Intersexualisierung Sportliche Gesellschaften, gender tests und Graswurzelbewegungen Lena Eckert
S PORTLICHE G ESELLSCHAF T Die schwarze Südafrikanerin Caster Semenya gewann am 19. August 2009 bei den 12. Internationalen Leichtathletik Weltmeisterschaften (IAAF) in Berlin im 800-Meter-Lauf die Goldmedaille. Nach ihrem Erfolg kam, aufgrund ihrer äußeren Erscheinung, der Verdacht auf, dass Semenya Intersex*1 wäre, was dazu führte, dass sie nicht nur einen gender test2 über sich ergehen lassen musste, sondern auch durch die Medien auf ihr »wahres« Geschlecht hin geprüft wurde.3 Es dauerte fast ein Jahr, bis Semenya wieder bei Wettbewerben starten durfte – bei den Frauen. Diese Entscheidung wurde von einer Jury, bestehend aus Expert_innen der Gynäkologie, der Endokri1 | Die Benutzung des * signalisiert die verschiedenen Möglichkeiten der SelbstBezeichnung. Ich verwende das *, um zu signalisieren, dass Intersex* ein sehr umstrittener Begriff ist und immer zur Verhandlung offen ist und sein sollte. Hier verwende ich intersex*, um eine Öffnung in Bezug auf die Defintion zu schaffen. 2 | Mehrere Begriffe für den »gender test« sind derzeit im Umlauf, so zum Beispiel »Gender Verification Test« oder »Sex Test« oder »Sex Verification Test«. Diese Verwirrung ist nicht nur symptomatisch für das, was hier getestet werden soll, sondern auch für die zu Grunde liegenden Parameter. 3 | Warum dieser Verdacht aufkam ist unklar; ihr wahres Geschlecht kam in Zweifel. Allerdings wurde auch der Verdacht des Rassismus geäußert, da die 800 Meter Strecke eine Strecke ist, die, im Gegensatz zu Kurz- oder Langstrecken, hauptsächlich von weißen Läufer_innen dominiert ist.
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nologie, der Psychologie, der Inneren Medizin und der Sexualwissenschaft (Spezialisierung Intersex*/Transgender) getroffen. Die Zusammenstellung der Jury verwundert und lässt ein Problem vermuten. Interessanterweise ist hier ein_e Psycholog_in mit an Bord, die über sex mitbestimmen soll, oder ist es doch gender? In den Medien wurden beide Begriffe, »sex test« und »gender test«, verwendet. Die Frage liegt nahe: Um was geht es nun? Um sex, das biologische Geschlecht, oder um gender, das soziale Geschlecht? Was soll hier eigentlich bestimmt werden, von wem und wozu genau? Diese Fragen sind nicht nur zentral, wenn es um Geschlecht im Leistungssport geht. Sie sind der Ausgangspunkt und das Resultat der Trennung von sex und gender. Wer bestimmt also, welches gender oder welches sex Caster Semenya hat? Die oben aufgelisteten Expert_innen sind scheinbar keiner zufälligen Auswahl unterlegen. Beispielsweise ist kein_e Vertreter_in der Kardiologie vorhanden – anscheinend wird das Geschlecht also nicht im Herzen vermutet. Erstaunlicherweise findet sich in der Jury auch kein_e Vertreter_in der Neurologie. Obwohl die Neurowissenschaften dabei sind, Geschlecht im Gehirn zu verorten, sind sie noch nicht so weit, die Wahrheit von Geschlecht oder vielleicht auch nur eine Annäherung daran gefunden zu haben. Die Disziplinen, die jedoch vertreten sind, haben in der Bestimmung von sex und gender eine Tradition der Beweisführung. Seit John Money an der Johns Hopkins Universität in Baltimore begonnen hat, Intersex*ualität, damals noch Hermaphroditismus, genau zu untersuchen, waren diese Institutionen die Ersten, die konsultiert wurden, um zu bestimmen, ob eine Person eher Mann oder Frau ist und als welches Geschlecht diese Person nun leben soll.4 Die Stimme Caster Semenyas war in der Unruhe um ihr Geschlecht kaum noch hörbar. Semenya hätte sich genauso gut nie äußern können während dieser elf Monate. Viele haben ihre Meinung dazu, ob Semenya nun wirklich Mann oder Frau ist, abgegeben. Diese sogenannten Expert_ innen-Stimmen wurden jedoch gehört. Semenya schien nicht nur für den Leistungssport eine Bedrohung zu sein, auf all seine Vorbedingungen, seine Moral und seine Sinnhaftigkeit, sondern auf die gesamte Gesellschaft.5 Je4 | Vgl. Money, J.; Hampson, J.G.; Hampson, J.L.: Hermaphroditism: recommendations concerning assignment of sex, change of sex, and psychologic management. Bulletin of the Johns Hopkins Hospital, 97(4), 1955. 5 | Siehe die Analysen von Blogbeiträgen: Vannini, A.; Fornssler, B.: Girl, Interrupted: Interpreting Semenya’s Body, Gender Verification Testing and Public Discourse. 2011.
