zu einem (Klang-)Ereignis von größter Bedeutung, das ein Maximum an Aufmerksamkeit auf sich zieht. Bei den Takten 24–28 handelt es sich zudem um den ersten Abschnitt seit Takt 4, der ganz auf Schlaginstrumente verzichtet – ein weiterer Aspekt, der Klang b als besonders signifikant von seiner Umgebung abhebt.

Klang a

Klang b

22

26

Notenbeispiel 5: Varèse, Intégrales (1924/25), T. 22–29. © 1956 G. Ricordi & Co., New York.

Aus produktionsästhetischer bzw. analytischer Sicht lassen sich zunächst folgende syntaktische Grundprinzipien festhalten, die der Verbindung der Klänge a und b zugrunde liegen (vgl. dazu auch Notenbeispiel 6): logy (CIM05), Montréal 2005). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dieser Studie erfolgt in Utz/Kleinrath, »Klang und Wahrnehmung bei Varèse, Scelsi und Lachenmann«. 56 Bernard hat diese Passage und vergleichbare Klangbildungen bei Varèse als »frozen music« bezeichnet (Bernard, Jonathan W.: The Music of Edgard Varèse, New Haven/London 1987, S. 134–162; vgl. auch Bernard, Jonathan W.: »Varèse’s Space, Varèse’s Time«, in: Edgard Varèse. Composer, Sound Sculptor, Visionary, S. 149–155, hier S. 151).

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– Die Klänge werden durch ein kurzes Transformationsfeld verbunden, in dem Elemente beider Klänge enthalten sind (T. 24/25). – Kleine Nonen (1357) spielen in beiden Klängen auf mehreren Ebenen eine strukturell tragende Rolle. – Durch die symmetrische Einfügung von Intervallen in die Akkordstruktur (zwei Tritoni in Klang b) und durch die ›Potenzierung‹ von Intervallen (13 wird zu 13–13) kommt es zu Klangspreizungen; zugleich sind auf mehreren Ebenen Transpositionsvorgänge zu konstatieren. – Prinzipien der Zwölftonkomplementarität sind wirksam; die drei in Klang a aus dem Zwölftontotal ausgesparten Töne nehmen in Klang b eine strukturell tragende Funktion ein. – Die Instrumentation unterteilt die Klänge klar in zwei Schichten (Klang a) bzw. drei Schichten (Klang b), innerhalb derer sich die syntaktischen Prinzipien (Spreizung, Potenzierung, kleine Non als zentrales Intervall) ebenfalls beobachten lassen. 21

13 Klang a

 



4

13 Klang b







9

13

13



13

20



8 13

13 13





2

 

11





Klang b (T. 25-29)

    

Tonraum

    



1



1

20

4

  

      



6

6

Klang a (T. 1-23) 13 8



13

13

    

13 13

2

6



7



1

Piccolo B-Klar.

Es-Klar.



  8  6





5

26 14

 1 13

13 Posaunen

 9   4

13 13

 



  13    1  13

6 13

 8

Klang b (T. 25-29)

Klang a (T. 1-23)

 13

5



13

26

Piccolo B-Klar.

Oboe

Trompeten 

 11 2

Horn

 13  13 

Notenbeispiel 6: Varèse, Intégrales, T. 1–29: Klänge a und b: Spreizung (oben), Tonraum und 13-Ketten (unten links), Instrumentalgruppen (unten rechts)

57 Hier und in weiterer Folge findet die aus der Pitch-class-set-Theorie bekannte Bezeichnung von Intervallen nach der Anzahl ihrer Halbtöne Verwendung.

