Introduction: ‚Wenn Hunger und Not in den Krieg ziehen…‘. Zur Rolle großstädtischer Massenspeisungsanstalten während des Ersten Weltkrieges am Beispiel von Berlin

July 23, 2017 | Author: J. Sprenger-Seyff... | Category: Women's History, Nutrition, Food and Nutrition, World War I, First World War, Social History, Philanthropy, Modern German History, Berlin, Hunger, Women in Germany During the First World War, Berlin history in 19th and 20th century, Social History, Philanthropy, Modern German History, Berlin, Hunger, Women in Germany During the First World War, Berlin history in 19th and 20th century
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Freie Universität Berlin Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften Masterstudiengang Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Freie wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung eines Mastergrades.

Wenn Hunger und Not in den Krieg ziehen... Zur Rolle großstädtischer Massenspeisungsanstalten während des Ersten Weltkrieges am Beispiel Berlins.

Verfasserin Jenny Seyffarth

Erstgutachten: Prof. Dr. Oliver Janz, Freie Universität Berlin Zweitgutachten: Prof. Dr. Uwe Puschner, Freie Universität Berlin  

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung..............................................................................................................4 1. Thema und Fragestellung.....................................................................................................4 2. Gliederung der Arbeit...........................................................................................................8 3. Forschungsstand und Quellenlage.....................................................................................11

II. Vorkriegsdiagnosen .........................................................................................15 1. Das wachsende Berlin.........................................................................................................15 2. Armut und Armenfürsorge im Wandel.............................................................................20 2.1. Die öffentliche kommunale Fürsorge ...........................................................................22 2.2. Die Privatwohltätigkeit..................................................................................................24 2.2.1. Vaterländischer Frauenverein und bürgerliche Frauenbewegung..........................24 2.2.2. Die Zentrale für private Fürsorge..........................................................................25 2.3. Reformierung und Sozialbürokratie..............................................................................26 3. Die städtische Großküche entsteht....................................................................................27 3.1. Herausbildung und Formen der Massenspeisungen......................................................27 3.2. Massenspeisungseinrichtungen in Berlin......................................................................30 3.2.1. Berliner Armen-Speisungs-Anstalt........................................................................30 3.2.2. Verein Berliner Volksküchen von 1866.................................................................32 3.2.3. Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft........................................................33

III. Berlin im Krieg: Kommunale Eigeninitiativen (1914-1916) ......................35 1. Fürsorgearbeit an der Heimatfront...................................................................................35 1.1. Die „neue“ Armut und ihre Fürsorge.............................................................................35 1.2. Der Nationale Frauendienst als treibende Kraft............................................................39 1.3. Die neuen Verhältnisse der Armenfürsorge und Privatwohltätigkeit............................42 2. Die improvisierte Lebensmittelversorgung.......................................................................43 3. Das städtische Mittagessen für Bedürftige.......................................................................50 3.1. Die Notstandsspeisung..................................................................................................50 3.1.1. Die Initiative des Nationalen Frauendienstes .......................................................50 3.1.2. Das Speisemarkensystem und seine Handhabung.................................................51 3.1.3. Die Notstandsküchen und ihre bedeutendsten Träger...........................................54 3.1.4. Die Inanspruchnahme der Notkriegskost...............................................................57

3.2. Die Armenspeisung.......................................................................................................60 3.2.1. Die Inbetriebnahme der Armenküchen..................................................................60 3.2.2. Die Armensuppen..................................................................................................61 3.2.3. Die Inanspruchnahme des Armenessens................................................................62

IV. Berlin im Krieg: Staatliche Intervention (1916-1918)..................................64 1. Fürsorgearbeit im Dienste des Hindenburg-Programms................................................64 2. Die gescheiterte Kriegsernährungswirtschaft..................................................................66 3. Die Berliner 'Volksspeisung' für jedermann.....................................................................70 3.1. Die Herausbildung des Zentralküchensystems..............................................................70 3.2. Die Inanspruchnahme der neuen Kriegsküchen............................................................73 3.3. Die Konkurrenz der 'Volksspeisung'..............................................................................75 3.4. Die Ablehnung der obligatorischen Massenspeisung....................................................77 4. Die Massenspeisung in anderen deutschen Großstädten.................................................79

V. Schluss................................................................................................................87 VI. Anhang: Tabellen und Schemata...................................................................93 1. Verzeichnis...........................................................................................................................93 2. Tabellen und Abbildungen..................................................................................................95

VII. Literaturverzeichnis....................................................................................124 1. Ungedruckte Quellen........................................................................................................124 2. Gedruckte Quellen und Zeitungen..................................................................................124 3. Literatur.............................................................................................................................125 4. Internetressourcen............................................................................................................131

Eidesstattliche Erklärung...................................................................................132

| I. Einleitung

I. Einleitung 1. Thema und Fragestellung „Dann kommt die Katastrophe. [… N]ach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch. […] Hinter diesem Kriege steht der Massenbankrott, steht das Massenelend, steht die Massenarbeitslosigkeit, die große Hungersnot. […] Discite moniti!“1

