Kann man Stil lehren? Die Analyse textsortenspezifischen Stils im DaF-Unterricht Kann man Stil lehren? Die Analyse textsortenspezifischen Stils im DaF-Unterricht
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Kann man Stil lehren? Die Analyse textsortenspezifischen Stils im DaF-Unterricht Chapter · January 2014
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0 1 author: Karin Vilar Sánchez University of Granada 26 PUBLICATIONS 14 CITATIONS SEE PROFILE
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Kann man Stil lehren?
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Kann man Stil lehren? Die Analyse textsortenspezifischen Stils im DaF-Unterricht Karin Vilar Sánchez Universität Granada Einleitung Stil ist ein in allen Texten präsentes Phänomen. Er wird uns meist erst bewusst, wenn er aufgrund seiner gelungenen Ausprägung besonders angenehm berührt oder aber auch, wenn das Gegenteil der Fall ist. Typische Beispiel für als gelungen erachteten Stil finden wir in der Literatur, wogegen Beispiele für unschöne Erscheinungsformen gelegentlich in gewissen Massenmedien zu finden sind. In beiden Fällen sind die stilistischen Präferenzen auf die Autoren oder Autorengruppen zurückzuführen, und ganz besonders im Falle der Literatur ist dieser Aspekt meist das maβgebliche Auswahlkriterium für den Leser. In Gebrauchs- oder Fachtexten ist die Sachlage jedoch bekanntlich anders. Hier steht das behandelte Thema im Vordergrund und nicht der Stil des Autors sollte die Aufmerksamkeit des Lesers erregen. Das heiβt jedoch nicht, dass Stil nicht auch in diesen Texten eine relevante Rolle zukommt. In unserem Beitrag wollen wir uns mit der Rolle des Stils und mit den Möglichkeiten seiner Vermittlung in der Deutschsprachlehre im Rahmen der Übersetzer- und Dolmetscherausbildung an der Universität Granada befassen. Studiengegebenheiten an der Universität Granada In Granada wird Deutsch als Fremdsprache hauptsächlich im Rahmen der Übersetzer- und Dolmetscherausbildung angeboten. Folglich richten sich die Unterrichtsziele der Sprachlehr-Veranstaltungen nach dem Curriculum und den Bildungszielen dieses Bachelorstudiums, welche vereinfachend gesagt in der Entwicklung der Translationskompetenz zwischen dem Spanischen und den Bund C-Sprachen bestehen. Deutsch wird in Granada in beiden Varianten angeboten. Als C-Sprache lernen die Studierenden die deutsche Sprache von Beginn an. Es werden keinerlei Vorkenntnisse verlangt und die Anzahl der creditpoints liegt bei 42. Angesichts der Tatsache, dass in den C-Sprachen
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hauptsächlich in die Muttersprache übersetzt und gedolmetscht wird, besteht das Bildungsziel in erster Linie in der Beherrschung der passiven Kompetenzen, vor allem im Leseverstehen. Bei Deutsch als B-Sprache hingegen liegt die Ausgangskompetenz beim Niveau B1 des Europäischen Referenzrahmens und das Bildungsziel ist die Beherrschung aller vier Kompetenzen, denn in den BSprachen wird sowohl aus der Fremdsprache als auch in die Fremdsprache übersetzt und gedolmetscht. Das Augenmerk der DaF-Lehre richtet sich in diesem Kontext in besonderem Maβe auf die Ausbildung der Textkompetenz, d.h. auf den Umgang der Studierenden mit situations- und textsortenangemessener Sprache. Für die Erreichung dieses Bildungsziels stehen 30 creditpoints zur Verfügung. Translation und Stil Angesichts der Auftragslage auf dem Übersetzer- und Dolmetschermarkt sollte Stil