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de_r fühlte sich befähigt etwas darüber zu sagen, was Geschlecht wirklich ist und welches von beiden verfügbaren Geschlechtern Semenya wirklich ist. Das Phänomen, dass Expert_innen, die sich durch eine Ausbildung im psycho-medizinischen Bereich qualifiziert haben, befragt werden, welches Geschlecht bei einem Menschen vorliegt, ist relativ neu. Auch, dass der Mensch selbst dazu nicht befragt und seine Stimme gehört wird und seine Aussage gilt, ist erst ein halbes Jahrhundert alt.6 Wie ich zeigen möchte, ist das Phänomen der Intersex*ualisierung7 erst zu Mitte des 20. Jahrhunderts aufgekommen. Es hat sich seitdem zwar verändert und wurde vor allem durch soziale Bewegungen sehr kritisiert, jedoch ist der Ursprung dieses Phänomens in einer älteren Entwicklung zu finden. Das Zweigeschlechtersystem, wie wir es heute kennen, ist zeitgleich mit der Herausbildung der modernen Nationalstaaten entstanden. Das sogenannte dritte Geschlecht, als das Intersex* häufig gehandelt wird, stellt hier keine Störung dar, sondern funktioniert als Verstärkung der binären symbolischen und politischen Ordnung.
O LYMPIA Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Frauen bei den Olympischen Spielen als Partizipierende zugelassen. Die Olympischen Spiele gehen bis ins 8. Jahrhundert vor Christus zurück. Frauen waren zu Beginn nicht zugelassen, weder als Partizipierende noch als Zuschauerinnen, hauptsäch-
6 | Zur Zeit der Herausbildung der Sexualwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es noch gängige Praxis, dass Sexologen wie Magnuns Hirschfeld und andere das persönliche Empfinden ihrer Patient_innen in ihre Analysen mit einbezogen. Seit der Etablierung der Balitmorer Konzepte (vgl. Klöppel, U.: XX0XY ungelöst, Bielefeld 2010) wurden die Stimmen der Betroffenen in die Diagnosen immer weniger einbezogen. 7 | Als Intersex*ualisierung bezeichne ich den Prozess, der durch psycho-medizinische Tests auf Schlussfolgerungen über eine Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit und deren Unterschiedlichkeit und Unterscheidbarkeit zielt, vgl. Eckert, L.: Intervening in Intersexualization: The Clinic and the Colony (Doctoral Dissertation Universiteit Utrecht) 2010.
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lich wegen ihrer »verunreinigenden« Eigenschaften.8 Seitdem besteht die Angst, dass Männer sich als Frauen ausgeben und gegen Frauen antreten könnten. Womit sie sich, so wird es angenommen, einen ungerechten Vorteil verschaffen würden.9 Frauen beteiligten sich verstärkt seit den 1920er Jahren und insbesondere nach dem 2. Weltkrieg an den Olympischen Spielen.10 Zu dieser Zeit wurden alle Frauen, die teilnehmen wollten, von Gynäkolog_innen untersucht; diese Untersuchung war visuell; Brüste und Vagina genügten als Beweis für Weiblichkeit.11 Im Jahre 1968 wurde dieses Prozedere abgeschafft, da sich viele dagegen wehrten und als sexistisch bezeichneten. Der visuelle Text wurde durch chromosomale Tests ersetzt. Dieser genetische Test wurde 1986 schließlich als unzureichend erklärt12 und durch einen allumfassenden medizinischen Test aller Athlet_innen ersetzt.13 Gene und/oder Chromosomen waren von nun an nicht mehr befriedigend; ein XX oder XY-Chromosomensatz ist seitdem nicht mehr ausreichend für die Bestimmung des Geschlechts. 2006 hat die IAAF festgelegt, dass das sex bei Athlet_innen nicht nur durch Labortests bestimmt werden soll, sondern dass Personen, die »unter Verdacht« stehen, von einer Jury evaluiert werden müssen. Diese Jury, bestehend aus den 8 | Vgl. Cavanagh, S. L.; Sykes, H.: Transsexual bodies at the Olympics 2006, 75. 