KATHEDRALE VON AUTUN: DER TRAUM DER DREI KÖNIGE Auf den ersten Blick scheint dieses Basrelief von seltener Schönheit den Traum der Drei Magier aus dem Morgenlande darzustellen: Im Traum erscheint ihnen ein Engel, der sie heißt, nicht wieder zu Herodes zu gehen, sondern auf einem anderen Weg in ihre Heimat zurückkehren. Man könnte also wirklich glauben, hier die drei Könige unter gemeinsamer Decke in friedlichem Schlaf liegen zu sehen, von einem Engelein bewacht und von einem Stern erleuchtet, den Jedermann sofort für den Bethlehems-Stern halten wird – jenen Leitstern, der den Magiern voranging bei Ihrer Suche nach dem Ort, wo das prophezeite «Kind Anfang und Ende»1, der Erlöser der Welt geboren werden sollte. Aber sehen wir doch genauer hin! Als erster macht uns der Engel selbst mit erhobenem Finger auf die tiefe Aussagekraft dieser Darstellung aufmerksam: auf ihre Bedeutung für die operative Alchemie. Was sein himmlisches Haupt ziert, ist nämlich kein einfaches Haarband mit der Aufgabe, eine fließende Haarpracht zusammenzuhalten; es ist vielmehr jene Haube, die wir den Alchemisten in seinem Laboratorium auf so mancher Darstellung tragen sehen, um sich einigermaßen vor dem « fetten, unfaßbaren Staub aus dem enormen, ständig aktiven Ofen» zu schützen, wie man dies aus Fulcanelli's Werk, Das Mysterium der Kathedralen kennt2. Dort ist es der in Glorie gekrönte König, dessen Haupt eine solchen ’Kampfhaube‘ bedeckt. Im Mutus Liber kann man dieselbe Sturmhaube (pétase genannt) in der geflügelten Kopfbedeckung von Merkur erkennen. Hier, im vorliegenden Halbrelief von Autun, ist diese Haube von einem mit unzähligen Punkten verzierten Band umzogen, und die Flügel sind die des Engels. Wir sehen daraus, daß wir uns hier in Gegenwart eines Adepten des Großen Werks befinden, der bereits die Multiplicationes – Krönung des erreichten Ziels – vollendet hat: Tausend kleine Sonnen, hier anstatt durch Kreise mit einem Punkt in der Mitte allein durch Punkte dargestellt, beweisen es. Dieselben kleinen Symbole schmücken auch den Rand des goldenen Heiligenscheins, der Aureole, welche ihn darüber ausweist, daß unser Alchemist über alle menschlichen Begrenzungen erhoben worden ist. Dieser Parvulus mit dem pausbackigen Kindergesicht, der übrigens ins weite Gewand gehüllt ist, das man vom Künstler-Laboranten an Notre-Dame in Paris und manchen anderen Darstellungen kennt, macht eine recht typische und gleichzeitig bedeutsame Gebärde: die Linke gen Himmel gerichtet, mit der Rechten nach unten weisend, scheint er das Zeichen des Magus anzudeuten, das wir von den Tarot-Karten her kennen: «So oben wie unten» lehrt uns die Tabula Smaragdina des Hermes Trismegistos … Sehen wir uns nun nach den drei Weisen um. Hier hat der Steinmetz ein Bravourstück seiner Kunst geleistet, indem er die Ansicht des Bettes von oben und jene von der Seite durch einen perspektivischen Kunstgriff – einen sprichwörtlichen Tour de Force – vereinigt hat, um welchen ihn jeder Künstler beneiden wird: Hier paart sich Einfachheit mit Genialität! 1 2
Vgl. Fulcanelli, Mysterium der Kathedralen.– Basel, Edition Oriflamme, 2004; – S. 70. a.a.O., S. 20, 147; sowie z.B. Tafeln 5, 15, 37, 38.