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Aus rezeptionsästhetischer Sicht kommt diesen Faktoren unterschiedliche Gewichtung zu: das Transformationsfeld, die Klangcharakteristik der kleinen Nonen und die Klangspreizung sind für die Wahrnehmung zweifellos relevante Faktoren. Die von Varèse entwickelten schiefen Symmetrien dagegen scheinen in erster Linie aus produktionsästhetischer bzw. analytischer Sicht von Bedeutung zu sein. Spätestens hier aber muss man nun fragen, wie diese Klänge sich denn tatsächlich im Spektrum darstellen. Auf der Grundlage einer von Dieter Kleinrath entwickelten Softwarebibliothek haben wir eine Spektralanalyse zweier verschiedener Einspielungen58 vorgenommen, in denen nur die quasi-stationären Teile der Klänge (T. 23/28, Dauer zwischen 870 und 1350 Millisekunden) herangezogen wurden.59 Die Analyse brachte im Vergleich mit dem Notat folgende Ergebnisse (Notenbeispiel 7): – Bei beiden Klängen verschiebt sich der Schwerpunkt deutlich in höhere Register – ein Resultat insbesondere der hohen Dynamik; die Grundtonfrequenzen der beiden tieferen Posaunen sind in beiden Fällen kaum oder überhaupt nicht im Spektrum vorhanden, werden aber – zumindest in Klang b – eindeutig durch unser Gehör als ›virtuelle Grundtöne‹ ergänzt.60 – Eine Strukturierung beider Klänge kann durch die dynamisch im Spektrum am stärksten hervortretenden Frequenzen vorgenommen werden.61 Die so entstehenden Klangstrukturen dienen als Basis für einen Vergleich mit den Ergebnissen der strukturellen Analyse. Klang a wird beispielsweise durch die drei stärksten Frequenzen strukturiert: das b2 der Es-Klarinette, das es3 der B-Klarinette und das h3 der 1. Piccolo-Flöte. Den äußeren ›Rahmen‹ dieses Spektrums bilden der oberste Posaunenton cis1 und das b4, Teilton der Klarinettentöne b2 und es 3 (vgl. gestrichelte Bögen in Notenbeispiel 7). Die resultierende In58 Pierre Boulez, Ensemble InterContemporain [1984], Sony SMK 45844, 1990; Riccardo Chailly, ASKO Ensemble, Decca 00289 460 2082, 1998. 59 Eine genauere Darstellung der technischen Voraussetzungen und Möglichkeiten dieser Softwarebibliothek sowie eine detailliertere Beschreibung der spektralanalytischen Vorgehensweise finden sich in Utz/Kleinrath, »Klang und Wahrnehmung bei Varèse, Scelsi und Lachenmann«, S. 84–87. Für ein differenzierteres Ergebnis müssten freilich mehr als zwei Einspielungen herangezogen werden. 60 Virtuelle Grundtöne oder Residualtöne (auch: Residua) entstehen durch die Hinzufügung fehlender tiefer Spektralkomponenten durch das menschliche Gehör, sodass beispielsweise am Telefon die Stimme des Gesprächspartners erkannt werden kann, obwohl das Telefon die tiefen Grundfrequenzen gar nicht überträgt. Mindestens drei Spektralkomponenten müssen vorhanden sein, um die Wahrnehmung eines virtuellen Grundtons zu ermöglichen. Seine Tonhöhe kann mathematisch durch den größten gemeinsamen Teiler berechnet werden. Vgl. Fricke, »Psychoakustik des Musikhörens«, S. 140–149. 61 Die Lautheit der Spektralkomponenten wurde in Sone berechnet (zum technischen Verfahren vgl. genauer Utz/Kleinrath, »Klang und Wahrnehmung bei Varèse, Scelsi und Lachenmann«, S. 84f.). Auch wenn durch die Soneberechnung eine bessere Näherung an die subjektive Lautstärke-Empfindung erreicht werden kann als mit Decibel-Werten, so muss doch berücksichtigt werden, dass bei einer hohen klanglichen Komplexität wie in Varèses Klängen allgemeingültige Aussagen über die Gewichtung einzelner Spektralkomponenten nur mit großer Vorsicht getroffen werden können. In weiterer Folge wären solche Messungen also durch Versuche mit Hörern zu ergänzen, die etwa die für ihr Empfinden jeweils am deutlichsten hervortretenden Tonhöhen im Rahmen von Hörversuchen identifizieren müssten.

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tervallstruktur 19–2–5–8–4–7 [19–7–19; 19–7–12–7] zeigt gegenüber der strukturellen Analyse eine hohe Relevanz von Oktav-, Quint- und Quartstrukturen. Wenn dagegen der Ton h3 (erste Piccoloflöte) besonders akzentuiert wird, zeigt sich mit 21[19–2]–13[5–8]–11[4–7] auch die Relevanz kleiner Nonen und großer Septimen im Klangresultat.

