Kelten, Germanen, Ubier, Chatten? Zur ethnischen und historischen Deutung spätlatènezeitlicher Fundgruppen in Hessen

July 28, 2017 | Author: Jens Schulze-Forster | Category: History of Science, Late Iron Age (Archaeology), Hillforts and oppida
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Berichte der Kommission für Archäologische Landesforschung in Hessen

Band 10 2008/2009 (2010)

Seite 17 – 26

Kelten, Germanen, Ubier, Chatten? Zur ethnischen und historischen Deutung spätlatènezeitlicher Fundgruppen in Hessen Jens Schulze-Forster

Einleitung In einer kleinen Abhandlung zum Start des Germanisierungsprojekts der KAL hat Otto-Herman Frey das 1. Jahrhundert v. Chr. als Beginn der hessischen Landesgeschichte gewürdigt (Frey 1994/95, 5). Er nahm damit besonders auf das Erscheinen der Chatten Bezug. Bekanntlich handelt es sich um den ersten Stammesnamen, der auf hessischem Boden gesichert ist1. Bereits zwei Generationen zuvor war Caesar mit den Verhältnissen am Mittel- und Niederrhein konfrontiert. Zweimal (55 und 53 v. Chr.) sah er sich genötigt, mit seinem Heer im Neuwieder Becken den Fluss zu überschreiten und auf der rechten Rheinseite Operationen gegen Germanen durchzuführen2. Bedeutende Gruppierungen wie die Ubier, Sueben, Cherusker oder Markomannen betreten in Caesars Berichten erstmals die historische Bühne, von wo sie schnell Eingang in die archäologische Literatur fanden. Ost- und elbgermanische Funde aus Hessen wurden beispielsweise verschiedentlich als suebisch interpretiert (Seidel 1996, 247). Karl Peschel hat den Namen als Sammelbegriff für Gruppen mit gefolgschaftlich organisierter Sozialordnung der Übergangszeit verwendet („suebische Sozialordnung“; Peschel 1978, 153 ff.). Es ist üblich geworden, derartige Überlegungen unter dem Begriff der „ethnischen Deutung“ zusammenzufassen, auch wenn Voraussetzungen, Ziele und Argumentationsweisen sehr verschieden sind. In jüngster Zeit sind zwei gegenläufige Tendenzen im Umgang mit antiken Namen festzustellen. Unter dem Eindruck der gewichtigen Fundamentalkritik3 an den Irrwegen und Kurzschlüssen ethnischer Deutungen scheint es nötig, die herkömmlichen Konzepte archäologischhistorischer Interpretationen mitsamt den vorbelasteten Völkernamen aus der Archäologie zu tilgen. Vor allem in der Auseinandersetzung mit Gustav Kossinna und seiner „siedlungsarchäologischen Methode“ hat die Kritik ihre Instrumente nachhaltig geschärft (Eggers 1950; Hachmann 1962, 16 ff.; Brather 2004; Roymans 2004, 1 ff.). Demgegenüber sind gerade in den letzten Jahren weitrei1   Nennung der Eder (Adrana), an deren Ufer sich die Jungmannschaft der Chatten 15 n. Chr. dem Germanicus entgegenstellt (Tacitus ann 1, 56); vgl. Becker 1992, 54. 2   55 v. Chr. hielt er sich dabei 18 Tage rechts des Rheins auf; zu den Zusammenhängen zuletzt Heinrichs 1999 und Heinrichs 2006. 3   Die Freiburger Habilitationsschrift von S. Brather (Brather 2004) umfasst über 800 Seiten und einen Literaturapparat mit rund 2000 Titeln.

