Ist es möglich, vom Ereignis zu sprechen? Ereignis und Performativität bei Jacques Derrida, Emmanuel Levinas und Alain Badiou, in: Hans-Dieter Gondek / Tobias Nikolaus Klass / László Tengelyi (Hg.), Phänomenologie der Sinnereignisse (München: Fink, 2011), 391-405.
Ist es möglich, vom Ereignis zu sprechen? (Ist es möglich, ein Vom-»Ereignis«-sprechen zu vollziehen?) Ereignis und Perfomativität bei Jacques Derrida, Emmanuel Levinas und Alain Badiou Ich werde also vom Sprechen sprechen. Doch diese Rekursivität wird nicht die einzige Schwierigkeit darstellen. Denn das, wovon gesprochen werden soll, wird zudem allgemein als der Sprache nicht zugänglich bezeugt. Es liegt ihr uneinholbar voraus. - Die Konsequenz daraus ist zunächst recht einfach zu benennen: Es sollte mir nicht gelingen, das Ereignis, von dem hier zu sprechen wäre, zu thematisieren. Da jedoch das Denken des Ereignisses für nicht wenige zeitgenössische Philosophien zu einem zentralen Thema geworden ist, scheint es zunächst zumindest indirekt möglich zu sein, die titelgebende Frage ernsthaft aufzugreifen: Ist es möglich, vom Ereignis zu sprechen? Ich werde mich daher in einem ersten Schritt der Rede vom Ereignis mit Blick auf die jüngere Philosophiegeschichte annähern, wohl wissend, dass es sich hier letztlich gerade nicht um eine historisch zu beantwortende Frage handelt.
1. Ich werde mich vor allem auf drei Autoren beschränken: Alain Badiou, Emmanuel Levinas und Jacques Derrida. Selbstverständlich wären hier zumindest noch Jean-Frarn;:ois Lyotard und Gilles Deleuze zu nennen. Beide haben ausdrücklich vom Ereignis gesprochen. Doch bei beiden kann ich hier nur auf bereits vorliegende deutschsprachige Sekundärliteratur verweisen (- bei Lyotard etwa auf die Arbeiten zum ästhetischen Ereignis bei Dieter Mersch und bei Deleuze auf den hervorragenden, von Marc Rölli herausgegebenen Sammelband unter dem Titel Ereigrtis auf Französisch, der gleich mehrere Beiträge zu Deleuze enthält). - Badiou, Levinas und Derrida also. Nicht übergehen kann ich allerdings das spätere Werk von Martin Heidegger ab Mitte der 30er Jahre, d.h. ab der Ab-
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fassung der Beiträge zur Philosophie, deren „gemäße Überschrift" lautet: Vom Ereignis. - Mit dem Aufbruch, den das Jahrhundertwerk Sein und Zeit darstellte und der nur wenig später erfolgten Wahrnehmung der Unabschließbarkeit dieses unvollendet gebliebenen Projektes hat ein ganz spezifisches und folgenreiches Denken des Ereignisses im 20. Jahrhundert seinen Ausgang genommen - und zwar nicht bei Heidegger allein, vielleicht aber jeweils mit Bezug auf dieselbe Erfahrung eines nicht pejorativ zu verstehenden Scheiterns einer in sich homogenen Ontologie. Es ist diese Unterbrechung, die vielleicht von Heidegger als erstem in ihrer Radikalität wahrgenommen wurde und zu jenem Denken (in) der „Kehre" (genauer wohl der sog. „zweiten Kehre") geführt hat, das in den Beiträgen zugleich als der „andere Anfang" in der W esungsgeschichte des Seyns 1 bezeichnet wird. Aber wie gesagt hat Heidegger nicht allein die Notwendigkeit der Kehre wahr- und ernst genommen. - Bekanntlich sind die Beiträge erst 1989 publiziert worden und daher ist es durchaus erstaunlich, dass auch Emmanuel Levinas schon früh und eigenständig das Ungenügen des Ansatzes von Sein und Zeit erkannt hat und ohne Kenntnis von Heideggers Beiträgen bereits 1944/45 in der Kriegsgefangenschaft und den kurz danach gehaltenen Vorträgen und Publikationen von einem not-wendig gewordenen Verständnis von Sein, das nicht mehr vom Seienden aus gedacht wird, also von einem „Sein ohne Seiendes" gesprochen hat. Allerdings blieb auch Levinas' eigener erster Ansatz, wie er in dem 1961 erschienenen Werk Totalität und Unendlichkeit vorliegt, noch dem ontologischen Denken verhaftet. Levinas hatte dies selbst erkannt und setzte in der ersten Hälfte der 60er Jahre in mehreren Vorträgen zu einer Relecture seines bisherigen Ausgangspunktes an. Doch erst in der wechselseitigen Befruchtung seines Denkens mit dem des jungen Jacques Derrida um die Mitte der 60er Jahre findet Levinas zu einer gemäßeren Form und zum Ausgangspunkt seines späteren Hauptwerkes jenseits des Seins oder anders als sein geschieht (1974). Derrida hatte nämlich seinerseits - ohne bereits von Levinas' beginnender Kehre zu wissen - die immer noch ontologische Verfasstheit von dessen bisherigem Denken wahrgenommen und in dem umfangreichen Artikel „Gewalt und Metaphysik" (1964), der damals überhaupt die erste ausführliche Rezeption Levinas' darstellte, analysiert und kritisiert. Nachdem Derrida diesen Artikel bereits an den Verlag geschickt hatte, hatte er jedoch einen der erwähnten Vorträge von