9 | Vgl. Wiederkehr, S.: We shall never know the exact number of men who have competed in the Olympics posing as women: Sport, gender verification and the Cold War, 2009, 556. 10 | Zuerst wurden Frauen nur zu bestimmten Sportarten zugelassen. Zuerst zu Tennis und Golf, dann zum Schwimmen und zur Leichtathletik, zum Volleyball und dem Rudern, dann zum Radfahren, zum Fußball und zum Ringen. Bis heute sind Frauen bei den Olympischen Spielen nicht zum Boxen, zum Baseball, der nordischen Kombination und dem Skispringen im Winter zugelassen. Dagegen sind Softball, Synchronschwimmen und Rhythmische Gymnastik den Frauen vorbehalten. Vgl. Zehnder, K.: Der Zwitter als Freak. Phase 2:34, 2009; Ljungqvist, A. et al.: The history and current polities on gender testing in elite athletes, 2006. 11 | Vgl. Genel, M.; Ljungqvist, A.: Essay: Gender verification of female athletes. 2005. 12 | Ebd., 41. 13 | Vgl. Qinjie, T.; Fangfang, H.; Yuanzheng, Z.; Qinsheng, G.: Gender verification in athletes with disorders of sex development. Gynecological Endocrinology, 25 (2), 2009, 117.
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obengenannten Expert_innen, sollte bestimmen, welches biologische und damit »wahre« Geschlecht vorliegt. Bei den Olympischen Spielen 1988 gab es bereits einen ähnlichen Fall wie den von Caster Semenyas. Maria Patiño wurde vom International Olympic Committee (IOC) untersucht, um festzustellen, ob sie fälschlicherweise zu den Frauen zugelassen wurde. Der genetische Test bestimmte, dass Patiño ein Y-Chromosom hat. Sie wurde daraufhin mit dem Androgen Insensitivitäts Syndrom (AIS) diagnostiziert. AIS wird zu den intersex* Konditionen gezählt. Patiño wurde aus den Olympischen Spielen ausgeschlossen und erst mehrere Monate später von der International Amateur Athletic Federation (IAAF) rehabilitiert. Patiño, wie Anne FaustoSterling schreibt, ist als erste Frau, die dem Gender Test unterzogen wurde, in die Annalen des professionellen Sportes eingegangen.14 Im Jahre 2006 wurden in Athen sechs Athletinnen mit XY Chromosomen für die Frauen zugelassen. In der Geschichte des professionellen Sports gab es wohl öfter ähnliche Fälle, aber warum hat Caster Semenyas Fall dann so ein Aufsehen erregt?15 Wie organisiert sich dieser panoptische Blick der Medien? Die Darstellung Caster Semenyas in den Medien begann damit, dass ein Fokus auf ihren trainierten Körper, ihre flache Brust und ihre tiefe Stimme gelegt wurde. Es ging um Ästhetik, und zwar um eine vergeschlechtlichte Ästhetik. Was die Medien taten, war ein Augenmerk auf sogenannte sekundäre Geschlechtsmerkmale zu legen, um ihr »wahres« Geschlecht in Zweifel zu ziehen. Ihre Körperform und die Verteilung ihrer Muskeln wurden wiederholt evaluiert, um zu zeigen, dass sie nicht richtig weiblich war und der normativen Vorstellung von Weiblichkeit nicht entsprach. Als Semenya auf dem Cover einer Zeitschrift erschien, war sie mit einem komplett weiblichen Make-up zu sehen; das sollte davon überzeugen, dass sie wirklich weiblich ist und dass sie auch weiblich aussehen kann. Das 14 | Vgl. Fausto-Sterling, A.: Sexing the body: Gender politics and the construction of sexuality. New York 2000, 2. 15 | Eine weitere Dimension, der hier Beachtung geschenkt werden muss, ist dass der 800 Meter Lauf eine besondere Stellung bei den Olympischen Spielen hat. Erstens wurde der 800 Meter Lauf, der als zu beschwerlich galt, erst 32 Jahre nachdem die Leichtathletik für Frauen zugänglich war, im Jahre 1960 für Frauen geöffnet. Und zweitens ist diese Strecke im Gegensatz zu allen anderen »weiß dominiert«. Es laufen sehr wenige schwarze Frauen und schwarze Männer auf den 800 Metern. Semenya stellt hier also auch eine Grenzüberschreitung dar.