chende historische Deutungen mit konkreten Namen und Jahreszahlen vorgelegt worden. Aufgrund numismatischer Befunde hat Johannes Heinrichs den Dünsberg als Hauptort des rechtsheinischen Ubiergebietes angesprochen (Heinrichs 2003; Heinrichs 2006; Eck 2004). Nico Roymans hat mit ähnlichen Argumenten hingegen eine Verbindung zu den Chatten gezogen (Roymans 2004). Vor allem das Erscheinen der Chatten in einem spätkeltischen Oppidum hat in der traditionellen Spätlatèneforschung einige Überraschung, wenn nicht Ratlosigkeit hinterlassen4. Ich möchte mit einer forschungsgeschichtlichen Skizze den Blick für die Problematik schärfen. Es handelt sich nicht um eine systematische Analyse, sondern eine Bestandsaufnahme. Welche Ansätze und Argumente gibt es? Wo liegen die Risiken und „Sackgassen“, wo zeichnen sich Wege einer fruchtbaren Synthese ab? Die Darstellung fokussiert besonders die Ringwallforschung. Alter und Bedeutung der hessischen Ringwälle haben seit der Aufklärung die Gelehrten stark beschäftigt. Bis heute stehen sie im Mittelpunkt der Siedlungsforschung, zumal bei Fragen der Siedlungs- und Stammesorganisation. Die Ringwälle und namentlich der zuletzt intensiv erforschte Dünsberg sind deshalb ein dankbarer Leitfaden für unsere Durchsicht. Archäologischer Befund und historische Interpretation im Wandel der Forschung Die Entwicklung lässt sich in vier Phasen untergliedern: Phase 1 Von der Aufklärung zur vaterländischen Altertumskunde. Das Primat der antiken Texte im 18.-19. Jahrhundert Die Anfänge der Altertumsforschung im 18. Jahrhundert müssen unter eigenen Vorzeichen betrachtet werden. Die schriftlosen Epochen lagen noch außerhalb des empirischen Horizontes. Altertumskunde war notwendigerweise historische Wissenschaft und engstens an die schriftliche Überlieferung gekoppelt. Umso überraschender ist die Feststellung, wie wenig die frühen Deutungsversuche oft von unseren heutigen Ansätzen entfernt sind. Bereits 1723 legte der Gießener Professor für Geschichte C. F. Ayrmann (Abb. 1) eine eigene Schrift zum Dünsberg vor. Unter dem   Die Forschung geht überwiegend von einer Zuwanderung der Chatten ins Lahngebiet am Übergang zur Kaiserzeit aus: zuletzt Meyer 2008, 259. 4

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gesteuerten Nachforschungen zeichneten sich jedoch ab. Am Glauberg erkannte Dieffenbach eine prähistorische und eine mittelalterliche Bauperiode, während römische Spuren fehlten. Die phantasievolle These einer römischen Kastellgründung (durch Drusus, Germanicus oder Claudius) war überzeugend widerlegt (Herrmann 2002, 90). Phase 2 Die Etablierung der Archäologie. Neue Chance für die ethnische Deutung?

Abb. 1: Christian Friedrich Ayrmann (1695–1747). Professor für Geschichte in Gießen und Verfasser der ersten historischen Abhandlung zum Dünsberg. programmatischen Titel „De montis Tauni vero in Hassia situ“ 5 brachte er die Befestigungen mit dem bei Tacitus ann. 1, 56 erwähnten römischen Drusus-Kastell „in monte Tauno“ zusammen (Ayrmann 1723). Er stützte seine These auf die Namensähnlichkeit, die starken Befestigungen und sogar auf archäologische Funde in Form von drei römischen Münzen. Die Argumentation ist auf der Höhe der Zeit, die These wird differenziert und dem Wissensstand entsprechend überzeugend unterlegt. Quellenkritisch redet er von Münzen, „qui in ipso monte reperti dicuntur”, das heißt, die dort (nach Berichten anderer) gefunden worden sein sollen. Was im 18. Jahrhundert selbstverständlich fehlte, waren spezifische Kenntnisse der materiellen Kultur und der Chronologie, um beispielsweise römische und einheimische Befestigungsanlagen voneinander scheiden zu können. Auch 100 Jahre später war trotz des neu erwachten Interesses an den vaterländischen Altertümern die Ringwallfrage noch kaum vorangekommen. Der Friedberger Rektor J. P. Dieffenbach (1786-1860) resümierte deshalb in seiner „Urgeschichte der Wetterau“ lediglich die vorhandenen Meinungen zum Ursprung der hessischen Ringwälle: 1. Errichtung durch die Römer (um/ nach Chr., d. h. während der Okkupationszeit); 2. durch die Germanen (gegen die Römer); 3. Anlage durch die Kelten (Dieffenbach 1843, 54 ff.). Von einer Entscheidung zugunsten dieser oder jener Lösung sah er bewusst ab, obgleich er eine Zuordnung zu den drei Urvölkern Kelten, Germanen und Römern für unerlässlich hielt und zu den besten Kennern der heimischen Altertümer in der Wetterau gehörte6. Erste Erfolge der vielfach durch Altertumsvereine

Die Situation änderte sich erst grundlegend mit der fachlichen und institutionellen Etablierung der Archäologie um 1900. Die Gründung der römisch-germanischen Kommission 1902 in Frankfurt gehörte zu den programmatischen Projekten dieser Zeit (Becker 2001). Nach den Erfolgen bei der Erforschung des Limes setzten nun umfangreiche Grabungen auf den hessischen Ringwällen ein7: Heidetränke, Dünsberg, Altenburg bei Niedenstein, Milseburg usw. lieferten erstmals reiches (und wie man schnell erkannte) eng verwandtes Anschauungsmaterial. Eine erste Quintessenz hat Karl Schumacher 1914 gezogen (Abb. 2). Trotz des Titels und der konsequenten

Abb. 2: Karl Schumacher (1860–1934). Direktor des RGZM von 1900 bis 1926.