Levinas gehört und das Potential von dessen beginnendem Neuaufbruch erkannt. Für die Publikation selbst konnte er allerdings nur noch eine allererste Fußnote mit einem Hinweis auf die jüngeren Arbeiten zur „Spur" bei Levinas einfügen. Levinas wiederum kommt erst (im Anschluss an Derridas Kritik) in dem 1965 publizierten Text „Rätsel und Phänomen" zu einer gemäßen - auch im Sinne der Rede vom Ereignis gemäßen - Formulierung des Verständnisses der Spur. - Die gegenseitige Wahrnehmung der Arbeiten von Levinas und Derrida in diesen Jahren fällt aber auch bei Derrida mit dem unmittelbaren Anstoß zu einem eigenständigen Ansatz zusammen, der in den frühen Werken so noch nicht vorhanden ist. Daraus wird sich ein Denken des Ereignisses entwickeln, das - nicht immer unter diesem Namen - von Derrida von 1966 ~n bis zu seinem Tod im letzten Jahr in vielerlei Hinsicht weiter entfaltet wurde. (Darüber wird gleich noch zu sprechen sein.) Scheinbar ohne unmittelbaren Bezug zu dieser verflochtenen Tradition findet sich heute im Werk des 1937 geborenen Philosophen, Dramaturgen und Romanciers Alain Badiou das „Ereignis" als der Begriff, der sein Denken bestimmt. So trägt auch Badious voluminöses Hauptwerk den Titel: Das Sein und das Ereignis. Auch dieses Buch ist noch vor der Publikation der Beiträge zur Philosophie von Heidegger erschienen, nämlich im Jahr 1988. - Badiou ist ausgebildeter Mathematiker und ein anerkannter Kenner der zeitgenössischen mathematischen Grundlagendiskurse und -probleme. Von dieser Kenntnis her (insbesondere den Ergebnissen der Arbeiten Kurt Gödels und der daraus resultierenden Entfaltung der axiomatischen Mengenlehre) - von diesem Scheitern einer homogenen Grundlegung der Mathematik aus versucht Badiou in seiner Philosophie den Bereich des sich der Mathematik Entziehenden zu denken und - für Badiou besonders wichtig - auch auf seine politischen Konsequenzen hin zu entfalten. Dieser spezifische Bereich der Philosophie ist der des Ereignisses. Philosophie ist, nach Badiou, Denken des Ereignisses; währenddessen das Mathematische - durchaus vergleichbar mit Heideggers Verständnis von Ge-Stell - mit der Ontologie und damit der Rede vom Sein als Sein identifiziert wird. Leider existiert noch recht wenig Sekundärliteratur zu Alain Badiou. Ohne diese Lücke hier schließen zu können, hoffe ich aber in meinen Anmerkungen zu Badious Ereignis-Begriff doch eine gewisse Nähe zu Heidegger (die vielleicht sogar bis in einzelne Formulierungen hinein reicht) herausstreichen zu können.
1 Vgl. F.-W. von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1994, S. 20; M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis).
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Bevor ich mich aber den einzelnen Autoren zuwende, möchte ich nochmals einen kurzen Überblick über die anstehende Fragestellung geben, um dadurch den Kontext jener Frage nicht aus dem Blick zu verlieren, die von mir hier anschließend erörtert werden soll: Ist es möglich, vom Ereignis zu sprechen? Nicht die genannten Autoren und deren je spezifischer Begriff des Ereignisses stehen ja in dieser Frage im Mittelpunkt, sondern eher dasjenige, worauf die um diesen Begriff kreisenden Werke zu antworten versuchen. Denn eine Gemeinsamkeit lässt sich bereits aus der skizzierten geschichtlichen Genese ablesen: Die Kehre, die Wende oder der Ausgang des Denkens der genannten Autoren ist nicht durch ein positiv beschreibbares Erkenntnisinteresse bestimmt, nicht durch ein Wollen, sondern sie hat sich je als Konsequenz aus einem bestimmten Scheitern bzw. als Konsequenz aus einer wahrgenommenen Unterbrechung der gewohnten Ordnung, der Ordnung des Seins oder der Ordnung der Metaphysik, der Ordnung des abendländischen Denkens erwiesen. So sind sowohl Heideggers Beiträge zur Philosophie als auch Levinas' erster und zweiter Ansatz die Konsequenz aus einem gewissen Ungenügen, das an der Rede vom Sein in Sein und Zeit bzw. an der abendländischen Metaphysik in ihrer gewordenen Gestalt wahrnehmbar wurde. „Die Metaphysik meint, das Sein lasse sich am Seienden finden, und dies so, dass das Denken über das Sein hinausgeht." 2 - Jacques Derrida wird später gerade im Blick auf die universale „Grundlagenkrise" abendländischer Metaphysik überhaupt erst zu seinem eigenen Ausgangspunkt finden und wird versuchen in dieser Krise (nicht gegen sie) philosophisch und politisch relevante Gesten und Konsequenzen ins Werk zu setzen. Alain Badiou schließlich scheint gar nicht mehr eigens von einer „Krise" sprechen zu müssen: sein philosophisches Denken und politisches Handeln ist bereits direkt dem Ereignis geschuldet (-ohne das Ereignis deshalb als solches einfachhin zu identifizieren). Selbstverständlich dürfen auch die Unterschiede dieser Diskurse nicht übersehen werden. Damit komme ich zu einem kurzen Durchgang und Überblick über die genannten Entwürfe im Blick auf das Ereignis. Insbesondere Heideggers Denken fällt hier nochmals heraus - deshalb zunächst einige kurze Anmerkungen zu seiner Rede vom Ereignis.