im Bereich der Translation-Lehre in erster Linie textsortenbezogen verstanden werden1. Anders als bei literarischem Stil spielen hier, wie eingangs schon erwähnt, die persönlichen Ausdruckspräferenzen eines Autors keine Rolle mehr, d. h. es sind keine individuellen Entscheidungen mehr, die vom Übersetzer nachvollzogen werden müssen. Bei Gebrauchstexten sind die sprachlichen Entscheidungen vorgegeben durch Konventionen, die sich im Laufe der Jahre verfestigt haben. Und es ist gerade die Einhaltung dieser Konventionen, die einen angemessenen Stil dieser Texte ausmacht. Für den erfolgreichen Übersetzer ist die stilistisch angemessene Verwendung der Sprache zweifellos eines seiner Markenzeichen, denn es ist das einzige Phänomen seines Arbeitsproduktes, das von seinen der Fremdsprache meist unkundigen Kunden wirklich bewertet werden kann. Inhaltliche Aspekte entziehen sich logischerweise dieser Kontrolle. Somit ist es wahrscheinlich nicht übertrieben zu behaupten, dass die Glaubwürdigkeit und somit der gute Ruf des Übersetzers zu einem wesentlichen Teil von dieser Kompetenz abhängt. Ihrer
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Schmitt 1990 und 1998. Neuere übergreifende Studien zu diesem Thema liegen u. W. nicht vor.
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Vermittlung muss daher in der Ausbildung eine hervorragende Rolle zugeschrieben werden2. Bedauerlicherweise ist jedoch das Angebot an Lehr- und Lernmaterialen für die Vermittlung textsortenangemessener Sprachverwendung im DaFUnterricht immer noch sehr eingeschränkt und besteht in erster Linie aus vereinzelten, sehr generell gehaltenen Angaben zu diatopischen, diachronischen und diastratischen Aspekten der gegebenen sprachlichen Mittel. Beispiele aus dem Duden Universal Wörterbuch (1996): schelten 1. (geh. oft auch landsch.) a) schimpfen b) schimpfen 2. (geh.) herabsetzend heiβen, nennen, als etw. hinstellen eruieren a) (bildungsspr.) etw. durch gründliche Untersuchungen herausfinden, festellen b) (österr., schweiz.) jdn. ermitteln, ausfindig machen Meningitis (Med.): Hirnhautentzündung ersuchen höflich, in förmlicher Weise um etwas bitten, zu etwas auffordern
Als Beispiel für die Angaben zur Sprachverwendung im grammatikalischen Bereich seien hier die Hinweise zur Verwendung von Paritzipialkonstruktionen in der Grammatik der deutschen Sprache (Eroms et al., 1997: 2229) angeführt: Die Partizipialkonstruktion ist kein Sprachmittel des informellen Diskurses. Sie wird im wesentlichen in literarischen Texten, eingeschränkt auch in fachbezogener, wissenschaftlicher und journalistischer Prosa sowie in der Verwaltungs- und Behördensprache eingesetzt.
Es folgen verschiedene kurze Erklärungsansätze für diesen Sachverhalt, aber letztendlich geht die Information nicht über das hinaus, was der muttersprachliche Daf-Dozent ohnehin ahnt. Für die eigene Produktion angemessener deutscher Texte mag diese Intuition auch ausreichen, für die Vermittlung der Textkompetenz ist sie jedoch wenig hilfreich, ebenso wenig wie die vagen Verwendungsbeschreibungen einiger Grammatiken. Für die effektive Vermittlung der Textkompetenz im Deutschunterricht in der Übersetzer- und Dolmetscherausbildung sind explizitere, fassbare Beschreibungen vonnöten. Ansonsten wird sich nichts an der Tatsache ändern, dass der Übersetzer bzw. 2
Siehe in diesem Zusammenhang auch die Studie von Collados Ais (2007) zur Einschätzung der Qualität beim Simultandolmetschen.
