Universität Luxemburg Campus Walferdange Fachbereich: Master in Philosophie Sommersemester 2015 Kurs: Transcendental Philosophy: History, freedom and society Dozent: Prof. Dr. Dietmar Heidemann
Zum 4., 5. und 6. Satz von Kants Idee
Scheer Kris 4.Semester Matrikelnummer: 0070394500 Email:
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
S.3
2. Die ungesellige Geselligkeit als Instrument der Zweckmäßigkeit der Natur S.4
3. Die Gesellschaft als Spielraum für die Entfaltung der Naturanlagen S.7
4. Literaturverzeichnis
S.10
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1784, kurz nach dem Erscheinen der monumentalen "Kritik der reinen Vernunft", verfasste Kant einen kurzen, jedoch höchst gehaltvollen Text mit dem Titel: "Idee Zu Einer Allgemeinen Geschichte In Weltbürgerlicher Absicht." Der Text ist durch seine wohlkomponierte Form keine rein für Fachkollegen geschriebene Abhandlung sondern wendet sich gezielt an ein größeres Publikum. Die Notwendigkeit den Text für eien breiteres Publikum zugänglich zu machen, ergibt sich bereits aus dem Titel: Hauptthema und Zielgruppe des Textes sind ein und dasselbe, die "Weltbürger". Die Schrift enfaltet verständlich die Grundlagen der kantischen Geschichtsphilosophie sowie politisch philosophische Thesen, welche in späteren Schriften, e.g. "Zum Ewigen Frieden", weitergeführt und ausgebaut werden. Während es die Geschichtschreibung seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. gibt, entwickelt sich der philosophische Teilbereicht "Geschichtsphilosophie" erst im 18. Jahrhundert. Der französiche Philosoph und Schriftsteller Voltaire gilt als geistiger Vater dieser neuzeitigen Philosophie. Er prägte den Ausdruck, als er 1764 in einer zur Humes "Complete History of England" verfassten Rezension nach einer philosophisch geschriebenen Geschichte verlangte.1 Diese Forderung war ein Aufruf für eine Geschichtschreibung, welche anders als gewohnt, die Welt nicht als den Schauplatz göttlichen Handelns darstellte, sondern den Menschen und die Vernunft in den Vordergrund rückte. Das teleologisch geprägte Weltbild, welches alle Geschehnisse als gemäß einem von Gott erdachten Heilplan deutete, sollte durch vernünftige und wissenschaftliche Erklärungen ersetzt werden. Es galt also mit Hilfe der Vernunft die Vormachtstellung der göttlichen Offenbarung zu stürzen. Im selben Jahr veröffentlichte Isaak Iselin eine Schrift mit dem Titel: " Über die Geschichte der Menschheit". Hier begegnet man zum ersten Mal einem von nun an zentralen Aspekt der Geschichtsphilosophie; der Idee der Vervollkommnung des Menschengeschlechts. Jener Gedanke hinsichtlich der Entwicklung und des Fortschritts des Menschen wird, wie im Verlauf dieser Arbeit gezeigt werden wird, auch im Mittelpunkt von Kants Geschichtsphilosophie stehen. Diese Vervollkommnung des Menschengeschlechts bezieht sich vor allem auf den Bereich der Vernunft: Es geht um die Befreiung des Menschen aus den Ketten der Triebe und um die Kultivierung von Vernunft, Tugend und Kultur. Jene Idee der Verbesserung des Menschengeschlechts galt programmatisch für die Epoche der europäischen Aufklärung, welche mit Kant dazu aufrief, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und seine Vernunft zu pflegen. Auch für Kant kann der Geschichte nur insofern Sinn zugesprochen werden, als dass sie den Menschen veredelt, indem sie ihn aus dem rohen Naturzustand zum Freiheitszustand führt. 2 Kant sieht den Philosophen jedoch nicht als Konkurrenten des Historikers. Vielmehr versteht Kant unter der Geschichtsphilosophie jenes Gebiet der Geschichtswissenschaft, welches Zusatzaufgaben löst und Anschlussfragen stellt, die in der empirischen Arbeit des Historikers keine Beachtung finden. Unter diesen Zusatzfragen versteht Kant unter anderem die These von einem melioristischen Weltprojekt, das dem Geschichtsprozeß immanent sei. 3 Es geht für ihn nicht darum lediglich empirische Daten zu sammeln, sondern er fordert eine Untersuchung jener Daten auf Spuren eines 1 Höffe,