Gliederung nach Völkernamen (helvetische Gruppe usw.) handelte es sich im Kern um eine archäologische Arbeit. Schumacher betonte, dass erst auf sicherer archäologischer Grundlage, nach „Sammlung und weit schärferer Sichtung   Die hessischen Geschichtsvereine und das Museum Wiesbaden spielten dabei eine führende Rolle, auch wenn der geplante Atlas der vor- und frühgeschichtlichen Befestigungen nie zustande kam; vgl. Dehn 1963. 7

  „Über den wahren Ort des Mons Taunus in Hessen“. 6   Vgl. Herrmann 1990, 61 ff. 5

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Abb. 3: Vergleichende Zusammenstellung bemalter Keramik aus Gallien und der Schweiz (nach Schumacher 1914, Abb. 7). des vorhandenen Fundstoffs als bisher“, die Frage nach den überlieferten (aber umstrittenen) ethnischen Gruppen im Rheingebiet angegangen werden könne (Schumacher 1914, 230). Dass dies möglich und wünschenswert sei, unterlag für ihn dabei keinem Zweifel. Die Umschreibung „gallischen und germanischen Kultureigentums“ war für ihn die natürliche Aufgabenstellung der archäologischen Arbeit entlang des Rheins. Die damalige Vorstellung von statischen, räumlich und kulturell klar fixierbaren Ethnien ist heute überholt. Hachmann hat 1962 als einer der ersten die verhängnisvolle Wirkung des im späten 18. Jahrhundert wurzelnden, romantisch verklärten Volksbegriffs aufgezeigt (Hachmann 1962, 16 ff.). Die nationale Idiomatik, die sich im 20. Jahrhundert entwickelte, leuchtet auch in Schumachers Arbeit auf 8. Im Kontext der Zeit sollten die Formulierungen aber nicht überbewertet werden. Es ist zudem daran zu denken, dass Schumacher auf den Schultern der klassischen Altertumskunde stand. In Heidelberg, Bonn und Freiburg hatte er die antiken Denkmäler und Texte studiert und später zu seinem Beruf gemacht (Ledroit 1930). Die Unterscheidung von Kulturlandschaften mit Mitteln des Stilvergleichs war für ihn eine vertraute Methode, die er auf die Spätlatènekeramik übertrug (Abb. 3). Auch der zeitübliche Begriff der „germanischen Kultur der Spätlatènezeit“ muss auf Grundlage des damaligen Wissensstands beurteilt werden. Er folgte konsequent aus Caesars ethnographischer Darstellung und ist nicht von vornherein ideologisch unterlegt. Die Arbeiten von Emil Ritterling (1861–1928), einer der führenden Archäologen der Zeit sowie 1911–1914 Direktor der Römisch-Germanischen Kommission, zeigen einen streng sachbezogenen Umgang mit dem Thema. Zentral ist die Frage der chronologischen und kulturellen Zuordnung des Fundstoffs, nicht die ethnische Zuweisung9.   Schumacher 1914, 292: „Diese wichtigen Bodenurkunden germanischer Frühgeschichte zu sammeln und in einem größeren Werke ... geordnet und gedeutet vorzulegen, wäre eine würdige Aufgabe der deutschen Wissenschaft nach dem grossen Kriege, der das deutsche Volk wieder auf sich selbst und den Wert seiner Kultur besinnen lehrte.“ 9   Auf die Frage der Stammeszugehörigkeit geht er nur, soweit im Rahmen der allgemeinen Diskussion notwendig, mit großer Zurückhaltung ein. Vgl. seine Ausführungen zum Dünsberg (Nass. Ann. 38, 1908, 356) oder