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Bild hat alle Insignien weißer, westlicher Femininität: Make-up, Wimperntusche, Lidschatten, lange rote Fingernägel, ein Kleid und Schmuck kombiniert mit einer weiblichen Pose. Das Titelblatt lautet: »Wow, look at Caster now!«16 Wir sehen hin und erkennen, dass Semenya nicht nur kein Mann sein kann, sondern auch noch nicht mal mehr männlich ist: Sie hat sich der Weiblichkeit ergeben. Weiße Weiblichkeitskonstruktionen beruhen auf einer klaren Abgrenzbarkeit von Männlichkeitskonstruktionen, also wenig Muskelpräsenz und schlanker Körper was unter anderem auch verständlich macht, warum in Südafrika auch rassistische Motive in der Behandlung des Falles vermutet wurden.17 (Weiße) Normalität ist in Semenyas Repräsentation eingezogen. Suzanne Kessler und Wendy McKenna haben schon 1978 in ihrem Buch Gender – an ethnomethodological Approach den Begriff cultural genitals – kulturelle Genitalien geprägt. Dieser Begriff benennt den Fakt, dass wir in sozialen Interaktionen eigentlich nie (oder sehr selten) wissen, welche Genitalien sich unter der Kleidung unseres Gegenübers befinden. Dennoch attribuieren wir ein Geschlecht. Diese Attribution erfolgt aufgrund normativer ästhetischer Kategorien, die wir aus unserem kulturellen und symbolischen Wortschatz von Geschlecht ableiten. Das Zweigeschlechtersystem beruht darauf, dass ein Geschlecht einen geringeren Status hat (den Mangel) als das andere, ob das beim Sport ist oder in anderen Bereichen der Gesellschaft. Im Sport ist es so, dass es zwar einen Bereich für Frauen gibt, dieser Bereich aber darauf beruht, dass Frauen eine andere, eine minderwertige Wettbewerbsfähigkeit haben.18
D IE G ESCHICHTE VON GENDER Die Prägung des Begriffes gender wird oft der feministischen Wissenschaft der siebziger Jahre zugeschrieben. Tatsächlich wurde er jedoch in der Intersex*-Forschung das erste Mal zu Beginn der 1950er Jahre ver-
16 | »Wow, look at Caster now!« war die Überschrift des Südafrikanischen Magazins YOU, Nummer 114, 10.09.2009. 17 | Vgl. auch Zehnder, K.: Der Zwitter als Freak. Phase 2, 34, 2009, 58-60. 18 | Vgl. Wackwitz, L.A.: Verifying the myth: Olympic sex testing and the category of woman. Women’s Studies International Forum, 26, 556.
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wendet und grenzt sich auch hier schon von sex ab.19 Die Sozialwissenschaftlerin Ann Oakley hat 1972 den Begriff gender von Robert Stoller übernommen, in der Hoffnung ihn für die feministische Agenda nutzbar machen zu können. Dies ist sicherlich passiert, auch wenn Toril Moi fragte, ob es nicht produktiver gewesen wäre, mit Simone de Beauvoirs Begrifflichkeiten der Immanenz und der Transzendenz weiterzuarbeiten.20 Die Trennung von sex und gender hat allein aufgrund ihrer Herkunft aus der pathologisierenden Intersex*-Forschung in vielerlei Hinsicht eine produktive feministische Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und der Produktion von biologischem Wissen lange Zeit erschwert. Gender als Begriff, der mit dem Sozial-Politischem und dem Gesellschaftlich-Kulturellen assoziiert war, hat die Nutzung des Begriffes sex lange Zeit als unabhängig von gender produziert und damit viele produktiven Analysen, die diese Trennung als selbst schon konstruiert untersuchen konnten, verhindert. Als Judith Butler die Verschränktheit von sex und gender herausgearbeitet hat, war innerhalb der feministischen Wissenschaft eine Arbeitsteilung zu verzeichnen, die sex den Biolog_innen und gender den Geisteswissenschaftler_innen zuwies. Butler hat in »Das Unbehagen der Geschlechter«21 diese Trennung untersucht und festgestellt, dass die Vorstellung einer binären sozialen Geschlechterordnung (gender) immer der binären Konzeption von biologischem Geschlecht (sex) vorausgeht. Das heißt, dass die Natur- und Medizinwissenschaften schon eine Idee von einer binären Geschlechterordnung haben müssen, bevor sie ihre Daten nach diesem Raster interpretieren. Das heißt aber auch, dass wir sex binär leben und als natürlich empfinden (müssen), damit es den Biolog_innen als logisch erscheint, ihre Forschung als Beschreibung einer biologischen Faktumslage zu konstruieren. Diese gefühlte Natürlichkeit einer binären Anordnung von sex ist natürlich nicht nur den Forschungsergebnissen der Biomedizin geschuldet. Auch unsere symbolische Ordnung ist binär strukturiert. Diese symbolische Ordnung ist die Strukturierung der Erfahrung und Vermittlung von Welt. Geschlecht, konstruiert als natürlich zweigeschlechtlich, hat einen großen Anteil daran, wie diese symbolische 19 | Vgl. Money, Hermaphroditism; Stoller, R.; Rosen, A.C.: The intersexed patient. In: California Medicine 91(5), 1959, 261-265. 20 | Vgl. Moi, T.: Sexual/Textual Politics: Feminist Literary Theory. London 1985; Beauvoir, S. de: Le deuxième sexe. Paris 1949. 21 | Butler, J.: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991.
