Islamischer Neotraditionalismus und Homosexualität Yusuf Al-Qaradawi zwischen Tradition und Moderne

May 22, 2017 | Author: Sophia Stützel | Category: Islamic Law, Islamic Studies, Homosexuality and Literature, Homosexuality, Islam and Gender Identity, Yusuf Al-Qaradawi, Al Azhar
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Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Orientalisches Seminar Hauptseminar: Formen geschlechtsbasierter Gewalt in der MENA-Region SoSe 2016 Dozentin: Prof. Dr. Roswitha Badry

Islamischer Neotraditionalismus und Homosexualität Yusuf Al-Qaradawi zwischen Tradition und Moderne

Sophia Stützel HF: Islamwissenschaft NF: Europäische Ethnologie Matrikelnummer: 3739364 Email: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

1.

Einleitung ............................................................................................................................ 1

2.

Heteronormativität und Homosexualität ............................................................................. 3

3.

Die neotraditionalistische Strömung ................................................................................... 5 3.1 Entstehung und Ausbreitung ............................................................................................ 5 3.2 Sheikh Yusuf Al-Qaradawi .............................................................................................. 7 3.3 Geschlechterverständnis ................................................................................................... 8

4. Koran und Homosexualität................................................................................................... 11 4.1 Die Geschichte Lots ....................................................................................................... 11 5.

Kritik und Alternativen zu al-Qaradawis Ansatz .............................................................. 13

6. Fazit ...................................................................................................................................... 15 7. Literaturverzeichnis .............................................................................................................. 18

1. Einleitung Das Thema Homosexualität ist fester Bestandteil aktueller islamkritischer Debatten. Nicht nur regressive IslamkritikerInnen werfen "dem Islam" generell Homophobie vor. Tatsächlich ist jedoch der innerislamische Diskurs selbst stark von unterschiedlichen Meinungen geprägt. Auch war der Umgang mit Homosexualität in der Geschichte islamisch geprägter und vorislamischer Gesellschaften höchst unterschiedlich. Das Sprechen über "(Homo-)Sexualität im Islam" im Allgemeinen wird so zum Problem, da sich Menschen und Gesellschaften in einem ständigen Wandel befinden.1 Wie auch im Christentum scheint unter vielen religiösen Menschen die Meinung verbreitet zu sein, dass die Religion Homosexualität verbietet. Jedoch herrscht sowohl in der Wissenschaft als auch unter Rechtsgelehrten zum Teil Uneinigkeit über

den

Umgang

mit

gleichgeschlechtlichen

Beziehungen.

Koranische

Begriffe

unterscheiden sich in einigen Aspekten von dem viel jüngeren Begriff der Homosexualität, der heute verwendet wird. Die Frage, ob Homosexualität "im Islam" verboten oder erlaubt ist, kann deshalb so nicht beantwortet werden. Zielführender wäre zu fragen, warum in bestimmten Bewegungen Homosexualität als verboten angesehen wird und warum diese Meinung so weit verbreitet ist. Dieser Frage soll hier am Beispiel der neotraditionalistischen Bewegung nachgegangen werden, die seit einiger Zeit einen Aufschwung erlebt. Vertreter neotraditionalistischer Diskurse sind meist stark medienpräsent und können durch diese Art der Vermittlung ihren Wirkungskreis effektiv ausbauen. Obwohl sie ein sehr auf die islamische Frühzeit fokussiertes Weltbild vertreten und modernen Standpunkten skeptisch gegenüberstehen, nutzen sie das Internet zu ihrem Vorteil. Dort sind online fatawa und "Lehrvideos" sehr einfach über Google und Youtube aufrufbar. Die Verbreitung von Inhalten sowohl auf internationaler Ebene als auch in verschiedenen Altersgruppen, vermutlich aber überwiegend unter jüngeren MuslimInnen wird so möglich. Da sich soziale Bewegungen durch hohe Komplexität auszeichnen, ist es unmöglich, die neotraditionalistische Bewegung als Ganzes zu erfassen. Ziel der Arbeit soll deshalb sein, anhand eines speziellen Themas die charakteristische Denkart der Strömung aufzuzeigen. Beantwortet werden soll nicht nur die Frage, wie Homophobie und Gewalt gegen Homosexuelle Personen religiös gerechtfertigt werden. Auch mögliche Ursachen und Ursprünge für unterschiedliche Umgangsarten mit Homosexualität in einem islamischen Kontext sollen untersucht werden. Dabei spielen das Geschlechterverständnis und die Vorstellung und Konstruktion von Männlichkeit in patriarchalisch geprägten Gesellschaften eine Rolle. Das Patriarchat steht in engem 1

Abu Khalil, As'ad. A note on the study of homosexuality in the Arab/Islamic Civilization. The Arab Studies Journal, Vol. 1, No. 2 1993. Anm. (3) des Autors, Seite 34.

1

Zusammenhang mit Homophobie und Frauenfeindlichkeit, die ebenso miteinander verbunden sind. Die neotraditionalistische Argumentationsstruktur soll am Beispiel von Äußerungen Sheikh Yusuf Al-Qaradawis dargestellt werden. Al-Qaradawi ist ein wichtiger Vertreter der neotraditionalistischen Strömung im nahöstlichen Raum und durch online-Predigten und Interviews bekannt. Der Schwerpunkt liegt bei der Diskussion auf männlicher Homosexualität,

da

in

patriarchalischen

Gesellschaften

Homophobie

als

auch

Frauenfeindlichkeit unmittelbar aus gewissen Männlichkeitskonstruktionen resultieren. Der neotraditionalistischen Strömung stehen progressive und liberale Strömungen gegenüber, die darlegen, dass weder Geschlechterungleichheit noch Homophobie Wesenszüge des Islam sind. Diese Diskussion und Gegenüberstellung der Bewegungen soll aufzeigen, dass Themen wie Homosexualität innerhalb und außerhalb der islamischen und muslimischen Welt äußert kontrovers diskutiert werden und sehr komplex sind. Auch die Suche nach Lösungen für Ungleichheit und Diskriminierung gestaltet sich schwierig und setzt unterschiedliche Ansätze voraus, die miteinander verflochten sind.