Heidegger konzipiert die Beiträge als Denken in der Kehre. Diese „Kehre" ist allerdings nichts Abschließbares. Sie ereignet sich vielmehr im Wagnis des Sprungs3 und als entwerfende Gründung im Offenen der Wesung des Seyns. 4 Entscheidend für den Entwurf der Beiträge ist dabei, dass dieses notgedrungen fragmentarisch bleibende Werk, sich lediglich als Weg, als vorbereitendes, „anfängliches Denken" versteht, das (-wie Heidegger es nennt -) die „Zu-künftigen" und die „künftige Philosophie"5 vorbereitet. 6 In dieser „Vorbereitung" liegt dann auch wohl der größte Unterschied zwischen Heidegger und den nachfolgenden Denkern. - Wenn ich mir hier eine vielleicht etwas gewagte Charakterisierung erlauben darf, so erscheinen die Beiträge vom Ganzen ihres Entwurfs her dadurch als ein melancholisches Werk (-wenn man hier „Melancholie" in einem streng psychoanalytischen Sinn und auch diesen nicht pejorativ, sondern eben analytisch versteht). Was ist gemeint? Die Beiträge nehmen ihren Ausgang von der „Seinsverlassenheit des Seienden "7, sowie von der „Not der Notlosigkeit" im Blick auf diese Seinsverlassenheit. Vor diesem Hintergrund identifiziert sich Heideggers Denken mit diesem Verlust - ja, es ist das Denken der Entzogenheit des Entzogenen (-das damit natürlich nicht einfach einen plötzlich hereingebrochenen Verlust meint und auch auf kein einmal anwesend gewesenes, nun aber verlorenes Objekt zielt, sondern gewissermaßen einen ursprünglichen Entzug, d.h. das Seyn als „Ent-eignis" zur Sprache zu bringen sucht). Insofern die Beiträge allerdings selbst der Diskurs des Entzugs sind, insofern sie jenes anfängliche Denken sind, in dem das Entzogensein zur Sprache kommt - was ja nicht nichts ist -, und dennoch zugleich auch auf die Zu-künftigen verweist (auf eine Philosophie, die noch im Kommen ist, der die Beiträge also selbst noch nicht angehören), insofern vermögen sie sich vom Verlust als Verlust selbst noch nicht zu lösen. Die Trauerarbeit ist noch nicht geleistet. Der Melancholiker hat sich noch nicht auf die neue Gemeinschaft hin geöffnet. Insofern (denke ich) kann man hier durchaus von einer melancholischen Struktur der „Beiträge" sprechen. Die Beiträge sind gewissermaßen (-es sei mir das bischöfliche Zitat verziehen-) „im Sprung gehemmt". - Zugleich macht es aber auch die 3 4 5 6 7
2 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), S. 170.
Ebd„ S. 228. Ebd„ S. 327 ff. Ebd„ S. 99. Ebd„ S. 409. F.-W. von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, S. 33. '
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Größe dieses Werkes aus, um diesen eschatologischen Vorbehalt zu wissen und dies in den beiden Fügungen oder Abschnitten „Die Zukünftigen" und „Der letzte Gott" auch als Vor-blick zu thematisieren. Damit klingt die zu-künftige Philosophie eben auch in den Beiträgen schon an und ich würde mich jenen anschließen, die meinen, hier bereits einen Ansatz für ein von Heidegger selbst aber nicht schon entfaltetes ethisches und politisch-relevantes Denken auf dem abgründigen Boden der Beiträge zu sehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun vielleicht auch der spezifische Unterschied zwischen Heideggers Ereignis-Denken und den nun vorzustellenden Entwürfen von Badiou, Levinas und Derrida beschreiben.
auch die Eigenart ihres jeweiligen Denkens. - Auffallend ist aber der unterschiedliche Zeitmodus, in dem das Ereignis in den drei Diskursen angesprochen wird. Bei Alain Badiou scheint das Ereignis stets in der Vergangenheit zu liegen. Er gibt auch mehr oder minder nachvollziehbare Beispiele - wie etwa die Französische Revolution oder auch das Unentscheidbarkeitstheorern von Kurt Gödel, das das Projekt der Selbstgrundlegung der Mathematik nachhaltig erschüttert hat; oder das Werk von Paul Celan, manchmal auch von Stephane Mallarrne oder Samuel Beckett, die Rede von der Auferstehung bei Paulus und einige mehr. Sie alle wären Beispiele eines vergangenen und noch heute nachwirkenden Ereignisses, das in ihrem Bereich die gewohnte Ordnung in ihren-Grundfesten nachhaltig erschüttert und revolutioniert hat. Das spezifische Interesse Badious liegt dabei in der Frage, inwiefern hier jeweils überhaupt von einem Ereignis gesprochen werden kann. Bei Ernrnanuel Levinas hingegen scheint das Ereignis in einer gewissen Gegenwart zu liegen. Sein Begriff der „Spur", den ich hier als „seinen" Begriff des Ereignisses verstehe, bezieht sich auf eine Gegenwart, in der ein Anderer, eine Alterität jenseits der Ordnung des Seins, als ein „Vorübergegangener" erfahrbar wird. Die Spur also als nachträgliche Gegenwart eines ereignishaften Vorübergangs. Bei Jacques Derrida schließlich findet sich zwar ebenfalls eine Rede vorn Ereignis im Blick auf eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war - dies wäre seine Rede von der di.fforance - und sein Begriff der Spur wäre dem von Levinas durchaus vergleichbar und würde die gegenwärtige Markierung eines Abwesenden zur Sprache bringen; und doch scheint die ausdrückliche Rede vorn „Ereignis", evenement, bei ihm für ein noch im Kommen befindliches Ereignis, ein Ereignis a-venir reserviert zu sein. Zumindest in Derridas späteren Schriften ist dies ausdrücklich so. Das Ereignis ist bei ihm ein ausständiges, aber dennoch bereits hier und jetzt ins-Werk-zu-setzendes Ereignis: eine Gabe etwa, oder das Ereignis der Vergebung, die Gastfreundschaft, die Demokratie, die Gerechtigkeit u.v.rn. Bei Derrida besitzt die Rede vorn Ereignis also eine evident ethische und politische Dimension. Ich möchte nach diesem ersten Überblick nun die einzelnen EreignisDiskurse bei Badiou, Levinas und Derrida kurz umreißen, um auf diese Weise erste Hinweise zu erhalten für die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit, vorn Ereignis zu sprechen.
