Interview mit Arno Böhler Der von Arno Böhler verfasste Artikel »Meditation im Kontext der indischen Philosophie. Die Yoga-Sūtren von Patañjali«1 bildet die Basis des vorliegenden Interviews.
SH: Sie schreiben, dass das Wort Yoga im indischen Kontext viele Bedeutungen hat. Welche der Bedeutungszuschreibungen scheint für Sie wesentlich – zumindest hinsichtlich eines traditionellen Verständnisses von Yoga? AB: Wenn man den ältesten Verwendungsweisen des Wortes Yoga nachgeht, dann stößt man dabei auf das Joch, mit dem Ochsen zusammengespannt wurden. Yoga meinte ursprünglich genau jenes Gerät, mit dem die Vitalkraft zweier Ochsen gebündelt und für den Ackerbau fruchtbar gemacht wurde. Sie dürfen nicht vergessen, das Indien zu jener Zeit eine Agrarkultur war, für die das Ochsengespann ein High-Tech-Produkt dargestellt hat. Ich finde das Bild des Ochsengespanns auch heute noch brauchbar und schön, weil Yoga offenkundig eine Technik bezeichnet, in der unsere Vitalität gebündelt und kanalisiert wird. So wie die Lebenskraft der Ochsen durch das Joch, das sie zusammenspannt, in eine gemeinsame Richtung gelenkt wird, die fruchtbar ist, so erlaubt der Yogaweg Menschen durch die Bündelung ihrer Vitalkräfte etwas zu vollbringen, was sie ohne Yogapraxis nicht erreichen könnten. Yoga stellt also ein kulturelle Praxis dar, die uns hilft, die Kräfte der Natur in uns zu kultivieren und zu verfeinern. Kultur & Natur werden in diesem Fall nicht einfach als unversöhnbare Gegensätze betrachtet, sondern als Kräfte, die sich gegenseitig fördern, aber auch hemmen können. Yoga zu praktizieren, heißt daher nicht, einfach nur abwarten, was die Natur mit uns macht. Es heißt auch, dem Werden der Natur entgegenzukommen, um die eigenständige Entfaltung der Natur kulturell zu befördern. Indem wir den Yogaweg gehen, kultivieren wir das Werden der Natur so, dass wir 1
in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Band 22 (2013) Heft 2, Akademie
Verlag: Berlin.
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unsere Lebensenergien bündeln und damit in eine gemeinsame Richtung lenken, die es uns erlaubt, in einen yogischen Zustand zu kommen, der seit jeher mit dem Sanskritwort samādhi bezeichnet wurde. SH: Sie schreiben, dass Yoga überall dort passiert, wo eine Vielheit von Aspekten durch eine stabile Verkettung in die synthetische Einheit eines dauerhaften Jochs zusammengefügt wird. In diesem Sinne zitieren Sie den indischen Dichterphilosophen Sri Aurobindo mit dem Begriff »Evolutionary Yoga of Nature«. AB: Ja, das ist als eine Ergänzung zu dem vorher Gesagten zu verstehen. Yoga ist nicht nur eine kulturelle Praxis, d.h. eine Praxis, die sich dem autonomen Tun des Menschen allein verdanken würde. In vielen indischen Schriften wird die Natur selbst als eine feurige yogische Kraft angerufen, die inmitten der Natur mehr oder weniger stabile Ordnungsgefüge erschafft, indem sie Teile zusammenfügt und somit mehr oder weniger stabile Formen erschafft; – zusammenfügen und Gefüge sind übrigens zwei weitere alte Bedeutungen des Wortes Yoga –. Das heißt aber, dass Yoga im traditionellen Sinne nicht einfach etwas ist, das Menschen ganz ohne die Mithilfe des »Evolutionary Yoga of Nature« aus sich selbst heraus autonom vollbringen könnten. Dass der Yogaweg fruchten kann, ist nicht nur unserem menschlichen Wollen und Tun, sondern vor allem dem generösen Walten der Natur selbst (prakṛtyāpūra) zu verdanken. Sie selbst liebt es, sich yogisch zu befreien. SH: Wenn unterschiedliche Gefüge in Relation zueinander stehen, wird dann nicht der Begriff Ethik wichtig? AB: Ja, gewiss. Darum beginnt der achtgliedrige Yoga von Patañjali (aṣṭāṅga-yoga) – der vermutlich im 4. Jhd. unserer Zeitrechnung niedergeschrieben wurde – auch gleich mit yama als dem ersten Glied (aṅga) des achtgliedrigen Yogapfades. Yama bezeichnet unseren Bezug zu anderen; also das, was wir Ethik nennen würden: »Wie soll ich mich anderen gegenüber verhalten?