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2. Heteronormativität und Homosexualität Homosexualität wird weitgehend als ein Phänomen der Abweichung wahrgenommen. Von manchen als eine Abnormität, der feindlich begegnet wird, von anderen als Andersheit, die toleriert und respektiert werden sollte. In beiden Fällen wird jedoch nicht hinterfragt, warum Homosexualität

bzw. alle anderen

Formen sexueller Abweichung überhaupt

als

Abweichungen erlebt werden. Die Antwort darauf liegt in der Frage: Warum gilt Heterosexualität als normal? Heteronormativität ist ein Ordnungs- und Normensystem, das nicht nur Heterosexualität als natürliche Grundform menschlicher Sexualität konstruiert, sondern auch andere Formen, die "ungleichheitsgenerierende" Herrschaftsverhältnisse entstehen lassen.2 Hierzu zählen beispielsweise Klassenunterschiede und Rassismus. Fundamental für das Konzept der Heteronormativität ist die Vorstellung zweier, natürlicher Geschlechter und die hierarchische Anordnung dieser.3 Heteronormativität konstruiert Weiblichkeit und Männlichkeit durch "gegengeschlechtliches Begehren"4 und bewirkt so eine essentielle

Verknüpfung

des

sozio-kulturellen

Geschlechts

beziehungsweise

der

Geschlechtsidentität (gender) mit dem Körpergeschlecht (sex) und dem Begehren (desire).5 Nur wenn sich sex, gender und desire voneinander ableiten lassen handelt es sich also um einen kulturellen Körper, der als Geschlecht "anerkannt" werden kann.6 Daraus entsteht der Zirkelschluss: "Du bist ein Mann, weil du Frauen begehrst und du begehrst Frauen, weil du ein Mann bist" und umgekehrt. So wie sich also die Heteronormativität im Inneren durch das passende Gegenüber konstituiert, grenzt sie sich nach außen von dem ab, was der Verknüpfung von sex, gender und desire widerspricht.7 Dieses System ist gesellschaftlich stark internalisiert und bleibt in vielen Fällen unhinterfragt. Da es sich um eine extrem stark verinnerlichte Norm handelt, wird sie ständig reproduziert, da in der Regel alle Mitglieder einer Gesellschaft nach Konformität mit der Norm streben.8 Mit diesen Erkenntnissen hat die Geschlechterforschung

gezeigt,

dass

Geschlecht

und

Geschlechterverhalten

soziale

Konstrukte und so in ihrer Natürlichkeit höchst zweifelhaft sind. Außerdem unterliegen sie

2

Klapeer, Christine M. Vielfalt ist nicht genug! Heteronormativität als herrschafts- und machtkritisches Konzept zur Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten. S. 32. In: Schmidt, F; Schondelmayer, A-C.; Schröder, U.B. (Hrsg.) Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse und Bildungsbausteine. Wiesbaden, 2015. 3 Klapeer. S. 32. 4 Ebd. S. 35. 5 Ebd. S. 35. 6 Ebd. S. 35. 7 Ebd. S. 35. 8 Ebd. S. 36.

3

historischen Prozessen und wurden und werden durch die Globalisierung transportiert und homogenisiert.9 In Westeuropa entstanden Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten Werke, die Homosexualität benannten und als Abweichung von der heterosexuellen Norm beschrieben. Die Dichotomie normal/unnormal wurde so durch die Dichotomien gesund/krank

und

natürlich/unnatürlich

erweitert.10

Da

die

Vorstellungen

von

Zweigeschlechtlichkeit und Homosexualität als Abweichung von Heterosexualität relativ neu sind, ist es problematisch, über Homosexualität in vormodernen Gesellschaften zu sprechen. Im Koran beispielsweise finden sich keinerlei Begriffe, die diesen abstrakten, modernen Termini entsprechen würden. Entgegen neotraditionalistischer Meinungen wie al-Qaradawis merken progressive Muslime wie Scott Siraj al-Kugle an, dass Wörter, die same-sex relations beschreiben, erst später gebräuchlich wurden und im Koran nicht zu finden sind.11 Auffällig sind hingegen Stellen die belegen, dass die Unterschiedlichkeit von Menschen und sexuelle Vielfalt wahrgenommen und anerkannt wurde und sogar als gottgegeben gepriesen wurde.12 Es ist bekannt, dass christliche Europäer des Mittelalters und der Moderne Muslime in Polemiken als sodomitisch herabwürdigten. Das Verständnis von Homosexualität als lediglich einem sexuellen Akt besteht auch heute noch sowohl innerhalb als auch außerhalb religiöser Quellen weltweit. Mit der Ära des Internets begann in den 90er und 2000er Jahren die mehr oder weniger öffentliche Diskussion von Sexualität im Mittleren Osten. Online-fatawa tauchten auf, sowie TV-Prediger wie Sheihk Yusuf Al-Qaradawi. Religiöse Autoritäten schufen und prägten einen populären Diskurs über Homosexualität, der durch die Medien einer breiten Bevölkerungsschicht zugänglich gemacht werden konnte. Gleichzeitig wurden im Zuge einer neuen Bewegung des sozialen Aktivismus Stimmen der LGBTQ-Initiativen laut. Sie plädierten für ein anderes Verständnis von Homosexualität im Zusammenhang mit dem

herrschaftskritischen

Begriff

der

Heteronormativität.

Sie

treten

für

einen

Homosexualitätsbegriff ein, der als sexuelle Orientierung verstanden werden soll und emotionale und identitäre Aspekte beinhalt.13 Im Mittleren Osten und darüber hinaus stehen sich so zwei Diskurse gegenüber, die miteinander konkurrieren: Der Diskurs, der für eine Anerkennung der (Homo-)Sexualität als natürlichen Teil der Identität plädiert und der 9

Tolina, Serena. Homosexuality in the Middle East: An analysis of dominant and competitive discourses. In Deportate, esuli, profughe (DEP). Rivista telematica di studi sulla memoria femminile. No. 25/ 2014. S. 72. 10 Tolino. S. 75. 11 Kugle, Scott Siraj al-Haqq. Sexuality, Diversity and Ethics in the agenda of progressive Muslims. In: Safi, Omid (Hrsg.): Progressive Muslims on Justice, Gender and Pluralism. Oxford 2003. S. 200. 12 Kugle, Scott Siraj al-Haqq. S. 196. 13 Tolino. S. 78.