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Bedenklich war jedoch, wie Hachmann klargelegt hat, dass erstens Caesars Germanenbegriff kaum kritisch hinterfragt wurde und zweitens die archäologischen Befunde der Aussage der (alles andere als eindeutigen) Schriftquellen untergeordnet wurden. An der „germanischen“ Brandgräbersitte konnten so ebenso wenig Zweifel aufkommen wie am germanischen Charakter der Nauheimer Grabgefäße oder der gleichzeitigen Ringwälle. Der Vergleich mit den gallischen Oppida spielte keine Rolle10. Zusätzlich wurde dadurch einer völkisch-politischen Bewertung archäologischer Fundgruppen der Weg geebnet. In der Beschreibung eines chattischen Befestigungssystems gegen die Römer schlug F. Kutsch unüberhörbar den nationalen Ton an11. Es spricht für sich, dass das „verlockende, aber recht unsichere“ Modell in der Fachgemeinde „kaum Zustimmung fand “, wie es Dehn sehr zurückhaltend ausgedrückt hat (Dehn 1958, 71 f.). Phase 3 Der dritte Weg: Weder Germanen noch Kelten Bereits Hachmann hat die veränderte Perspektive der Marburger Dissertationen von Heinz Behaghel und Hans Schönberger zur Eisenzeit im Schiefergebirge und in der Wetterau herausgestellt (Hachmann 1962, 14). Beide Arbeiten beruhten auf der umfassenden archäologischen Analyse einer Siedlungslandschaft. Schönberger konnte dabei die südwestliche Orientierung der Wetterau seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. deutlich machen. Er stellte sie deshalb zum „keltischen Kulturbereich“ und sprach (entgegen geltender Meinung) von einer keltischen Bevölkerung (Schönberger 1952, 71). Keltisch und germanisch wurden zu archäologisch definierten Kulturbegriffen, losgelöst von den Schriftquellen. Die kulturelle Kontinuität veranlasste zu den Hofheimer Spätlatènegräbern (Ritterling 1912, 384). 10   Der Hinweis auf die Oppida war Sache von regional forschenden Außenseitern (Veltmann 1912). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg fand mit der neuen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den französischen Oppida ein grundlegendes Umdenken statt (Dehn 1951). 11   Kutsch 1930, 249; vgl. die ebd. hervorgehobene „vorzügliche Organisation des Volkskörpers“ und „sehr straffe Disziplin in dem Volke..., das solche Befestigungen erstellen konnte“. Der nationale Anstrich sollte möglicherweise die recht dürftigen Ergebnisse der Heunstein-Grabung übermalen.

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ihn, auch mit der als „germanisch“ gedeuteten Brandgräbersitte und der „germanischen“ Spätlatènezeit zu brechen. Dafür eröffnete er die Diskussion um die „germanischen“ Funde der Übergangszeit, die er als Zeugnisse zugewanderter Gruppen aus Mittel- und Nordwestdeutschland interpretierte und in den Schriftquellen bestätigt sah (Schönberger 1952, 72). Eine stark strukturanalytische Betrachtungsweise kommt noch mehr in Behaghels schwer lesbarer Arbeit zum Ausdruck. Vor allem sein Germanenbegriff verdient Beachtung. Er sprach von einer germanischen Bevölkerung, die den „Kosinna´schen Germanen“ durchaus blutsfremd gewesen sei, aber den Germanennamen zu Recht getragen habe (Behaghel 1943, 132). Die fruchtlose „Quellendeutelei“ der bisherigen Forschung lehnte er schroff ab. In dieselbe Schule gehört die Idee, die hessische Spätlatènezeit nicht lediglich als Peripherie der Latènekultur zu betrachten, sondern als eigene kulturelle Größe. O. Uenze hielt sich nicht an Kelten und Germanen auf, sondern redete in Nordhessen von „Stammesgruppen lokalen Gepräges“ (Uenze 1953, 71). Ähnlich sprach Dehn beim Fundstoff des Dünsbergs von einem „Spätlatène hessischer Sonderprägung“12. Die konsequente Ausarbeitung mündete in dem bekannten, erstmals auch sprachwissenschaftlich untermauerten Bild von Völkern zwischen Germanen und Kelten (Hachmann u.a. 1962), Schlüsselbegriffe wie „Volkstum“ und „Sprache“ machen deutlich, dass weiterhin in den bekannten ethnischen Kategorien gedacht

Abb. 4: Verbreitungskarte spätkeltischer Münzen zwischen Rhein und Weser als Anzeiger keltisch geprägter Strukturen (nach Hachmann 1962, Karte 3).

