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der Lüge daher ihre Ethik ausmacht, ein Standpunkt, der sich mit gutem Gewissen erst seit Nietzsche beziehen lässt. Interkulturell wird Wahrheit durch den Slawisten Walter Kaschmal relativiert, indem er das komplexe und widersprüchliche Verhältnis der beiden russischen Lexeme für "Wahrheit", pravda und istina, schildert. Der Romanist Jochen Mecke erklärt direkter als Mayer, dass Literatur wegen ihrer offenen Fiktionalität gar nicht lügen könne, der Film hingegen wegen seiner wirklichen oder scheinbaren Realitätsnähe hingegen verschiedene Formen und Stufen der Lüge entwickelt habe. Zum Schluss legt der Informationswissenschaftler Rainer Hammerwöhner dar, dass Computer nur im Rahmen des kognitivistischen Paradigmas der Lüge beschuldigt werden können, wenn überhaupt. Der Leser wird mit einer Fülle für unsere soziokulturelle Befindlichkeit hochbedeutsamen und zum Teil wenig bekannten Tatsachen konfrontiert, die sich zu zwei Anstoß erregenden Befunden summieren, erstens der Auflösung der klaren sittlichen Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge durch die Wissenschaften, die zweitens auf der ungeheueren und anscheinend nur mit solchem resignierendem Relativismus zu bewältigenden Komplexität der behandelten Phänomene beruht, die hier als "Kulturen der Lüge" behandelt werden, obwohl dieser Begriff nicht immer angemessen erscheint. Denn man erfährt ebenso erstaunt, dass "wahr" anders als "gut" und "schön" kein Wert an sich sein soll (S. 20), wie man lernen muss, Gipsabgüsse als eine Form der Lüge zu betrachten (S. 214-216). Ohne dass darüber ausdrücklich reflektiert würde, demonstriert der Band damit auf der Metaebene Orientierungslosigkeit infolge vielseitiger Überorientierung als kulturelle Grundbefindlichkeit der Gegenwart. Je intensiver Wissenschaft nach Wahrheit strebt, desto mehr verflüchtigt sich paradoxerweise unsere Vorstellung von Wahrheit. Das ist nicht erst seit der viel berufenen sprachwissenschaftlichen Wende und dem Konstruktivismus klar. Schon bei Friedrich Nietzsche war Lüge Inbegriff der kulturellen Kreativität, Wahrheit hingegen nichts als eine sozial nützliche Lüge, an die wir uns so weit gewöhnt haben, dass wir sie nicht mehr als Lüge erkennen. Allerdings wünschte er sich auch, solche unbewussten Lügen den Politikern wieder bewusst zu machen und ihnen so das gute Gewissen beim Lügen zu nehmen. Also nicht nur das alte, aber nach wie vor aktuelle Dilemma: wenn es keine Wahrheit gibt, wie kann dann diese konstruktivistische Wahrheit wahr sein? Sondern auch ein elementarer Wille des Menschen zur Wahrheit, dem sich sogar Nietzsche nicht entziehen konnte. Insofern ließe sich das unbefriedigende Schwanken der Wissenschaften zwischen notgedrungener Bejahung sozial notwendiger krummer Touren aller Art und mehr oder weniger deutlicher moralischer Entrüstung über die gegenwärtige "Lügengesellschaft" (die zweite Regensburger Ringvorlesung hieß "Leben in der Lügengesellschaft") einer dringend notwendigen Klärung zuführen. Wenn wir den absoluten Willen zur selbstverständlich nie zu erreichenden Wahrheit als anthropologische Tatsache wieder ebenso ernst nehmen wie die sittliche Verwerflichkeit absichtlicher Täuschung, dann können wir die zahllosen krummen Touren, ohne die eine Gesellschaft nicht auskommt, nicht mehr kokett entrüstet summarisch als "Lügen" deklarieren, sondern müssen uns etwas mehr Mühe machen, um ihnen mit einer Anthropologie kommunikativer Umwege gründlicher gerecht zu werden. Wolfgang Reinhard