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öffentlich vorherrschende Diskurs der Homosexualität als Akt betrachtet und tabuisiert. Dieser populäre Diskurs wird weitgehend von der neotraditionalistischen Strömung dominiert.14

3. Die neotraditionalistische Strömung 3.1 Entstehung und Ausbreitung Die neotraditionalistische Strömung, auch neosalafitische oder neoorthodoxe15 Strömung genannt, hat ihre Anfänge im frühen 19. Jahrhundert. Ihr Hauptanliegen war die Rückkehr zu Koran und Sunna als die wichtigsten Textquellen des Islam. Die Rückbesinnung auf traditionelle Quellen aus der Lebenszeit des Propheten und der ersten Kalifen sollte unter anderem als Instrument zur Befreiung kolonialer Unterjochung dienen. Explizit antiwestliches Gedankengut war kein Bestandteil der Bewegung sondern der Versuch, die islamische Tradition mit den Gegebenheiten der Moderne zu vereinbaren.16 Die neotraditionalistische Strömung, die heute existiert, ist stark durch den in Saudi Arabien entstandenen und verbreiteten wahabitischen Islam beeinflusst. So zeichnet sie sich heute vor allem durch strenge Koranauslegungen bzw. "Buchstabengläubigkeit" und Autoritarismus aus. Diese Autorität äußert sich zum einen in der Unzulässigkeit von Diskussion und Interpretation der Texte.17 Zum anderen kann leicht Autorität ausgeübt werden, indem betont wird, dass die einzige Aufgabe eines Textes die Übermittlung des Willens Gottes ist. Der Leser kann mit dem Argument, diesen Willen ausfüllen zu wollen, jedoch zu einfach Gott als Autor ersetzen. So entsteht ein willkürlicher Umgang mit Texten, der Einzelpersonen viel Macht geben kann.18 Der autoritäre Charakterzug der Strömung wird oft versteckt oder heruntergespielt, um auch säkulare Leserkreise anzusprechen und sich von tatsächlich militanten Bewegungen abzugrenzen. Hauptmerkmal neotraditionalistischer Strömungen sind demnach keine besonderen politischen, oppositionellen oder militanten Aspekte, sondern sie

14

Tolina, Serena. Homosexuality in the Middle East: An analysis of dominant and competitive discourses S. 87. Zum Beispiel Zollner, Barbara. Mithliyyun or Litiyyun? Neo-Orthodoxy and the Debate on the Unlawfulness of same-sex Relations in Islam. In: Habib, Samar. Islam and Homosexuality. Vol. I. Santa Barbara, 2011. S. 193. 16 Duderija, Adis. Islamic Groups and their Worldviews. Neo-Traditional Salafis and Progressive Muslims. In: Arab Law Quarterly 21. 2007. S. 348. 17 Zollner, Barbara. 18 El-Fadl, Khaled Abou. Speaking in God's Name. Islamic Law, Authority and Women. Oxford, 2003. S. 264265. 15

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zeichnen sich durch einen "diskursiven Stil" aus.19 Diese Diskursform zeichnet sich besonders in ihrer Umgangsweise mit Gegenwart und Vergangenheit aus. Denn der zentrale Gedanke ist, dass heutige Phänomene und Probleme nur im Hinblick und unter Verwendung der Tradition – der Vergangenheit behandelt und gelöst werden können. Die prophetische Zeit wird paradigmatisch über die Menschheitsgeschichte gestellt und soll als Orientierungspunkt der Verbindung zum "Ursprung"20 dienen. Die Stellung, die neotraditionalistisch geprägte Bewegungen und Personen gegenüber den Errungenschaften der Moderne stehen, ist dennoch ambivalent: Während intellektuelle Entwicklungen abgelehnt werden, werden zum Beispiel Entwicklungen in der Technologie angenommen und nicht als Produkt der Moderne hinterfragt.21 Dies erklärt, warum neue Formen und Möglichkeiten, mit Texten umzugehen zurückgewiesen werden. Dies würde ebenso den autoritären Charakter der Strömung untergraben, dem Mehrdeutigkeit und auf Interpretation beruhende Freiheit widersprechen würden. Ferner kann der Anspruch auf Universalität der Strömung besser gewährleistet werden, wenn es eindeutige, unmissverständliche Standpunkte und Aussagen gibt. Dies erweckt auch den Anschein einer Einheit, die Abgrenzungsprozesse einfach macht und keine Fragen aufwirft, sondern für alles eine Antwort bereithält.22 Abgrenzungsversuche der Bewegung sind stark binär geprägt, zum Beispiel die Gegenüberstellung "Islam – Westen/Moderne" und lehnen im Prinzip die Lehren ab, die sich in ihrem Ursprung nicht auf eine vormoderne islamische Tradition beziehen.23 Anhand des Umgangs mit Sexualität kann gut veranschaulicht werden, dass sich die neotraditionalistische Strömung eigentlich in einem Feld aus rigoroser Ablehnung und unhinterfragter Adaption hinsichtlich der Moderne bewegt: "In fact, what passes in present-day Saudi-Arabia, for example, as sexual conservatism is due to more Victorian puritanism than to Islamic mores."24

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Kugle, Scott, Hunt, Steven. Masculinity, Homosexuality and the Defense of Islam. A case Study of Yusuf alQaradwis Media-Fatwa. In: Religion and Gender. Vol II. 2012. S. 265. 20 Mansoor, Iskandar. The Unpredictability of the Past: Turath and Hermeneutics. University of California, 2000. S. 169. Zitiert in: Islamic Groups and their Worldviews. Duderija, A. S. 351-352. 21 Duderija, A. Islamic Groups and their Worldviews. S. 352. 22 Mansoor, Iskandar. The Unpredictability of the Past: Turath and Hermeneutics. S. 169. Zit. in: Duderija, A. 23 Mansoor, Iskandar. S. 175-178. 24 Abu-Khalil, As'ad. A note on homosexuality in the Arab world/Civilisation. The arab Studies Journal. Vol. I, Nr. 2. 1993. S. 32.