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Ordnung strukturiert ist. Donna Haraway zum Beispiel hat anhand anderer Binaritäten sehr anschaulich herausgearbeitet, wie eine binär gedachte Geschlechterordnung unser Verständnis von Welt organisiert – also Zweigeschlechtlichkeit als Strukturkategorie für unsere Erfahrung und Vermittlung von anderen Bereichen unserer Wirklichkeit.22 Das biologische Geschlecht – sex – ist hier nur eine von vielen anderen Erfahrungswelten, die mit gender strukturiert werden. Sex ist demnach keine eigenständige Kategorie; unsere Vorstellung von Geschlecht, der Körperlichkeit der anderen, unserer eigenen Körperlichkeit und der damit einhergehenden Erwartungen an und Wahrnehmungen von Leiblichkeit oder Materialität sind immer schon vorstrukturiert durch eine binäre Ordnung, der Ordnung von gender. Dass diese Ordnung nicht die Natur oder unser Bild, das wir von ihr haben, abbildet oder mit ihr kongruent ist, wird nicht nur klar, wenn wir die Geschlechterordnungen anderer Kulturen ansehen. Dies wird auch klar, wenn wir uns die gewaltsamen Eingriffe in Körper in westlichen Krankenhäusern vor Augen führen, die vorgenommen werden, um das sogenannte natürliche Zweigeschlechtersystem operativ herzustellen.23
G ENDER UND S E X Seit der Psychologe John Money am Johns Hopkins Universitätskrankenhaus in Baltimore, USA in den 1950er Jahre Intersex*ualität untersuchte, hat sich das »Money-Protokoll« in der Behandlung von intersex*ualisierten Menschen und auch erst die Intersex*ualisierung durchgesetzt.24 Eine der ersten Publikationen von Money enthält eine eindeutige Passage zu den Behandlungsmaximen, die zum Teil auch noch heute gelten:
22 | Vgl. Haraway, D.: Simians, Cyborgs, and Women. London 1991. 23 | Vgl. zum Beispiel Kessler, S.: Lessons from the Intersexed. London 1998; Chase, C.: Letter to the Editor. 1996, 1139; Dreger, A.D (Hg.): Intersex in the Age of Ethics . Hagerstown 1999; Eckert: Intervening. 24 | Vgl. Redick, A.: What happened at Hopkins: The Creation of the Intersex Management Protocols. Cardozo. Journal of Law and Gender 12, 2005, 289-296; Eckert: Intervening.