Otfried.: Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. S.1 Otfried.: Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. S.16 3 Höffe, Otfried.: Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. S.30 2 Höffe,
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geschichtlich nachweisbaren Voranschreitens des Menschengeschlechts. Für Kant ist das oberste Ziel der Menschheitsentwicklung Freiheit und Moral. Neben den vorhin angesprochenen Aspekten der Kultivierung und Zivilisierung rückt bei Kant vor allem der Begriff der Moralisierung in den Vordergrund, der bekanntermaßen bei Kant nicht ohne den Begriff von Freiheit gedacht werden kann. Der Kategorische Imperativ aus Kants Moralphilosophie, "führt zur Moralisierung", einer inneren Bildung der Denkungsart der Bürger in Richtung "moralisch-‐gute Gesinnung", worin dann auch die innere Freiheit anklingt. 4 Freiheit, Moral und die Bedingung der Möglichkeit für das Erreichen beider in einer "allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft"5 sind die zentralen Themen der Idee und sind somit auch Dreh -‐ und Angelpunkt der vorliegenden Arbeit. Es werden aber im Verlauf vor allem die Sätze 4, 5 und 6 untersucht werden welche in erster Linie von der oben angesprochenen Bedingung für die Entwicklung des Menschengeschlechts handeln. Wobei man aber aus Verständnisgründen zunächst die vorangehenden Sätze erwähnen muss, sowie auch zusammenfassend und vorausschauend einen Blick auf die Schlusssätze werfen soll. So müssen vorab Begriffe wie "zweckmäßig" oder "teleologisch" geklärt werden, bevor man sich dem im 4. Satz vorkommenden "Antagonismus" nähern kann. Gleichsam kann man nicht mit der Idee der Bürgerlichen Verfassung enden, ohne einen Blick nach vorn zu werfen und wenigstens kurz die Idee des Völkerbundes anzuschneiden. Die ungesellige Geselligkeit als Instrument der Zweckmäßigkeit der Natur Kant beginnt seine Argumentation mit der Behauptung, dass alle Naturanlagen eines Geschöpfes dazu bestimmt sind, sich einmal vollständig und zweckmäßig zu entwickeln.6 Er argumentiert hier also für eine Art Berührung von Biologie und Teleologie, i.e., dass es in der Natur eines jeden Lebewesens einen vorher bestimmten Zweck gibt, den es über Dauer gilt vollständig zu entwickeln. Wichtig hervorzuheben ist, dass Kant hier von einer Zweckmäßigkeit redet, welche er erst sechs Jahre später in seiner 3. Kritik, der Kritik der Urteilskraft, im Detail ausbauen wird. Dort wird zwischen drei Arten von Zweckmäßigkeit unterschieden: "nämlich erstens als allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur, zweitens als subjektive Zweckmäßigkeit in der Ästhetik sowie drittens als objektiv-‐logische Zweckmäßigkeit in der Teleologie." 7 Welche der drei Zweckmäßigkeiten Kant hier meint, geht aus der Einleitung hervor: Kant geht auf die Idee ein, dass obwohl es so scheint, als ob die natürlichen Vorgänge keinem geregelten Ablauf folgten, man dennoch annehmen darf, dass "im großen betrachtet, sie einem regelmäßigen Gang derselben entdecken könne". Der Philosoph, so Kant, müsse nachdem er in den Absichten der einzelnen Menschen keine Regelmäßigkeiten erkennen kann, zumindest versuchen eine Naturabsicht zu erkennen, welche den widersinnigen Gange menschlicher Dinge erklären 4 Höffe,
Otfried.: Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. S.18 Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.39 6 Kant,Immanuel.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.35 7 Heidemann, Dietmar.: Allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur S.1 5 Kant,Immanuel.:
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könnte. Kant argumentiert also für eine makroperspektivische Sichtweise, um in der Ferne schauend ein Ordungsprinzip zu erkennen. Der hier aufkeimende Gedanke einer Ordnung der Natur lässt, wie bereits zuvor erwähnt, bereits das erahnen, was Kant 1790 in seiner dritten Kritik wieder aufgreifen wird: Hier wird Kant von der Urteilskraft behaupten, dass diese allgemein davon ausgehe, dass es unter den in der Natur herrschenden besonderen Gesetzen eine nach Gattung und Art eingerichtete Ordnung gebe8. Dies weist auf einen weiteren wichtigen Aspekt der kantischen Geschichtsphilosophie hin, der hier erwähnt werden soll: Die kantische Geschichtsphilosophie behauptet keine immanente Geschichtsteologie zu sein, sondern macht lediglich eine teleologische Sicht auf den Geschichtsverlauf als "Leitfaden der Vernunft" geltend. Man soll diese teleologische Sicht daher eher als heuristisches Prinzip betrachten. 9 Kant selbst räumt am Ende seiner Betrachtungen ein, dies alles sei nur "ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf noch (...) versuchen könnte."10 Es ist eine Sichtweise auf die Geschichte, welche einen hoffnungsvollen Blick auf die Gattung Mensch wirft indem sie darauf hofft, dass diese sich "endlich doch zu dem Stande emporarbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie legte, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllet werden."11 Und diese vernünftige Hoffnung bedarf der Annahme eines Plans der Natur. Im vorliegenden Text greift Kant zudem eine weitere Idee mit auf, nämlich die, dass die subjektiven Absichten der Menschen im Gegensatz zu den objektiven Ergebnissen ihres Handelns stehen, und dass die Menschen, ohne es bewusst zu wollen oder gar zu wissen, einem natürlichen "Endzweck" dienen: "Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach seinem Sinne und einer oft wider den andern, ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen, und an derselben Beförderung arbeiten(...)" Seine Behauptung, dass die Naturanlagen der verschiedenen Geschöpfe sich zweckmäßig entwickeln, begründet er zudem "ex negativo", 12 indem er argumentiert, dass es in der Natur widersprüchlich sei, dass es ein Organ gebe, welches nicht gebraucht werde, denn die Natur, so Kant, tue nämlich nichts Überflüssiges. Folglich müsse es dem Menschen möglich sein, jene Naturanlage, welche ihn von allen anderen Naturgeschöpfen unterscheidet, seine Vernunft, vollständig zu entfalten und zu entwickeln. Weil dies aber nur durch noch so viele Versuche und langfristiges Üben und Unterrichten möglich ist, übertrifft die Dauer für die vollkommene Entwicklung dieser Naturanlage die begrenzte Lebenszeit eines einzelnen Menschen. Für Kant kann sich diese Naturanlage folglich nur im Menschengeschlecht über eine unabsehbare Reihe von Zeugungen entfalten. Das Menschengeschlecht muss also über Generationen 8 Heidemann,
Dietmar.: Allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur S.92 Otfried.: Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. S. 37 10 Kant,Immanuel.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.50 11 Kant,Immanuel.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.49 12 Höffe, Otfried.: Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. S.37 9 Höffe,
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hinweg Aufklärung und Wissen überliefern, um seine Gattung zu jener, ihr vorbestimmten Stufe, hinaufzutreiben. Nachdem in den ersten drei Sätzen die Idee der Vervollkommnung der Naturanlagen durch eine der Natur innewohnenden Teleologie vorgestellt wurde, drängt sich nun die Frage auf, mit welchen Mitteln dies durchführbar ist. Anders formuliert: man muss nach der Art und Weise der Intrumentalisierung des Menschengeschlechts durch die Natur fragen. Kant meint, dass das Mittel, dessen sich die Natur bedient, eine Art angeborener innerer Antagonismus sei, welcher sich in Form jenes Wesenzuges ausdrücke, den er "die ungesellige Geselligkeit" nennt. Kant argumentiert, dass der Mensch gemäß seinem bestimmten Charakter die