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3.2 Sheikh Yusuf Al-Qaradawi Anhand Yusuf Al-Qaradawi kann der neotraditionalistische Umgang mit Texten beispielhaft veranschaulicht werden. Al-Qaradawi ist einer der bekanntesten Gelehrten im sunnitischen Islam und war namhaftes Mitglied der Muslimbruderschaft. Geboren 1926 in Ägypten, erhielt er an der Al-Azhar Universität eine Ausbildung zum Theologen und Rechtsgelehrten. Heute lebt er in Qatar und ist vor allem für seine Fernsehpredigten und online-fatawa bekannt. Seinen medialen Durchbruch hatte er mit der von Al-Jazeera übertragenen Fernsehprogramm Al-shariʾa wa l-hayat.25 Außerdem hat er eine eigene Website26 und diverse Youtube-Videos, in denen er zu sehen und hören ist. Diese wiederum können auf verschiedenen anderen Websites aufgerufen werden, die sich mit religiösen Inhalten beschäftigen und als Diskussionsplattformen für MuslimInnen dienen. Zum Thema der Homosexualität bezieht alQaradawi eindeutig Stellung. Die neotraditionalistische Bewegung in ihrer heutigen Form, hat wie an Qaradawis Aussagen festgestellt werden kann, durchaus anti-westliche Tendenzen. In einem Interview bezeichnet er Homosexualität als westliches Importgut und als Zeichen des Verfalls westlicher Gesellschaften, die auch islamische Länder bedrohen.27 In seinem Hauptwerk Al-halal wa l-haram fi l-islam (The Lawful and the Prohibited in Islam) geht er auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche ein und spricht auch über Heirat, Scheidung und nicht erlaubte Arten des sexuellen Umgangs wie homosexuelle Akte. Verhaltensvorschriften für das öffentliche und private Leben zeigen schnell das Geschlechterverständnis alQaradawis und der neotraditionalistischen Strömung auf, welches in engem Zusammenhang mit der Beurteilung von Homosexualität steht. Islamische Gruppierungen und ihr Weltbild und ihre Identitätsbildung lassen sich auch beurteilen, indem die Funktion von Frauen genauer beleuchtet wird.

25

Kugle, Scott; Hunt, Stephen. Masculinity, Homosexuality and the Defense of Islam S. 259. www.qaradawi.net 27 Transkribiertes Interview im Internet MEMRI (Middle East Media Research http://www.memritv.org/clip_transcript/en/1170.htm (Clip No. 1170 posted on 5 June 2006). Aufgerufen am: 01. 09. 2016. 26

Institute):

7

3.3 Geschlechterverständnis Der neotraditionalistische Diskurs als autoritär geprägter Diskurs zeichnet sich durch patriarchalische Strukturen aus. "Men are the only ones permitted to be "owners" in this sense and [sexual] sense, and only women may be "owned."…The legal structure of Islamicate marriage is predicated upon a gender-differenciated allocation of interdependent claims, which would be thrown into chaos by same-sex union."28 Dass Frauen nur für Männer bestimmt sind und umgekehrt, lässt Homosexualität zum Tabu werden. Zu diesem binären, heteronormativen Geschlechtersystem kommt hinzu, dass Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe verboten ist und gleichgeschlechtliche Paare nicht heiraten dürfen. Da männliche und weibliche Eigenschaften als natürliche, biologische Gegebenheiten betrachtet werden, scheint eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft als undenkbar, denn eine der beiden Personen müsste ja dann theoretisch die Rolle des "anderen" Geschlechts übernehmen, so der Gedanke.29 Solange Geschlechterrollen also naturalisiert werden, wird ein gleichgeschlechtliches Verhältnis - abgesehen von der moralischen Abweichung - als etwas Unvollständiges und Widernatürliches gelten. Auch die bestehenden Unterschiede zwischen diesen binären Geschlechtern werden als natürlich angesehen. Wenn sie nicht fortbestehen, wird auch das Patriarchat in Frage gestellt. So wird auch argumentiert, dass das westliche Konzept von Emanzipation Homosexualität hervorgebracht hat.30 Denn der heterosexuelle Mann, das höchste Glied in einer patriarchalischen Gesellschaft, wird durch einen Mann, der diese Rolle freiwillig ablehnt, sich also "weiblich, effeminiert" verhält, in seiner Autorität untergraben. Diese Vorstellungen zusammen mit dem Vorwurf, Homosexualität sei ein westliches Importgut, kommt in folgender Äußerung zum Ausdruck: "The issue of gender issues - the claim that all people are of one sex, men are like women, and women are like men – legitimizes homosexuality."31 Dennoch existiert Homosexualität fraglos in arabischen Ländern genauso wie in asiatischen, amerikanischen oder europäischen Ländern. Doch wie Sexualität im Allgemeinen ist dies ein

28

Ali, Kecia. Sexual Ethics and Islam: Feminist Reflections on Quran, Hadith and Jurisprudence. Oxford, 2005. S. 94. 29 Kelly, Christopher Grant. Is there a "gay-friendly" Islam? Synthesizing Tradition and Modernity in the Question of Homosexuality in Islam. In. Habib, Samar. Islam and Homosexuality. Vol. II. Santa Barbara, (u.a.) 2010. S. 250. 30 Zollner, Barbara. Mithliyyun or Lutiyyun? Neo-Orthodoxy and the Debate on the Unlawfulness of same-sex Relations in Islam. In: Habib, Samar. Islam and Homosexuality. Vol. I. Santa Barbara, 2010. S. 203. 31 Ebd. S. 203.

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tabuisiertes und schambesetztes Thema, das in der Gesellschaft nicht offen diskutiert werden kann. Der Mann als oberstes Glied der Gesellschaft hat in erster Linie seine Familienrolle zu erfüllen. Was jenseits der Öffentlichkeit passiert, ist dann in gewisser Weise sekundär. Die vorherrschende Heteronormativität als einzig in Frage kommendes Lebens- und Beziehungskonzept trägt auch dazu bei, dass Homosexualität vor allem im Sinne von nicht emotionalen sexuellen Beziehungen gedacht wird:32 "Since nobody recognized homosexuality is even existing, they can get away with things we cannot get away with here. But if you start talking about homosexuality, they get very uncomfortable."33 Das wichtigste ist demnach, als Mann seiner Rolle gerecht zu werden. Solange dabei Homosexualität als Identität ausgeblendet oder verleugnet wird, besteht kein Problem. Sobald jedoch Dinge ausgesprochen werden oder Personen geoutet werden, vor allem wenn sie sich in der passiven Rolle im Geschlechtsakt befanden, droht ein Gesichtsverlust und das soziale Gefüge wird instabil. Hier zeigt sich erneut die patriarchalische Prägung von Sexualität, die den passiven Akt, den "normalerweise" die Frau darstellt, als den unterlegenen vorsieht und die größere Macht eindeutig bei dem aktiven, penetrierenden Part liegt: "There is a clear rule: You cannot be fucked. But what this really comes down to is: Saying of somebody that he has been fucked disturbs social relations."34 Wenn ein outing stattgefunden hat, befindet sich der Mann solange in dieser Position, bis er diese wechselt oder heiratet, was scheinbar selbstverständlich bedeutet, dass er sich wieder in der aktiven Rolle befindet.35 Beim gleichgeschlechtlichen Verkehr wird so also nur die Position einer Person geschwächt, während die der anderen Person im Gegenteil sogar noch verstärkt wird und nicht als Normabweichung betrachtet wird. Denn die Vorstellung von Hypermännlichkeit harmoniert einwandfrei mit dem patriarchalischen Ideal. Gegensätzlich sollte sich die Frau, auch was ihre Sexualität angeht, eher durch Zurückhaltung und Keuschheit36 auszeichnen. Das Primat der Ehe, die Jungfräulichkeit und die Ehre der Frau oder des Mädchens und der männlichen Mitglieder ihrer Familie sind eng miteinander 32