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»[T]he greater medical wisdom lay in planning for a sterile man to be physically and mentally healthy, and efficient as a human being, than for a probably fertile woman to be physically well but psychologically a misfit and a failure as a woman, a wife, or a mother« 25
Was hier beschrieben wird, ist eine Behandlungspraxis, die darauf abzielt, Menschen effizient zu machen und vor allem Bürger_innen zu garantieren, die in eine der beiden Geschlechtskategorien, also männlich oder weiblich, einzuteilen sind. Eine Frau, die nicht heiraten und keine Kinder haben will, wird als »failure«, als Misserfolg und Fehler konzeptionalisiert. Das psychologische Funktionieren wird über die Verletzung der physischen Integrität gestellt.26 Eine mögliche psychologische Außenseiterin, etwa eine Frau, die nicht den heterosexistischen Ansprüchen ihrer Umgebung gerecht wird, wird als nicht wünschenswert – als krank konstruiert. Money hat zudem den Begriff gender role – Geschlechtsrolle in die Intersex*-Forschung eingeführt. Dieser wird wie folgt beschrieben: »By the term, gender role, we mean all those things that a person says or does to disclose himself or herself as having the status of boy or man, girl or woman, respectively. It includes, but is not restricted to sexuality in the sense of eroticism. Gender role is appraised in relation to the following: general mannerism; deportment and demeanor; play preference and recreational interests; spontaneous topics of talk in unprompted conversation and casual comments; content of dreams, daydreams and fantasies; replies to oblique inquiries and projective tests; evidence of erotic practices and, finally, the person’s own replies to direct inquiry.« 27
25 | Money: Hermaphroditism, 299 [Hervorhebung L.E.]. 26 | Transpersonen, die sich nicht dem Geschlecht zugehörig fühlen, das ihnen aufgrund ihres jeweils als »eindeutig männlich« oder »eindeutig weiblich« deklarierten Genitalstatus bei der Geburt verordnet wurde, (siehe Adrian de Silvas Kapitel) sind hier nicht gemeint, da die auf Wunsch der Person ausgeführte Operation keine Zwangsoperationen sind und somit anders behandelt und untersucht werden müssen. Nicht alle Transpersonen wollen oder wünschen eine Operation. 27 | Money: Hermaphroditism, 302.
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Demnach bezeichnet die Geschlechterrolle alles, was ein Mensch denkt, fühlt, sagt und tut.28 Kein Bereich des Lebens ist unabhängig von gender, alles kann durch den Dualismus des Geschlechtsbegriffes interpretiert werden. Interessanterweise hängt dies jedoch nicht mit der physischen Integrität des Körpers zusammen. Sex, zum Beispiel die Fähigkeit zu reproduzieren, ist nicht die Vorbedingung für ein gender, im Gegenteil, es kann ihm in Moneys Behandlungspraxis sogar diametral entgegenstehen. Das gender muss effektiv sein.29 Foucaults Forderung nach dem »wahren Geschlecht« scheint hier nicht im Vordergrund zu stehen.30 Es scheint das »beste Geschlecht« zu sein, das hier verfolgt wird. Das »beste Geschlecht« jedoch wofür? Ist die Suche nach dem wahren Geschlecht bei Semenya nicht eigentlich eine Suche nach dem besten Geschlecht – dem besten Geschlecht, das Semenya im Leistungssport haben kann, oder vielleicht eher: das für den Leistungssport beste Geschlecht für Semenya? Immerhin ist klar, dass das beste Geschlecht für eine Person dasjenige ist, das die Person nicht zu einem Fehler im System macht – und zwar im System der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit. Ich werde hier nicht weiter auf die Forschungs- und Behandlungspraxis von John Money und seinem Forschungsteam eingehen.31 Was mich jedoch im Folgenden interessiert, ist Intersex*ualisierung heute im System der Zweigeschlechtlichkeit und sei28 | Der Begriff gender role wird von Money und seinen Mitarbeiter_innen über die Jahre hinweg immer wieder neu definiert, seine Dualität verliert das Konzept jedoch nie, vgl. Money et al.: Imprinting and the establishment of gender role. 1957; Money, J.; Tucker, P.: Sexual Signatures: on Being a Man or a Woman. Boston 1975. 29 | In manchen Forschungskontexten wurde und wird auch der Begriff optimal gender policy benutzt. Vgl. Meyer-Bahlburg, H.F.L.: Gender Assignment in Intersexuality. 1998, 1-21. 30 | Foucault, M. (Hg.): Über Hermaphroditismus. Der Fall Barbin. Frankfurt a M. 1998. 31 | Money’s Behandlungsprotokoll beinhaltet Operationen und die hormonelle Behandlung meistens in den ersten achtzehn Lebensmonaten, Das Behandlungsprotokoll hat zum Ziel, die äußeren Genitalien einem sogenannten normalem weiblichen oder männlichen Erscheinungsbild operativ anzupassen, vgl. Klöppel XX0XY ungelöst; Kessler, S.: Lessons from the Intersexed. London 1998, Voss, H.-J.: Making Sex Revisited. Bielefeld 2010; Eckert: Intervening.
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ne Voraussetzungen und seine Folgen für die Gesellschaft und in diesem Sinne auch den modernen Nationalstaat.