wurde. Zwischen Main und Lippe hielt Hachmann sogar eine keltische Bevölkerung für diskutabel (vgl. Abb. 4)13. G. Kossacks Konzept legte dagegen das Gewicht auf die stetige Abnahme keltischer Einflüsse in Richtung Nordsee (Hachmann u.a. 1962, 134). Wirkungsgeschichtlich ist der ambitionerte Versuch, die ethnische Frage völlig neu zu beantworten, schnell verpufft. Die starke Ablehnung von Kuhns Hypothese einer späten Germanisierung Nordwestdeutschlands stellte den Grundpfeiler der Arbeit in Frage (Meid 1986; Udolph 1994). Aus archäologischer Sicht schienen die Beiträge weder die grundlegenden Probleme der ethnischen Deutung zu überwinden noch die notwendige archäologische Aufarbeitung ersetzen zu können. Phase 4 Ethnische Deutung im Abseits: Das Primat von Chronologie und Siedlungsgeschichte Der pragmatische archäologische Ansatz Schönbergers wurde in den 1970/80er Jahren fortgeschrieben. Das bevorzugte Interesse galt der Chronologie des nach langer Stagnation angewachsenen Fundstoffs. „Anliegen dieser Arbeit ist es, die Metallfunde chronologisch zu ordnen …, um auf diesem Wege auch neue Erkenntnisse zum Besiedlungsablauf des Dünsbergs zu gewinnen“, schrieb G. Jacobi in der Einleitung seiner Dünsberg-Arbeit (Jacobi 1977, 1). Historische Interpretationen wie die römische Eroberung des spätkeltischen Dünsberg-Oppidums durch Drusus 11/10 v. Chr. wurden nur auf Basis gut begründeter archäologischer Befunde gegeben (römische Militaria, Zerstörungsspuren). Wohl ist von germanischer und keltischer Bevölkerung (im Sinne Schönbergers) die Rede, die Diskussion von konkreten Stammesnamen wurden dagegen auch von Schlott bewusst ausgeklammert (Schlott 1984, 64). Ähnlich stellt sich die vormals heftig diskutierte MattiumFrage dar. Mildenberger wie jüngst Söder konzentrierten sich ganz auf die Chronologie der Altenburg bei Niedenstein (Mildenberger 1969; Söder 2004). Mit dem angenommenen Ende um die Mitte des 1. Jh. v. Chr. (Stufe Lt D1) wurde die unbequeme Frage als endgültig erledigt angesehen. Vier Punkte sind als Zwischenfazit wichtig: - Es findet eine zunehmende Emanzipation der Archäologie von der historisch überlieferten Geschichte statt. - Die Irrwege der ethnischen Deutung haben insgesamt eine Abkehr von Ereignisgeschichte und politischer Geschichte zugunsten der archäologischen Stärken bewirkt, nämlich Chronologie, Siedlungsgeschichte, Alltagskultur. - Ein innovativer Lernprozess (der erwähnte Kompass) hat dabei trotz der richtungsweisenden Arbeiten von H.- J. Eggers (Eggers 1950), R. Wenskus (Wenskus 1961), Hachmann (Hachmann 1962), Peschel (Peschel 1978) und anderen nur bedingt stattgefunden. Vielfach gilt zwar die   Er betonte dabei die Anlage von Ringwällen, Münzgebrauch, Drehscheibenkeramik usw., die er als Zeichen keltisch geprägter Wirtschaftsund Sozialstrukturen interpretierte; vgl. Hachmann 1962, 29 ff. mit den Karten 2–7. 13

  Dehn 1958, 70 f.; auch wenn er in der Anlage des äußeren Befestigungsringes (Größe, Zangentor) Anklänge an die keltischen Oppida feststellte. 12