Der Sozialdemokrat August Bebel (1840-1913) ahnte und mahnte. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1914-1918), dem 9. November 1911, sprach er aus, was sich niemand vorzustellen wagte: eine durch Krieg begründete Hungersnot und wachsende Armut im Deutschen Reich. Bebels Warnung wurde von der Reichsführung nicht ernst genommen. Das Reich habe zwar keinen Überfluss an Nahrungsmitteln, aber es käme aus. 2 So wähnte sich die Reichsregierung weit vor den Schüssen von Sarajevo (28. Juni 1914) und der den Krieg auslösenden Julikrise 1914 in Sicherheit. Nach dem Ausbruch des Krieges aber zeichnete sich langsam ab, dass der Begründer der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Recht behalten sollte. Als mit dem Kriegsausbruch im August 1914 unzählige junge Männer in die „Stahlgewitter“3 zogen, ging die Reichsregierung von einem kurzen Krieg aus. Nur wenige Menschen rechneten mit einem längeren Krieg, doch praktisch niemand erwartete, dass sich die Kriegshärten insgesamt vier Jahre hinziehen würden. 4 Die Mehrheit glaubte fest daran, dass die deutschen Truppen zu Weihnachten wieder zu Hause sein würden. Eine 'Mobilmachung' auf dem Gebiet der Nahrungsmittelversorgung wurde daher nicht in Erwägung gezogen. Ein Irrtum, der „unvorstellbar grausige Jahre“ 5 nach sich zog, nicht nur für die Soldaten an der Front, sondern auch für die Bevölkerung im Reich. Es dauerte nicht lange und der Hunger breitete sich schleichend in den Grenzen des Reiches aus. Bereits im Jahre 1915 wurden die ersten Lebensmittel rationiert. Die „große Hungersnot“ folgte schon im Jahr darauf, als das Deutsche Reich, das sich bis in den Krieg hinein zu großen Teilen selbst versorgte, den kriegswirtschaftlichen Engpässen nicht mehr gewachsen war. Spätestens jetzt entfaltete sich die verheerende Wirkung der 1 So August Bebel (SPD) im Deutschen Reichstag. Sein lateinisches „Discite moniti!“ bedeutet zu deutsch „Lernt, ihr Ermahnten!“. Reichstagsakten, Verhandlungen des Reichstages: Stenographische Berichte, 201. Sitzung vom 09.11.1911, S. 7730 C. 2 Vgl. Gutsche, Willibald, Deutschland im ersten Weltkrieg. Band 2: Januar 1915 bis Oktober 1917, Leipzig 2004, S. 500. 3 Nach dem Buch „In Stahlgewittern“ von Ernst Jünger (1895-1998), in dem er seine Erlebnisse an der Front in der Zeit des Ersten Weltkrieges schildert. 4 Vgl. Allen, Keith R., Hungrige Metropole. Essen, Wohlfahrt und Kommerz in Berlin, 1870-1950, Hamburg 2002, S. 65. 5 Degethoff de Campos, Heidi, Von der Armenpflege zum Sozialstaat: 100 Jahre Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen im Dienste der praktischen Wohlfahrtsarbeit. Deutsches Zentralinstitut für Soziale Fragen, Berlin 1993, S. 55.

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| I. Einleitung im November 1914 durch Großbritannien eingeleiteten Seeblockade in vollem Maße. „The Allied blockade did […] affect the food supply in three ways. It cut back drastically the amount of food which would be imported. It also shut off access to feedstuffs vital to the livestock herds and to the fertilizers necessary for continued crop yields.“ 6

Die Seeblockade wurde zur 'Hungerblockade'. Schon Anfang des Jahres 1915 herrschte in den von Fach- und Regierungskreisen geführten Debatten rund um die Nahrungsmittelversorgung Einigkeit darüber, dass das Embargo für die Ernährungslage im Reich eine Bedrohung unbekannten Ausmaßes darstellen könne, doch wirklich neue Lösungsansätze für die Überwindung einer Lebensmittelknappheit wie sie im Zuge dessen befürchtet wurde, suchte man nicht. Trotz der Lebensmittelrationierung und Einrichtung von Verteilungssystemen für Nahrungsmittel bekam die Reichsführung, die mit der hoffnungslosen Situation komplett überfordert war, die Hungersnot nicht in den Griff.7 „Die gegenwärtige Kriegszeit ist ernster als zuvor, die Not im Volke größer als jemals. […] Was man heute gibt, ist morgen verzehrt, darum reichen die Mittel nur von einem Tag zum anderen.“8

So beschreibt der gemeinnützige Verein Berliner Brockenhaus die Lage um 1916/17. Der Hunger machte den im Reich lebenden Menschen den Krieg allgegenwärtig. So kämpfte das Reich nicht nur an seinen zwei territorialen Fronten, sondern auch über den Krieg hinaus gegen Mangel, Hunger und Not an einer dritten – der 'Heimatfront'. In diesem Kampf blieb kaum jemand verschont, denn ob Minderbemittelte oder Selbständige, Industriearbeiterschaft oder Mittelstand – nahezu alle Teile der Bevölkerung waren betroffen. Sie alle waren Teil des 'Heeres' an der Heimatfront. Eine gewichtige Stütze fanden sie zunächst in der privaten bzw. freien Fürsorge und Philanthropie, die zum Teil schon vor dem Krieg aktiv waren. Nach und nach bildete sich auch die öffentliche Fürsorge heraus, welche wohlerwogen getrennt von der Armenpflege und den privaten Wohltätigkeitsvereinen ihre Arbeit aufnahm. „Die Bereitstellung von Mahlzeiten für die Zivilbevölkerung blieb während der ersten Kriegsmonate in allen deutschen Großstädten weiterhin weitgehend der Philanthropie überlassen. […] Als der Krieg sich in sein zweites Jahr zog, lenkten Berichte über den bedenklichen Gesundheitszustand vieler Menschen auch die offizielle Aufmerksamkeit zunehmend auf das Problem des häuslichen Nahrungsverbrauchs. In dieser Situation erhielten 6 Bott, John Patrick, The German food crisis of World War I : the cases of Coblenz and Cologne, Ann Arbor 1981, S. 52. 7 An dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass diese Maßnahmen nicht von der Reichsführung initiiert wurden, sondern auf Betreiben der einzelnen Städte ergriffen wurden. „Notgedrungen und ohne Hilfe einer Koordinationsstelle auf Reichsebene“, so schreibt Keith R. Allen, „entwickelte jede Kommune ihre eigene Rationierungsplanung, die sich je nach Größe, Nähe zu landwirtschaftlichen Gebieten, Kompetenzen der Stadtverwaltung und Lage in der Region unterschied.“ Erst im Laufe des Kriegsjahres 1916 schloss sich das Reich viel zu spät der städtischen Rationierungspolitik an, indem im Mai 1916 das Kriegsernährungsamt und infolgedessen für einzelne Nahrungsmittel Kriegsgesellschaften gegründet wurden. Hierzu ausführlich Allen, Hungrige Metropole, S. 66. 8 LAB, A Rep. 001-02, Magistrat der Stadt Berlin, Nr. 1930.