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Dolmetscher sich in der Praxis den Stil von gegebenen Textsorten in der Zielsprache anhand von Paralleltexten mühsam selbst erarbeiten muss. Dies ist bekanntlich enorm zeitaufwendig und somit unökonomisch. Auβerdem sind diese Ad-hoc-Analysen naturgemäβ extrem lückenhaft, weil im Arbeitsalltag natürlich immer nur im Moment interessierende, punktuelle Aspekte untersucht werden können und keine Zeit für ein systematischeres Vorgehen bleibt. Es darf im Übrigen daran gezweifelt werden, dass Übersetzer für eine solche stilistische Analyse überhaupt ausgebildet sind. Wann ist der Stil eines Textes angemessen? Befragt man mit gegebenen Textsorten vertraute Muttersprachler nach der stilistischen Angemessenheit konkreter Texte, so sind sie meist in der Lage, dazu eine deutliche Aussage zu machen, d.h. anzugeben, ob ein Text gar nicht, teilweise oder absolut angemessen ist. Natürlich sind die Aussagen nicht immer vollkommen übereinstimmend, besonders im Mittelfeld. Zu den Enden der Skala hin gibt es aber meist keine Zweifel. Es gibt Texte, die gemessen an der Textsorte, der sie angehören, von Muttersprachlern als absolut angemessen eingestuft werden und es gibt auch solche, bei denen das Gegenteil der Fall ist3. Anhand der folgenden Textbeispiele soll die stilistische Bewertung veranschaulicht werden. Die Texte wurden von Studierenden der Universität Granada erstellt4. Beispiele für unangemessene Sprache: Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe ein kleines Problem. Ich habe nämlich gerade die Telefonrechnung gesehen und sehe, dass da Anrufe ins Ausland sind. Ich habe aber gar nicht ins Ausland angerufen. Können Sie die Rechnung bitte mal kontrollieren und mir eine neue schicken? Mit freundlichen Grüβen, 3
Mesa Arroyo (2011) hat in ihrer Dissertation die Schwierigkeit der Auffindung von absolut representativen Beschwerdeschreiben im Spanischen mit dem Ziel der didaktischen Anwendung untersucht.
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Natürlich haben alle Studenten ihre Einwilligung zur Veröffentlichung ihrer Texte an dieser Stelle gegeben.
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(Unterschrift)
Beispiele für angemessene Sprache: Sehr geehrte Damen und Herren, am 27.09.2010 habe ich über den online-Verkauf Ihrer Firma ein smart phone der Marke Samsung i5510Galaxy 551 white erworben. (Rechnungsnr. 99999). Leider stellte sich nach einigen Tagen heraus, dass das Ladegerät defekt ist. Ich bitte Sie deshalb, mir schnellstmöglich ein neues Ladegerät zukommen zu lassen, da ich ansonsten auch mein Mobiltelfon nicht verwenden kann. Mit freundlichen Grüβen, (Unterschrift)
Beispiele für Zweifelsfälle: Sehr geehrte Damen und Herren, Ich schreibe Ihnen, weil ich heute meine Telfonrechnung bekommen habe, auf der Telefonate ins Ausland erscheinen, die ich nicht gemacht habe und gar nicht gemacht haben kann, denn ich kenne niemanden im Ausland. Ich bitte Sie, die Rechnung zu überprüfen und den Fehler zu beheben. Mit freundlichen Grüβen, (Unterschrift)
Sicherlich stimmt der muttersprachliche textkompetente Leser mit der stilistischen Einordnung der Texte durch die Autorin zumindest tendenziell überein, was natürlich als Indiz für die Existenz besagter Konventionen gelten dürfte. Die Grundlage für diese Bewertung ist jedoch weitgehend intuitiv. Dies zeigt sich an so vagen Aussagen wie „In diesem Kontext sagt man das nicht so“ oder „So sagt man das in der gesprochenen Sprache, aber nicht in einem Beschwerdeschreiben“. Handfestere Verwendungsregeln gibt es meist nicht und es leuchtet ein, dass dem Sprachlerner diese Erklärungen nicht wirklich weiterhelfen.