« Mit dieser Frage beginnt der klassische Yogaweg. Das festzuhalten ist mir wichtig, weil gerade dieser Aspekt im heutigen Bild von Yoga oft übersprungen wird. Klassisch sind es also nicht die Körperübungen (āsana) oder die Meditationstechniken (saṃyama), sondern die Achtsamkeit auf unsere Beziehungen zu
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anderen, yama, mit dem wir den Yogaweg beginnen. Nicht: »Ich setze mich in ein Zimmer und meditiere oder praktiziere Körperstellungen«, sondern die Notwendigkeit, meine Beziehungen zu anderen yogisch zu verändern, macht den Anfang einer yogischen Existenzform aus. Es ist der Yoga des Alltags, der die Basis und Wurzel aller weiteren Yogaübungen bildet. »Zu uns selbst« finden wir daher immer nur über die Veränderung unseres Verhältnisses zu anderen. Dadurch, dass wir mit den anderen, mit denen wir unser In-der-Welt-sein teilen, ins Reine kommen; mit den anderen Menschen, aber auch mit den Tieren und der unbelebten Natur, mit denen und mit der wir unser Inder-Welt-sein teilen. Solange wir in einem falschen Verhältnis zu all diesen Umwelten stehen, solange können wir mit »unserem« Yoga nicht wirklich vorankommen. D.h., wir können uns nicht in einem ganz unyogischen Verhältnis zu den Tieren und zur Natur befinden und zugleich hoffen, in die Meditation zu gelangen, indem wir uns in ein Privatzimmer zurückziehen, um dort unser »eigenes« Privatyoga zu praktizieren. Nach klassischer Vorstellung des Yoga funktioniert das nicht, weil yama, die Beziehung zu anderen, eben die Wurzel und Basis des gesamten yogischen Übungswegs ist. Aus yama wächst der achtblättrige Lotus des Yogawegs heraus und in yama bleibt er zeitlebens verwurzelt und gegründet. SH: Heißt das, dass Yoga nicht in einem Eremitendasein praktiziert werden kann? AB: Dass yama die Wurzel des Yoga ist, heißt natürlich nicht, dass wir uns nicht in die Wüste oder in ein Privatzimmer zurückziehen dürfen, um zu meditieren und yogische Körperstellungen zu praktizieren. Worauf ich vielmehr aufmerksam machen möchte, ist, dass wir unsere Beziehungen zu anderen auch in die Wüste oder in unser »Privatzimmer« mitnehmen, wenn wir uns an solche Orte zurückziehen. Wir können nicht zur »inneren« Ruhe kommen, solange wir nicht Frieden mit den anderen geschlossen haben, wie es auch in der Bibel heißt. Wie sollen wir in unserem Zimmer in die Meditation gelangen und damit in eine Art kosmische Dimension des Lebens hineinkommen, wenn wir mit unseren Beziehungen – sei das die partnerschaftliche Beziehung, die Beziehung zu Freunden, zu Eltern, zur Gesellschaft als solcher – nicht ins Klare und Reine gekommen sind? Nirodha, diese freudvolle innere Ruhe, die uns der