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Abb. 5. Verbreitung der Dreiwirbelstatere: offene Kreise = Gold; geschlossene Kreise = Silber und Kupfer (nach Roymans 2004, Abb. 6 und Schulze-Forster 2002, Abb. 72 mit Ergänzungen). Vorstellung, dass mit fortschreitendem Wissensstand die Chancen einer fruchtbaren Synthese zwischen archäologischen und historischen Quellen steigen. In der Realität wird dies aber nur selten systematisch exerziert. Die Renaissance der ethnischen Frage: N. Roymans Synthese zur Ethnogenese der Bataver Bereits am Beginn ist die Renaissance der ethnischen Deutung in den Arbeiten von Heinrichs und Roymans herausgestellt worden. Beide stützen sich auf rechtsrheinische Münzprägungen, die sich am Ende der Latènezeit auf die linke Seite des Rheins verlagern. Beispielhaft soll Roymans Ansatz betrachtet werden, die Ethnogenese der Bataver archäologisch zu beschreiben. Allgemein akzeptiert ist, dass die Chatten/Bataver ursprünglich rechts des Rheins gesiedelt hatten14, bevor eine Teilgruppe in den Jahrzehnten vor Christi Geburt (wahrscheinlich unter römischer Regie) den Kern („Traditionskern“) eines neuen Stammes im niederländischen Flussgebiet bildete15. Die näheren Umstände sind dagegen heftig umstritten. Die Aufarbeitung der keltischen Münzen hat in den letzten Jahren wichtige Einblicke in die Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte zwischen Main und Niederrhein ermöglicht. Höchst bemerkenswert ist die Etablierung einer   Maßgeblich ist Tacitus Nachricht, dass sich die Bataver von den Chatten abgespalten hätten. 15   Wenskus 1961; ausführlich zuletzt Roymans 2004, 55 ff. 14

Münzprägung im Rhein-Maas-Delta während der Stufe Lt D2 (Abb. 5). Die zahlreichen silbernen und kupfernen Regenbogenschüsselchen (Dreiwirbelstatere) aus einheimischen Siedlungen und Heiligtümern sprechen für eine lokale Münzproduktion (Roymans 2004, 82 ff.), deren Wurzeln jedoch im mittelhessischen Lahngebiet liegen. Dort waren die goldenen Vorläufer heimisch. Mindestens 15 Exemplare sind jeweils vom Dünsberg sowie vom Mardorfer Goldberg belegt. Die Abwanderung einheimischer Gruppen über den Rhein ist eine verlockende Lösung: „The trans-Rhenish, Chattian origin of the Batavians mentioned by Tacitus is reflected in the major shift in the circulation – and probably also production – of the triquetrum coinages from the eastern Middle Rhine region (where the Chatti were found in the early imperial period) to the Rhine/Meuse delta “, fasst Roymans den Befund mit der notwendigen Vorsicht zusammen (Roymans 2004, 96). Der archäologische Befund ist beeindruckend genug, um hier nicht weiter auf Details eingehen zu müssen. Auch die Frage, ob das Erscheinen der Dreiwirbelstatere im Rheinland nicht eher einen ubischen Ursprung (und spätere Übernahme durch die Chatten) belegt (Heinrichs 2003), kann hier vernachlässigt werden. Offenkundig ist, dass mit Caesars Vorrücken an den Rhein das Schiefergebirge mitsamt den für Siedlung und Verkehr maßgeblichen Tallandschaften zum Gegenstand römischer Politik wurden. Nicht umsonst bemühten sich die Ubier schon 55 v. Chr. um einen Freundschaftsstatus (amicitia) mit dem römischen Volk (Heinrichs 2006). Es ist wahrscheinlich, dass