4. Martin Heidegger scheint vor allem dem Dass des Ereignisses, dem „Es gibt", wie es später heißen wird, nach-zu-denken. Doch damit erschöpft sich sein nachträglicher Diskurs nicht: Das Denken des Ereignisses, die Kehre, in der Heidegger denkt - in ihr lässt das Denken sich „in den Zuruf stellen". 8 Das Denken des Ereignisses wird zur Antwort auf den Zuruf (die Zusage). Es wird zu einem nachträglichen Denken des eigenen Gelassen-seins, ·der Gelassenheit. Aus diesem Grund formuliert Heidegger auch in einer Sprache bzw. in einem Schreiben, das sich nicht mehr als apophantisches, nicht mehr als aus-sagendes Sprechen versteht. Dieses Denken „beherrscht" seinen Gegenstand nicht mehr. Das wesentliche Wissen, so formuliert Heidegger, „ist kein ,Wissen' [im traditionellen Sinne mehr; P.Z.], sondern ein ,Glaube"' 9 - selbstverständlich kein Glaube im üblichen religiösen Verständnis, sondern eine entwurfhafte Entscheidung, die sich „in der Wahrheit zu halten sucht". 10 - Was sich jedoch bei Heidegger nicht findet, ist eine Konkretisierung des Ereignisses in der jeweiligen Umwelt. Es bleibt (mit wenigen Ausnahmen) beim Dass des Ereignisses, bei der Not-wendigkeit in der Not-losigkeit der Wesung des Seyns, dem Ereignis nach-zu-denken. Dies ist bei Badiou, Levinas und Derrida anders. Bei ihnen wird das Ereignis in (oder besser: an) der Welt selbst zur Sprache gebracht. Dass das Ereignis auch in ihren Entwürfen keinesfalls als Seiendes erscheinen kann - ja, letztlich überhaupt nicht „erscheint", bestimmt dann aber 8 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), S. 407. 9 Ebd„ S. 369. 10 Ebd.
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Rede vom Ereignis bei Badiou ermöglichen, in vier Punkten kurz zusammenfassen:
Zunächst zu Alain Badiou: Das „Ereignis" ist der Schlüsselbegriff für Badious Werk- und doch nichts „Benennbares". 11 Es ist vielmehr eine absolute Singularität, das Nicht-Zählbare, Nicht-Berechenbare, das Unvorhersehbare, dasjenige, was sich in keiner Weise einer bereits bestehenden Ordnung oder Situation einfügen oder aus ihr ableiten lässt - auch nachträglich nicht. Das Ereignis ist also nicht einfach das Plötzliche, das unerwartet eintritt, aber mit dessen Möglichkeit man hätte rechnen können. Es ist auch nicht das Zufällige, das zumindest statistisch oder chaostheoretisch „beherrschbar", d.h. berechenbar wäre. Der herkömmliche Würfelwurf wäre demnach kein Ereignis im Badiou' sehen Sinn, selbst dann nicht, wenn der Würfel plötzlich einmal auf der Kante oder auf einer Ecke zu stehen käme. Das Ereignis ist vielmehr das im wörtlichen Sinne unter keine wie auch immer geartete Ordnung Subsumierbare. Es ist kein Element der Menge jener Elemente, die im Sinne der Mengenlehre bzw. der Badiou' sehen Ontologie eine gegebene Situation ausmachen. Dennoch ist das Ereignis stets auf eine konkrete „Situation" bezogen. Es ist dasjenige, was eine Situation und alle daran anschließenden Situationen in ihrer Bedeutung von Grund auf ändert. - Was aber lässt dann überhaupt die positive Rede vom Ereignis zu? So paradox dies klingen mag: Nach Badiou kann man von einem Ereignis nur sprechen, nachdem und insofern es stattgefunden hat - und ein Ereignis hat nur stattgefunden, insofern es im Nachhinein als ein solches bezeugt wird. 12 Peter Hallward wählt in seiner Einführung zu Badiou in diesem Zusammenhang eine etwas weniger paradox klingende, im letzten jedoch identische Formulierung:,,An event is something that can be said to exist (or rather, to have existed) only insofar as it somehow inspires subjects to wager on its existence. " 13 Nur dort, wo ein Subjekt es wagt, sich zu einem Ereignis zu bekennen, auf es „zu wetten", nur dort wird das Ereignis als ein solches sichtbar. Ohne hier ins Detail gehen zu können, möchte ich die Schritte, die die 11 Eine detaillierte Nachzeichnung des Badiou'schen Ereignisdenkens findet sich nun in: P. Zeillinger, „Dem Ereignis nach-denken. Hat Badious Philosophie eine Zukunft?", in: J. Knipp und F. Meier (Hg.), Treue zur Wahrheit. Die Begründung der Philosophie Alain Badious, Münster: Unrast 2010, S. 221-238. 12 A. Badiou, L 'etre et l'evenement, Paris: Seuil 1988; dt. Das Sein und das Ereignis, übers. von G. Kamecke, Zürich: diaphanes 2005, S. 214. 13 P. Hallward, Badiou. A Subject to Truth, Minneapolis und London: University of Minnesota Press 2003, S. 115.