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yogische Meditationsweg vermitteln möchte, ist nicht hinter, über oder jenseits der Welt zu bekommen, sondern nur in ihr. Möglicherweise ist der richtige Ort dafür für manche Menschen die Wüste, möglicherweise ein Kloster – das würde ich gar nicht ausschließen. Vorausgesetzt, dass es sich dabei um keine Weltflucht handelt – weg von den anderen, hinein in unser kleines privates Schreberhäuschenglück. SH: Ist das zweite Glied als darauffolgend oder als gleichzeitig auszuführen zu verstehen? AB: Einerseits gibt es ein grund-legendes Nacheinander der acht Glieder, das es beim Yogaweg zu berücksichtigen gilt. Yama ist das erste, samādhi das letzte der acht Glieder. Das erste ist die grund-legende Wurzel aller acht, das letzte die vollendete Blüte, in der sich alle acht Glieder gemeinsam vollenden. Das heißt aber nicht, dass die acht Glieder einfach hintereinander geübt werden sollen. Die Übung des einen führt gleichzeitig zur Vertiefung der anderen sieben Glieder. Die Frage, was jemand aktuell üben soll, lässt sich daher auch nicht allgemein beantworten; das hängt vom »spirituellen Reifegrad« der Übenden ab. Um zu erkennen, was aktuell geübt werden sollte, ist daher eine gute Yoga-Lehrer_in wichtig. Auch in der Natur gibt es Zeiten, in denen die Entfaltung der Lotusblüte im Vordergrund steht und Zeiten, in denen die Verwurzelung der Lotusblume in der Erde an der Zeit ist. Es macht daher wenig Sinn, einfach das erste Glied abzuarbeiten, dann das zweite, das dritte, das vierte usw. Um herauszufinden, was zurzeit geübt werden soll, könnte man kann sich z.B. fragen: »Warum komme ich nicht zur Ruhe?« Die Gründe dafür können vielfältig sein; – weil wir nicht im Reinen mit anderen Menschen sind (yama); oder aber, weil wir uns leiblich unwohl fühlen (niyama)? Wie soll jemand z.B. zur Ruhe kommen, wenn er oder sie von starken Magenschmerzen gequält wird? In diesem Fall drängt sich die leibliche Ebene ganz von selbst in den Vordergrund, sodass die Übung auf diese Situation abgestimmt werden muss. Erst wenn die Magenschmerzen gewichen sind, wird es für uns wieder möglich, in den Zustand der Meditation zu fallen. Die anderen Ebenen treten dabei selbstverständlich in den Hintergrund, ohne dabei an Wichtigkeit zu verlieren. – Wenn wir yama üben, dann konzentrieren wir uns auf unsere Verhältnisse zu den anderen, um diese zu bereinigen. Wenn wir niyama üben, dann spüren wir lokale Krankheitsherde in
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unserem eigenen Organismus auf, um diese zu befrieden. Einmal ist unsere Aufmerksamkeit auf unser Sein-mit-anderen gerichtet (yama), das andere Mal auf unser leibliches In-der-Welt-sein (niyama). Die ersten beiden Glieder des achtgliedrigen Yogaweges – yama und niyama – sind in der klassischen Yoga-Tradition etwas, was von allen Menschen geübt werden sollte. Ob Yogini oder nicht Yogini – alle Menschen sollten sich um die Stimmigkeit ihrer Verhältnisse zu anderen kümmern und um ihre eigene leibliche Gesundheit. Erst dann, wenn diese beiden Bereiche halbwegs ins Reine gebracht worden sind, können wir, von dieser stabilen Basis aus, den Yoga-Weg im eigentlichen Sinne gehen, indem wir uns aufmachen, die anderen sechs Glieder in unsere Lebenswelt zu integrieren. Das dritte Glied, also das erste Glied, in dem wir mit dem yogischen Weg im engeren Sinne ernst machen, sind die Körperübungen (āsana). Es ist jenes Glied, mit dem wir Yoga in der westlichen Welt meistens identifizieren. Wenn die ersten beiden Stufen halbwegs stabil sind, dann können wir durch gezielte Körperübungen die Aufmerksamkeit gegenüber unserem leiblichen Zur-Welt-sein intensivieren. In der indischen Yoga-Tradition gibt es die Vorstellung, dass jemand, der Yoga übt, seiner leibgeistigen Verfassung gegenüber immer sensibler wird. Eine Yogini beginnt die kleinsten