Disposition hat, mit seinen Mitmenschen in einer Gesellschaft zu leben, sich jedoch gleichzeitig dagegen strebt. Auf der einen Seite hat der Mensch eine sehr starke Neigung zur sozialen Integration und Interaktion, auf der anderen Seite strebt er aber auch nach sozialer Isolation. Der Mensch tendiert zu der Vereinigung mit seinen Mitmenschen, da er sich nur in einer solchen Gesellschaft "mehr als Mensch"13 fühlt, da ihm durch den Schutz der Gesellschaft erst die Möglichkeit offen steht, seine Naturanlagen zu entwickeln. Er hat zugleich aber auch das Bedürfnis sich zu vereinzeln, da der Mensch an sich sehr egoistische Wesenzüge hat, die ihn dazu bringen "alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen"14. Der Mensch stößt daher ständig auf Widerstand seitens seiner Mitbürger genauso wie auch er ständig gegenüber seinen Mitmenschen Widerstand leistet. Es ist aber gerade dieser Widerstand, der die Bedingung dafür ist, dass der Mensch nicht erschlafft, sich nicht der Faulheit ergibt und ist somit zugleich Nährboden für alle kulturelle Entwicklung. Obwohl ein Bedürfnis nach Eintracht und Behaglichkeit besteht, ist es gerade diese zweite Eigenheit als Gegentendenz, nämlich zum wechselseitigen Widerstand, der es dem Menschen möglich macht sich zu entfalten: "Ohne jene, ans sich zwar eben nicht liebenswürdige, Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen notwendig antreffen muß, würden (...) alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen gutartig wie Schafe(...), würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen als dieses ihr Hausvieh hat(...)."15 Durch den angeborenen Antagonismus ist es dem Menschen möglich, seine Talente zu entwickeln, seinen Geschmack auszubilden und sich in ein moralisches Wesen zu verwandeln. Obwohl, wie noch im Detail sehen werden ist, die Gesellschaft eine zu höchst wichtige Bedingung für die vollständige Entwicklung des Menschengeschlechts ist, so genügt Geselligkeit allein dennoch nicht für die Entwicklung der Naturanlagen, sprich der Vernunft. Man schuldet der Natur also Dank für diese "Unvertragsamkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen", denn "ohne sie würden alle
13 Kant,Immanuel.:
Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.38 Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.38 15 Kant,Immanuel.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.38 14 Kant,Immanuel.:
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vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern".16 Die Gesellschaft als Spielraum für die Entfaltung der Naturanlagen Obwohl der Antagonismus den Ansporn gibt für die Entwicklung des Menschengeschlechts, wäre reine Ungeselligkeit hingegen unnütz, gäbe es nicht eine Art Einschränkung der persönlichen Freiheit die den Menschen zugleich anspornt und diszipliniert. So argumentiert Kant im fünften Satz und zeichnet das Gerüst für eine Gesellschaftsform, welche der optimale Nährboden für die Entfaltung der menschlichen Naturanlagen durch den vorhin angesprochenen Antagonismus darstellt. Die Gesellschaft, die hier von Kant skizziert wird, ist eine in welcher der einzelne Mensch die größtmögliche Freiheit genießt, um dem Antagonismus freien Lauf zu lassen, eine Freiheit, die aber zugleich die Grenzen dieser Freiheit klar zeichnet, so dass auch die Freiheit des Anderen bestehen kann. Eine solche Gesellschaft muss die Einschränkung "wilder Freiheit" 17 gewährleisten und bringt den Menschen dazu sich zu disziplinieren. Hier soll kurz angemerkt werden, dass Kant zwischen zwei Arten von Freiheit unterscheidet. So gibt es auf der einen Seite die innere Freiehit eines jeden Vernunftwesens als moralisches Geschöpf, i.e., innere moralische Autonomie. Zum anderen besitzt der Mensch als phänomenales Wesen, welches sich eine Welt mit anderen Wesen teilt, eine Freiheit im äußeren Sinne. Es ist hier die zweite Freiheit auf