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Die Vermittlung stilistischer Angemessenheit Stil erzeugen heiβt, unter einer Vielfalt von formalen Möglichkeiten auszuwählen. Bezogen auf textsortenadäquaten Stil bedeutet dies, sich für die Formen zu entscheiden, die in der gegebenen Textsorte allgemein favorisiert werden. Die Erzeugung von Stil ist also ein fortwährender Prozess der Wahl. Und wer die Wahl hat, hat bekanntlich die Qual; Das ist immer so, aber viel eher noch im Falle eines Nicht-Muttersprachlers, denn bei diesem besteht zudem die Gefahr, dass er von den stilistischen Verwendungsmustern seiner Muttersprache beeinflusst wird, was zu Interferenzen führen kann oder aber, was noch schwerwiegender ist, dass seine Sprachkenntnisse auf der rein lexikalischen und grammatikalischen Ebene noch lückenhaft sind und folglich auch seine stilistischen Wahlmöglichkeiten als solche limitiert sind. Um dieser komplizierten Situation im Sprachunterricht entgegenzutreten, war es aus unserer Sicht unumgänglich, die Kenntnisse über stilistische Angemessenheit, über die ein Muttersprachler intuitiv verfügt, in irgendeiner Form zu systematisieren, um sie dem Spracherwerber rational zugänglich zu machen. Natürlich war es hilfreich, dass wir in dieser Hinsicht schon auf vereinzelte stilistische Studien zurückgreifen konnten (bes. Hoffmann et al., 1998), jedoch wurden in diesen immer um isolierte Aspekte behandelt, die nach den unterschiedlichsten Ansätzen untersucht wurden. In der Fremdsprachlenlehre im Bereich der Translationsstudien und vor allen Dingen auch in Hinsicht auf die Berufspraxis war u. E. ein umfassenderer Ansatz erforderlich. Mikrofunktionsanalyse und Stil Im vergangenen Jahrzehnt erarbeiteten Sprachwissenschaftler und Traduktologen der Universität Granada in Zusammenarbeit mit Kollegen der Universität Leipzig einen Beschreibungsansatz, die Mikrofunktionsanalyse (MFA), die ganz im Dienste dieses didaktischen Interesses steht. Mithilfe der MFA werden die formalen Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache in definierten Kontexten, ausgehend von festgelegten semanto-grammatikalischen, semantischen oder pragmatischen Funktionen aufgezeigt 5. Definiert wird die 5
Vilar Sánchez, 2002 und 2004.
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Mikrofunktion als die kleinste kommunikative Einheit oder Absicht. Es ist die Bedeutungsdimension der sprachlichen Form, die auf der suprareferentiellen Ebene anzuordnen ist (Grafik 1).
Suprareferentielle Ebene Referentielle Ebene Grafik 1: Mikrofunktion
Bei dem Satz „Der Antrag war bis Ende des Monats einzureichen“ beispielsweise, stellt sich die mikrofunktionale Zerlegung des Verbs „war einzureichen“ folgendermaβen dar (Grafik 2): Obligation ← Modaler Infinitiv Ausdruck der Vergangenheit ← Imperfekt Unpersönlicher Ausdruck ← Modaler Infinitiv
einreichen
Grafik 2: Mikrofunktionen „war einzureichen“
Dem semantischen Gehalt des Lexems „einreichen“6 sind weitere drei Bedeutungen oder Sinneinheiten übergeordnet, der Ausdruck einer Obligation, der Bezug auf die Vergangenheit und die unpersönliche Ausdrucksweise. Im ersten Fall wird zum Ausdruck der besagten Sinneinheit der modale Infinitiv verwendet, „etwas ist einzureichen“, im zweiten Fall das Imperfekt, „etwas war einzureichen“ und im dritten Fall erneut der modale Infinitiv „etwas ist einzureichen“.
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Der dafür zuständigen Instanz o.Ä. zur Prüfung od. Bearbeitung übergeben, Duden 1996.