Unstimmigkeiten in ihrem eigenen leiblichen Da-sein wahrzunehmen, die sich für andere weit unter ihrer Wahrnehmungsschwelle befinden. Yoga ist daher auch nicht immer nur angenehm; gerade das Erwachen eines immer sensibler werdenden Leibbewusstseins konfrontiert Yoginis frühzeitig mit Warnsignalen des Körpers. Das heißt, Körperübungen sind vor allem eine Stabilisierung und Sensibilisierung gegenüber unserem leiblichen Zur-Welt-sein und zwar so, dass wir dabei versuchen, uns eine stabile und komfortable Position zu verschaffen, in der wir zur Ruhe kommen. Die Yoga-Sutren von Patañjali sagen nur, dass uns die Körperübungen (āsana) eine stabile und komfortable Haltung ermöglichen sollen, die es uns erlaubt, im Unendlichen Platz zu nehmen. Es dauert lange bis wir die Verhältnisse zu den anderen »gewaltfrei« (ahiṃsā) gestaltet und unseren Körper so in Ordnung gebracht haben, dass uns die ersten beiden Glieder – yama und niyama – eine stabile lebensweltliche Basis geben, die es uns erlaubt, ruhig
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zu sitzen, ohne von den Problemen des Alltags zerstreut zu werden. Um in einen solchen stabilen Sitz zu kommen, übt man eben āsanas – fest verankert in der Erde, mit einem offenen, weiten Blick hinaus in die Unendlichkeit. Noch einen Ratschlag geben die Yoga-Sutren in Bezug auf die Art und Weise, wie man āsanas üben sollte. Eine yogische Qualität kommt Körperübungen nämlich nur dann zu, wenn sie mit großer Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Wachsamkeit getätigt werden. Āsanas üben, heißt daher weniger »Ich steigere permanent den Schwierigkeitsgrad meiner Körperübungen« als vielmehr »Ich finden einen stabilen Sitz, in dem ich längere Zeit komfortabel ruhen kann, um schließlich im Unendlichen Platz zu nehmen.« SH: Inwieweit spielt die Atmung bei dieser stabilen Haltung eine Rolle? AB: Die Atmung betrifft das vierte Glied des Yogawegs – prāṇāyāma. Wenn wir eine stabile Sitzhaltung gefunden haben, dann sollen wir darauf achten, dass auch der Atemfluss regelmäßig wird und kontinuierlich ins Fließen kommt. Auch die Atempausen zwischen Einatmung und Ausatmung, sowie die Atemwende dazwischen, gilt es mit der Zeit bewusst wahrzunehmen. Die Übung der Aufmerksamkeit für einen solchen Atemfluss ist prāṇāyāma. Auch in diesem Fall handelt es sich um einen Versuch, über das Selbstgewahren der Atmung zur Ruhe zu kommen und den Todpunkt der Atmung zur Erfahrung zu bringen, der zwischen den Atemzügen liegt; – als ein Moment der Stille, in dem wir weder einatmen noch ausatmen. In diesem Nullpunkt der Atmung können wir quasi das »Nichts« (nirodha)2 inmitten der Atempause erfahren; eine leise Freude, die uns von unserem Ich entleert. Das fünfte Glied des achtgliedrigen Yogaweges ist pratyāhāra. Für mich persönlich ist dieses Glied das wichtigste für den westlichen Menschen. Ich nenne es gerne das Tor zur Meditation. Daran können Sie erkennen, dass ich ein großer Freund der langsamen Annäherung an Meditationspraktiken bin. Ich glaube, dass nur wenige Menschen spirituell so reif sind, dass es für sie Sinn macht, sofort mit Meditationstechniken, z.B. der ZEN-Meditation, zu beginnen, indem wir quasi sofort mit der höchsten Meditationsstufe anfangen. Nicht, weil dieser Weg an sich falsch wäre, sondern weil er 2
Gleich am Anfang der Yoga-Sutren von Patañjali wird yoga als citta-vṛtti-nirodha definiert, d.h. als ein Zum-Stillstand bringen (nirodha) der Wirbelbewegungen (vṛtti) unseres leiblichen Selbstseins (citta).