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| I. Einleitung Befürworter eines öffentlichen Verpflegungssystems neuen Auftrieb […].“9

Die Großstadt Berlin, so die Annahme, nahm in Hinblick auf die Entwicklung der Massenspeisungsverpflegung während der kriegsbedingten Nahrungsmittelversorgungskrise eine besondere Position ein. Es handelte sich hierbei nicht nur um die Reichshauptstadt, sondern zugleich mit über zwei Millionen Einwohnern auch um die bevölkerungsreichste Kommune.10 Wie viele andere Städte im Reich erlebte Berlin in den Jahrzehnten vor dem Krieg ein rasantes, aber zugleich viel problematischeres Bevölkerungswachstum. „The situation in Berlin was all the more delicate because its extraordinarily rapid population growth in the two pre-war decades was not matched by an expansion of food production in adjacent districts.“11

Im Grunde genommen war Berlin die erste Stadt, die auf dem Gebiet der Nahrungsmittelversorgung zu spüren bekam, welche Auswirkungen der Krieg für die Bevölkerung im Reich mit sich brachte. Schließlich war es 'Spree-Athen', welches vor allen anderen Städten des Reiches im Januar 1915 erstmals das Brot rationieren musste. Eine weitere Besonderheit der Reichshauptstadt war die bereits vor dem Krieg stark ausgeprägte Fürsorge- und Wohltätigkeit auf dem Gebiet der Massenspeisungen. Sowohl die Armenspeisung als auch die Volksküchen etablierten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. So bereitete die Armen-Speisungs-Anstalt Berlin unter Aufsicht der städtischen Armenkommission in den Wintermonaten jährlich unentgeltlich warme Mittagessen für den minderbemittelten Bevölkerungsteil. Im Zuge des Deutschen Krieges von 1866 und in Abgrenzung zur Armenspeisung entstanden mit dem Verein der Berliner Volksküchen von 1866 unter der Leitung Lina Morgensterns (1830-1909) weitere Massenspeisungseinrichtungen, die gegen ein geringes Entgelt Mahlzeiten ausgaben. 12 Diese zwei Beispiele, welche an anderer Stelle noch ausführlicher betrachtet werden, sollen zunächst genügen, um diesen Aspekt hervorzuheben. In der Versorgung der 9 Allen, Keith R., Von der Volksküche zum fast food. Essen außer Haus im wilhelminischen Deutschland, in: WerstattGeschichte 31 (2002), S. 23f. 10 Die Gegenüberstellung der Einwohnerzahl der Stadt Hamburg, welche nach der Volkszählung von 1910 mit 931.035 Einwohnern an zweiter Stelle stand, zeigt, dass Berlin mit seinen 2.071.257 Einwohnern nochmal mehr als die doppelte Bevölkerungszahl aufwies. Werden dazu die sechs kreisfreien Vorstädte Berlin-Schöneberg, Berlin-Wilmersdorf, Berlin-Lichtenberg, Neukölln, Charlottenburg, Spandau und weitere umliegende Kreise, welche nach dem Krieg durch das Groß-Berlin-Gesetz von 1920 eingemeindet wurden, mit einbezogen, dann erhöht sich die Zahl der in dieser Region lebenden Einwohner nochmal um fast das Doppelte. Dass die Einwohnerzahl nicht nur sehr hoch war, sondern auch rapide wuchs, zeigen die Ausführungen von Thierry Bonzon und Belinda Davis: „[... T]he population of greater Berlin grew from 827,000 inhabitants in 1871 to nearly 4,000,000 on the eve of the war […].“ Hierzu Bonzon, Thierry/Davis, Belinda, Feeding the cities, in: Winter, Jay/Robert, JeanLouis, Capital Cities at War. Paris, London, Berlin 1914 – 1919, Cambridge 1999, S. 307, Anmerkung 9 im Fußnotenapparat. Zu den Einwohnerzahlen Berlins ohne Umland und Hamburg siehe Hohorst, Gerd/Kocka, Jürgen/Ritter, Gerhard A., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch Band II. Materialien zur Statistik des Kaiserreiches 1870-1914, München 1975, S. 45. Ebenso Skalweit, August, Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart 1927, S. 51. 11 Bonzon/Davis, Feeding the cities, S. 307. 12 Hierzu ausführlich Allen, Von der Volksküche, S. 8ff.