Notenbeispiel 7: Varèse, Intégrales, T. 1–29: Klänge a und b: Gegenüberstellung von Strukturanalyse und Spektralanalyse

Auch in Klang b verschiebt die Spektralanalyse die zu betrachtende Grundstruktur nach oben, zudem ergeben sich deutliche Verstärkungseffekte innerhalb der Obertonstruktur. Die Frequenzen mit den höchsten Sonewerten werden wiederum von B-Klarinette, Es-Klarinette und 1. Piccolo erzeugt: fis2-cis3-gis4, wobei im weiteren Spektrum cis4 und cis5 besonders hervortreten: Es handelt sich um die Teiltöne 2 und 4 von cis3 (Es-Klarinette), zugleich Teiltöne 3 und 6 von fis2 (B-Klarinette). Begrenzt wird das Spektrum hier erneut vom oberen Posaunenton (h). Der vierte Teilton des tiefen Posaunentons a und der zweite Teilton des mittleren Posaunentons b sind eher schwach ausgeprägt. Deutlich hervortretende Elemente aus der Teiltonreihe von a (e2-cis3-g3-cis4-e4-g4) erklären vermutlich, dass der tiefe Posaunenton als Residualton hörbar wird. Auch hier kann man eine oktav-/ quint-/ quartbetonte

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Deutung (19–7–12–7–5) neben eine nonbetonte Deutung (19–13[7–6]–13[6–7]–5) stellen, die vor allem bei besonderer Betonung des g3 (zweite Piccoloflöte) plausibel wird. Wenn wir die Spektralstrukturen der beiden Klänge nebeneinander stellen, erkennen wir eine Art der Transposition bzw. Spreizung, die in der rein strukturellen Analyse nicht sichtbar war: Die Struktur 19–7–19 von Klang a wird in Klang b zu 19–7–19–5. Eine detailliertere Darstellung macht den Zusammenhang zwischen den Intervallstrukturen beider Klänge noch deutlicher: 13

14

13

11

13

Die Interpretation der spektralen Struktur ist kaum eindeutig zu treffen, zumal sie stark von der Interpretation, aber auch von Aufnahmetechnik, verwendetem Instrumentarium etc. abhängt. Dennoch lässt sich festhalten, dass eine fundierte Aussage über Morphologie und Syntax zumindest in diesem konkreten Fall (und zweifellos in vielen weiteren) nicht ausschließlich aufgrund der im Notentext festgehaltenen Grundtöne getroffen werden kann. Natürlich kann auf der Grundlage einer Verbindung zwischen nur zwei Klängen noch keine allgemeine Aussage über die syntaktischen Prinzipien eines Werks oder eines Komponisten gemacht werden. Überproportionale Dauer einzelner Klänge, dramatisch ›inszenierte‹ Einführung neuer Klänge, Zwölftonkomplementarität, Zyklen der Strukturintervalle 11 und 13, strukturelle und spektrale Spreizung und Transposition sowie orchestrale Schichtenbildung können aber in jedem Fall für Varèse auch in zahlreichen weiteren Fällen als Grundtechniken der Syntaxbildung vorausgesetzt werden. 2.4.2. Igor Stravinski: Danse Sacrale aus Le Sacre du Printemps (1913), T. 1–16 Die Klangereignisse sind bei Varèse häufig gleichsam ›geometrisch‹ gesetzte Einheiten, die als saliente ›Pfeiler‹ der Klangsyntax herausstechen und sich somit als strukturelle Einheiten geradezu aufdrängen. Wie sieht es nun in jenen Fällen aus, in denen Klangereignisse weniger im Sinne von ›Klangmassen‹ unzweideutig exponiert werden, sondern in denen eine große Fülle klanglicher Informationen innerhalb kürzester Zeit verarbeitet werden muss? Der Beginn von Stravinskis berühmter Danse Sacrale soll als Anschauungsbeispiel dienen, um dieser Frage nachzugehen und zugleich um das Weiterwirken dur-moll-tonaler Prinzipien im post-tonalen Kontext zu thematisieren.62 62 Ein Überblick über die zahllosen Versuche die ›Harmonik‹ des Sacre du Printemps zu begreifen, kann hier unterbleiben. Als richtungsweisend dürfen – trotz teils problematischer Verengung des Blickwinkels – gelten: For-