Wockner, Rex. Homosexuality in the Arab and Moslem world. In: Coming out. S. Likosky. S. 103-116. New York, 1992. S. 106 33 Ebd. S. 106. 34 Schmitt, Arno. Different approaches to male-male sexuality/ eroticism from Morocco to Uzbekistan. In: Schmitt, Arno; Sofer, Jehoeda. Sexuality and eroticism among males in Moslem societies. Binghamton 1992. S. 7. 35 De Martino, Gianni. An Italian in Morocco. In: Schmitt/ Jehoeda. Sexuality and eroticism among males in Moslem societies. S. 36. 36 Z.b. Al-Qaradawi, Yusuf. The lawful and the prohibited in Islam. 1960.

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verknüpft. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass weibliche Homosexualität offenbar als weniger "schlimm" betrachtet wird als die männliche. Die Erklärung hierfür könnte sein, dass zum einen keine Entjungferung in dem Sinne stattfinden kann. Die größere Rolle spielt jedoch vermutlich dass es sich um zwei Frauen handelt, die ja quasi ohnehin im Machtgefälle männlich/weiblich, die untergeordnete Rolle spielen und so auch kein Machtgefüge ins Ungleichgewicht bringen können. In einem Interview zum Thema Homosexualität gibt alQaradawi auf die Frage des Interviewführers, ob lesbische Frauen die gleiche Strafe erhalten sollten wie schwule Männer, folgende Antwort: "Lesbianism is not as bad as homosexuality, in practical terms." "In practical terms" kann demnach so verstanden werden, dass Geschlechtsverkehr zwischen Frauen, sprich ohne Penis, von ihm nicht als "richtiger" Geschlechtsverkehr betrachtet wird, weil er in dieser Form keine Bedrohung der patriarchalischen Ordnung darstellt. Deutlich wird an dieser Stelle auch, dass er Homosexualität besonders in Bezug auf Männer problematisch findet und weibliche Homosexualität weder als Homosexualität nach seinem Verständnis noch im Sinne einer sexuellen Orientierung ansieht.37 Beurteilung von Homosexualität erfolgt meist über die Geschichte von Lot, die er auch als Hauptargument in Al haram wa l-haram fi l-Islam sowie im Interview anführt. Sein Verständnis der koranischen Begriffe zu diesem Thema sollten daher genauer beleuchtet werden. Da es wie bereits festgestellt keinen koranischen Begriff für Homosexualität gibt, da dieser Begriff erst im 18./19. Jahrhundert geprägt wurde, wird nun die Beurteilung von Homosexualität als lediglich einem sexuellen Akt, also auch nach Yusuf al-Qaradawis Verständnis untersucht.

37

Kugle. Sexuality, Diversity and Ethics in the agenda of progressive Muslims. S. 274.

10

4. Koran und Homosexualität 4.1 Die Geschichte Lots Die Geschichte Lots und seiner Familie erscheint im Koran wie im Alten Testament. Sie ist die erste Bezugsquelle vieler Muslime zur Beurteilung von Homosexualität. Die Begriffe ahl al-lut oder luti, für homosexuelle Personen und liwat für Homosexualität entstanden später in Anlehnung an diese Geschichte, haben im Koran selbst aber keinen Ursprung.38 Die weibliche Entsprechung für liwat ist sihaq, die Tribadie. Die Städte Sodom und Gomorrha stehen oft symbolisch für den gesellschaftlichen Verfall und Dekadenz und werden auch im Christentum vor allem mit Homosexualität assoziiert. Lot und seine Familie werden von Engeln aufgesucht und vor der bevorstehenden Vernichtung der Stadt gewarnt, als zwei Männer aus Sodom in das Haus eintreten wollen und die Botschafter vergewaltigen wollen: Folgende Sure wird in der neotraditionalistischen Strömung so verstanden, dass sie sich explizit auf Analsex zwischen Männern bezieht und diesen als Grenzüberschreitung bezeichnet, der ein Verbot nach sich zieht. Das wichtigste Wort zum Verständnis dieser Stelle ist das Wort transgression, also eine Überschreitung, Verstoß, auch Sünde. Lot spricht in Surat al-Aʿraf 7:80-81 zu den Menschen: "What, do you come to male beings, leaving your wifes that your lord had created for? Nay, but you are a people of transgressors [mu'tadū n]!"39 Al-Qaradawi zieht den Schluss, dass sich das Wort transgression, im Koran fahisha, eindeutig auf Homosexualität bezieht. In dem Interview spricht er zwar von der Uneinigkeit, die zwischen den Rechtsschulen diesbezüglich und in Bezug auf die Bestrafung herrscht, betont aber, dass das wichtigste sei, diese Handlung als ein Verbrechen zu behandeln.40 In al-halal wa l-haram fi l-islam geht er noch kurz auf den weiteren Verlauf der Geschichte ein. Lot bietet stattdessen, um seine Gäste zu schützen, den Männern an der Tür seine Töchter an, woraufhin die Männer aber antworten, dass Lot genau wisse, was sie wollen würden (Surat al-Hud 77-81). Am Anfang des Kapitels "Sexual Perversion – a major Sin" schreibt er, dass neben unzulässigem Verhalten innerhalb heterosexueller Beziehungen wie Ehebruch (zina), Homosexualität als sexuelle Abweichung ebenso verboten sei. Er merkt außerdem an, dass dies für Frauen genauso gilt wie für Männer:

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Kugle. Sexuality, Diversity and Ethics in the agenda of progressive Muslims. S. 200. Amreen, Jamal. The story of Lot. S. 15. 40 Youtube-Video: "Qaradawi on Homosexuals". Min. 2:01. Veröffentlicht am 27.01.2013. URL: https://www.youtube.com/watch?v=NxnVSnnZs0Q. Aufgerufen am 12.09.16. 12:25 Uhr. 39