1. Ein Ereignis kann niemals als solches ausgewiesen, sondern nur behauptet und bezeugt werden. Dabei gilt es zu beachten, dass ein solches Zeugnis, insofern es nicht entlarvt werden kann, d.h. nicht auf ein bestimmtes Interesse in Bezug auf eine bereits bestehende Situation bzw. Ordnung zurückgeführt wird, selbst schon ereignishaft ist. Das Ereignis spiegelt sich gewissermaßen in dem von ihm begründeten Diskurs. 2. Das Ereignis bringt dort, wo es als solches bezeugt wird, eine. ganz spezifische Instanz hervor: nämlich das Subjekt im Sinne eines „ErdgnisZeugen". Badious Philosophie des Ereignisses ist also zugleich eine Theorie des Subjekts, in der dieses dem Ereignis nicht vorausgeht, sondern sich erst im Akt der notwendig gewordenen Benennung, also in der Antwort auf den Anruf des Ereignisses als Subjekt konstituiert. 3. Den Akt des Benennens eines Ereignisses durch ein Subjekt bezeichnet Badiou als Intervention. Denn das Subjekt, das sich erst von einem Ereignis her als ein solches versteht und von diesem Ereignis Zeugnis gibt, vermag selbstverständlich nicht, das Ereignis als solches „unmittelbar" zum Ausdruck zu bringen. Das Ereignis ist und bleibt als Ereignis das Unnennbare. Vielmehr muss das Subjekt innerhalb der gegebenen Ordnung „intervenieren", d.h. diese Ordnung „um-schreiben" und in ihr, in einer die gegebene Situation verändernden Sprache, das Ereignis zum Ausdruck zu bringen zu versuchen. - Dieser „Versuch" bleibt dabei ein gewagter Entwurf, insofern es auch für das Zeugnis des Ereignisses (gemäß Punkt 1) keinen „Beweis" geben kann. Erst im Sinne dieses Wagnisses ereignet sich das Subjekt. 4. Das zunächst unnennbare Ereignis wird durch den benennenden Akt des Ereignis-Zeugen in eine positive, folgenreiche, und damit in einer gegebenen Situation immer auch politisch wirksame Wahrheit transformiert. Einer Wahrheit allerdings, die ohne letzte Sicherheit, ohne Wissen, ohne objektive Legitimation auskommen muss und doch in dem Zeugnis des in seiner Treue zum Ereignis engagierten Subjekts affirmativ zum Ausdruck gebracht ist. „Im Grunde ist eine Wahrheit die materielle Spur des ereignishaften Zusatzes in der Situation." 14
14 A. Badiou, Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, übers. von J. Brankel, Wien: Turia & Kant 2003, S. 63.
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nmon von enigma als Fähigkeit, „unvereinbare Wörter miteinander zu verknüpfen und hiermit gleichwohl etwas wirklich Vorhandenes zu bezeichnen" (Poetik 1458a). 18 Die Störung, die die Spur vermittelt, stellt nach Levinas also eine in die gewohnte Ordnung der Welt nicht-integrierbare Schwelle zu einer unvordenklichen Vergangenheit dar, die konsequenterweise auch eine neue Modalität des sprachlichen Ausdrucks verlangt. Die der Spur angemessene Rede, die Wahrheit der Spur „misst sich [nämlich - P.Z.] nicht an der Gewissheit" 19 • Die notwendig gewordene neue Modalität für das Sprechen von der Spur ist daher die des „Vielleicht" ,20 d.h. eine geforderte Unsicherheit und Ungewissheit des sprachlichen Ausdrucks (nicht zu verwechseln mit einer Unsicherheit gegenüber dem, was zum _Ausdruck gebracht wird). Der Diskurs, der die Spur und an ihr das Rätselhafte, Heterogene und nicht phänomenal Fassbare als Störung thematisiert, muss in diesem Modus des Vielleicht geführt werden, um das Mehr an Bedeutung - also das Ereignis der Alterität - nicht von vornherein an die Ordnung des Seins zu fesseln und damit zu verfehlen. An den französischen Originaltexten lässt sich zudem beobachten, dass überall dort, wo das jenseits des Seins anzusprechen versucht wird, wo also das NichtPhänomenale der Spur auftaucht, die entsprechenden Formulierungen von Levinas im Konjunktiv gehalten wurden - als ob jeder vernünftige Diskurs von nun an daran gemessen werden müsste, inwiefern er sich selbst - und zwar bereits in seinem eigenen Sprechen - in Frage stellt, als ob im Bereich der Spur nur noch performativ zu lesende Zeugnisse und Bekenntnisse aussagekräftig und aussagefähig wären.