S YMBOLISCHE O RDNUNGEN UND G ESCHLECHTERGESCHICHTE Frauen wurden erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu den Olympischen Spielen zugelassen, etwa zur gleichen Zeit, als sie das erste Mal wählen gehen durften (in manchen europäischen Staaten viel später) und zur etwa gleichen Zeit, als sie Zugang zu den Universitäten bekamen. Die erste Frauenbewegung war durchaus erfolgreich, der öffentliche Raum wurde zugänglicher für Frauen. Jedoch wurde zur gleichen Zeit ihre natürliche Minderwertigkeit extensiv diskutiert und ihre eigentlich unrechtmäßige Präsenz im öffentlichen Raum ständig erneut festgestellt. So beschreibt Edward Carpenter 1896, der im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen einen Sinn für Gleichberechtigung hatte, die Situation kurz vor der Jahrhundertwende wie folgt: »In late years (and since the arrival of the New Woman amongst us) many things in the relation of men and women to each other have altered, or at any rate become clearer. The growing sense of equality in habits and customs – university studies, art music, politics, the bicycle etc. – all these things have brought about a rapprochement between the sexes.« 32
Foucault, der sich mit Hermaphroditismus, vor allem durch die Herausgabe der Tagebücher von Herculine Barbin, aber auch mit der Diskursivierung und Herstellung des (wissenschaftlichen) Konzeptes von Sexualität zum gleichen Zeitraum beschäftigt hat, hat sich auch mit den Zusammenhängen von Sexualität, Geschlecht und dem modernen Nationalstaat auseinandergesetzt: »Biologische Sexualtheorien, juristische Bestimmungen des Individuums und Formen administrativer Kontrolle haben seit dem 18. Jahrhundert in den modernen Staaten nach und nach dazu geführt, die Idee einer Vermischung der beiden Geschlechter in einem einzigen Körper abzulehnen und infolgedessen die freie 32 | Carpenter, E.: The intermediate sex. A study of some transitional types of men and women. London 1921 [1896], 16.
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Entscheidung der zweifelhaften Individuen zu beschränken. Fortan jedem ein Geschlecht, und nur ein einziges. Jedem seine ursprüngliche sexuelle Identität, tiefgründig, bestimmt und bestimmend; was die Merkmale des anderen Geschlechts betrifft, die unter Umständen in Erscheinung treten, so können sie rein zufällig sein, oberflächlich oder sogar einfach trügerisch.« 33
Ich werde später darauf eingehen, wie sich Geschlecht und seine Bestimmung zur Herausbildung des modernen Nationalstaates verhält. Zuerst möchte ich jedoch auf die Geschichte der Geschlechterforschung zurückgreifen, um die symbolische Ordnung, die sich immer auch zur politischen Ordnung verhält, zu erläutern. Der Ursprung des sogenannten Expertentums über Geschlecht geht einige Jahrtausende zurück. Bekannt sind hier insbesondere Platon (428/ 427-348/347 v. Chr.) oder Aristoteles (384-322 v. Chr.), deren medizinische Erklärungen weit rezipiert wurden, vor allem von Claudius Galen von Pergamon (131-201 n. Chr.), einem Arzt der Antike. Galens Theorien wurden sehr anschaulich für nachfolgende Generationen aus Sicht der Geschlechtergeschichte von Thomas Laqueur aufgearbeitet.34 Von ihm wissen wir, dass es nicht immer ein Zweigeschlechtermodell gegeben hat. Laqueur zeigt, dass Geschlecht im Eingeschlechtermodell zwar auch hierarchisch, aber nicht binär konzipiert wurde.35 Intersex*ualität oder Hermaphroditismus haben erst im 19. Jahrhundert eine wachsende und umgreifende Aufmerksamkeit erfahren.36 Während dieser Zeit wuchs das wissenschaftliche Interesse, Geschlecht als naturgegeben und als binär zu definieren. Die aufkommende erste Frauenbewegung in den europäischen Staaten hat durch ihre Forderungen maßgeblich zu einer Irritation in den patriarchalen Gesellschaften beigetragen. Die Reaktion war eine wissenschaftliche Bestimmung von Weiblichkeit – in erster Linie tatsächlich Weiblichkeit, da die Bestimmung der Anomalität immer vor der Be-
33 | Foucault, M. (Hg.): Über Hermaphroditismus. Der Fall Barbin. Frankfurt a.M. 1998. 8f. 34 | Vgl. Laqueur, T.: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. London 1990. 35 | Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst. 36 | Ebd.