Joachim Fischer I Michael Makropoulos (Hg.): Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne. München: Wilhelm Fink Verlag, Mai 2004,241 S. Der Sammelband "Potsdamer Platz" von Joachim Fischer und Michael Makropoulos arbeitet an zwei Problemen: Ausgehend von der "Koexistenz rivalisierender Para-
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digmen" in den Kultur- und Sozialwissenschaften stellt sich der Band die Aufgabe, in einem Theorievergleich dem breiten Spektrum soziologischer Theorien die Möglichkeit zur problemerschließenden Selbstdarstellung zu geben, so dass sie einerseits ihren Anspruch, eine soziologische Theorie zu sein - also das soziale Ganze in den Blick zu nehmen - zur Geltung bringen können. Andererseits müssen sich die verschiedenen Theorien an einem gemeinsamen Phänomen der Gegenwartsgesellschaft bewähren, stellen sich also in einem Theorienvergleich gegenüber anderen Theorien in den Wettbewerb. Dieses Phänomen ist der Potsdamer Platz in Berlin. Er steht seit den 1920er Jahren prototypisch für einen urbanen "Ort der Moderne", an dem sich diese wesentlich mit entfaltet hat. Joachim Fischer sieht, ausgehend von der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners, im Neubau des Potsdamer Platzes "eine Rekonstitution der bürgerlichen Gesellschaft", nachdem dieser durch zwei antibürgerliche Projekte (NS- und SEDHerschaft) abgebaut worden sei. Die Philosophische Anthropologie verstehe beide antibürgerliche Projekte mit ihrer Idee der "totalen Integration" als totalitär, insofern sie die "exzentrische Positionalität" des Menschen, sein Changieren zwischen Körper und Geist, Öffentlichkeit und Intimität, Maske und authentischem Ausdruck strukturell ignorieren. In einer "bürgerlichen Stadt" entspräche das der "Polarität von Privatheit und Öffentlichkeit", der Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne, Reserviertheit und Intimität. Indem statt eines "totalen städtebaulichen Neuanfangs" am Potsdamer Platz der Wiederaufbau gewählt wurde, offenbare sich ein Herrschaftszusammenhang, indem das Bürgertum seine Kontingenzerfahrung des 20. Jahrhunderts verarbeite und "seine Stadt ... institutionell in der Massengesellschaft auf Dauer" stelle. Aus der Perspektive der Rational-Choice-Theorie betrachten Jürgen Friedrichs und Christiaue Bremer die Errichtung des Potsdamer Platzes als die "Erstellung eines Kollektivgutes". "Kooperative Akteure" (v. a. der Senat und die Unternehmen) würden Handlungsalternativen nach Kosten und Nutzen abwägen und eine Entscheidung aushandeln bzw. durchsetzen. Im Kampf darum wie das Kollektivgut auszusehen habe (Definitionsmacht), stünden sich privatwirtschaftliche Investoren (Sony, Daimler Chrysler, etc.) und Kommune (Berliner Senat) gegenüber. Der Berliner Senat habe in einer Situation der Überlastung (in den Wendejahren) eine Entscheidung getroffen, die ganz bewusst eine Reihe von (auch negativen) Konsequenzen antizipiert habe. So erkläre sich der erstaunlich preisgünstige und schnelle Verkauf aus der Tatsache, dass die Planung rasch vorangetrieben werden sollte. Friedrichs und Bremer schließen, dass sich der Berliner Senat der negativen Konsequenzen eines Verkaufes von Gemeindebesitz bewusst gewesen sei, nämlich, dass den Investoren durch ein solches Verfahren erhebliches Mitspracherecht bei der Gestaltung des Kollektivguts eingeräumt würde und damit Teile der Definitionsmacht des Senats verloren gingen.