Damit komme ich zum Begriff der Spur bei Emmanuel Levinas. Bekanntlich ist die Spur jene Art und Weise, in der der Andere als ,,Antlitz (visage)" erscheint. 15 Levinas unterscheidet dabei nicht immer eindeutig zwischen dem mitmenschlichen Anderen - Autrui - und dem Anderen überhaupt - l'Autre -, mit dem letztlich auch ein Gott gemeint sein könnte. Jedenfalls aber ist das Antlitz nicht einfach identisch mit der Phänomenalität eines Gesichts. Vielmehr „bedeutet" das Antlitz nichtphänomenal; - und zwar eben als Spur. Doch was ist darunter genauerhin zu verstehen? Die Texte vor 1965 geben dazu keine klare Antwort. Sie sprechen zwar von einer „Epiphanie" des Antlitzes als „Heimsuchung" (visitation) des Phänomenalen durch das Nicht-Phänomenale16 , doch wie die Wahrnehmung dieser ereignishaften Epiphanie letztlich zu denken wäre bleibt zunächst unbestimmt. Die Rede von einem jenseits der Ordnung des Seins ist daher eher als „Versuch" des Entwurfs eines konsistenten Denkmodells für Alterität bzw. für das Ereignis zu verstehen. Eine konkretere Gestalt erhält die Rede von der Spur erst in dem 1965 publizierten Artikel „Rätsel und Phänomen", in dem das Bedeuten der Spur (im Sinne einer Phänomenalität des Nicht-Phänomenalen) als derangement, also als „Verwirrung" oder „Störung" gefasst wird. Zwar war auch in den früheren Texten von einer „Störung" die Rede - „Die authentische Spur [dagegen] stört (derange) die Ordnung der Welt." 17 Doch blieb deren Eigenart dort noch unerörtert. - In „Rätsel und Phänomen" aber ist die Verwirrung als Spur das zentrale Thema. Dabei fällt auf, dass nun die Sprache selbst den eigentlichen Ausgangspunkt der Überlegung bildet (worin man vielleicht den Ausgangspunkt des späteren Werkes jenseits des Seins erkennen könnte). Die Sprache ist nun sowohl jener Ort, an dem die als vorgängig erfahrbare Störung zum Ausdruck gebracht wird, wie auch der Ort, der diese Störung bewahrt und bezeugt. Leitbegriff dafür ist das „Rätsel", das Enigma - und zwar gemäß der aristotelischen Defi15 E. Levinas, „La trace de !' autre", in: En decouvrant l'existence avec Husserl et Heidegger, S. 194; dt. „Die Spur des Anderen", in: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers., hg. und eingel. von W. N. Krewani, Freiburg und München: K. Alber 4 1999, S. 220. 16 Levinas, „La trace de l'autre", S. 194; dt. S. 221. Vgl. Emmanuel Levinas, „La Signification etle Sens", in: Revue de Metaphysique et de Morale H.2 (1964), S. 125-156, enthalten in: Humanisme de l'autre homme, Montpellier: Fata Morgana 1972, hier: S. 47; dt. „Die Bedeutung und der Sinn", in: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg: Meiner 1989, S. 40. 17 Levinas, „La trace de !'autre", S. 200; dt. S. 231; vgl. Levinas, „La Signification et le Sens", S. 60; dt. S. 55.
7. Jacques Derrida, dem ich mich nun abschließend zuwende, hat nicht nur das Motiv der Spur von Levinas übernommen und zwischen 1965-68 zu einem der Ausgangspunkte seines Denkens gemacht, sondern auch die Wahrnehmung der Notwendigkeit einer neuen Modalität des Sprechens. 18 Eine ausführliche Nachzeichnung der Genese und zentralen Bedeutung des SpurBegriffs im Übergang zum Spätwerk von Levinas habe ich versucht in: P. Zeillinger, „Phänomenologie des Nicht-Phänomenalen. Spur und Inversion des Seins bei Emmanuel Levinas", in: M. Blam~uer, W. Fasching und M. Flatscher (Hg.), Phänomenologische Aufbrüche (Reihe der Osterreichischen Gesellschaft für Phänomenologie Bd. 11), Frankfurt a. M. u.a.: Lang, 2005, 161-179. 19 Levinas, „La trace de l'autre", S. 209; dt. S. 247. 20 Ebd.