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| I. Einleitung Berliner Bevölkerung während des Krieges spielten diese Speiseeinrichtungen eine maßgebliche Rolle. Durch ihre Existenz konnte die Kommune angemessen auf den zunehmenden öffentlichen Verpflegungsbedarf reagieren.13 Das im Jahr 1916 errichtete Kriegsernährungsamt sah „in der deutschen Hauptstadt ideale Voraussetzungen für einen Großversuch der Massenspeisung. […] Im Sommer 1916 hob der Berliner Magistrat auf Betreiben der Dritten Obersten Heeresleitung zusätzlich Pläne für ein stadtweites Netz von kommunal betriebenen Massenküchen aus der Taufe.“14

Nach Ansicht von Keith R. Allen sei damit das reichsweit größte Experiment öffentlicher Verpflegung in Gang gesetzt worden, welches fortan der Schlüssel kommunaler Verpflegungsbemühungen für die gesamte Berliner Bevölkerung war und nach den Plänen der Reichsführung nicht nur auf die Hauptstadt begrenzt bleiben sollte.15 Die Entwicklung der Massenspeisungen im Krieg ist ein Beispiel dafür wie die freie Fürsorge in den deutschen Städten in die sich zunehmend bürokratisierende öffentliche Fürsorge respektive Wohlfahrtspflege16 eingebunden wurde. Sie verdeutlicht darüber hinaus, wie sich die Kompetenzen in der öffentlichen Fürsorge verschoben haben. Die Kommunen, welche zunächst die Organisation der einzelnen Fürsorgebereiche übernahmen, wurden mehr und mehr von ihrer Eigenständigkeit entbunden. Während die Wohlfahrtspflege in den Zuständigkeitsbereich des Reiches fiel, wandelte sich die Rolle der Städte „von sozialpolitischen Initiativzentren zu staatlichen Implementationsorganen“.17 Die Darstellung dieses Prozesses der zunehmenden Kompetenzverschiebungen von unten nach oben im Bereich der Massenspeisungsverpflegung ist das zentrale Anliegen der Arbeit: Inwieweit und wie wandelte sich die Stellung und Organisation der Massenspeisungen im Verlauf der Kriegsjahre und inwiefern nahm die Reichshauptstadt in Hinblick auf die Entwicklung der Massenverpflegung während der kriegsbedingten Nahrungsmittelversorgungskrise im Vergleich zu anderen Großstädten des Reiches eine 13 14 15 16

Vgl. Allen, Hungrige Metropole, S. 68. Ebd., S. 70. Vgl. ebd. Während des Ersten Weltkrieges erfolgt ein Ineinandergreifen der Begriffe „Fürsorge“ und „Wohlfahrtspflege“. Der Begriff „Fürsorge“ bezeichnet das bedarfsorientierte, bedürftigkeitsprüfungsabhängige und steuerfinanzierte Sicherungssystem, das nach den Ausführungen von Christoph Sachße und Florian Tennstedt weder Beiträge noch standardisierte Leistungen und Rechtsansprüche kennt. Der Begriff „Wohlfahrtspflege“ bezeichnet daneben das über die klassische Armutspopulation hinaus ausgeweitete System von Fürsorgeleistungen für breite Bevölkerungskreise mit starker Betonung der sozialen Dienstleistung. Siehe hierzu Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 2, Fürsorge und Wohlfahrtspflege, 1871 bis 1929, Stuttgart 1988, S. 11. Beide Begriffe lassen sich – sofern eine Abgrenzung inhaltlich nicht notwendig erscheint – synonym verwenden, da beide die „kommunale Sozialpolitik“ bezeichnen. Hierzu Schmidt, Carsten, Zwischen Burgfrieden und Klassenkampf. Sozialpolitik und Kriegsgesellschaft in Dresden 1914-1918, Dresden 2007, S. 6. 17 Schmidt, Zwischen Burgfrieden und Klassenkampf, S. 7. Zu den vorausgegangenen Ausführungen vgl. ebd., S. 6f.

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| I. Einleitung Vorreiterrolle ein? Mithilfe einer Analyse der Entwicklung der Berliner Massenspeisungen, die im Rahmen dieser Arbeit erfolgt, wird es über die Beurteilung der allgemeinen (Not-)Situation der Stadt im Krieg hinaus möglich sein, diese erkenntnisleitenden Fragen zu beantworten. Doch auch mit Blick auf den Weimarer Wohlfahrtsstaat wird die Untersuchung nützlich sein, um herauszufinden, ob sich der Erste Weltkrieg auch im Bereich der Massenspeisungsverpflegung als „große[r] Schrittmacher der Sozialpolitik“ 18 erwies. Ferner kann die Untersuchung einen Beitrag zu einer weiteren Problematik, die der Frauen im Sozial- und Fürsorgebereich während des Krieges, leisten. Denn die Organisation und Koordination der Nahrungsmittelversorgung und des hiesigen Massenverpflegungsprojekts sowie all der anderen kriegsbedingten Notstände an der Heimatfront wäre gewiss ohne die Einbeziehung der Frauen, die sich im Nationalen Frauendienst engagierten, nicht möglich gewesen. Es wird sich zeigen, ob und wie sich die Rolle (bürgerlicher) Frauen speziell im philanthropischen Bereich verändert und der Krieg die Stellung der Frau in der öffentlichen Fürsorge gestärkt hat.