Systemtheoretisch stellt der "Potsdamer Platz" als ein "Ort der Moderne" Andreas Ziemann und Andreas Göbel vor ein ernsthaftes Problem, denn "soziale Systeme haben keine Raum-, sondern nur Sinngrenzen". Die Autoren beobachten in Konsequenz ihres Ansatzes nicht den Potsdamer Platz als räumlichen Ort, sondern stattdessen "ein Pluriversum heterogener, funktional differenzierter Kommunikationen über ihn". Innerhalb des Wirtschaftssystems wurde der Potsdamer Platz als knappe Ressource beobachtet, die, der öffentlichen Hand gehörend, in Eigentum zu überführen gewesen sei. Das politische System war in seiner wirtschaftlichen Entscheidungsfähigkeit (zu verkaufen) durch politiksysteminterne und rechtliche Vorgaben eingeschränkt, wurde jedoch zur gleichen Zeit durch die "öffentliche Meinung" zum Handeln gezwungen. Innerhalb der in Folge davon eingeleiteten "hearings" kam es
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zu einer gegenseitigen Irritation und Limitation der künstlerischen (architektonischen), politischen, wirtschaftlichen, massenmedialen und wissenschaftlichen Funktionssysteme, deren Beobachtungsschemata und Leitsemantiken sich in den Diskursen über den Potsdamer Platz im Einzelnen aufweisen ließen. Udo Göttlich und Rainer Winter setzen aus Sicht der Cultural Studies bei der Analyse des Potsdamer Platzes "als Ort der (Post-)Moderne" mit der Shopping Mall an: mit den "Potsdamer Platz Arkaden". An ihnen zeige sich, wie sich die "postfordistische" Konsumkultur in den Aufbau eines historischen Ortes einschreibe. Zugleich, und dadurch zeichneten sich die Cultural Studies aus, müssten aber die "listvollen Praktiken der Wiederaneignung" durch die "Schwachen" in die Analysen einbezogen werden: Indem z. B. Menschen die Mall als Ausflugsziel für Spaziergänge nutzten, entzögen sie sich den allein auf Konsum ausgerichteten Strategien des privatwirtschaftliehen Kapitals. Grundlegend ließe sich der Potsdamer Platz nicht aus nationaler Perspektive betrachten, es handele sich vielmehr um einen "austauschbaren Ort der Weltökonomie", gegenüber dem eine "globalization from below" erforderlich sei. Mit der Kritischen Theorie sehen Christine Resch und Heinz Steinert im Potsdamer Platz eine symbolische Inszenierung von Herrschaft, in der sich Wirtschaftskonzerne eines Stadtzentrums bemächtigt und eine "Überwältigungsarchitektur" errichtet hätten. Mit den Analysen über die Kulturindustrie von Horkheimer und Adorno treffen sie auf die "Wiederkehr des Immergleichen", auf "Freizeitpark und die ShoppingMall für die Reichen, Jungen und Schönen." Herrschaftsarchitektur sei für den Zuschauer gebaut, aber für diesen ~ für den Touristen (als idealen Zuschauer einer Überwältigungsarchitektur) ~ sei der Potsdamer Platz nichts als eine Enttäuschung: "Das Bildungs-Angebot ist nicht ausreichend, das Waren-Angebot ist nicht exklusiv genug." Alles sei nur zum "Herrschaft-Schauen" einer im Theorieverständnis seit Marx und Engels bereits "untergegangenen Herrschaft" errichtet. Das zeige sich auch an den (billigen) Baumaterialien. Der neue Potsdamer Platz müsse von der Kritischen Theorie aus symbolisch und wortwörtlich als Ruine der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft bezeichnet werden: "Wir sind ,live' dabei, wenn Ruinen gebaut werden." Vom Blickwinkel der Gender Studies aus stellt sich für Bannelore Bublitz und Dirk Spreen die Architektur des Potsdamer Platzes als ein "nackter Körper" dar, durch dessen Fassaden ein "leeres Körperbild" erzeugt würde. Durch Videokameras überwacht, bewegten sich die Menschenströme in vorbestimmten Bahnen, auf denen sie in den gläsernen Fassaden immer nur sich selbst erblickten und einer "reflexiven Selbstkontrolle" unterworfen würden. Die Unterscheidung von privat und öffentlich würde dabei so unterlaufen, dass nicht nur die Distanz zum Anderen, sondern der Andere scheinbar ganz verschwinde. Damit entfielen nicht nur "soziale Interaktivität", sondern ebenfalls "soziale Imaginationen". Erst dieser, von allen unvorhergesehenen Differenzen und differenten Anderen befreite, "nackte Körper" mache die reine "Spiegelung organloser, technisch erzeugter Körperbilder" in sich selbst möglich. Im neuen Körperbild reproduziere sich nun die alte Binarität der Geschlechter. wodurch sich auch die alten Geschlechterhierarchien und Machtordnungen erhielten. Symbolisch für das neu konstruierte Körperbild stehe das "sich selbst tragende Glasdach über dem Sony-Innenhof", welches einer konsumistischen autoerotischen "Junggesellenmaschine" gleiche.