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für fast alle Menschen zu schwierig ist. Daher würde ich den meisten Menschen nicht empfehlen, sofort mit einer solchen Praxis zu starten. Ebenso, wie es kein guter Ratschlag wäre, wenn ich einem Anfänger beim Bergsteigen empfehlen würde, den Mount Everest zu besteigen. Das ist einer der Gründe, warum ich ein großer Anhänger von Patañjalis aṣṭāṅga-yoga bin. Dieser Weg beginnt, wie gesagt, mit unseren lebensweltlichen Beziehungen zu anderen, geht dann auf unsere Leiblichkeit ein, empfiehlt Körper- und Atemübungen und schließlich pratyāhāra – die Umkehr und den Rückzug der Sinne nach innen. Es ist das letzte äußere Glied des Yogaweges, dem wir begegnen, bevor wir zu den drei inneren Glieder des Yoga vordringen, in denen sich die yogische Sammlung vollenden wird. Als Tor zur Meditation ist pratyāhāra also zugleich der Ort einer Umkehr, in der unsere Sinne ihre übliche Funktion aufgeben, die äußere Welt vorzustellen, um am »inneren Selbst« Geschmack zu finden. Hier ereignet sich also ein entscheidender Umschlag von der Wahrnehmung der äußeren Welt in die Wahrnehmung der »geistigen Innenwelt«. Wörtlich heißt pratyāhāra das Gegenteilige wahrnehmen. Im Unterschied zur äußeren Wahrnehmung von Gegenständen wird jetzt das eigene Selbst »geschmeckt«. Üblicherweise besteht die Funktion der Sinne darin, dass wir mithilfe unserer Augen äußere Gegenstände sehen, mit den Ohren uns affizierende Klänge der Außenwelt hören etc. Sobald sich die Sinne aber nach innen wenden und inwendig werden, nehmen sie nicht mehr die Welt um mich herum wahr, sondern das Selbst, in dem diese Außenwelt selbst ruht. Pratyāhāra ist diese Umkehr der Sinnrichtung unserer Sinne, die langsam lernen, nach innen zu schauen. Dabei stoßen sie schließlich auf einen offenen Raum – eine Art Leere – die unsere Sinne stillt, d.h. in eine leise Freude kommen lässt. Damit haben wir den Raum der Meditation betreten – den Raum einer generösen Weite, die uns freundlich und gastlich in Empfang nimmt. Das Tor zur Meditation ist nun aufgegangen, sodass wir in die letzten drei inneren Glieder des Yogaweges eintreten können; jetzt, wo wir die fünf äußeren Glieder des Yogaweges absolviert haben. Die Yoga-Sutren sagen, dass wir diesen Raum der yogischen Sammlung nicht einfach willentlich öffnen oder gar herstellen können. Orthodox gesprochen, können wir Meditation gar nicht üben. Genau genommen müsste man sagen, dass wir nur in den Zustand der Meditation fallen können. Meditation überkommt uns, oder sie überkommt
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uns nicht; gerade so, wie uns der Schlaf überkommt oder nicht. Wir können Meditation vorbereiten, indem wir die Hindernisse, die ihr entgegenstehen, abbauen; aber streng genommen kann man nicht sagen: »Ich will jetzt meditieren!« Das ist nicht die richtige Haltung dem »Evolutionary Yoga of Nature« gegenüber. Wir können nur versuchen, die kleśas, d.h. die Hindernisse, die uns von der Erfahrung der Meditation trennen, auszuhungern und damit zu verringern. Je mehr wir diese Hindernisse abbauen, umso größer wird die Möglichkeit, in die Meditation hineinzufallen. Wenn das Tor zur Meditation aufgeht und wir den Raum der Meditation betreten, dann werden wir für Patañjali in einen dreistufigen Prozess des yogischen Sammlung (saṃyama) hineingesogen, der die drei inneren Stufen des Yogaweges vollendet: Konzentration (dhāraṇā), Meditation (dhyāna) und Sammlung (samādhi), das sechste, siebte und achte Glied von aṣṭāṅga-yoga. In der ersten Stufe dieses Prozesses ist es so, dass wir überhaupt erst einmal lernen, uns in diesem Raum der Meditation zu halten, indem wir uns kontinuierlich mit ihm verbinden. Das ist das, was man Konzentration (dhāraṇā) nennt. Wer es vermag, sich mit diesem Raum der Konzentration zu verbinden, beginnt die Welt aus einer yogischen Perspektive zu erfahren. Die nächste Stufe der yogischen Sammlung ist die Meditation (dhyāna). In diesem vorletzten Glied des Yogaweges geht es darum, den Raum der Meditation so bewohnen zu lernen, dass zwischen ihm und unserem gewöhnlichen Wahrnehmen ein einziger, kontinuierlicher Erfahrungsfluss entsteht. Die Alltagserfahrungen werden jetzt in die eigene yogische Erfahrung integriert und von daher getätigt. Das letzte Glied der yogischen Sammlung, in dem sich der Yogaweg vollendet, ist samādhi. Jetzt zeigen sich die Dinge vom Standpunkt der Leerheit aus. In der indischen Philosophie wird davon ausgegangen, dass alle Menschen diesen Zustand immer wieder einmal für kurze Zeit erfahren, dass aber nur wenige Menschen samādhi halten und zu einer Grunderfahrung ihrer gesamten Lebensform machen können. Das heißt, so zu leben, als ob das eigene Selbst verschwunden wäre und nur noch die Gegenstände selbst leuchten würden.
