Martin Kohlrausch Rezension: John C.G. Röhl., Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund. 1900 - 1941, München 2008 (Beck)
Kurz vor dem 150. Geburtstag des Forschungsobjekts ist das Werk vollbracht. Nach einem halben Jahrhundert, das John C.G. Röhl seinem Lebensthema Wilhelm II. gewidmet hat, vollendet er seine insgesamt über 4.000 Seiten umfassende Studie des letzten deutschen Kaisers. Der dritte und abschließende Band dieser ersten substantiellen Kaiserbiographie in deutscher Sprache behandelt die wichtigste Phase der Regierung Wilhelms II. ab dem Jahr 1900: den „Weg in den Abgrund“, wie der programmatische Untertitel lautet. Röhl bleibt seiner bisherigen Interpretation - manche würden sagen: Mission - treu Mit seinem „Willen zur Macht“ und als „Mann der unbegrenzten Möglichkeiten“ sei Wilhelm II. bis in den Ersten Weltkrieg hinein der ausschlaggebende politische Faktor in Deutschland gewesen – mit fatalen Folgen. Charakter und Handlungen des Kaisers werden in den gewohnt schwarzen Farben gemalt. Wilhelm II. tritt uns vor allem über seine bekanntermaßen drastischen Randbemerkungen entgegen. Wir erleben ihn als Möchtegernarchitekten verschiedenster, zunehmend fantastischer Allianzen und oft im Wochentakt wechselnder Versuche, die europäischen Mächte gegeneinander auszuspielen. Eine immer wieder aufscheinende Kontinentalliga mit Frankreich und Russland war dabei noch eine der moderateren Varianten. Selbst realistischere Optionen scheiterten jedoch regelmäßig an den Fehleinschätzungen der Kräfteverhältnisse. Durch die kaiserliche Paralleldiplomatie, die systematisch, aber oft genug auch in der Sache kontraproduktiv war, nahmen die ohnehin stark beschränkten Optionen zusätzlich dramatisch ab. Allerdings stellt sich die Frage, wie ernst Wilhelm II. in den europäischen Hauptstädten überhaupt noch genommen wurde. Äußerst detailfreudig schildert Röhl einen deutschen Kaiser, der vor allem seinen englischen Verwandten fortwährend ungebetene Ratschläge erteilt, bombastische Reden hält und in Gesprächen und Verhandlungen selten den richtigen Ton trifft. Der Kaiser agierte als Partyschreck, der von einer Tollpatschigkeit in die nächste stürzte und gerne Mitglieder seines Gefolges kitzelte, bis sie „die merkwürdigsten Laute“ von sich gaben. Sollten noch Zweifel am politischen Dilettantismus Wilhelms II. bestanden haben, räumt Röhl sie aus. Auskunftgeber für derartige Berichte ist das Personal aus der direkten Umgebung des Monarchen: Familie, Hofgeneräle, hohe Politiker, die oft seitenlang zitiert werden. Röhl kommt dabei zupass, dass für keinen anderen Deutschen der Zeit um 1900 auch nur annähernd eine so dichte Überlieferung existiert wie für den letzten Kaiser. Das Leben Wilhelms II. kann über weite Strecken stundenweise rekonstruiert werden. Wie in den beiden vorangegangen Bänden nutzt Röhl diese Möglichkeit exzessiv. Das kann abschnittweise durchaus seinen Reiz haben und schafft mitunter eine im positiven Sinn irritierende Nähe. In den besten Passagen ist die Story so spannend, wie es die deutsche Geschichte mit ihren Abgründen eben ist. Schwerer wiegt aber, dass Röhl derart dicht an seinen Protagonisten heranzoomt, dass oft nicht nur die großen Linien, sondern auch die unmittelbare Handlungssituation aus dem Blick geraten. Die Kamera ist unablässig auf den Protagonisten gerichtet, ohne Schnitt und höchstens einmal in der Halbtotale. Man hat der Strukturgeschichte vorgeworfen, dass ihre Geschichte des Kaiserreichs ohne Menschen auskomme. Für Röhl müsste der Vorwurf umgekehrt werden. Der Leser taucht ein in ein Meer von Neid, Eifersucht und Inkompetenz, in dem Wilhelm II. oft, aber nicht immer den schwärzesten Peter in der