Diskursanalytisch erweist sich für Michael Makropoulos der Potsdamer Platz als ein diskursiv konstituierter Mythos der Moderne. Faktisch sei er schon in den 20er Jahren ein "Platz ohne Eigenschaften" gewesen. Gerade diese Gestaltlosigkeit prädestiniere ihn für mythische Inanspruchnahmen: Eigenschaftslosigkeit sei die not-
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wendige, Massenkultur die zureichende Bedingung für den modernen Mythos eines "paradigmatischen Ortes der Moderne". Zu einem massenkulturellen Ort werde der Potsdamer Platz durch die sich in ihm materialisierenden Diskurse der Modernität von Verkehr ("die schnellste Stadt der Welt"), Oberfläche ("die neue Lichtstadt Europas") und Ökonomisierung (Konsum). Allerdings sei "massenkulturelle Urbanität" nur als Zwischenstadium im Übergang zur "medial generierten Vergesellschaftung" anzusehen, die dank der neuen Medien auf konkrete Orte verzichten könne. Eine solche Verschiebung vom Ort, der Architektur in die Virtualität entspräche einer Verschiebung von der "Bautechnik" in die "Teletechnik", die bereits stattgefunden habe. Dies erkläre auch die "Mittelmäßigkeit ... der Neubebauung des Platzes". Da sich die Herausgeber durchaus bewusst sind, dass der "Potsdamer Platz" immer auch ein diskursiv umkämpfter Begriff ist, versuchen sie ihren Forschungsband historisch selbst zu verorten. Deshalb fügen sie einen Abriss der (Vor-)Geschichte dieses Platzes ein, indem die städtebaulichen, architekturtheoretischen und historischen Diskurse um diesen Ort chronologisch von (1685 bzw.) 1814 bis 2000 dargestellt werden. Hier findet sich neben der Beschreibung der Kämpfe um Planung und Ausführung auch eine Reihe von Bilddokumenten, die Entwürfe und Bilder des Potsdamer Platz vereinigen. Die Innovation des Buchs liegt nicht nur in der multiparadigmatischen Herangehensweise, sondern darin, dass die verschiedenen soziologietheoretischen Paradigmen nicht aufeinander reduziert, sondern in ihrer Vielfalt vergleichbar und fruchtbar gemacht werden. Dabei ist der Anspruch, einen Theorievergleich durchzuführen, ein spezifischer, und er muss recht besehen werden: Der Theorieansatz (der Gesellschaft beschreibt) wird von den Herausgebern mit einem gesellschaftlichen Phänomen konfrontiert, das möglicherweise in dessen Problemhorizont bisher nicht aufgetaucht ist. Dem Leser obliegt es, die jeweiligen Ansätze selbst zu justieren, erst er stellt die Ansätze in Beziehung zueinander. Ohne Leser kein Vergleich. So gesehen ist es ein Glück, dass uns die Herausgeber mit einem Schlüssel oder Programmcode, der im Nachhinein zeigt, wie wir die einzelnen Ansätze miteinander in Beziehung zu setzen hätten, verschonen. Diese Freiheit ist zugleich eine Aufgabe für den Leser, der es sich mit diesem Buch nicht zu bequem machen darf. Daraus ergibt sich wiederum der didaktische Wert eines solchen Theorievergleiches für die Soziologie als akademische Institution. Robert Seyfert
Balint Balla: Knappheit als Ursprung sozialen Handelns. Hamburg: Reinhold Krämer Verlag 2005, 309 S. Adloff, Frank I Mau, Steffen (Hg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. Reihe "Theorie und Gesellschaft", Band 55. Frankfurt am Main/New York: Campus 2005, 308 S. Diese Neuerscheinungen thematisieren die bislang in der Soziologie eher vernachlässigten Forschungsprobleme Knappheit und Reziprozität. In beiden geht es um Grundformen sozialen Handelns mit teils unterschiedlichen, teils sich überschneidenden Forschungsperspektiven. Beilirrt Balla beginnt seine Abhandlung mit einem Systematisierungsversuch von Knappheit als existenziellem Grundtatbestand des Menschseins, um daran anschließend für die Knappheitsbekämpfung Idealtypen sozialen Handeins zu entwickeln; der 'JYpus Gegenseitigkeit und seine Subtypen werden als Strategien der Überwindung von Knappheit besonders hervorgehoben. Das Prinzip der Gegenseitigkeit steht auch im Zentrum des von Frank Adloff und Steffen
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Report "Joachim Fischer, Michael Makropoulos (Hg.): Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne, München Mai 2004 "