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Die meisten der bekannten, aber oft auch unverstandenen Gesten und Themen Derridas, sind direkte Konsequenzen aus dem Zusammentreffen von Derridas frühen Lektüren und Levinas' Ringen um ein angemessenes Verständnis des Ereignisses der Alterität im Begriff der Spur. Ein Beispiel dafür wäre etwa Derridas Prägung des Neologismus differance (mit a), der durchaus eine Intervention im Badiou' sehen Sinne darstellte, insofern er von Derrida erst nachträglich, nämlich ab 1966 in seine bis dahin geschriebenen Publikationen eingefügt und erst im Anschluss daran, im Januar 1968, in dem berühmten Vortrag La differance erläutert wird. Die unhörbare differance fungiert nun in den Texten des Bandes Die Schrift und die Differenz (1967) als verwirrende Spur im Sinne von Levinas, als sprachliche Störung, die im Text gerade jene Stellen markiert, an denen das Ereignis einer Vorgängigkeit, die niemals Gegenwart war, statthat ohne als solches zu erscheinen. Wir haben es hier also mit einer performativen Geste zu tun, vergleichbar durchaus mit Heideggers Durchkreuzung des Sein in Zur Seinsfrage oder dem biblischen JHWH-Namen zwischen dessen Konsonanten die Vokale eines anderen Wortes, nämlich adonaj, geschrieben werden, wodurch das entstandene Wort den Regeln der hebräischen Sprache nicht mehr entspricht und faktisch unlesbar wird. Doch gerade diese U nlesbarkeit ist es, die lesbar bleibt, und der Gottesname wird nicht mehr verwechselbar mit einer herkömmlichen Benennung. Auch der Begriff der Spur selbst wird in Derridas Werk nach einer längeren Inkubationszeit nochmals eine spezifische Bedeutung erlangen. In dem 1982 erstmals publizierten und 1987 in Buchform erschienenen Artikel Jeu la cendre / dt. Feuer und Asche wird die Asche zum Inbegriff der Spur und Derrida distanziert sich damit von allen Vorstellungen von Spur als Fährte im Schnee oder ähnlichen Bildern vor allem bei Heidegger und Levinas. In der Asche ist das Vergangene vollständig und unwiederbringlich verschwunden. Andererseits ist die Asche aber nur Asche insofern sie die Erinnerung eines Vergangenen darstellt. Es gibt keine Asche ohne diese Erinnerung. Und doch handelt es sich um eine Erinnerung ohne substanziellen Gehalt. Es bedarf also der Erfindung (- und „Erfindung" ist hier erneut nicht pejorativ zu verstehen-) eines Diskurses dessen Ziel nicht die Wieder-Holung des uneinholbar Vergangenen ist, sondern dessen Ver-Gegenwärti-gung. Mit diesem Text, zu dem hier noch weit mehr zu sagen wäre, wird aus dem Philosophen der Schrift, auf den Derrida auch heute noch von vielen reduziert wird, ein Philosoph der Stimme - allerdings nicht derjenigen Stimme, die der Schrift vorausgeht, sondern derjenigen, die der Schrift, der Schriftspur nachfolgt und von dieser zeugt. Dies ist der Ort, an dem einige Interpreten - insbeson-
dere Bernhard Waldenfels und Hans-Dieter Gondek zu Beginn der deutschsprachigen Derrida-Rezeption - meinten, so etwas wie eine „ethische Wende" bei Derrida auszumachen. Doch handelt es sich hier nicht um eine Wende, sondern um eine bereits in den Ausgangspunkten angelegte Konsequenz. - Dies wird auch nochmals am Sprechen im Modus des Vielleicht deutlich, das von 1966 an über Jahrzehnte hinweg in Derridas Texten auftaucht, sie sogar in ihren zentralen Aussagen bestimmt, aber erst sehr spät, Mitte der 90er Jahre als solcher ausdrücklich entfaltet wird. Das Vielleicht wird dabei von Derrida in seinem deutschen Wortsinn verstanden: viel-leicht (mhd. vif lihte), „es kann sehr leicht sein, dass ... " - oder wie es das Grimm' sehe Wörterbuch formuliert: .„die ange-
nommene möglichkeit, dasz eine aussage der wirklichkeit entspricht, oder dasz etwas eintritt oder sich ereignet. "11 Der Modus des Vielleicht benennt also nicht die 50:50-Chance, sondern das bekenntnishafte Engagement für die „angenommene Möglichkeit". Auch hier wäre noch viel zu ergänzen und ich habe dies an zahlreichen anderen Stellen auch bereits getan22 - aber ich möchte nun, tatsächlich zum Schluss kommend, das bisher Gesagte im Blick auf die Frage „Ist es möglich, vom Ereignis zu sprechen?" zusammenfassen und meine Antwort zugleich mit dem Derrida' sehen Werk verweben.
8. Das Ereignis - wenn es das gibt - liegt bei allen genannten Autoren „jenseits des Seins", ohne dass damit eine transzendente oder transzendentale Bestimmung gemeint wäre, die doch nur in eine Onto-Theologie münden würde. Vielleicht ist die Formel „jenseits des Seins" auch zu missverständlich und nicht kompromissfähig, aber ich hoffe doch, dass die einzelnen Weisen von einem Ereignis zu sprechen, eine gewisse Nähe zueinander haben erkennen lassen. - Aber wie ist denn nun vom Ereignis ge-
21 J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 26, München: DTV 1984, S. 238. 22 Vgl. zum Ereignis-Begriff bei Derrida: P. Zeillinger, „Das Ereignis als Symptom. Annäherung an einen entscheidenden Horiwnt des Denkens", in: P. Zeillinger und D. Portune (Hg.), nach Derrida. Dekonstruktion in zeitgenössischen Diskursen, Wien: Turia & Kant 2006, S. 173-199; sowie zur zentralen Bedeutung des „Vielleicht" in Derridas Werk: P. Zeillinger, „Vielleicht wird das Unmögliche daher notwendig gewesen sein. Überlegungen ,vor' der Freundschaft", in: E. M. Vogt, H. ]. Silverman und S. Trottein (Hg.), Derrida und die Politiken der Freundschaft, Wien: Turia & Kant 2003, s. 59-79.
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PETER ZEILLINGER
IST ES MÖGLICH, VOM EREIGNIS ZU SPRECHEN?