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Betrachtet werden nur die ersten 16 Takte der Danse (Notenbeispiel 8); der Zentralakkord [a] ein Dominantseptklang auf D mit der unterlegten Quint Es-b wird zunächst drei Mal in leicht unterschiedlicher Form und jeweils als kurzer ›Schlagimpuls‹ eingeführt ([a1, a2, a3]; zweimal als Sechzehntel, einmal als Achtel, jeweils im Martellato), wobei das erste Auftreten durch eine Fermate abgetrennt ist; beim vierten Mal [a4] bleiben Elemente des Akkords in Bläserstimmen liegen [b1] und verbinden sich mit einer Sechzehntelfigur, in der drei weitere Akkorde auftreten [bx, by, bz]. Es folgt eine leicht variierte Wiederholung unter Auslassung des ersten Akkords, gefolgt von einem weiteren Auftreten des [a2/3]-Akkords. Die 10 Takte ergeben damit ein quasi-symmetrisches Bild (in Sechzehntelwerten: 3–2–3–3–4–2–3–3–4–3). In Takt 11 treten neue Klänge hinzu, die insgesamt fünf Akkordschläge umfassen [c1-c5], welche hier in unregelmäßiger Rhythmik (in Sechzehnteln: [1]–2–2–1–1–1), nach einer weiteren Variante der a/b-Akkordik dann in regelmäßiger Rhythmik (1–1–1–1–1, Takt 16) auftreten.

te, Allen: The Harmonic Organization of ›The Rite of Spring‹, New Haven 1978; Vlad, Roman: »Reihenstrukturen im Sacre du Printemps«, in: Igor Strawinsky (Musik-Konzepte 34/35), hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1984, S. 4–64; Taruskin, Richard: »Chernomor to Kashchei: Harmonic Sorcery; or, Stravinsky’s ›Angle‹«, in: Journal of the American Musicological Society 38, 1985, S. 72–142; ders.: Stravinsky and the Russian tradition. A Biography of the Works through Mavra, Bd. 1, Oxford 1996, S. 934–950; Van den Toorn, Pieter C.: »Octatonic Pitch Structure in Stravinsky«, in: Confronting Stravinsky. Man, Musician, and Modernist, hg. von Jann Pasler, Berkeley [u. a.] 1986, S. 130–156; ders.: Stravinsky and the Rite of Spring: The Beginnings of a Musical Language, Berkeley 1987; Tymoczko, Dmitri: »Stravinsky and the Octatonic. A Reconsideration«, in: Music Theory Spectrum 24/1, 2002, S. 68–102; Van den Toorn, Pieter C./ Tymoczko, Dmitri: »Colloquy [Stravinsky and the Octatonic: The Sounds of Stravinsky]«, in: Music Theory Spectrum 25/1, 2003, S. 167–202.

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a

b

c

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Notenbeispiel 8: Stravinski, Le Sacre du Printemps: Danse Sacrale (1913), T. 1–16. © Boosey & Hawkes, London 1967

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Zur Erläuterung der Tonhöhenstrukturen gibt es zahlreiche Ansätze, ›intra-opus‹-orientierte, die auf den von Taruskin bestimmten »Rite-Chord« (Akkordstruktur 6–5 bzw. 5–663) fokussieren, und historisch, ›extra-opus‹-orientierte, insbesondere den Versuch die Klangbildungen aus der Interaktion von oktatonischen und diatonischen Skalen abzuleiten.64 Hier sollen in Bezug auf unsere Systematik zwei Fragen thematisiert werden: 1. Welche Zusammenhänge zwischen Dauer, Instrumentation und Intervallstruktur der Klänge sind für die Syntaxbildung signifikant? 2. Welche Rolle spielen bzw. welches Gewicht haben dabei Bildungen, die aus der dur-moll-tonalen Musik bekannt sind? Wir betrachten dabei vor allem die Akkorde bx, by, bz und c1-c5 (Notenbeispiel 9). œ œ œ œ œ œ b œ œ b b b œœœ œœœ b b b œœœ œœœ [es] œœ b b œœ œœ b b œœ [f/a]

Pic.

Struktur

a a2

a1

&

œ # œœœœ

œ # œœœœ

?

bœ bœ

b b œœ bœ

œ

œ œ

[Basskl.]

Es-Kl.

œ

Altfl./Vl.

a4

a3

œ #N œœœœ

D7 œ # N œœœœ

b b œœ

b b œœ

[Pk.]

Cis/Des7 Du C7e œœœœ b œœœœ b n n # œœœœ # n n œœœ œ œ # œ n œœ œœ b b œœ n n œœ b A œœ

bx

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Holzbl./ Trp./ Str.