die Kant anspielt.18 So ist die höchste Aufgabe des Menschen eine Gesellschaft zu schaffen, "in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird." 19 Und um dies zu erreichen, bedarf es einer vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung. Nur in einer solchen Gesellschaft ist es der Natur möglich, ihre Absichten in der Gattung Mensch zu verwirklichen. Die wahre äußere Freiheit ist nur dann garantiert, wenn ihr zugleich Schranken gesetzt sind. Der totalen äußeren Freiheit, welche gleichgestellt werden kann mit einer gesetzlosen Willkür, steht der rechtlich geregelten Freiheit entgegen, als einziger Nährboden für Kultivierung, Zivilisierung und zuletzt Moralisierung. Kant veranschaulicht diese zentrale Idee anhand der berühmten Metapher: "so wie Bäume in einem Walde, eben dadurch daß ein jeder dem anderen Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nötigen, beides über sich zu suchen, und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt daß die, welche in Freiheit und von einander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief und krumm wachsen."20 16 Kant,Immanuel.:
Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.38 Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.39 18 Pinzani, Alessandro.: Bothanische Anthropologie und physikalische Staatslehre. Zum Fünften und Sechsten Satz der Idee. S.64 19 Kant,Immanuel.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.39 20 Kant,Immanuel.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.40 17 Kant,Immanuel.:
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Der Mensch muss ausbrechen aus dem Naturzustand, wo freie Willkür jeden Fortschritt hemmt und die menschliche Vernunft sich nur "krumm" und "schief" entfalten kann. Er muss in eine bürgerliche Gesellschaft mit seinen Mitmenschen treten, um dort sein ganzes Potential entfalten zu können. Nun ist dies, laut Kant, aber die schwerste aller Aufgaben und diejenige, welche womöglich am spätesten gelöst wird. Obwohl dieser Sachverhalt schon im fünften Satz anklingt, hält Kant es für wichtig, diese Problematik im 6. Satz noch einmal aus einer anderen Perspektive zu beleuchten und zudem weiter zu führen. Die Schwierigkeit bei der Errichtung einer solchen Gesellschaft ist neben der Hervorbringung einer gerechten Verfassung, die Tatsache, dass der Mensch, wenn er in einer Gemeinschaft lebt einen Herrn nötig hat. Kant argumentiert, dass der Mensch sich als vernünftiges Geschöpf ein Gesetz wünscht, welches die äußere Freiheit eines jeden Bürgers in Schranken setzt, sich aber selbst gerne über diese Gesetze hinweg setzt. Es bedarf also eines Herrn, "der ihm den eigenen Willen breche, und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen."21 Die Formulierung des gebrochenen Willens wirkt auf den ersten Blick sehr erschreckend. Dieser Eindruck wird aber entschärft, wenn man vorausschauend auf Kants Moralphilosophie blickt. Hier redet Kant von der Vernunft als Herr über den Willen. Nur der Wille, der sich fern von dem Einfluß der Triebe und Interessen, nur durch die Vernunft und dem aus ihr entsprungenen Kategorischen Imperativ leiten lässt, ist der wahre gute Wille. Hier wird der Wille nicht von der Vernunft gebrochen, sondern sie legt diesem ihre Gesetze vor und leitet ihn an ihrem Vorbild. So meine ich, behaupten zu können, muss auch der oben erwähnte Herr gesehen werden. Nicht als Zuchtherr sondern als derjenige, der die einzelnen Menschen dazu bringt, die Freiheit der Mitmenschen nicht zu unterdrücken und jedem so viel äußere Freiheit zugesteht, als dass es möglich ist, dass der Mensch sich bestmöglichst entfalten kann. Nun ist es aber so, dass der Einsicht, dass der Mensch einen solchen Herrn braucht, erst das wahre und fatale Problem folgt: " Wo nimmt er (...) diesen Herrn her?"22 Wenn der Herr, sei es eine einzige Person oder mehrere dazu auserlesene Personen, aber selbst