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"This perverted act is a reversal of the natural order, a corruption of man's sexuality, and a crime against the right's of females."41 Auf die Bemerkung des Interviewführers, dass Homosexualität und das Sprechen darüber in der Öffentlichkeit zunimmt, antwortet er, dass dies das Unglück der Gesellschaft sei.42 Er bezieht sich auf Suren, die Begriffe wie fitra für Natur beziehungsweise Schöpfung enthalten, sowie Stellen, die aussagen, dass Menschen als Paare geschaffen wurden.43 Daraus schließt er, dass mit diesen Paaren Mann und Frau gemeint sind, und dass all ihre Eigenschaften natürlich sind, insbesondere ihre gegenseitige Anziehung. In seinem Denken zeigt sich die Vorstellung, Naturgesetze und dem usul al-fiqh, der islamischen Rechtssprechung seien identisch und eine Einheit. Jede Abweichung vom bestehenden Recht kann also automatisch als unnatürlich bezeichnet werden.44 Die Bestrafung für liwat sollte nach al-Qaradawi gleich sein wie jede andere Form sexueller Perversion wie beispielsweise zina.45 Der Interviewführer fragt auch noch, ob nicht einzig der homosexuelle Akt bestraft werden sollte und nicht das Homosexuell-Sein an sich. Diese Frage scheint al-Qaradawi jedoch nicht zu verstehen, da sich in seinen Augen das eine von dem anderen nicht unterscheidet. Hier öffnet er der Gewalt gegen als homosexuell wahrgenommene Personen Tür und Tor, auch jenseits eines Geschlechtsaktes. Viele MuslimInnen, die sich als homosexuell bezeichnen und dies als festen Bestandteil ihrer Identität und Persönlichkeit sehen, wenden sich von ihrer Religion ab, nachdem sie in ihren Familien und innerhalb der religiösen Gemeinschaft Ablehnung erfuhren.46 Reaktionen dieser MuslimInnen auf al-Qaradawis Fernsehprogramme, auch schriftlich, wurden von ihm bis jetzt nicht wahrgenommen oder beantwortet.47 Dass seine Argumente zum Teil unschlüssig sind und sich selbst erklären müssen, macht ihn angreifbar, jedoch geschieht dies aufgrund seiner autoritären Stellung nur teilweise. Dieser antihomosexuelle Diskurs wird auch von Zeitungen und anderen Medien übernommen und ist so auch außerhalb des religiösen Diskurses gängig.48

41

Al-Qaradawi, Yusuf. The lawful and the prohibited in Islam. 1960. S. 164. Youtube-Video: "Qaradawi on Homosexuals". Min. 3:34. 43 Kugle; Hunt. Masculinity, Homosexuality and the defence of Islam. S. 269-270. 44 Zollner, Barbara. Mithliyyun or Litiyyun? S. 201. 45 Youtube-Video: "Qaradawi on Homosexuals". Min. 1:34. 46 Kugle. Sexuality, Diversity, and the Ethics in the Agenda of Progressive Muslims. S. 194. 47 Kugle; Hunt. S. 260. 48 Tolino, Serena. Homosexuality in the Middle East: An analysis of dominant and competitive discourses. S. 87. 42

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5. Kritik und Alternativen zu al-Qaradawis Ansatz Durch vehementes Bestehen auf der Vorstellung, Homosexualität sei lediglich ein Akt, der von der natürlichen Norm abweicht, kann außerhalb dieses Rahmens keine Diskussion stattfinden. An dieser Stelle zeigt sich die Unflexibilität der neotraditionalistischen Bewegung und ihre Verschlossenheit gegenüber medizinischer und psychiatrischer Forschung und Praxis, die Homosexualität nicht mehr für eine Krankheit halten. Es bestehen jedoch auch Möglichkeiten, anhand des Korans selbst, seine Ansichten als fragwürdig einzustufen. Semantische und thematische Ansätze der Koraninterpretation sind in der Lage aufzuzeigen, dass der Sachverhalt bei dieser Thematik weitaus komplexer ist. In Bezug auf den fitraBegriff kann zum Beispiel gesagt werden, dass im Koran kein Diskurs existiert, der Sexualität mit den Wörtern natürlich und unnatürlich beschreibt. Hier bewegt er sich in seiner Argumentation außerhalb des Korans und beruft sich auf eine "Tradition", die auf externen Inhalten beruht.49 Außerdem ist nicht klar, was genau mit fitra gemeint ist, hier wird nicht weiter präzisiert. Al-Qaradawis Position kann demnach als reine Interpretation betrachtet werden, die aber den Anspruch auf Universalität erhebt. Er erklärt nicht nur heterosexuelles Verhalten als natürlich und angeboren, sondern meint, dass ein Mensch mit all seinen Eigenschaften geboren wird und diese nicht erworben oder anerzogen werden. Seine Vorstellung von "Paar" geht ebenfalls von einem biologistischen Standpunkt aus. Er reduziert das Paar auf seine Reproduktionsfähigkeit, ob also die Geschlechtsorgane zueinander "passen" und lässt dabei Aspekte wie Liebe aus, die in klassischen arabischen Texten zu dem Thema miteinbezogen werden.50 Semantische Ansätze zeigen auf, dass al-Qaradawi den Begriffen zu schnell eine feste Bedeutung gibt und diese nicht an ihren unterschiedlichen Stellen im Koran miteinander vergleicht. Das Wort fahisha beispielsweise wird an anderen Stellen auch für heterosexuelle Akte und nicht sexuelle Aktivitäten verwendet. Es scheint deshalb nicht ganz eindeutig, ob die Leute Lots wirklich für ihre homosexuellen Akte bestraft werden sollten und nicht möglicherweise wegen viel grundlegenderen Verstößen. Am Ende werden so auch alle dort lebenden Menschen und nicht nur die "sodomitischen" Männer vernichtet. Ferner ist bekannt, dass es sich bei der Situation in Lots Haus um einen angedrohten Akt der Gewalt handelt, der im Grunde nicht einmal mit einer "nur" homosexuellen Handlung vergleichbar ist. Thematische Ansätze weisen darauf hin, dass der Koran nicht chronologisch aufgebaut ist, wie beispielsweise im Falle der Thora. Themen tauchen an unterschiedlichen Stellen auf und müssen in ihrer Gesamtheit zusammenhängend 49 50

Kugle. Sexuality, Diversity, and Ethics in the Agenda of Progressive Muslims. S. 197. Kugle; Hunt. Masculinity, Homosexuality and the defence of Islam. S. 270.