Hand hält. Wer zudem mit den Valentinis, Holsteins oder Moltkes, ihren Funktionen und Hintergründen, nicht vertraut ist, wird schier erschlagen. Was im ersten Band über die Jugend des Kaisers mitunter noch zu einer unfreiwilligen Kulturgeschichte geführt hat, kommt nun als ungefilterte Politikgeschichte daher. Die zweite große Spielwiese kaiserlicher Aktivität neben der Außenpolitik war die Personalpolitik, die Leutnantsstellen ebenso einschloss wie das Amt des Reichskanzlers. Die Zwänge, denen Wilhelm II. dabei trotz ostentativ absolutistischer Geste unterlag, werden von Röhl etwas pauschalisierend gering geschätzt. Das logische Korrektiv der Achterbahnfahrt an der Spitze des Reiches wäre der Kanzler gewesen. Röhl sieht allerdings in „Bülowchen“ (Wilhelm II.) nicht viel mehr als einen Erfüllungsgehilfen wilhelminischer Ambitionen, der rückgratlos eine Kröte nach der anderen schluckte und hauptsächlich die eigene Eitelkeit in den „faulen Kompromiss“ der „persönlichen Monarchie“ einbrachte, die Röhl um 1905 auf ihrem Höhepunkt sieht. Während weder aus der Administration noch von den Bundesfürsten nennenswerter Widerstand kam, erwies sich die selbstbewusste Presse zusehends als Hauptgegner kaiserlicher Alleingänge. Mit dem Schlachtruf „Es soll der Sänger mit dem König gehen, aber es soll nicht der Päderast mit dem König gehen!“ outete der Journalist Maximilian Harden mit großer Geste ab 1906 erhebliche Teile der Hofgesellschaft als homosexuell und machte gleichzeitig klar, wer eigentlich gemeint war. Röhl interpretiert den enormen Aufschrei, der den Anschuldigungen folgte, überzeugend als Systemproblem der persönlichen Monarchie, die zu grotesken Gerüchten über dunkle Machenschaften einlud. Die inkompetente Handhabung der zahlreichen Skandale sieht er zudem als charakteristisch für die Dysfunktionalität des politischen Systems des Kaiserreichs an. Politisch war Wilhelm II. dem, was er die „Anforderungen der Neuzeit“ nannte, nie gewachsen. Gegenüber Vorschlägen für politische Reformen blieb er durchgehend renitent. Zumindest in wirtschaftlichen Fragen setzte der Kaiser jedoch in einem erstaunlichen Maß auf liberale Kräfte, auch um den Preis einer konservativ-adligen Opposition. Das verhandelte Themenspektrum liest sich wie ein aktuelles Wirtschaftsprogramm: Schutz der europäischen Arbeiter gegen asiatische Billiglöhne, Rohstoffsicherung für die deutsche Industrie, Transport als großes Zukunftsthema und vage Pläne für eine europäische Union. Das war alles von Wilhelm II. wenig durchdacht, aber es springt dennoch als etwas Neuartiges ins Auge, am sinnfälligsten vielleicht in der Direktdiplomatie zwischen Wilhelm II. und J.P. Morgan. Diese Dinge liegen allerdings quer zum Erkenntnisinteresse Röhls und werden kaum weiter verfolgt. So räumt er auch im Kapitel ‚Der Kaiser und Amerika‘ nicht den zahlreichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen, sondern verstiegenen militärischen Operationsplänen den meisten Platz ein. Nur mühsam konnte Wilhelm II. dazu gebracht werden, seine Eroberungsabsichten auf Kuba zu beschränken und Boston sowie New York zunächst außen vor zu lassen. Aber auch hier verwundert weniger, dass Wilhelm II. erneut mangelnden Realitätssinn bewies, als vielmehr die ungeheure Dynamik, mit der gerade der modern denkende bürgerliche Marinestab das