Da liegen sie friedlich, die drei gekrönten Gestalten, auf ihr gemeinsames Kissen gebettet, das auf einer Wolke zu schweben scheint, und von der einmaligen Decke bedeckt, welche eine der Gestalten mit der Rechten festhalten zu sollen glaubt. Aber ist das wirklich eine jener stillen Häkelarbeiten, welche unsere Neugeborenen in ihrer Wiege ebenso überdeckt wie einen zum feierlichen Mahl bereiteten Tisch oder Altar? Sehen wir hier nicht viel mehr die ebenso unerwartete wie seltene Darstellung jener Cham-Haut, welche im Großen Werk den Tiegel als «Leichentuch» überzieht und dem Künstler anzeigt, daß Ertötung und Wiederbelebung – Trennung und Vereinigung der Elemente – in vollem Gange sind, und daß er im Begriffe steht, gemäß der Prophezeiung des Johannes auf Patmos, einen neuen Himmel und eine neue Erde aufsteigen zu sehen3? Wir dürfen es annehmen, denn auch diese Decke trägt als dreifachen Saum, der an die drei Wiederholungen im Großen Werk erinnert, eng aneinander gedrängt wie die Schaumblasen eines siedenden Gemischs, unzählige winzige durchbohrte Batzen – kleine Sonnen- oder Gold-Symbole. Und was bedeutet die acht-zipfelige Blüte über den drei Häuptern? Dieser flammende Stern, der seinen Himmel beherrscht, ist es, worauf unser geflügelter Künstler mit erhobener Hand hinweisen will. Ist es wirklich ein Stern, oder sehen wir nicht vielmehr einen Hinweis auf die innere Sonne, welche ja gelegentlich als achter Planet bezeichnet wird? Die Ziffer 8 ist auch jene des Saturn, die Sonne oft die Hieroglyphe fürs philosophische Gold, und so dürfen wir verstehen, daß unser Adept uns auf den sonnenhaften Schwefel hinweisen will, aufs philosophische Quecksilber, den doppelten Merkur. Diesem verdankt er das Erscheinen der hier in ein und demselben Bild anwesenden Figuren, deren Dreiheit auf die drei Werke hinweist, welche Fulcanelli und Canseliet so oft betont haben. Wenden wir uns nun den drei Schlafenden selber zu: Täuschen wir uns, oder gilt die Aufmerksamkeit des kleinen Engels ganz besonders der mittleren Figur, auf welche er hin blickt? Wir glauben, dies annehmen zu dürfen, wenn wir beachten, daß es diese mittlere Figur ist, deren glattes Gesicht weder Bart noch Schnurrbart ziert, deren Ausdruck sogar eher weiblich als männlich erscheint. Auch ihr Kopfputz erinnert uns kaum an eine mittelalterliche Königskrone, sondern mehr an den Korb (cysta) des Bacchos: Euos, der aus den Himmeln zur Erde hernieder gestiegenen Gott – oder aber an jene Zinnen (pinnae) , welche auf antiken Darstellungen das göttliche Haupt der Cybele zieren: Unter ihrem göttlichen Zeichen ist ja der wahre Ausgangsstoff verborgen: Sie ist es, welche die Tür des Heiligtums öffnet ... Nun könnte man einwenden, die Aufmerksamkeit des Engels gelte viel mehr der obersten liegenden Figur des jungen Königs, deren Hand er mit seinem Zeigefinger berührt; und dem kann man nur beipflichten4. Diese dritte Figur ist es nämlich, welche die Augen nicht im Schlaf geschlossen, sondern in vollkommener Wachheit geöffnet hält und voll Verblüffung und Faszination auf ein Ereignis richtet, dessen Einzelheiten hier nicht erkennbar sind: Oculatus abis heißt es dazu lakonisch auf der fünfzehnten Tafel des Mutus Liber. Auch Fulcanelli im Mysterium der Kathedralen beschreibt diesen Blick «des alten Meisters, der voll ängstlicher Aufmerksamkeit die Evolution des mineralischen Lebens ergründet und hinterfragt, um endlich überwältigt das Wunder zu betrachten, das ihm sein Glaube allein für einen Augenblick zu durchschauen erlaubt!» Ein Blick auf den untersten, den alten König überzeugt uns, daß er den Saturn vorstellt. Während der ganzen Dauer des Großen Werks ist ja der Stein der Weisen, welcher vollkommene Gesundheit, Wohlstand und volle Erkenntnis garantiert, nur in potentia gegenwärtig – als Vermögen, die der Künstler selbst erst in der ultimativen Krönung seiner demütigen Pilgerschaft erwirbt. Bis dahin sind diese Kräfte nur verborgen anwesend und wie in einen schweren Schlummer gehüllt. Erst in der letzten Kochung ist es, wo beide, der Stein wie sein Adept, in vollkommener Reinheit und Wirksamkeit erstrahlen. Im Falle des dritten Königs sind es drei Sonnen in strahlender Pracht, welche die Krone schmücken. Wenn nun der Engel auf diesen dritten König hinweist, als ob er sagen wollte: «Dieser hier ist es, der das Resultat darstellt, dessen Angelpunkt und ständiger Begleiter das hoch am Himmel stehende Gestirn ist», so berührt er auch gleichzeitig die rechte Hand dieses dritten Königs, um ihm anzudeuten, daß nunmehr der Zeitpunkt gekommen ist, wo er sich erheben und dahin aufsteigen soll, wo fürderhin sein Platz sein wird. Zugleich erinnert er uns an die Worte: «Dieser ist mein Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe», bevor – drei Jahre später – der triumphierende Seufzer erklingt: «Es ist vollbracht!». So weit einige der Betrachtungen, welche man vor diesem wunderschönen Bildnis anstellen könnte, das die Kathedrale von Autun ziert, den Kunstfreund begeistert und die Neugierde des Hermes-Jüngers anstachelt. 3
In den Demeures Philosophales von Fulcanelli lesen wir dazu: «Auf einem Meer von Feuer bilden sich feste Inselchen, die von langsamen Bewegungen belebt aufschwimmen. Diese nehmen eine Unzahl lebhafter Farben an und verlieren sie wieder; ihre Oberfläche quillt auf, platzt in der Mitte und läßt sie wie winzige Vulkane erscheinen. Dann verschwinden sie wieder, um hübschen, grün-durchsichtigen, rasch rotierenden Kugeln Platz zu machen, die rollen, aneinander stoßen und sich zu jagen scheinen inmitten der bunten Flammen und der irisierenden Reflexe des weißglühenden Bades.» – a.a.O.,, I/279; – S. 219 der deutschen Ausgabe (Basel, Edition Oriflamme, 2008). 4 Die operative Bedeutung des Engels erklärt Fulcanelli in den Demeures Philoosphales, p.I/340, im Kommentar zu Tafel XVII. Daraus folgt, daß der Greis am unteren Rand des Reliefs nicht schläft, sondern stirbt, damit der obere, junge geboren werden kann. Die Operation ist dieselbe wie hier beschrieben.
990129/M.P.St.
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