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erfasst werden. So kann der Gefahr entgangen werden, Begriffe isoliert zu betrachten und den Kontext nicht zu verlieren. Das narrative Zusammenfügen von Fragmenten eines Themas kann durch ihre gesammelte Darstellung

einen ganz anderen, ganzheitlichen Überblick

geben.51 Über die Leute Lots wird im Koran auch an mindestens fünf unterschiedlichen Stellen gesprochen.52 Diese Vorgehensweisen und Methoden verlangen natürlich nach einer intensiven Ausbildung und setzen die Fähigkeit voraus, mit komplexen Sachverhalten umzugehen. Eine Antwort auf die Frage, warum der neotraditionalistische Diskurs so weit verbreitet ist, könnte demzufolge sein, dass eine eindeutige Aussage, die von einer religiösen Autorität kommt einfacher zu übernehmen ist, als sich selbst mit den entsprechenden Texten auseinanderzusetzen. Hier scheitert es an den intellektuellen Möglichkeiten, was auf ein Bildungsproblem hinweist. Einen progressiven Ansatz in einem fünf-minutigen YoutubeVideo unterzubringen könnte ebenfalls problematisch werden. Es bedarf nicht nur einer gewissen Vorgehensweise und Textsicherheit, sondern auch die Fähigkeit zu selbstständigem, kritischen Denken. Autoritär geprägte Strömungen wie die neotraditionalistische fordern ihre Anhänger- und Zuhörerschaft in keiner Weise heraus, sich diese Fähigkeiten anzueignen, weil sie ihre Inhalte in einer scheinbaren Eindeutigkeit und Kompromisslosigkeit präsentieren, die dies überflüssig machen. Autoritäre, patriarchalisch geprägte TV-Prediger wie . Yusuf alQaradawi profitieren davon, dass die Diskussion von Homosexualität im öffentlichen Raum tabuisiert ist. Diese Diskussionen verlagern sich in anonymisierte Bereiche wie das Internet, welches überschwemmt ist mit einfach aufzurufenden Texten und Videos, die für ein breites Publikum verständlich sind. Al-Qaradawi erhebt den Anspruch auf die einzig richtige Koranauslegung und macht sich dadurch zum Sprachrohr Gottes, ohne Raum für andere Interpretationen zu lassen. Er reduziert den Text des Koran auf eine Bedeutung und hinterfragt sich als Leser nicht. Er bewegt sich dabei zwischen der Moderne und der Tradition. Denn er verschließt sich einerseits neuen Methoden im Umgang mit Texten, die sehr viel stärker den Leser als subjektive Person hinterfragen und reflektieren. Andererseits verschließt er sich gegenüber der Tatsache, dass in der islamischen Frühzeit und im "islamischen Mittelalter" oft unterschiedliche Meinungen nebeneinander bestanden und dies als eine Bereicherung wahrgenommen wurde.

51

Kugle. Sexuality, Diversity, and Ethics in the Agenda of Progressive Muslims. S. 208-209. Beckers, Tilo. Islam and the Acceptance of Homosexuality: The Shortage of Socioeconomic Well-Being and Responsive Democracy. S. 61. 52

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6. Fazit Um die Diskussion um Sexualität, Homosexualität und Geschlechterverhältnisse in neotraditionalistisch geprägten gesellschaftlichen und religiösen Diskursen zu öffnen, muss der Begriff enttabuisiert werden. Besonders wichtig ist, Homosexualität als Identität und nicht als Akt der Perversion zu betrachten. Nur wenn Geschlecht als ein soziales Konstrukt anerkannt

wird,

können

Geschlechterrollen

entnaturalisiert

werden,

was

eine

Grundvoraussetzung für die Gleichberechtigung ist. Im Hinblick auf eine Geschichte, die in vielen Ländern von Kolonisation geprägt ist heißt dies auch, sich mit Eigenem und Fremden auseinanderzusetzen. Denn wie erläutert war Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt der islamischen Welt nicht fremd. Beobachten lässt sich auf gefährliche Weise vielmehr das Phänomen eines Self-Orientalism durch die Übernahme von abwertenden und verurteilenden Zuschreibungen und Projektionen durch die europäische und christliche Kolonisation.53 Viele MuslimInnen haben versucht und gezeigt, dass traditionelle Koraninterpretationen "male readings" sind.54 Diese Arten von Koranauslegungen sind stark patriarchalisch geprägt und dienen dazu, diese Strukturen in der Gesellschaft zu erhalten. Feministische MuslimInnen wie Samar Habib und Scott Kugle haben belegt, dass ein patriarchatskritisches Lesen des Korans möglich ist und diese Strukturen des "male readings" Projektionen sind. Anhand der Zirkelschlüsse in Al-Qaradawis Argumentation wurde deutlich, dass patriarchalische Strukturen nicht charakteristisch für den Koran sind. Erhalten werden können diese Vorstellungen nur durch ein Wort-für-Wort übersetzen und das Ignorieren der gesamtkoranischen Zusammenhänge. Progressive Muslime wie Scott Kugle plädieren deshalb für einen sexualitätssensiblen Zugang zum Koran. Mit machtkritischen Instrumenten wie den kurz vorgestellten semantischen und thematischen Methoden des Koranlesens verfolgt dieser Zugang das Ziel einer Lesart, die nicht zu Marginalisierung und Kriminalisierung von Gruppen außerhalb der Norm führt.55 Neben der enormen Komplexitätsreduktion, die durch den neotraditionalistischen Zugang geschehen, gibt es vermutlich noch andere Gründe, die diesen Diskurs für so viele Menschen einfach verständlich und zugänglich machen. Um eine Veränderung zu bewirken, muss nicht nur der Diskurs im Inneren umgestaltet werden, sondern auch Bedingungen, die diesen von Außen fördern und begünstigen. Dazu zählen größere soziale und politische wie wirtschaftliche Zusammenhänge. Wie schon beschrieben, 53

Rowson, Everett K. The Categorization of Gender and Sexual Irregularity in Medieval Arabic Vice Lists. S. 50-51. In: Bodyguards. The Cultural Politics of Gender Ambiguity. Epstein, Julia; Straub, Kristina (Hrsg.). New York; London. 2001. 54 Kugle. Sexuality, Diversity and the Ethics in the Agenda of progressive Muslims. S. 202. 55 Ebd. S. 201.