2. Gliederung der Arbeit Das soeben dargelegte Untersuchungsvorhaben dieser Arbeit soll im Rahmen eines zeitlichen Vergleichs der Berliner Massenspeisungen – insbesondere der Armen- und Volksküchen – im Krieg mit der Vorkriegszeit und eines lokalen Vergleichs der verschiedenen Massenspeisungseinrichtungen während des Krieges erfolgen. Im Anschluss daran sollen mithilfe eines regionalen Vergleichs die Berliner Massenspeisungsbemühungen denen der anderen Großstädte gegenübergestellt werden. Da es ein direkter Einstieg in die Kriegszeit verhindert, die gewaltigen Auswirkungen des Krieges auf die Stadt sowie ihre Versorgungsfähigkeit und -fürsorge nachvollziehen zu können, wird sich das erste von insgesamt drei Kapiteln dieser Arbeit der Zeit vor dem Krieg widmen. Dabei erfolgt in drei Abschnitten eine Annäherung an die drei für die Arbeit bedeutenden Problemkomplexe: erstens die allgemeine Vorkriegsentwicklung Berlins, zweitens das damit in Verbindung stehende Problem der Fürsorge, und drittens die hiermit verbundene Herausbildung der Massenspeisungen im Einzelnen. Die Reichshauptstadt erfuhr seit Beginn der Industrialisierung nicht nur demografisch eine rasante Entwicklung. Ein detaillierter Blick auf die geographische Lage der Stadt, die Bevölkerungsentwicklung, die Wirtschaft und Sozialstruktur im Kontext der allgemeinen Entwicklungen im Deutschen Reich wird zeigen wie sich diese Entwicklung gestaltete. Wie hilfreich dies für die weitere Untersuchung sein kann, hebt Wilfried Rudloff hervor: „Die von den Städten zu bewältigenden Probleme bei der Ernährungssicherung [im Krieg] 18 Preller, Ludwig, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978, S. 85. Ferner Ritter, Gerhard A., Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Otto-von-FreisingVorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt, Opladen 1998, S. 62f.

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| I. Einleitung variierten vor allem mit den drei Faktoren Stadtgröße, geographische Lage und Sozialstruktur. Je größer eine Stadt war, um so mehr stiegen auch die Ansprüche, die […] an die Verwaltung gestellt wurden. Je ausgedehnter die Stadt wiederum von einem landwirtschaftlichen Erzeugungsgebiet umgeben war, um so eher profitierte sie […]. Und je stärker schließlich der Anteil der Arbeiterschaft an der Einwohnerschaft […], um so umfangreicher war auch die Menge der erforderlichen Lebensmittel […].“19

Eine Folge der Industrialisierung war der immer stärker hervortretende Fürsorgeanspruch der ärmeren respektive minderbemittelten Bevölkerungsgruppe. Armut und Armenfürsorge existierten und veränderten sich bereits vor dem Krieg, erfuhren aber – wie in einem späteren Kapitel zu sehen sein wird – durch den Krieg nochmals einen massiven Wandel, sodass von einer neuen Armut gesprochen werden kann. Insofern gilt es zu klären, wie sich die „Vorkriegsarmut“ – insbesondere in Berlin – definierte und darstellte und mit welchen Maßnahmen der Staat darauf reagierte. Die Herausbildung der Massenspeisungseinrichtungen als Teil der Fürsorge- und Wohltätigkeitsarbeit stand in enger Verbindung zur Armutsproblematik. Die Darstellung der Entstehungsgeschichte der Massenspeisungen, ihre verschiedenen Arten und Ausstattungen, ihre Leistungsfähigkeit und ihre Resonanz in der Bevölkerung in der Vorkriegszeit wird hilfreich sein, um das an späterer Stelle darzulegende Ausmaß der kriegsbedingten Veränderungen hervorzuheben. Dabei bietet es sich an, direkt Bezug auf die Einrichtungen zu nehmen, welche im analytischen Teil der Arbeit untersucht werden. So werden hierbei die Armen-Speisungs-Anstalt Berlin, der Verein der Berliner Volksküchen von 1866 und die Berliner Volks-Kaffee- und Speisehallen-Gesellschaft vorgestellt. Auf den geschaffenen Grundlagen bauen die anschließenden beiden Kapitel auf, die sich dem Krieg und seinen Folgen widmen. Zunächst richtet sich der Blick auf die erste Kriegshälfte von 1914 bis zum Frühjahr/Sommer 1916, in der die durch den Krieg verursachten Probleme im Bereich der Fürsorge, Ernährung und Massenspeisungen vorrangig durch städtische Initiativen gelöst wurden. Der erste von drei Abschnitten behandelt die kriegsbedingten Veränderungen der materiellen und sozialen Lebensbedingungen der Menschen. Da auch hier vorrangig der minderbemittelte Anteil der Bevölkerung thematisiert wird, knüpft dieser Abschnitt an den zweiten Abschnitt in Kapitel 1 an. Wie bereits angedeutet, hatte es das Reich durch den Krieg aber auch mit einer neuen Form der Bedürftigkeit zu tun: „[... N]icht nur die Industriearbeiterschaft war von den materiellen und sozialen Folgen des 19 Rudloff, Wilfried, Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910 – 1933, Erster Teilband, Göttingen 1998, S. 187f. Vgl. hierzu auch Skalweit, August, Kommunale Ernährungspolitik, in: Volkswirtschaftliche Abteilung des Kriegsernährungsamts (Hg.), Die Nahrungsmittelwirtschaft großer Städte im Kriege. Beiträge zur Kriegswirtschaft, Heft 7/8, Berlin 1917, S. 1ff.