zur Gattung Mensch gehört, so braucht dieser gemäß seiner Natur auch einen Herrn. Er selbst wird seine Freiheit missbrauchen, wenn er keinen Herrn über sich hat. So entsteht ein kaum zu lösen scheinendes Problem: "Das Höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst und doch ein Mensch sein."23 Die Verwirklichung dieser von Kant geforderten, gerechten bürgerlichen Gesellschaft wird offensichtlich von diesem Teufelskreis im Keim erstickt. Kant selbst gibt zu, dass die "vollkommene Auflösung unmöglich" sei, denn, um hier die Baummetapher weiter zu führen, "aus so krummen Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden." Kant bietet hier keine direkte Lösung an für dieses doch vernichtende Problem, sondern setzt im 7. Satz mit dem Gedanken fort, den er im 5. Satz angefangen hat. Kant stellt den im 6. Satz begonnenen Gedankenzug aufs Abstellgleis und man 21 Kant,Immanuel.:
Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.40 Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.40 23 Kant,Immanuel.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. S.41 22 Kant,Immanuel.:
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könnte mit Alessandro Pinzani behaupten, dass vom 5. auf den 7. Satz ein Bahngleis übersprungen und eine neue Lok eingesetzt wurde.24 Kant verschiebt im weiteren Verlauf des Textes die Problematik des 6. Satzes auf die Ebene der internationalen Verhältnisse. Das Problem also, welches Kant meint zuerst lösen zu müssen, ist das rechtlich geregelte Verhältnis zwischen Staaten. Nun ist dadurch das Problem aber nicht gelöst, sondern nur vom Mikro-‐ in den Makrobereich verlagert. So kann in ähnlicher Weise der Begriff "Individuum" durch den Begriff "Staat" ersetzt werden und der Teufelskreis beginnt von Neuem. Auch Staaten sind eitel und gewaltsam und setzen ihre Freiheit über die der anderen. Kant fährt sich somit in eine Sackgasse, aus der er nur herauskommen kann, wenn er entweder seine Auffassung des Menschen als "krummes Holz" fallen lassen würde und/oder die Notwendigkeit eines Herrn verwirft. Eine solche Wende in Kants Denken vollzieht sich laut Alessandro Pinzani aber erst in den 1790er Jahren und kann in seiner Religionschrift und den politisch-‐ und rechtsphilosophischen Schriften aufgezeigt werden.25 Dies hier weiter auszuführen, würde aber bei weitem den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
24 Pinzani,
Alessandro.: Bothanische Anthropologie und physikalische Staatslehre. Zum Fünften und Sechsten Satz der Idee. S.74 25 Pinzani, Alessandro.: Bothanische Anthropologie und physikalische Staatslehre. Zum Fünften und Sechsten Satz der Idee. S.74
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Literaturverzeichnis Kant,Immanuel.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Frankfurt am Main, 1977. Heidemann, Dietmar.: Allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur, in: T. Schlicht (Hrsg.): Zweck und Natur: Historische und systematische Untersuchungen zur Teleologie, München 2010, S. 91-111 Höffe, Otfried.: Einführung. In: Höffe, Otfried (Hg).: Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. Berlin, 2011. Hübner, Dietmar.: Die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus. Kant - Fichte - Schelling - Hegel. Stuttgart, 2011 Kneller, Jane.: "Nur ein Gedanke". Ein Komentar zum Dritten und Vierten Satz von Kants Idee. In.: Höffe, Otfried (Hg).: Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. Berlin, 2011. Pinzani, Alessandro.: Bothanische Anthropologie und physikalische Staatslehre. Zum Fünften und Sechsten Satz der Idee. In.: Höffe, Otfried (Hg).: Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. Berlin, 2011. Schröder, Wolfgang.: Freihiet im Grossen ist nichts als Natur. In.: Höffe, Otfried (Hg).: Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. Berlin, 2011.
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