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SH: Welche Aspekte hindern uns daran, diesen Seinszustand zuzulassen? AB: In den Yoga-Sutren von Patañjali werden fünf Hindernisse (kleśas) genannt, die uns im Weg stehen, das Ziel von Yoga (samādhi) zu erreichen. Das erste und grundlegendste Hindernis ist avidyā, die Unwissenheit. Ein verwirrter Zustand, in dem wir fälschlicherweise glauben, etwas sei gut – in Wirklichkeit stellt sich dann aber heraus, dass es schlecht war usw. Unter der Herrschaft von avidyā – der Unwissenheit – verwechseln wir die Dinge und nehmen an, dass das Ewige vergänglich und das Vergängliche ewig sei. Nach indischer Lehre ist der Mensch von Geburt her in diese Verwirrung hineingeboren. Sie ist also keine Folge seiner Taten, keine Erbsünde, wie im jüdisch-christlichen Denken, sondern eine Disposition, in die Lebewesen per Geburt geraten, solange sie in Leid erzeugende Welten geboren werden. Durch diese fatale Disposition trifft man falsche Entscheidungen. Avidyā ist daher nicht nur eine falsche Theorie über das Leben, sondern, wie der Philosoph Martin Heidegger einmal sagte, die Tatsache, dass wir Menschen durch unsere menschlich allzumenschliche Geburt überhaupt ins Reich des Irrtums verstrickt werden. Unter dem Regime von avidyā treffen wir sogar mit bestem Wissen und Gewissen immer wieder falsche Entscheidungen, kraft einer tiefgründigen Verwechslung, die das Falsche für das Richtige nimmt und umgekehrt. Das zweite kleśa ist asmitā. Asmitā ist das Hindernis einer falschen Ich-Zentrierung. Weil wir es für gewöhnlich nicht vermögen, das Leben aus der Tiefe der yogischen Sammlung (samādhi) her zu tätigen und zu vernehmen, verengen wir uns. Wir fallen dadurch quasi aus unserer Welt-Offenheit heraus. Diese Verengung unserer Weltoffenheit heißt im Sanskrit duḥkha, Schmerz. Statt in der Welt-Offenheit Platz zu nehmen, verkriechen wir uns in unserer »Ich-Perspektive«. Das heißt, wir leben nicht mehr zwischen den anderen inmitten der von uns allen gemeinsam geteilten WeltOffenheit, sondern wir ziehen uns auf uns selbst zurück. Das führt zu einer unheilvollen Ich-Zentrierung, kraft der nun jede bzw. jeder glaubt, sich selbst die nächste bzw. der nächste zu sein. Man identifiziert sich von nun an mit dem Nullpunkt seiner eigenen leiblichen Ich-Perspektive. So, als ob alle Beziehungen zur Welt perspektivisch von mir ausgehen würden und zu mir selbst zurücklaufen würden.
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Samādhi ist quasi das Gegenteil von asmitā. Es ist ein Zustand, in dem es so scheint, als ob diese unheilvolle Ich-Zentrierung mit einem Mal verschwunden wäre. In diesem Seinszustand wird nicht mehr so sehr zwischen mir und dir unterschieden, vielmehr steht die eine, von uns allen kollektiv geteilte Welt, die wir auf unterschiedliche Art und Weise tätigen und beleben, im Mittelpunkt. Identifizieren wir unser Selbstsein hingegen mit unserer Ich-Zentrierung, dann kommt es zu einer Verengung von uns selbst, die Angst produziert. Wir entfremden uns damit von der Welt-Offenheit, die sich jetzt ichhaft zu verschließen beginnt und plötzlich als eine uns fremde, befremdliche Welt gegenübersteht, in der wir uns nicht wiedererkennen können. Diese falsche IchZentrierung wird nach indischer Lehre kulturell erlernt. Daher kann sie auch wieder dekonstruiert, d.h. »verlernt« werden. Wenn uns avidyā, die Unwissenheit, verwirrt hat und wir nicht mehr wissen wo links und rechts, oben und unten ist; und wenn sich darüber hinaus auch noch eine falsche IchZentrierung kulturell eingeübt hat, dann bilden sich auf dem kleśa-Baum, der uns auf dem Weg zu samādhi hemmt, noch zwei weitere Äste aus, die uns von der Erfahrung des samādhi abhalten – rāga und dveṣa – das dritte und vierte Hindernis auf dem Yogaweg. Rāga