† &

Hr./ ? Bass-Trp.

F

bz

œ œ œ b œœ œœœ œœœ

œ œ œ œœ œœ œœœ

œ œœœ b n œœœœ bb œœœœ

Ces3 D As3

b

[Kb.]

œ œ œ œœ œœ œœœ

Ces

c

Instrumentale Schichtung 4 Ob. + E.H.

œœ # œœœ

& ?

Hr.

œœ # œœœ

N œœ # œœœ

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b bb œœœ

b b œœ

b b œœ

œ #N œœœœ # b œœ

# œœœ œ # N œœœœ # b œœ

Pos.

& œ # œœœœ

& ?

Str.

œ # œœœœ

b b œœ

b b œœ

[Vc.]

[Vc.]

œœ b œœœœ b n # œœœœ # n n œœœ œ # œ n œœ œœ b b œœ n n œœ b A œœ œœ œ b N œœœœ n b # œœœœ # n n œœœ bœ # b œœ n œœ n # œœœ

[Vc./Vle. 2/Vl. 2]

Substruktur / Genese "Ur-Akkord": Augurs of Spring

œ & b œ b b œœ b œœ Fes/Es ? bœ b b b œœœ 11-Rahmen

œ nœ b œœ # b œœ 6-5

11/13-Rahmen

œ nœ bœ bœ

5-6

#œ n n œœ

nœ bœ

7

[Enharmonik fis-ges]

# b b œœœœœ n b œœœœœ

n n œœ œœœ

Ganzton-Spannung

bœ bœ nœ nœ Oktatonik (III)

&

"Rite-Chord"

œ˙ ˙ b˙ œ #˙ #œ ˙

Oktatonik: III-

I-

II-

III

œ bœ Oktatonik III

˙ b˙ ˙ ˙ ˙ œ bœ bœ

Notenbeispiel 9: Stravinski, Danse Sacrale, T. 1–16: Struktur, instrumentale Schichtung, Substruktur

63 Taruskin, Stravinsky and the Russian tradition, Bd. 1, S. 938–948. 64 Insbesondere bei Van den Toorn, Stravinsky and the Rite of Spring; Van den Toorns Konzept der Interaktion von oktatonischen und diatonischen Skalen wird kritisch beleuchtet und erweitert in Tymoczko, »Stravinsky and the Octatonic«.