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in diesem Kontext auch erste vertragliche Vereinbarungen zwischen Römern und einheimischen Gruppen geschlossen wurden. Roymans nimmt an, dass die batavisch-römische Allianz und die Verpflichtung zur Stellung von Truppen in diese Zeit zurückgeht (Roymans 2004, 55 ff.)16. Historische Prozesse im Lahngebiet zwischen Caesar und Drusus Wichtiger als die nur schemenhaft umschriebenen Namen sind die historischen Prozesse, die im 1. Jahrhundert v. Chr. rechts des Mittelrheins sichtbar werden. Nur sie erlauben eine konkrete Deutung archäologischer Befunde. Für die wichtige Siedlung auf dem Dünsberg ist dieser Gedanke bereits an anderer Stelle ausgeführt und der Begriff des „Ubiermodells“ eingebracht worden17. Im Lahngebiet wird die Frage nach römisch-einheimischen Kontakten zwischen Caesar und Drusus (Stufe Lt D2) aufgeworfen. Wie steht es mit dem Zustrom von Prestigegütern, Bronzegeschirr, militärischen Ausrüstungsgegenständen oder römischem Geld? Die geringe Kenntnis einheimischer Siedlungen der Stufe Lt D2 bietet bisher kaum Spielraum für eine Antwort. Wo Importe vorhanden sind, wie am Dünsberg, ist die Datierung problematisch. Von größter Bedeutung sind derzeit die römischen Militaria am Tor 4 des Dünsbergs. Nachdem sich die Annahme von Waffenopfern durchgesetzt hat, muss auch die Deutung der römischen Militaria überdacht werden. Sie können nicht mehr automatisch (und komplett) als okkupationszeitlich angesehen werden, sondern kommen auch als einheimische Niederlegungen in Frage (Schulze-Forster 2001). Auch bei den republikanischen Fundmünzen im Lahngebiet steht der Nachweis eines voraugusteischen Fundzusammenhangs aus. Sechs Republik-Asse vom Dünsberg bieten einen Fingerzeig, weil die in den augusteischen Lagerkomplexen üblichen Münzen und Fibeln am Dünsberg keine Rolle mehr spielen (Gorecki 1994, Nr. 1236; Schulze-Forster 2002, 128 f.). Beachtung verdient auch der kaum abgenutzte keltiberische Silberdenar aus WetzlarBüblinghausen (Abb. 6)18. Es handelt sich um die bekannte, unlängst von M. Gozalbes aufgearbeitete Prägung der nordspanischen Stadt Tarazona mit bärtigem Kopf bzw. Lanzenreiter und der Legende turiasu (Gozalbes 2009, Gruppe V). Die Prägung wird allgemein in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts und in das frühe 1. Jahrhundert v. Chr. datiert. Jüngste Depots, die durch römische Münzen datiert sind, gehören in die 40er und 30er Jahre v. Chr. (Gozalbes 2009, 134). Es ist bekannt, dass spanisches Geld in augusteischer Zeit mit dem römischen Militär an 16   Karl Tausend hat 1988 den Blick auf Caesars schlagkräftige germanische Reiterei gelenkt und nach der Herkunft gefragt (Tausend 1988). In großer Einmütigkeit werden seitdem besonders Ubier und Chatten/ Bataver genannt, die als traditonell romfreundlich gelten und diese Rolle bis in die Kaiserzeit fortschrieben: vgl. zuletzt Roymans 2004, 55 ff.; Heinrichs 2006, 358. 17   Schulze-Forster 2003, 89. Der (nicht zu gewinnende) Streit um Namen wird damit bewusst vermieden, vielmehr der archäologische Sachverhalt in den Mittelpunkt gestellt. 18   Zufallsfund bei Gartenarbeiten 1950 (Nass. Heimatbl. 41, 1951, 59; Gorecki 1994, 253); Dm. 19 mm, Gew. 4,20 g. Die im Museum Wetzlar befindliche Münze ist derzeit nicht auffindbar, weshalb auf vorhandene Fotos zurückgegriffen werden musste.

Abb. 6. Keltiberische Denare aus Tarazona (Gruppe 5). Oben: Wetzlar-Büblinghausen (Gew. 4,2 g, Dm. 19 mm) [Foto Verf.]; unten: Vergleichsstück im Museum Palencia (nach Gozalbes 2009, Abb. 126; 3,85 g, 19 mm). den Rhein gelangte (García-Bellido 2007). Vor allem in Neuss und in Nijmegen Kops-Plateau ist der Anteil spanischer Prägungen hoch. Es handelt sich jedoch durchweg um Kupfergeld, vielfach halbiert und mit einem weiten Datierungsrahmen bis ins späte 1. Jahrhundert v. Chr. Keltiberische Denare sind bisher nicht vertreten. M. Speidel hat gezeigt, dass sich Caesars germanische Leibwache während der Bürgerkriege auch in der nordspanischen Ebro-Region aufhielt (Speidel 1994; Abb. 7). Sicher ist kein Dogmatismus angebracht: Als Alternative sollte eine voraugusteische Datierung der keltiberischen Münze aus Wetzlar-Büblinghausen aber in Betracht gezogen werden. Sie schärft den Blick für Caesars Aktionen am Mittelrhein und frühe Kontakte zwischen Römern und einheimischen Gruppen. Könnte der Zufluss römischen und gallischen Geldes nicht auch eine Grundlage für die Silberprägungen gewesen sein, die in der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. so unvermittelt im Lahn-DillGebiet aufblühten? Ethnische und historische Interpretation: Schlussfolgerungen - Es gibt keinen Grund, den historischen Anspruch der Archäologie aufzukündigen. Die Synthese historischer und archäologischer Quellen ist ein legitimes Ziel. Die unterschiedliche Aussagekraft fordert dazu heraus, sie gemeinsam zu nutzen. Ereignisgeschichte/politische Geschichte und Strukturgeschichte ergänzen sich idealerweise. - Auch Kelten, Germanen und Römer muss man nicht über Bord werfen. Es muss allerdings klar sein, woher die Begriffe entlehnt sind und wie sie archäologisch übersetzt werden. Die Studien zur ethnischen Deutung haben den Blick für die Problemstellung deutlich geschärft. - Einen Kompass, einen Navigator, der einen festen Weg vorgeben könnte, gibt es dabei nicht; genau so, wie es „die“