Unrealistische plante. Wie Röhl selbst schreibt, nahm Wilhelm II. mehrmals, etwa in den Marokkokrisen, eine konziliantere Haltung ein als seine Diplomaten. Die massive Anglophobie, die zunehmend die öffentliche Meinung dominierte und den politischen Handlungsspielraum entsprechend einengte, lässt an Röhls Credo, dass eine Verständigung Deutschlands mit England möglich gewesen wäre, wenn nur Kanzler und Diplomaten das Sagen gehabt hätten, zumindest zweifeln. Ausführlich dargestellte Dokumente aus den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg
belegen zwar, dass Wilhelm II. sicher kein würdiger Träger des Friedensnobelpreises gewesen wäre, für den ihn Emanuel Nobel 1912 vorschlagen wollte. Sie zeigen aber vor allem die Stärke einer sich als national verstehenden Opposition und Militärpartei, die gestützt auf eine aggressive Öffentlichkeit Wilhelm II. mehr als nur einmal rechts überholte. Das diskreditierend gemeinte Schlagwort „Wilhelm der Friedliche“ war letztlich gefährlicher für die Monarchie als die Dauergegnerschaft der Sozialdemokratie. Spätestens ab 1912 förderte Wilhelm II. die Entscheidung, „die schwerste Blutarbeit, die je die Welt gesehen hat“ (Erich v. Falkenhayn) herbeizuführen. Als Mastermind eines von langer Hand geplanten Krieges vermag Röhl ihn allerdings nicht zu überführen, wenn auch einzelne Belege erdrückend sind. Wilhelms Schattenkaiserdasein, seine „aktive Untätigkeit“ im Ersten Weltkrieg sind bekannt und Röhl nimmt hier keine wesentlichen Korrekturen vor. Während Wilhelm II. in den Konflikten um die Führung des U-Boot-Krieges und die Entlassung des Reichskanzlers Bethmann Hollweg noch eine gewisse, von Röhl vergleichsweise positiv gewertete Rolle spielte, ließ er seine eigene Abdankung nur mehr über sich ergehen: „Er sagte nichts, und wir führten ihn, ganz als wäre er ein kleines Kind – und schickten ihn nach Holland“, erinnerte sich Wilhelm Groener. So ganz passt dies nicht zum machtstrotzenden Kaiser, den uns Röhl zuvor auf über 1.200 Seiten präsentiert hat. Über die negative Bewertung der Persönlichkeit Wilhelms II. wird man spätestens nach diesem Band nicht mehr streiten wollen. Der immerhin noch 23 Jahre währende Doorner Epilog liefert hierfür noch einmal reichlich Anschauungsmaterial. Über den tatsächlichen Einfluss Wilhelms II. sollte man jedoch weiter nachdenken. Da ist zunächst ein Paradoxon, das sich durch das ganze Buch zieht. Wilhelm II. erscheint einerseits als ein Herr der Finsternis, der über einen sinistren Plan zur Errichtung alldeutscher Weltherrschaft verfügte und diesem konsequent folgte. Im Einklang mit maßgeblichen Kreisen vor allem im Militär habe er versucht, eine „napoleonische Suprematie“ zu errichten und dabei einen Weltkrieg mindestens billigend in Kauf genommen. Andererseits entlarvt Röhl den Kaiser überzeugend einmal mehr als Westentaschenstrategen, der kaum einen Tag lang ein Ziel konsistent zu verfolgen vermochte. Auch innenpolitisch gilt, dass Wilhelm II. durch ständiges Hin und Her selbst das größte Hindernis für die vermeintliche Schaffung einer neoabsolutistischen Kaiserdiktatur darstellte. Wenn Weltpolitik und Isolierung, Flottenbau und schließlich zu erheblichen Teilen auch der Weltkrieg vorrangig Kaiserwerk gewesen sein sollen, geraten die anderen dynamischen und folgenreichen Kräfte zudem vollkommen aus dem Blick. Der Vulgärantisemitismus Wilhelms II. nach 1918 ist an Schäbigkeit kaum zu überbieten – und hier so drastisch wie bisher nie beschrieben worden. Für die Nationalsozialisten