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| I. Einleitung Krieges betroffen, auch der Mittelstand (Beamte, Angestellte, Handwerker und Kleinhändler) war in Gefahr, unter die Subsistenzgrenze herabzusinken. Das gleiche gilt für einen großen Teil der Selbständigen, Künstler, Schauspieler oder Schriftsteller. Die Folge war eine Fülle von Notständen und ein verstärktes Bedürfnis nach öffentlicher Fürsorge.“20

In Anschluss an die Darstellung dieser neuen Form der Armut, den daraus resultierenden kommunalen und staatlichen Maßnahmen sowie der Rolle des Nationalen Frauendienstes setzt sich der zweite Abschnitt mit den Entwicklungslinien der Berliner Lebensmittelversorgung bis Mitte 1916 auseinander. Hierbei werden sowohl die Auswirkungen der (Grund-)Nahrungsmittelknappheit als auch die ergriffenen Maßnahmen der Stadtverwaltung thematisiert. Daran anknüpfend widmet sich der dritte Abschnitt im großen Umfang den Berliner Massenspeisungen in der ersten Kriegshälfte. Hierbei rücken zunächst die Notstandsspeisungen in den Vordergrund. Diese von Vereinen betriebenen und unter der Leitung des Nationalen Frauendienstes stehenden Notstandsküchen arbeiteten getrennt von den städtischen Armenküchen, welche anschließend behandelt werden. Unterstützende Fragestellungen für den gesamten dritten Abschnitt sind folgende: 1. Wie gestaltete sich die Inbetriebnahme der Küchen und welche Probleme waren hierbei zu bewältigen? 2. Wer nahm die einzelnen Massenspeisungen in Anspruch und wie erhielten die Besucher Zugang zu den Notstands- und Armenspeisungen? 3. Was leisteten die Küchen zu Kriegszeiten im Vergleich zur Vorkriegszeit? 4. Was lassen sich die Art und der Umfang der Speisen beurteilen? 5. Warum grenzten sich die Notstandsküchen von den Armenküchen ab und welche wesentlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind festzustellen? Im Anschluss daran rückt die zweite Kriegshälfte in den Blick. Auch hier werden erst die Fürsorgetätigkeit und die Lebensmittelversorgung mit ihren Neuerungen und Veränderungen infolge des verstärkten staatlichen Eingreifens thematisiert. Der dritte Abschnitt legt den bereits erwähnten Berliner Großversuch der Massenspeisung von 1916 dar. Die neu entstandenen Kriegsküchen unterschieden sich maßgeblich von den zuvor errichteten Notstandsküchen und werden mithilfe folgender Fragestellungen betrachtet: 6. Worin unterschieden sich die Kriegsküchen von den bisherigen Küchenspeisungseinrichtungen? 7. Wie gestaltete sich die Organisation des neuen Volksspeisungssystems und wie wurde es von der Bevölkerung aufgenommen? 8. Welche Ziele wurden mit dem Großversuch verfolgt? 9. Welche Rahmenbedingungen erschwerten die Erreichung dieser Ziele und beeinflussten die Erfolgsaussichten des Berliner Massenspeisungsprojekts?

20 Degethoff de Campos, Von der Armenpflege zum Sozialstaat, S. 57.

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| I. Einleitung Die für Berlin erarbeiteten Ergebnisse werden schließlich im vierten Abschnitt des dritten Kapitels den Massenspeisungen anderer Großstädte im Deutschen Reich gegenübergestellt. Die Wahl fiel hier auf die Städte Dresden, Hamburg, München und Köln. Diese Kommunen bieten sich für einen regionalen Vergleich an, da sie allesamt verschiedenen Regionen im Reich zuzuordnen sind. Mithilfe bereits publizierter Studien zu den Vergleichsstädten, die gewiss auch ausschlaggebend für die Auswahl der Kommunen waren, werden die Massenspeisungsbemühungen dieser Großstädte überblicksartig dargestellt und mit denen Berlins auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht. Mithilfe der Untersuchungsergebnisse erörtert die Schlussbetrachtung die einleitend formulierte zentrale Frage nach dem Ausmaß der sich wandelnden Stellung und Organisation der Massenspeisungen im Verlauf der Kriegsjahre und klärt darüber hinaus, ob die Reichshauptstadt hierbei tatsächlich eine Vorreiterrolle einnahm. Des Weiteren stellt das Schlusskapitel dar, inwieweit sich die Stellung der Frau in der öffentlichen Fürsorge verändert hat und inwiefern sich der kriegsbedingte Wandel der Massenspeisungsversorgung auf ihre weitere Entwicklung im Weimarer Wohlfahrtsstaat auswirkte.

3. Forschungsstand und Quellenlage Die Forschung zum Ersten Weltkrieg erfährt gegenwärtig im Hinblick auf das bevorstehende 100-jährige Anniversarium des Kriegsausbruchs über die politischen und militärischen Aspekte des Krieges hinaus erneut große Aufmerksamkeit. Doch bereits zum 90. Jahrestag 2004 erschienen zahlreiche Gesamtdarstellungen, welche die Forschungsergebnisse der vorangegangenen Jahrzehnte zusammenfassend und umfangreich präsentierten. Dabei wurde die Problematik der Ernährungssituation an der deutschen Heimatfront während des Krieges nur selten aufgegriffen. Wenige Weltkriegsabhandlungen nahmen sich der Thematik an, stellten diese zumeist nur am Rande überblicksartig und deshalb oftmals nicht ausreichend dar. 21 Ausnahmen bilden hierbei vor allem ältere Studien. So untersuchte Avner Offer den Ersten Weltkrieg auf ökonomische und soziale Aspekte hin, wobei hier die beiden atlantischen Mächte USA und Großbritannien zwar im Zentrum standen, die deutsche Situation aber dennoch in einem umfangreichen Kapitel dargelegt wurde.22 An anderer Stelle publizierte Anne Roerkohl einen Artikel zur deutschen Lebensmittelversorgung während der ersten beiden 21 Oben Anm. 2. Sowie Burgdorff, Stephan (Hg.)/Wiegrefe, Klaus, Der Erste Weltkrieg. Die UrKatastrophe des 20. Jahrhunderts, München 2004; Hirschfeld Gerd (Hg.) et al., Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003; Winter, Jay (Hg.) et al., Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Hamburg 2002; Chickering, Roger, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002; Keegan, John, Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie, München 2000; Michalka, Wolfgang, Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1997; und Herwig, Holger H., The First World War. Germany and Austria-Hungary 1914 – 1918, London 1997. 22 Offer, Avner, The First World War. An Agrarian Interpretation, Oxford 1989.