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Wenn wir den o.g. Satz unter Anwendung einer Modulation kontextadäquat ins Spanische übersetzen mit „El plazo de presentación de solicitudes se cerró a fin de mes“, wird deutlich, dass die mikrofunktionale Struktur an sich gleich bleibt, dass sich lediglich die Perspektive ändert, wodurch die Art der für die Mikrofunktionen gebrauchten sprachlichen Mittel im Spanischen deutlich von der des Deutschen abweicht (Grafik 3): Obligation ← „plazo de presentación“ Ausdruck der Vergangenheit ← indefinido Unpersönlicher Ausdruck ← pasiva refleja entregar Grafik 3: Mikrofunktionen „el plazo ... se cerró“
Die vergleichende Darstellung soll an dieser Stelle lediglich die Herangehensweise der MFA an die Sprache beleuchten. In der Forschung7 und auch in der Sprachdidaktik werden die Textanalysen nicht komparativ durchgeführt, sondern jede Sprache wird gesondert und unabhängig von der anderen untersucht. Schlieβlich liegt unser epistemologisches Interesse gerade in der Kenntnis der sprachspezifischen Erzeugungsmechanismen von Stil und in der Vermeidung von stilistischen Interferenzen. Aus Gründen der bequemen Datenverwaltung bedienen wir uns in der Unterrichtspraxis des Programms Atlas.ti8
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Siehe in diesem Zusammenhang Vilar Sánchez 2007. In dieser Publikation in CD-Rom Format werden die von einer internationalen Forschungsgruppe mithilfe der MFA erarbeiteten Analyseergebnisse zu deutschen und spanischen Arbeitsvertägen vorgestellt.
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Bei Atlas.ti handelt es
sich um eine Computer Assisted Qualitative Data Analysis Software. Eine ausführliche Beschreibung des didaktischen Nutzens dieses Programms findet sich in Vilar Sánchez 2011. Siehe zur Einführung auch: downloads.atlasti.com/QuickTour_es.pdf
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Der Stil von Beschwerdeschreiben Beschwerdeschreiben sind in Spanien genau wie viele andere Textsorten in höherem Maβe institutionalisiert, d.h. staatlich kontrolliert. Es gibt vorgefertigte offizielle Bögen, bei denen man sein Anliegen in die vorgesehenen Bereiche einträgt. Obschon die Möglichkeit besteht, weitere Blätter hinzuzufügen, suggerierieren die vorgesehenen Felder, dass es sich hier um die optimale Textlänge handelt. Demgegenüber werden Beschwerdeschreiben in der deutschen Sprache gemeinhin formlos verfasst, was aber nicht heiβt, dass auch in stilistischer Hinsicht völlige Freiheit herrscht. Im Folgenden geben wie die Analyseschritte einer didaktischen Einheit wieder, in der wir uns im Rahmen der Übersetzer- und Dolmetscherausbildung mit dem Stil von Beschwerdeschreiben in deutscher und spanischer Sprache befasst haben. Wegen des Umfangs der Daten ist es an dieser Stelle nicht möglich, alle Ergebnisse wiederzugeben. Wir beschränken uns deshalb auf die Ergebnisse zu einer in allen Texten vorkommenden und daher als repräsentativ zu betrachtenden Funktion, der Aufforderung. Die Analysegrundlage bilden zwei Corpora von jeweils 20 Texten. Bei den deutschen Texten handelt es sich ausschlieβlich um Musterschreiben. Das spanische Korpus besteht hingegen aus authentischen Texten9. In einer ersten Annäherung an die Texte ermitteln die Studenten rein intuitiv und noch sehr allgemein deren auffallendste repräsentative Funktionen. Hierunter fallen sowohl verschiedene Kategorien der Makrostruktur als auch semanto-grammatikalische und kommunikative Funktionen (Grafik 4).
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Quelle: Mesa Arroyo 2011.