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Dass der Zentralakkord a als Referenz aller anderen Klänge dieses Abschnitts fungiert, als Klangzentrum im Sinne von Hermann Erpf und Zofia Lissa65, kann wohl kaum bestritten werden; scharf und nachhaltig prägt er sich ein. Allerdings zeigen bereits die ersten vier Takte, dass fortgesetzt neue ›Dimensionen‹ dieses Akkords hervorgehoben werden und es dadurch bereits fragwürdig sein könnte von nur einem Zentralklang zu sprechen. Die ersten vier Akkordschläge nehmen einerseits an Schärfe zu, indem der ›Grundton‹ des Dominantseptakkords d1 nun von beiden Seiten von kleinen Sekunden ›umlagert‹ wird; die in die Figur b führende Variante a4 setzt dieser Verwischung des Akkords einerseits einen sehr deutlichen, crescendierenden D-Dur-Dreiklang in den Posaunen entgegen, die Figur b erhöht dann allerdings wieder die Komplexität: In den Oboenstimmen werden die absteigenden Dominantseptakkorde auf C, Cis und D (nacheinander in erster Umkehrung, Grundstellung, dritter Umkehrung; Unterstimme: e-cis-c) deutlich, während die Hörner konsequent chromatische Nebentöne bringen, die in diesen Dominantseptakkorden nicht enthalten sind; beide Ebenen werden im Akkordsatz der Streicher zusammengefasst. Die so erreichte ›Anonymisierung‹ des tonalen Akkordmaterials wird auch in der Spektralanalyse deutlich, in der keiner der Grundtöne oder Schichten deutlich hervortritt und die Fülle an sehr lauten Obertönen zur ›Schlagzeug‹-artigen Qualität der Klänge beiträgt. So spielt auch die Tatsache, dass Akkord by eine exakte Transposition von Akkord a4/b1 – dem Zentralklang also – um eine kleine Sekund nach unten ist, für das Erfassen der Klangfolge wohl nur eine untergeordnete Rolle. Noch deutlicher wird diese Tendenz in der Akkordgruppe c: Dominierend ist hier eindeutig die Akkordstruktur aus einem es-Moll-Dreiklang mit der scharf in Doppeloktaven über den Dreiklang gelegten Melodik f-f-f-a-f. Kleine und große Sekundbeziehungen sowie die enharmonische Identität von fis und ges liegen strukturell der Verbindung der Gruppen a, b und c zugrunde. Die parallel zur c-Gruppe in Hörnern und Basstrompete absteigende oktatonische Progression aus den Durakkorden auf F-Ces3-D-As3-Ces verschwindet dagegen im Spektrum nahezu vollkommen (dennoch ist die absteigende Kontur der Hörner zweifellos hörbar; auf der Grundlage der Spektralanalyse muss man annehmen, dass auch hier jeweils die 1. Obertöne und nicht die Grundtöne der Basslinie gehört werden, also f1, es1, d1, c1, ces statt f, es, d, c, Ces). Ähnlich wie im Falle der b-Figur mögen sich hier also klangfarblich klar abgegrenzte Progressionen (b-Gruppe: Oboen und Englisch Horn vs. Hörner, c-Gruppe: Hörner und Basstrompete vs. Rest des Orchesters) durchaus auf Akkordmaterial, zum Teil auch auf Stimmführungstopoi der tonalen Musik beziehen, ihre Einbettung in einen insbesondere durch die Streicher ins Unkenntliche vermischten Gesamtklang und vor allem die ›schlagartige‹ Kürze aller Einzelklänge mindert ihre Relevanz für eine Klangsyntax jedoch erheblich. Die Klangschichten können nicht mehr im Sinn einer ›stream segregation‹ beim Hören eindeutig auseinander differenziert werden, sodass eine Analyse 65 Erpf, Hermann: Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik [1927], Wiesbaden 21969, S. 122, 197f.; Lissa, Zofia: »Geschichtliche Vorformen der Zwölftontechnik«, in: Acta Musicologica 7/1, 1935, S. 15–21.

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im Sinn von Polytonalität oder ›Polyskalarität‹ hier kaum sinnvoll erscheint.66 Die quasi-tonalen Progressionen werden so zur Färbung eines hochkomplexen Gesamtklangs.67 (In anderen Kontexten könnte das Prinzip der ›stream segregation‹ jedoch durchaus schlüssig als Erklärungsmodell für Stravinskis bekannte Ostinato-Schichtungen herangezogen werden.68)

3. Fazit und Ausblick Unsere Systematik konnte in diesem Rahmen auf viele der aufgeworfenen Fragen noch keine eindeutigen Antworten geben. Festgehalten werden können aber vorläufig die folgenden Punkte: – Auf der Grundlage einer differenzierten Theorie der Morphologie und Syntax von Einzelklängen und ihrer Verbindung zu übergeordneten Zusammenhängen kann eine Ebene der Beschreibung von ›Klangorganisation‹ gefunden werden, die unabhängig von etablierten Theorie- und Analysesystemen übergreifende Prinzipien der Gestaltung musikalischer Kunstwerke im post-tonalen Kontext aufzeigt. Simultankomplexe und Linienführung, kompositionstechnische und wahrnehmungspsychologische Dimensionen, Klang, Interpretation und Notat müssen dabei gleichermaßen berücksichtigt werden. Dadurch könnten in weiterer Folge etwa Beziehungen zwischen Werken unterschiedlichster Provenienz aufgezeigt werden, die in einer herkömmlichen Betrachtungsweise als beziehungslos oder gar antagonistisch zueinander aufgefasst würden. – Für die Entwicklung einer schlüssigen Theorie der Morphologie und Syntax von Klängen ist abzuwägen, welches Gewicht einem Weiterwirken dur-moll-tonaler Prinzipien (oder anderer überlieferter Formen der Organisation und gegebenenfalls Hierarchiebildung des Tonraums) zukommt, sowohl in produktionsästhetischer Hinsicht (Minimal Music, neo-tonale Richtungen) als auch in rezeptionsästhetischer Hinsicht (Prägung unserer Hörbiographien durch Repertoires dur-moll-tonaler Musik). Eine Identifikation von intertextuellen Bezügen post-tonaler Werke zu tradierten musikalischen Systemen 66 Das von Stravinski selbst zurückgewiesene und von Boulez und zahlreichen weiteren Autoren polemisch von Stravinskis Verfahren abgegrenzte Phänomen ›Polytonalität‹ wurde in diesem Zusammenhang von jüngeren Forschungen erneut thematisiert; die Vorsicht, die dabei im neu vorgeschlagenen Begriff »Polyskalarität« (Tymoczko, »Stravinsky and the Octatonic«, S. 84–92) erkennbar ist, trägt der Tatsache Rechnung, dass in den meisten Fällen nicht verschiedene ›Tonalitäten‹ oder tonale Zentren, sondern verschiedene skalare oder akkordische Intervallstrukturen überlagert werden. 67 In Utz/Kleinrath, »Klang und Wahrnehmung bei Varèse, Scelsi und Lachenmann« wird ein zu Stravinskis Vorgehen komplementäres Prinzip in der strukturellen Verwendung tonaler Akkordstrukturen in Helmut Lachenmanns Concertini (2004/2005) untersucht. Wo bei Stravinski die Schichtung von Klangverläufen gezielt an wahrnehmungspsychologische Grenzen geführt wird und sich zu einem Gesamteindruck verdichtet, bleibt bei Lachenmann die Spannung zwischen Textur und Struktur, zwischen ›Spaltklang‹ und ›Schmelzklang‹ stets unaufgelöst. 68 Vgl. die Ausführungen von Tymoczko in Van den Toorn/Tymoczko, »Colloquy«, S. 195ff.