ist die Gier, die uns Glück verheißt, aber Leid bringt. Wir glauben, glücklich zu werden, wenn wir uns ein bestimmtes Auto kaufen, einen bestimmten Job haben, eine bestimmte Frau oder einen bestimmten Mann heiraten; am Ende zeigt sich die Entscheidung aber als unheilvoll. Das ist rāga, die Gier nach Glück, die Unglück bringt. Dveṣa teilt mit rāga dieselbe Struktur, aber in umgekehrter Richtung. Dveṣa ist eine unbegründete Abwehr, ein Ressentiment oder eine Aversion gegen jemand oder etwas, die nicht berechtigt ist. Wir hegen gegen jemanden Aversionen, obwohl er oder sie uns gar nichts getan haben. Aufgrund peinigender, vielleicht sogar traumatischer Erfahrungen übertragen wir etwas auf jemanden, der mit unserer Verletzung gar nichts zu tun hat. Ein einfaches Beispiel. Der Chef eines Büros hatte einen Streit mit seiner Frau. Jetzt geht er ins Büro und schreit dort seine Angestellten an, die für den Streit mit seiner Frau überhaupt nichts dafür können. Offensichtlich hat er sein privates Unglück in dieser Situation auf die Angestellten übertragen. Oft zeigt sich dveṣa bei Leuten auch so, dass sie unfähig sind, sich von anderen Leuten helfen zu lassen. Auch das ist eine unheilvolle Disposition und daher ein Hindernis auf dem Yogaweg; denn eigentlich wäre
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in diesem Fall ja jemand da, der uns helfen möchte; aber aufgrund peinigender Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit erlitten haben, lassen wir uns in diesem Fall nicht helfen, weil wir eine unbegründete Aversion gegen alle verspüren, auch wenn sie es eigentlich gar nicht »verdient« hätten. Unter dem Regime eines solchen Unbehagens »gegen alle« lässt man schließlich niemanden mehr an sich heran; auch jene nicht, die uns »gut« sind. In diesem Fall glauben wir fälschlicherweise, dass jemand »ungut« ist, obwohl er oder sie uns eigentlich wohl gesonnen ist. Das letzte und hartnäckigste Hindernis auf dem Weg zu samādhi ist abhiniveśa, die Todesangst. Solange das Leben unter dem Regime der fünf kleśas vollzogen wird, produzieren wir in der Welt ein Klima der Angst. Die Verblendung durch Unwissenheit (avidyā), falsche Selbstzentrierung (asmitā ), Gier (rāga) und unbegründete Aversion (dveṣa), all diese Faktoren lassen sich dadurch charakterisieren, dass sie Angst (abhiniveśa) erzeugen. Yoga wird im zweiten Kapitel der Yoga-Sutren definiert als ein Weg zu samādhi, der die fünf Hindernisse reduziert, indem er sie durch die Übung des achtgliedrigen Yogaweges sukzessive »aushungert«. Yoga praktizieren, heißt daher, darauf achten, dass unsere Unwissenheit reduziert wird, dass unsere falsche IchZentrierung reduziert wird, dass unsere unbegründete Gier und unsere unbegründeten Aversionen reduziert werden. Wenn wir das alles mit großer Sorgfalt, Entschlossenheit und Aufmerksamkeit tun, dann wird letztlich das Regime der Angst in der Welt reduziert. Und genau das ist Yoga! Damit wird der Weg frei für die Erfahrung von samādhi. SH: Yoga scheint für jeden praktizierbar zu sein und somit ist dieses Ziel für jeden zu erreichen. Anders als in der christlich-jüdischen Schuldlehre kommt die yogische Verwandlungskraft grundsätzlich allen Menschen zu. Meinen Sie, dass das ein Grund ist, warum Yoga in hochindustrialisierten Gesellschaften, die (vormals vorwiegend) christlich waren/sind, so gut ankommt? AB: Ja, ich glaube schon. Yoga kommt ohne Hölle aus. Und das ist – im Unterschied zu vielen monotheistischen Religionen – eine sehr attraktive Interpretation der Welt, die ich persönlich auch sehr begrüße. Es gibt keine ewige Verdammnis, weil prakṛti, die materielle Natur, selbst einen all-erlösenden Impuls in sich trägt. Denken Sie an das, was ich über den »Evolutionary Yoga auf Nature« gesagt habe, oder an Patañjalis