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| I. Einleitung Kriegsjahre, in dem sie nicht nur die Entwicklungslinien der Versorgungsproblematik, sondern auch die von Staat und Kommunen verfolgte Politik zur Lösung der stets schwieriger werdenden Ernährungslage im Reich in den Blick nahm. 23 Noch tiefer gehend beschäftigte sich August Skalweit mit der deutschen Ernährungsfrage im Krieg. Ein Teil seiner Arbeiten entstanden zu Kriegszeiten, in denen er die deutschen Ernährungsbedingungen in der Zeit von 1914 bis 1918 untersuchte.24 Darüber hinaus lieferte er knapp ein Jahrzehnt nach Kriegsende nochmals eine umfassende Analyse der deutschen Kriegsernährungswirtschaft nach, in der er im Hinblick auf die Vorbedingungen des Krieges, die Arbeit des Kriegsernährungsamtes sowie die Maßnahmen und Kontrollen der Nahrungsmittelverteilung Bilanz zog. 25 Obendrein erschienen verschiedene ältere Lokalstudien, die es ermöglichen genauere Vorstellungen über die damalige Versorgungssituation im Reich entwickeln zu können. So untersuchte beispielsweise Anne Roerkohl die Auswirkungen des Krieges auf die Lebensmittelversorgung in Westfalen.26 Eine weitere Studie legte John P. Bott vor, in der er sowohl auf die Versorgungssituationen in den Regionen Koblenz und Köln als auch die Gesamtlage des Reiches Bezug nahm.27 Die Forschung zur Versorgungslage speziell in Berlin während des Krieges erfuhr hingegen in den letzten Jahren zunehmend mehr Aufmerksamkeit. So leistete vor allem Belinda J. Davis mit ihrer Studie zur Ernährungssituation der Reichshauptstadt zwischen 1914 und 1918 einen gewichtigen Beitrag zur Forschung auf diesem Gebiet.28 Sie stellte u.a. mithilfe von Zeitungsartikeln und Regierungsdokumenten chronologisch und differenziert die Probleme an der Berliner Heimatfront dar und verband hierbei verschiedenste Aspekte der Berliner Kriegsgesellschaft. Beginnend mit den sozialen Unruhen und den Nahrungsmittelengpässen über die Nahrungsmittelverteilung und deren Konsum bis hin zur Rolle der Frau, die sich im Spannungsverhältnis zum bisher weitgehend männlichen Regierungshandeln zunehmend politisierte. Davis richtete ihre Aufmerksamkeit auch auf die Debatten rund um das Konzept der Massenspeisung, wobei eine tiefer gehende Beschäftigung mit den einzelnen Einrichtungen, die in vielfältigen Formen vorzufinden waren, ausblieb. An dieser Stelle setzte Keith R. Allen mit seinen Forschungsarbeiten an. Auch er widmete sich der Ernährungslage Berlins im Krieg sowie den deutschen, aber insbesondere den Berliner Massenspeisungen von ihren Anfängen bis in die Zeit der 23 Roerkohl, Anne, Die Lebensmittelversorgung während des Ersten Weltkrieges im Spannungsfeld kommunaler und staatlicher Maßnahmen, in: Teuteberg, Hans-Jürgen, Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters, Münster 1987, 309 – 370. 24 Oben Anm. 19. 25 Oben Anm. 10. 26 Roerkohl, Anne, Hungerblockade und Heimatfront. Die kommunale Lebensmittelversorgung in Westfalen während des Ersten Weltkrieges, Stuttgart 1991. 27 Oben Anm. 6. 28 Davis, Belinda, Home Fires Burning. Food, politics, and everyday life in World War I Berlin, Chapel Hill 2000. Dazu auch ihr verfasster Aufsatz mit Thierry Bonzon 'Feeding the cities', oben Anm. 11.