sprachen worden? Und wie wäre das dem Ereignis gemäße Sprechengenauerhin zu fassen? Heidegger, Levinas und Derrida schreiben Texte, die an sich brüchig sind. Heideggers Beiträge etwa sind Fragmente, die Feldweg-Gespräche ein mehrstimmiger Text, sein Vortrag Zeit und Sein will nicht als Folge von Aussagesätzen gehört werden und wird am Ende feststellen, doch nur in Aussagesätzen gesprochen zu haben. Levinas' Hauptwerk jenseits des Seins ist vielfach in Nominalsätzen, also ohne Verb, verfasst; wichtige Formulierungen, vor allem jene, die die Position von Levinas umschreiben, sind im Konjunktiv gehalten. Derrida schreibt Polyloge, in denen sich nicht einmal die Anzahl oder das Geschlecht der beteiligten Stimmen feststellen lassen; seine Texte sind durch eine Vielzahl performativer Gesten auf syntaktischer, grammatischer, semantischer, aber auch stilistischer Ebene durchzogen, deren Dekonstruktion - wie in einem Gedicht Paul Celans, den Derrida sehr schätzte - dem Leser überhaupt erst die Kraft des Textes und seines Gehalts eröffnet, und ihn zum Zeugen für das stattfindende Ereignis macht. Kurz: Wir haben es hier mit einer Rede vom Ereignis zu tun, die gar nicht außerhalb ihrer performativen Sprachgestalt existiert. - Wird der Ereignis-Diskurs, wenn es ihn gibt, dann aber nicht beliebig? - Hier fällt auf, dass sowohl Levinas und Derrida als auch Badiou (dessen philosophische Texte zunächst keine ausgeprägte performative Sprachgestalt aufweisen - aber auch da bin ich mir nicht ganz sicher) -, dass also diese drei Diskurse ausdrücklich vom „Zeugnis" sprechen, wenn es um die Rede vom Ereignis geht. Allein im engagierten Zeugnis-geben, also in einem nicht im eigenen Namen formulierten Sprechen, sondern im Namen dessen, was in seiner Vorgängigkeit als Zuruf oder Anruf, das Sprechen überhaupt erst motiviert, - allein in einem solchen engagierten Zeugnis, das sein Nicht-im-eigenen-Namen-Sprechen performativ zum Ausdruck zu bringen vermag, wäre es möglich, vom Ereignis zu sprechen. Doch auch das bliebe Poesie, wenn sich nicht im Denken des Ereignisses das Verständnis von Sprache bzw. Sprechen überhaupt gewandelt hätte. Der Modus des Vielleicht, der bei Levinas und Derrida explizit angesprochen wird, sich aber auch bei Heidegger - etwa in den FeldwegGesprächen - oder auch in Paul Celans Meridian- Rede findet, und zwar jeweils als Ausdruck einer Erwartung ohne Sicherheit, ohne Wissen, dieser Modus des Vielleicht ist jener Modus in dem alles Sprechen gehört werden muss (und nicht nur jene Sätze, die diese Partikel enthalten). Die indogermanischen Sprachen kennen eine Zeitform, die diesen Modus angemessen zum Ausdruck bringt: das Futur antirieur, die Vorzukunft. Sie spricht jetzt von dem, was noch nicht präsent ist oder nie präsent sein wird; und sie zieht den Sprecher in die Verantwortung für das Gesagte:
„Dies wird ein Ereignis gewesen sein" - ohne Sicherheit und doch bestimmt und affirmativ; oder im Fall des Urteils eines Richters: „Dieses Urteil wird gerecht gewesen sein" - erst die immer mögliche Berufung kann diese performative Aussage bezeugen und auch dies immer nur im Futur antirieur. Und doch findet das Urteil statt, als Ort des Zeugnisses für die uneinholbare Gerechtigkeit. In diesem Sinne versteht Derrida das Ereignis auch als eines, das „erst im Kommen liegend" (a-venir) doch bereits jetzt ins Werk gesetzt werden muss. Und er kann seine politische Philosophie darauf aufbauen. Bei allen genannten Autoren finden sich die Züge des Futur antirieur, eine angemessene Ausarbeitung dieses Modus philosophischen Sprechens im Kontext des Ereignisses steht jedoch noch aus.
ERSTER TEIL: RADIKALISIERUNG DER PHÄNOMENOLOGIE BERNHARD WALDENFELS Radikalisierte Erfahrung.................................................................... 19
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EDWARD S. CASEY An den Rand des Ereignisses kommen.............................................. 37
MARCRICHIR
Über die phänomenologische Revolution: einige Skizzen ... ............... 62 JEAN-LUC MARION
Die Banalität der Sättigung............................................................... 78
ZWEITER TEIL: ARBEIT AN DER TRADITION: HUSSERL, HEIDEGGER, MERLEAU-PONTY DANZAHAVI
Der Sinn der Phänomenologie: Eine methodologische Reflexion ....... 101 DIETER LOHMAR
Husserl und das unerhört Neue - Funktion, Modifikation und Wandel des Typus in der Apperzeption ............................................. 120
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INHALTSVERZEICHNIS
INHALTSVERZEICHNIS
JOCELYN BENOIST Intentionalität und Erfüllung: Husserlianische Meditationen über die vorgreifende Struktur der Intentionalität„ ........................... 135
ROLF KÜHN Trauma und Tod als Lebensbezug. Radikale Phänomenologie und Patho-genese .. .............................. ........................ ............................. 306
NIKOLA} PLOTNIKOV Das Ich-Bewusstsein als Ergebnis sozialer Sinnbildung. Zu Gustav Spets hermeneutischer Kritik an der transzendentalen Egologie Husserls „„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„. 151
VIERTER TEIL: SINNEREIGNISSE IN GESCHICHTE UND POLITIK
STEVEN CROWELL Maß-nehmen: Sinnbildung und Erfahrung bei Heidegger „„„„„„„„ 166 IRIS DÄRMANN Heideggers unaufgeführte Tragödie „„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„ 189 FRAN
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Report "Ist es möglich, vom Ereignis zu sprechen? Ereignis und Performativität bei Jacques Derrida, Emmanuel Levinas und Alain Badiou, in: Hans-Dieter Gondek / Tobias Nikolaus Klass / László Tengelyi (Hg.), Phänomenologie der Sinnereignisse (München: Fink, 2011), 391-405. "