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Abb. 7: Aufenthaltsorte von Caesars germanischer Leibwache während des Bürgerkriegs 49–45 v. Chr. (nach Speidel 1994, Abb. 1). ethnische Deutung im Sinn einer fest umrissenen Methode nicht gibt. Entscheidend ist ein sauberer methodischer Umgang, der die einzelnen Quellengattungen getrennt untersucht und erst am Ende zusammenführt19. - Wie dies im Milieu der späten Eisenzeit funktionieren kann, hat N. Roymans ein vorzügliches Beispiel gegeben. Zielführend ist der interdisziplinäre Ansatz, der erstens die verschiedenen Fächer und deren Quellen zusammenführt (Vorgeschichte, provinzialröm. Archäologie, Numismatik, Alte Geschichte) und zweitens möglichst verschiedene Lebensbereiche erfasst (Siedlungswesen, Handwerk, Sozialgliederung, Religion/Kult). Hier liegt ein wichtiges Feld für die Spätlatèneforschung rechts des Rheins noch weitgehend brach. Es ist das Verdienst von O.-H. Frey, bereits vor 15 Jahren den Blick auf die historischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge der Umbruchszeit im 1. Jahrhundert v. Chr. gelenkt zu haben. Seitdem sind ausgehend von Mardorf, Waldgirmes, dem Dünsberg und anderen Plätzen beachtliche Fortschritte erzielt worden. Sie haben nicht zuletzt neue Bewegung in lange ausgeklammerte historische Fragestellungen gebracht20. Es ist zu hoffen, dass die Synthese trotz des Auslaufens wichtiger Projekte weiter   Diesen Standpunkt vertritt jüngst auch Brather 2009, 54: „Sie [die Archäologie] muss ihren Quellen adäquate Fragen stellen und Probleme untersuchen, die mit ihrem wissenschaftlichen Instrumentarium zu erfassen sind. Dazu gehört auch die >ethnische Interpretation< archäologischer Quellen, doch gilt es zwischen Kommunikationsräumen, kulturell geprägten Verhältnissen und Identitäten der Zeitgenossen deutlich zu unterscheiden. Die intensiven Diskussionen ... weisen darauf hin, dass einfache Antworten nicht möglich sind, und ... dass aus Texten bekannte >ethnische< Gruppen und archäologisch erschlossene kulturelle Prägungen nur selten unmittelbar zusammenhängen.“. 20   So die Ubier- und Chattenfrage, aber auch die Identifizierung des Mons Taunus mit dem Dünsberg, die A. Becker vor kurzem wieder aufgegriffen hat (Becker 2008; Becker 2009). 19

vorangetrieben wird. Die archäologischen und geographischen Daten21 zeigen immer deutlicher, dass hessische Senke und Lahntal in der ausgehenden Eisenzeit einen zentralen Platz eingenommen haben müssen, der bis in die Kaiserzeit hinein die kulturelle Identität der Bevölkerung prägte (Peschel 1997; Meyer 2008). Literatur Ayrmann 1723 C. F. Ayrmann, De montis Tauni vero in Hassia situ (Gießen 1723). Becker 1992 A. Becker, Rom und die Chatten (Darmstadt 1992). Becker 2008 A. Becker, Lahnau-Waldgirmes und die Feldzüge des Germanicus. Mitt. Oberhess. Geschver. Gießen 93, 2008, 83 – 89. Becker 2009 A. Becker, Adventus Chattorum. Zum Feldzug des P. Pomponius Secundus 49/50 n. Chr. Marb. Beitr. zur Antiken Handels-, Wirtschafts- und Sozialgesch. 27, 2009, 1 – 10.

  Verkehrswege, Rohstoffe (Eisen, Holz, Salz), Bodengüte usw. Vgl besonders die jüngsten Forschungsergebnisse zur zeitübergreifenden Bedeutung des Lahntals als Erzrevier von A. Schäfer: Schäfer 2007; Becker 2009, 7 f. 21

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Jens Schulze-Forster LANDESAMT FÜR ARCHÄOLOGIE Landesmuseum für Vorgeschichte Zur Wetterwarte 7 01109 Dresden [email protected]

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