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Grafik 4: Repräsentative Funktionen von Beschwerdeschreiben
Im Anschluss an diesen globalen Einstieg in die Analyse werden zunächst die deutschen Text mithilfe von Atlas.ti auf die oben erarbeiteten Funktionen hin untersucht. Hierbei kann die Analyse in Einzel- oder Gruppenarbeit oder auch im Plenum erfolgen. Atlas.ti ermöglicht natütlich auch die Gruppenarbeit online. Im Anschluss reproduzieren wir die Ergebnisse zur Funktion „auffordern“. Auffordern in Beschwerdeschreiben Zur Durchführung der eigentlichen MFA ist es unerlässlich, die einzelnen Funktionen zu definieren, denn nur so stellen wir die Einheitlichkeit der Analyse sicher. Natürlich ist dieser Aspekt ganz besonders bei Gruppenarbeiten zu beachten. Für die Funktion, die wir an dieser Stelle beleuchten wollen, erstellen wir folgende Arbeitsdefinition: „auffordern“ = „jemandem sagen, dass er oder sie etwas tun soll“. Nachdem alle Aufforderungen in allen 20 Texten markiert sind, werden die konkreten Realisierungen hinsichtlich der sprachlichen Mittel geordnet, die zum Ausdruck der Aufforderung verwendet wurden (Grafik 5).
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Grafik 5: Aufforderung in deutschen Beschwerdeschreiben Die Zahlen in den Mengenklammern beziehen sich auf die Anzahl der markierten Token und den Grad der Vernetzung der gegebenen Codes.
Eine erste Hauptunterscheidung in direkte und indirekte Formulierungen wird vorgenommen (19 vs. 9 Token). Mit rund zwei Drittel der Token überwiegen die direkten Äuβerungen deutlich. Innerhalb der Gruppe der direkten Formulierungen unterscheiden wir die Realisierungen mit dem Verb „bitten“ (12), z. B. „ich bitte Sie, Ihren Bescheid zurückzunehmen“ und die Formulierungen im Imperativ (7), z. B. „senden Sie mir bitte die Rechnung in Zukunft schriftlich per Post zu“, wobei der Groβteil der Realisierungen mit „bitten“ verbal und nicht nominal komplementiert werden (8 vs. 3). Bei den indirekten Formulierungen, deren Identifizierung naturgemäβ nicht immer so problemlos verläuft wie die der direkten, unterscheiden wir fünf Realisierungsformen: „im Voraus für etwas danken“ (4), z. B. „ich danke Ihnen im Voraus für möglichst umgehende Bestätigung“; „Nennung der positiven Auswirkung der geforderten Handlung“ (2), z. B. „ich würde mich freuen, in dieser Angelegenheit von Ihnen zu hören“; mit jeweils einem Beispiel verzeichnen wir „Erteilung eines Rates“: „Sie sollten dieser Unzufriedenheit dringend entgegenwirken“, „Unterbreitung eines Vorschlags“: „ich möchte anregen, dass Sie die vorgenommene Fahrplanänderung wiederherstellen“, und