spielte dieser aber keine Rolle mehr, wie überhaupt der Doorner Eremit von ihnen wenn überhaupt nur noch instrumentell beachtet wurde. Die drängelnden Generalstabsoffiziere und übereifrigen Flottenaktivisten, denen der Kaiser schon lange vor dem Krieg als Relikt einer alten, allzu gemächlichen Zeit erschien, stehen für direktere Kontinuitäten, ebenso wie die in der Umgebung des Kaisers verbreitete Auffassung, dem Kaiser und den großen programmatischen Zielen wie der Weltpolitik zuarbeiten zu müssen. Über diese unterschwelligen, wahrscheinlich aber umso wirkmächtigeren Kontinuitätslinien wissen wir auch nach diesem Band nicht viel mehr. Bedauerlich ist das insbesondere insofern, als nach Röhl wohl kaum jemals wieder jemand so genau in die Materie eindringen wird. Noch etwas bleibt fast vollständig außen vor: Wir sehen den ‚Politiker‘ Wilhelm II. Über den von Peter Schamoni erneut in Szene gesetzten Filmstar hingegen erfahren wir fast nichts, auch nicht über
den Kaiser als Ikone, als Objekt vielfältiger Zuschreibungen der Populärkultur. Dabei war es gerade dies, was Wilhelm II. ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte und somit eigentlich Röhls These von der Zentralität Wilhelms II. unterstreicht. In einem etwas versteckten Kapitel über ‚Wilhelm und die Deutschen‘ finden wir hierzu lediglich Andeutungen. Röhl konstatiert eine unreflektierte, auf Unwissen über die wahren Zustände am Hof, beruhende Popularität Wilhelms II. und dessen hohe Anziehungskraft auf Frauen. Selbst in der finsteren Klaustrophobie des Doorner Exils interessierten sich zahlreiche junge „hermelinwütige“ Damen für die vakante Stelle der 1921 verstorbenen ExKaiserin. Aussagekräftiger war das 25-jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. im Jahr 1913, als im Grunewald 30.000 Sportler und Turner am Kaiser vorbei marschierten und der Monarch noch einmal als Projektionsfläche einer sehr disparaten Nation herhielt. An diesen und vielen anderen Punkten bedauert man, dass Röhl nicht offensiver nach der Dynamik im Verhältnis zwischen Monarch und gar nicht mehr so untertänigem Volk gefragt hat. Joachim Radkau hat einmal sinnig festgestellt, dass unter denjenigen Deutschen, die sich für den Kaiser hielten, Wilhelm II. der einzige war, der dies tun durfte, ohne als größenwahnsinnig zu gelten. Den ungeheuren Aktivitätsradius des Kaisers eröffneten und begrenzten nicht zuletzt die deutschen Phantasien von der Flotte über die Bagdadbahn bis hin zum vermeintlich erlösenden Militärschlag. Bei aller Kritik im Einzelnen ist die nun abgeschlossene Biographie eine gewaltige Leistung, nicht nur ob der schieren Masse des verarbeiteten Materials und ihrer guten Lesbarkeit. Vielmehr hat Röhl ein Thema der wissenschaftlichen Diskussion zugänglich gemacht, das aus ganz unterschiedlichen Gründen sowohl von der konservativen als auch der sozialgeschichtlichen Historiographie sehr lange weitgehend ignoriert wurde. Persönliches Regiment hin oder her handelt es sich zweifellos um ein Schlüsselthema der Deutschen Geschichte und ein, wie man in den 1980er Jahren gesagt hätte, ‚unbequemes‘ dazu. Dass man die Politik-, aber auch Kulturgeschichte des Kaiserreichs nun definitiv nicht mehr ohne den Kaiser – und auch nicht ohne das monumentale Werk von Röhl – schreiben kann, ist kein geringer Ertrag.
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Report "John C.G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund. 1900-1941, München 2008. Süddeutsche Zeitung 2008 (229), 18 "