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kann vor allem für die Deutung syntaktischer und semantischer Dimensionen der Klangorganisation wichtig werden. – Die Entwicklung dieser Theorie könnte schließlich auch dazu beitragen, besser zu verstehen, welche übergeordneten Prinzipien – in produktionsästhetischer Hinsicht – in der Klangorganisation unterschiedlicher Komponisten wirksam sind und damit auch, welche Aspekte eines ›Extra-Opus-Wissens‹ für ein Verstehen analog oder ähnlich gestalteter Werke wesentlich sein könnten. Die Zusammenfassung von historisch und personalstilistisch so unterschiedlichen Phänomenen der Klangorganisation in einen gemeinsamen methodischen Rahmen ist eine besondere Herausforderung. Die hier in den Vordergrund gerückte mikroskopische Betrachtung von Klängen – auf struktureller und spektraler Ebene – führt fast durchweg zu einer ›prozessualen‹ Auffassung, in der mikrotonale Abweichungen, Schwebungen, klangfarbliche Differenzierung oder Schichtenbildung in ihrer fortwährenden Veränderung herausgestellt werden können. So aufschlussreich dieser Blick ins ›Klangmikroskop‹ auch sein kann, so tendiert er doch zur Tautologie: Auf der mikroprozessualen Ebene gibt es keine Stabilität, sondern nur ›Kontinuum‹, oder, umgekehrt ausgedrückt, der ›Schnappschuss‹ eines Moments im Klangverlauf kann niemals allein repräsentativ für die Wahrnehmung und Kognition der Klänge sein. Umgekehrt wird also wohl erst ein perspektivisches ›Zurücktreten‹, ein Berücksichtigen ›makroskopischer‹, ›globaler‹ zeitlicher und klanglicher Zusammenhänge einer Art der großflächigen, syntaxbezogenen Gestaltwahrnehmung gerecht, wie sie für das Musikhören zweifellos wesentlich bleibt. Beschreibungskategorien wären zu entwickeln in beide Richtungen: Das mikrostrukturelle Detail ist zu differenzieren nach seinen Wechselwirkungen mit den übergreifend kompositorischen und kognitiven Instanzen, Aussagen über makrostrukturelle Zusammenhänge sind in Beziehung zu setzen mit der ›Substruktur‹. Und ebenso wie eine Deutung harmonischer Zusammenhänge in dur-moll-tonaler Musik nicht bei der Etikettierung oder Bezifferung einer Akkordfolge stehen bleiben darf, müssen Kategorien zur Analyse von ›Klangorganisation‹ im 20./21. Jahrhundert es erlauben, Modelle und Topoi aus den Fallbeispielen zu verallgemeinern und von diesen ausgehend schließlich auch Ebenen der metaphorischen oder gesellschaftlichen Deutung zu entwickeln.

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