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„Darstellung der geforderten Handlung als etwas Sicheres“: „wir gehen davon aus, dass Sie die gesonderten Kosten für die Verpflegung übernehmen“. Oberflächlich betrachtet könnte man zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Realisierungen der Aufforderung durch den Imperativ, welche immerhin rund ein Viertel aller Beispiele ausmacht, aufgrund ihrer Direktheit nicht sehr höflich ist. Aus Sicht der Studierenden könnte diese Information sogar vorschnell als Bestätigung der verbreiteten Meinung verstanden werden, dass „man im Deutschen nicht so höflich ist“, was natürlich in ihrer Berufspraxis zu schwerwiegenden Folgen führen könnte. Es ist deshalb wichtig, die Texte zusätzlich auf das Vorhandensein ergänzender Höflichkeitsmerkmale hin zu untersuchen. In der Grafik 6 wird deutlich, dass in der Tat alle formulierten Imperative durch das Adverb „bitte“ ergänzt werden und somit deren Direktheitsgrad abgeschwächt wird und ihr Höflichkeitsgrad steigt. Die Tatsache, dass den sieben registrierten Imperativen nur fünf mal das Höflichkeitsadverb „bitte“ gegenübersteht, erklärt sich dadurch, dass in zwei Fällen ein doppelter Imperativ formuliert wird, z. B. „prüfen Sie bitte, ob es sich um einen Messfehler oder um eine Verwechslung Ihrer Beamten handelt und bestätigen Sie ebenfalls den Eingang des Einspruchs“. Das Verb „bitten“ bedarf eigentlich keiner Höflichkeitskomplementierung, da schon sein semantischer Gehalt die Wahrung derselben gewährleistet. Trotzdem wird in drei Fällen die Höflichkeit dadurch erhöht, dass die Bitte in ihrer Oberflächenstruktur als Wunsch formuliert wird, z, B. „ich möchte Sie bitten, Sorge zu tragen, dass an der beschriebenen Stelle ein Vorfahrtsschild aufgestellt wird“. Was den Ausdruck der Höflichkeit bei den indirekten Formulierungen betrifft, so verweisen wir auf die Ergebnisse der zahlreichen Höflichkeitsstudien, in denen der abschwächende Effekt bei der Rezeption eines potenziell invasiven Sprechaktes durch den Umweg über die freiwillige Schlussfolgerung erklärt wird10.
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Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Schmelz 1994, 70-73.
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Grafik 6: Aufforderung und Höflichkeit in deutschen Beschwerdeschreiben
Auffordern in spanischen Beschwerdeschreiben Die sprachlichen Mittel der Aufforderung in Beschwerdeschreiben, die in unserem spanischen Corpus verwendet werden, weichen deutlich von denen des Deutschen ab. Auch im Spanischen besteht die Hauptunterscheidung zwischen direkten und indirekten Formulierungen, die Gewichtung zwischen beiden ist jedoch ausgeglichener (13 vs. 11). Sehr auffallend ist auch die Tatsache, dass in keinem einzigen Falle ein Imperativ verwendet wird, sondern lediglich Verben der Aufforderung. Anders als im Deutschen stehen wir aber hier vor einer wesentlich gröβeren Vielfalt. Bei den indirekten Ausdrucksmitteln ist die Bandbreite im Spanischen dagegen geringer als im Deutschen, nämlich „Darstellung der geforderten Handlung als Wunsch des Senders“ mit immerhin sieben Vorkommnissen, z. B. „deseo que se tomen medidas contra este tipo de discriminación o rechazo“, „Nennung der positiven Auswirkung der geforderten Handlung“ (2), z. B. „agradecería que ingresara en mi cuenta 150€“, und „Darstellung der geforderten Handlung als sicher“ (1), z. B. „espero recibir noticias suyas antes de ....“.