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Yoga-Sutra 18 im zweiten Kapitel. Dort steht, dass die Natur selbst darauf bedacht ist, die Wesen durch Lebenserfahrung zur Erfahrung der yogischen Freiheit zu führen, in der sie vom Regime der fünf klesas befreit sind. Dieser Impuls ist der Natur selbst immanent, nicht nur dem Menschen. Andererseits heißt es im vierten Kapitel der Yoga-Sutren von Patañjali auch, dass die Erfahrung der yogischen Freiheit einen bestimmten Grad an spiritueller Reife voraussetzt. Nicht jeder Mensch ist »reif« für eine solche Erfahrung. Das festzuhalten, ist wichtig, damit es zu keiner Überforderung der Yogapraktizierenden kommt. Mein Yoga-Lehrer TKV Desikachar, Sohn des legendären T. Krishnamacharya, hat immer wieder zu mir gesagt: »Start from where you are«. Ein guter Yoga-Lehrer holt seine Schüler_innen dort ab, wo sie ihrem spirituellen Reifegrad nach stehen, nicht dort, wo sie selbst glauben, dass sie schon sind. Wenn wir gleich mit dem achten und letzten Glied des Yogaweges unseren Übungsweg beginnen, dann führt das für die meisten Menschen nicht zur yogischen Freiheit, sondern einfach nur zu neuen Verspannungen. Friedrich Nietzsche gab seinem Buch »Also sprach Zarathustra« den Untertitel: »Ein Buch für Alle und Keinen«3. Damit bringt er den Sachverhalt auf den Punkt: Yoga ist prinzipiell für alle da, grundsätzlich gibt es keinen Ausschluss, weder, was die Rasse, das Geschlecht, die Kaste usw. angeht. Aber jeder muss mit Yoga dort anfangen, wo er oder sie selbst steht – sonst führt das zu einer unfreien Über-, oder Unterforderung. Dass diese Unterschiede im Reifegrad der Übenden übersprungen werden, ist zum Beispiel eine Gefahr des Gruppenunterrichts in Yogastudios. Da beginnen die Übenden aufeinander zu schielen und sich untereinander zu messen, wer eine bestimmte Übung besser kann. Das führt schließlich zu unserer Konkurrenzgesellschaft, die auf Leistung, Rivalität und Wettbewerb aufbaut. Alles Prinzipien, die wenig mit dem Ziel von Yoga, samādhi, zu tun haben. Jemand, der ein āsana äußerlich gesehen weniger gut kann als jemand anderer, kann auf einer anderen Ebene dasselbe āsana vielleicht viel intensiver praktizieren, weil die geistige Aufmerksamkeit bei der Übung z.B. größer ist. Daher ist es wichtig, den Aspekt im Sinn zu behalten: »Start from where you are«, auch wenn Yoga für alle zugänglich ist. 3
Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe Band 4, Herausgegeben von Colli, Giorgio und Montinari, Mazzino, Walter de Gruyter: Berlin/New York Oktober 1980, S. 9.
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SH: Wie empfinden Sie es, dass der körperliche Aspekt von Yoga heutzutage vermarktet wird? Yoga ist zu einer Industrie herangewachsen. Der Börsenwert wird vom Wall Street Journal auf 42 Milliarden Dollar geschätzt. Wie sehen sie diese Entwicklung? AB: Ambivalent. Auf der einen Seite ist nichts dagegen zu sagen, wenn sechzehn Millionen Amerikaner Yoga üben und auch Yoga-Lehrer von ihrer Arbeit leben können. Das Problem liegt vielmehr darin, dass die acht Glieder des Yogas dabei oft auf einige wenige reduziert werden, z.B. auf die Körper- und Atemübungen, weil man mit diesen einfacher Geld machen kann. Das hat dann mit Yoga im traditionellen Sinne kaum mehr etwas zu tun. Man macht es sich meiner Meinung eben zu leicht, wenn man sagt, dass man nur an den Körperübungen interessiert ist, die Yoga anbietet, während man das, was Yoga über die Beziehung zu den anderen sagt, einfach ausblendet und übergeht. Das ist für mich dann keine spirituelle yogische Praxis mehr, sondern eine Art Gymnastik. Als solche mag diese Praxis überleben, in spiritueller Hinsicht ist sie wertlos, da man dann zur Yogastunde geht, wie man vielleicht zum Frisör geht.
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