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profitieren besonders autoritär geprägte Staaten von ungleichheitsgenerierenden Konstrukten, denn sie machen die Ausübung von Herrschaft einfach. Diese hierarchischen Strukturen sind in vielen Ländern vorhanden, in denen neotraditionalistische Diskurse verbreitet sind. Die Familie als soziale Norm mit der ursprünglichen Form der Reproduktion beispielsweise sollte ebenfalls kritisierbar werden.56 Wirtschaftliche und anthropologische Erklärungen wären, dass, wenn bestimmte Grundbedürfnisse in Gesellschaften nicht gestillt werden können, dieser Mangel verhindert, dass "höhere", das heißt moralische Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden.57 Aktuelle Geschehnisse in Europa zeigen, dass in Situationen, die von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, sowohl materiell als auch ideell, geprägt sind, Menschen anfällig werden für Ideologien, die komplexitätsreduzierende Inhalte haben. Diese Inhalte zeichnen sich durch stark von anderen Gruppen abgrenzende Rhetoriken aus, da sie durch simple Botschaften eine Identifizierung mit der eigenen Gruppe einfach machen. Offenheit und Akzeptanz von anderen, der Norm nicht entsprechenden Gruppen wie Frauen oder homosexuelle Personen können sich deshalb nur etablieren, wenn die Voraussetzungen zum Umgang mit Komplexität und Mehrdeutigkeit existieren. Auf wissenschaftlicher Ebene bedeutet dies, einen interdisziplinären Zugang zu diesen Voraussetzungen zu finden. Hier überschneiden sich wirtschaftliche, politische, soziokulturelle und religiöse Aspekte. Ziel dieser Hausarbeit war es deshalb nicht aufzuzeigen, was "der Koran" zum Thema der Homosexualität sagt, sondern dass es je nach lebensweltlichen Umständen von Menschen unterschiedliche Arten gibt diesen zu verstehen oder verstehen zu wollen. Deshalb gibt es in diesem Sinne auch kein Richtig oder Falsch. Regressive islamkritische Debatten sollten vielmehr von progressiven Islamgelehrten beeinflusst werden, die Schwarz-Weiß Denken innerhalb islamischer Strömungen als auch in islamkritischen Debatten entgegentreten können. Dies können sie schaffen, indem sie auf die Komplexität und Vielfalt sowohl im menschlichen als auch im koranischen Wesen hinweisen. Die Herausforderung besteht darin, sich die nötigen Methoden und Fähigkeiten in Bezug auf Beides anzueignen. Ein erster Schritt in Richtung eines anderen Begriffs von Homosexualität wäre die alltagssprachliche Etablierung des Begriffs mithliyyun. Dies würde demonstrieren, dass das heutige Verständnis von Sexualität ein Produkt der Moderne ist.58 Mithliyyun ist ein neutraler Begriff, der

56

Becker, Tilo. Islam and the Acceptance of Homosexuality. S. 71. Welzel, Christian; Inglehart, Ronald; Klingemann, Hans-Dieter. The Theory of Human Development: A Cross-Cultural Analysis. In: European Journal of Political Research. No. 42. 2003. S. 345. 58 Kugle. Sexuality, Diversity und Ethics in the Agenda of Progressive Muslims. S. 200. 57

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gleichgeschlechtliches Begehren im Sinne eines festen Bestandteils von menschlichen Identitäten anerkennt.

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7. Literaturverzeichnis Abu Khalil, As'ad. A note on the study of homosexuality in the Arab/Islamic Civilization. The Arab Studies Journal, Vol. 1, No. 2. 1993. Ali, Kecia. Sexual Ethics and Islam: Feminist Reflections on Quran, Hadith and Jurisprudence. Oxford, 2005. Al-Qaradawi, Yusuf. The lawful and the prohibited in Islam. U.A. Indianapolis, 1999, 1960. Amreen, Jamal. The Story of Lut and the Qurans Perception of the Morality of Same-Sex Sexuality. Calgary, 1997. Beckers, Tilo. Islam and the Acceptance of Homosexuality: The Shortage of Socioeconomic Well-Being and Responsive Democracy. In: Habib, Samar. Islam and Homosexuality. Vol. I. Santa Barbara, 2010. De Martino, Gianni. An Italian in Morocco. In: Schmitt/ Jehoeda. Sexuality and eroticism among males in Moslem societies. Binghampton 1992. Duderija, Adis. Islamic Groups and their Worldviews. Neo-Traditional Salafis and Progressive Muslims. In: Arab Law Quarterly 21. 2007. El-Fadl, Khaled Abou. Speaking in God's Name. Islamic Law, Authority and Women. Oxford, 2003. Kelly, Christopher Grant. Is there a "gay-friendly" Islam? Synthesizing Tradition and Modernity in the Question of Homosexuality in Islam. In. Habib, Samar. Islam and Homosexuality. Vol. II. Santa Barbara, 2010. Klapeer, Christine M. Vielfalt ist nicht genug! Heteronormativität als herrschafts- und machtkritisches Konzept zur Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten. In: Schmidt, F; Schondelmayer, A-C.; Schröder, U.B. (Hrsg.) Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse und Bildungsbausteine. Wiesbaden, 2015. Kugle, Scott Siraj al-Haqq. Sexuality, Diversity and Ethics in the agenda of progressive Muslims. In: Safi, Omid (Hrsg.): Progressive Muslims on Justice, Gender and Pluralism. Oxford 2003. Kugle, Scott Siraj al-Haqq; Hunt, Steven. Masculinity, Homosexuality and the Defense of Islam. A case Study of Yusuf al-Qaradwis Media-Fatwa. In: Religion and Gender. Vol II. 2012. Mansoor, Iskandar. The Unpredictability of the Past: Turath and Hermeneutics. University of California, 2000. In: Islamic Groups and their Worldviews. Duderija, A. Islamic groups and their worldviews. Neo-Traditional Salafis and Progressive Muslims. In: Arab Law Quarterly 21. 2007. 18

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Internetquellen "Qaradawi on Homosexuals". Youtube-Video. Veröffentlicht am 27.01.2013. URL: https://www.youtube.com/watch?v=NxnVSnnZs0Q. Transkribiertes Interview al-Qaradawis im Internet MEMRI (Middle East Media Research Institute): http://www.memritv.org/clip_transcript/en/1170.htm (2006). Homepage Yusuf al-Qaradawis: http://www.qaradawi.net/new/Home/page

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