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| I. Einleitung Weimarer Republik.29 Dabei rückten einerseits die Wahrnehmung der Bevölkerung im Hinblick auf die Speiseanstalten und andererseits die Organisation und zunehmende Politisierung der Einrichtungen im Krieg in den Vordergrund. Während Allen darüber hinaus der Frage nach der über den Krieg hinausgehenden Entwicklung der staatlichen Fürsorge im Bereich der Massenverpflegung nachging, stellte er auch den Werdegang verschiedener Einrichtungen dar, wobei seine Ausführungen zu den einzelnen Entwicklungslinien bereits im 19. Jahrhundert ansetzten und für die Kriegszeit an vielen Stellen recht knapp ausfielen. An dieser Stelle können die Bestände zu den Armen- und Volksküchen des Berliner Landesarchivs Abhilfe leisten. Die wohl wichtigsten Bestände sind hierbei die Akten der Armen-Speisungs-Anstalt Berlin und die die Kriegsarbeit der Volks- und Kriegsküchen beinhaltenden Akten des Berliner Magistrats. 30 Diese enthalten über die Korrespondenzschreiben der Küchen mit dem Nationalen Frauendienst und dem Magistrat auch regelmäßig verfasste Aufzeichnungen zu den Ausgaben und Kosten einzelner Lebensmittel sowie der Organisation der Küchenbetriebe. Des Weiteren helfen die Publikationen des Nationalen Frauendienstes die Lücken der bereits publizierten Studien zu schließen.31 Neben Davis und Allen sowie den Archivbeständen werden für die Bearbeitung der Gesamtproblematik auch ältere Beiträge zur Versorgungslage Berlins herangezogen wie zum Beispiel der Beitrag zu den Entwicklungslinien der Berliner Lebensmittelversorgungsverhältnisse im Krieg von Dieter Baudis. 32 Einen umfassenden Überblick zur Kriegsarbeit Berlins liefert Ernst Käber, in der er neben der Lebensmittelversorgung und Fürsorgearbeit nahezu alle relevanten Aspekte der städtischen Kriegsarbeit beleuchtet.33 Die Problematik der Massenspeisungen wurde bereits zu Kriegszeiten und unmittelbar danach in verschiedenen Publikationen abgehandelt. Diese Arbeiten lieferten eine Vielzahl allgemeiner Informationen zu den Massenspeisungen im Reich. So beschrieben Gustav Tenius und Hans Krüger in einem Beitrag zur Kriegswirtschaft die Organisation, Ausstattung und Arbeitsweise deutscher Massenspeisungen und analysierten deren Leistungsfähigkeit sowie ihre Inanspruchnahme mit dafür aufgestellten Statistiken. 34 Eine weitere Überblicksdarstellung der Massenspeisungsproblematik verfasste Friedrich Döhling, der darin zugleich 29 Oben Anm. 4 und 9. Sowie ders., Food and the German Home Front: Evidence from Berlin, in: Braybon, Gail (Hg.), Evidence, History and The Great War, New York 2002, S. 172 – 197. 30 LAB, A Rep. 003-06, Armenspeisungsanstalt. Dazugehörig auch der Bestand A Rep. 060-21 Wohlfahrtsspeisung zu Berlin e.V. Ebenso A Rep. 001-02, Magistrat der Stadt Berlin, Nr. 1931-1936. 31 Beispielsweise GstAPK I. HA Rep. 76, VIII B, Nr. 2045, Maßnahmen zur Verpflegung der unteren Volksschichten. Sowie Nationaler Frauendienst (Hg.), Nationaler Frauendienst: Kriegsjahr 1914-1915, Abteilung Berlin, Berlin 1915; und dies., Nationaler Frauendienst in Berlin, 1914-1919, Berlin 1919. 32 Baudis, Dieter, „Vom Schweinemord zum Kohlrübenwinter“. Streiflichter zur Entwicklung der Lebensverhältnisse in Berlin im Ersten Weltkrieg, August 1914 bis Frühjahr 1917, in: Zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte Berlins vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1986, 128 – 157. 33 Käber, Ernst, Berlin im Weltkriege. Fünf Jahre städtischer Kriegsarbeit, Berlin 1921. 34 Krüger, Hans, Die Massenspeisung, in: Volkswirtschaftliche Abteilung des Kriegsernährungsamts (Hg.), Die Massenspeisungen. Beiträge zur Kriegswirtschaft, Heft 14, Berlin 1917, S. 1-31. Tenius, Gustav, Zur Statistik der Massenspeisungs-Einrichtungen, in: ebd., S. 32-57.

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| I. Einleitung statistisches Material zur Massenspeisungsverpflegung in München lieferte. 35 Somit ist Döhlings Arbeit sehr hilfreich für den regionalen Vergleich Berlins mit München. Ähnliche, doch zum Teil nicht ganz so ausführliche Darstellungen zu den Massenspeisungen in den anderen ausgewählten Vergleichsstädten, finden sich in dem auf die Hansestadt Hamburg Bezug nehmenden Beitrag von Volker Ullrich und in Botts Arbeit zur Stadt Köln.36 Für die Darstellung der Massenspeisungsbemühungen in der sächsischen Hauptstadt dienen die Publikation zur praktischen Durchführung von Massenspeisungen der Zentralstelle für Volkswohlfahrt und der Schlußbericht der Kriegsorganisation Dresdner Vereine.37 Um sich dem Werdegang der Massenspeisungen und der Fürsorge- und Wohlfahrtspolitik nach dem Krieg sowie der Rolle der Frauen in dem Bereich weiter annähern zu können, werden vor allem der zweite Band der mehrbändigen Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland38 von Christoph Sachße und Florian Tennstedt, in dem die Autoren über den Krieg hinaus die Entwicklung der Wohlfahrtsarbeit und -politik nachzeichnen, sowie die bereits genannten Studien von Davis und Allen von Nutzen sein.

35 Döhling, Friedrich, Das Problem der Massenspeisung und die Massenspeisungsbewegung in Deutschland, im Speziellen in München, München 1918. Zentralstelle für Volkswohlfahrt. Für die Untersuchung Münchens ist darüber hinaus auch die Arbeit Rudloffs, Die Wohlfahrtsstadt, sehr hilfreich. 36 Ullrich, Volker, Kriegsalltag. Hamburg im ersten Weltkrieg, Köln 1987. Zur Stadt Köln der Beitrag von Bott, The German food crisis. 37 Zentralstelle für Volkswohlfahrt (Hg.), Die praktische Durchführung von Massenspeisungen, Außerordentliche Tagung der Zentralstelle für Volkswohlfahrt in Gemeinschaft mit dem Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen im Reichstagssitzungssaal am 3. und 4. Juli 1916, Berlin 1916. Sowie Kriegsorganisation Dresdner Vereine, Schlußbericht über die Tätigkeit der Kriegsorganisation Dresdner Vereine, Dresden 1920. Daneben auch die Ausführungen von Skalweit und Krüger, oben Anm. 24. 38 Oben Anm. 16.

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