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Grafik 7: Aufforderung in spanischen Beschwerdeschreiben
Auch die spanischen Aufforderungen können von drei Ausnahmen abgesehen als höflich bezeichnet werden, einerseits die indirekten Äuβerungen (siehe Kommentar weiter oben) und andererseits die Verben „rogar“ (6), „pedir“ (2) und „solicitar“ (2), bei denen die Komponente der Höflichkeit im semantischen Gehalt selbst enthalten ist. Bei den beiden Verben, „exigir“ (2) und „reclamar“ (1), handelt es sich allerdings nicht um ein höfliches, sondern um ein sehr entschlossenes Auffordern eines Sprechers, der sich seiner Rechte bewusst ist: exigir 1. tr. Pedir imperiosamente algo a lo que se tiene derecho. reclamar 2. Pedir o exigir con derecho o con instancia algo. (DRAE)
In der Grafik 8 wird der Bezug der im Spanischen verwendeten Mittel zum Ausdruck einer Aufforderung mit dem Ausdruck der Höflichkeit noch einmal verdeutlicht:
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Grafik 8: Aufforderung und Höflichkeit in spanischen Beschwerdeschreiben
Obschon es sich nur um drei Ausnahmen handelt, kann vergleichend festgehalten werden, dass in den spanischen Texten sehr direkte Aufforderungen ohne eine pragmatische Abschwächung durch ein Höflichkeitsmerkmal vorkommen. Im Deutschen ist das nicht der Fall. Diskussion Der wesentliche interlinguale Unterschied in der sprachlichen Realisierung der hier behandelten Funktion liegt sicherlich nicht im höheren Direktheitsgrad einiger weniger Beispiele im Spanischen, sondern in der divergierenden sprachlichen Realisierung selbst. Hierbei sind die Unterschiede hauptsächlich in der Gruppe der direkten sprachlichen Mittel zu finden. Ein im Deutschen wesentliches Mittel, der Imperativ, kommt in den spanischen Texten überhaupt nicht vor. Dies ist wohl besonders für deutschsprachige Sutdierende von Bedeutung, die dazu tendieren könnten, im Spanischen Imperative zu verwenden, z. B. „ingrese 150€ en mi cuenta, por favor“, eine eindeutig textsortenunangemessene Formulierung. Auf der anderen Seite könnten spanische Studierende den Imperativ meiden, weil sie ihn evtl. für zu direkt halten. Wenn man auβerdem bedenkt, dass das Höflichkeitsadverb „por favor“ nicht ein einziges Mal in den spanischen Texten vorkommt, ist die
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Wahrscheinlichkeit gering, dass die spanischen Studierenden die Möglichkeit der Abschwächung des Imperativs durch „bitte“ überhaupt erwägen. In beiden Sprachen stellen die Verben des Aufforderns oder des Bittens in der ersten Person eine wichtige Materialisierungsform der hier besprochenen Funktion dar. Im Spanischen handelt es sich bei 13 von insgesamt 23 Token um das zentrale sprachliche Mittel überhaupt. Im Deutschen stellt diese Ausdrucksform etwas weniger als die Hälfte dar (12 von 29) und in allen Fällen handelt es sich um das Verb „bitten“. Im Spanischen ist die Variabilität der Verben mit fünf verschiedenen Lexemen hingegen bedeutend gröβer. Die Interferenzmöglichkeiten liegen auf der Hand. Schlussbemerkung Anhand der Darstellung der Materialisierungsformen einer einzigen Funktion, der Aufforderung, haben wir versucht, die Funktionsweise der MFA mit dem Ziel der stilistischen Beschreibung der Textsorte Beschwerdeschreiben zu verdeutlichen. Eine weitere ergänzende Funktion, die des Ausdrucks der Höflichkeit, musste hinzugezogen werden, da sie integraler Bestandteil einiger Ausdrucksformen war, bei anderen allerdings getrennt realisiert wurde. Die zutage getretenen Unterschiede waren erheblich. Natürlich muss diese Art der Analyse mit der aller weiteren textsortenkonstituierenden Funktionen ergänzt werden, um ein vollständigeres Bild von der stilistischen Merkmalen einer Textsorte erhalten zu können. Die hier dargestellte Analysemethode eignet sich ausgezeichnet für Gruppenarbeiten. Das Analyseergebnis stellt für die Studierenden einen ausgezeichneten stilistischen Wegweiser dar, auf dessen Grundlage sie selbst mit sehr viel grösserer Sicherheit Paralleltexte im Spanischen erstellen können. Das Atlas.ti Programm bietet in diesem Zusammenhang das ideale Werkzeug, denn es erlaubt die sofortige Kontextualisierung aller Beispiele durch einfaches Anklicken (Grafik 9), ein Aspekt, der für Übersetzer bekanntlich unverzichtbar ist.
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Grafik 9: Textanalyse mit Atlas.ti
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