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stimmung der Norm geschieht.37 Da Männlichkeit als Repräsentantin von Normalität gesetzt ist, muss Weiblichkeit zuerst einer Prüfung und Definierung unterzogen werden. Vor allem die Psychoanalyse ist hier ein dominanter Diskurs, der zumindest bis in die heutige Zeit in der westlichen Gesellschaft, mehr als beispielsweise soziologische Theorien (Simmel, Weber) rezipiert wird. Die Freudsche Sicht auf Weiblichkeit und den Mangel des Phallus wurde von Lacan weiter ausgeführt und kann auch heute noch als Erklärungsmuster von Zweigeschlechtlichkeit und seiner Wirkmächtigkeit in der symbolischen Ordnung dienen. Frauen haben keinen Penis, sie haben keinen Phallus, was verkürzt ausgedrückt viele psychoanalytisch ausgebildete Leser_innen sehr schmerzen wird, jedoch ist dieser Mangel des Phallus (nach Lacan sind Frauen der Phallus, aber können keinen haben) immer mit dem Mangel – wie symbolisch auch immer – des Penis gleichzusetzen (insbesondere dann, wenn es in einer heteronormativen Gesellschaft um Begehren geht).38 Luce Irigaray beschreibt, dass der weibliche Körper unter mehrfacher Hinsicht als Mangel konstruiert wird. Der weibliche Körper wird als Kontrast oder als Gegenstück zum normativen männlichen Körper konstruiert und diese Konstruktion verursacht eine negative Definition des Weiblichen.39 Die lacansche Psychoanalyse, an der Irigaray sich abarbeitet, ist einem Phallozentrismus verpflichtet, der binäre Oppositionen wie Penis/Mangel, Einssein/Anderssein und männlich/weiblich wahrnimmt.40 Semenyas Körper ruft gerade im Leistungssport solch Unbehagen hervor, weil er den weiblichen Mangel (die Penis-Absenz) nicht hat. Im Leistungssport wird davon ausgegangen, dass Frauen eine andere Wettbewerbskategorie brauchen als Männer, weil sie diesen Mangel haben. Männer jedoch glänzen durch Absenz des Mangels. Da vermutet wird, dass Semenya keinen Mangel hat, folgt, dass sie ein Mann sein muss. Semenya 37 | Vgl. Foucault, M.: Abnormal. Lectures at the Collège de France 1974-1975, New York 2003. 38 | Vgl. Lacan, J.: Écrits. A selection. London 1989; Theresa Brennan schreibt hierzu »The phallus, when it is tied to the advent of desire, is tied to the visually significant penis.«, vgl. Brennan, T.: History after Lacan, London 1993, 52. 39 | Vgl. Irigaray, L.: This sex which is not one. Ithaca, New York 1985. 40 | Vgl. Inahara, M.: This body which is not one: The body, femininity and disability. Body & Society, 15 (1), 2009, 49.
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hat demnach einen Mangel an Mangel.41 Ein weiblicher Körper mit Mangel an Mangel muss demnach männlich sein, was im Leistungssport einen unfairen Vorteil produziert. Einen Vorteil über weibliche Körper. Semenya ist demnach zu athletisch und eine zu starke Konkurrenz für die anderen »normalen« Frauen. Kurz gesagt, um eine richtige Frau zu sein, muss man schlechter sein als ein Mann. Männlichkeit wird demnach als biologischer Exzess konstruiert, aber als einer, der athletische Standards repräsentiert. Frauen können demnach nur gewinnen, wenn sie gegen Frauen antreten, nur dann haben sie eine Chance. Verkürzt gesagt, nur Mangel kann gegen Mangel antreten.
E IN DRIT TES G ESCHLECHT ? Was würde jedoch passieren, wenn es eine eigene Kategorie gäbe, für diejenigen als intersex* identifizierten Personen? Intersex* wird oft als drittes Geschlecht bezeichnet. Vor allem in anthropologischer Forschung werden hier verschiedene nicht-normative Geschlechter unter diesen Begriff gefasst.42 Die Darstellung verschiedener historischer und kultureller Ausprägungen nicht-normativer Geschlechter wird unter den Begrifflichkeiten drittes sex oder drittes gender zusammengefasst und verursacht dadurch nicht nur eine unzulässige Vereinheitlichung der unterschiedlichsten Lebens- und Ausdrucksformen, sondern stellt im gleichen Moment auch die beiden normativen Geschlechter wiederum als »rein«, natürlich und normal her. Mit der Vereinheitlichung aller nicht-normativen Geschlechter unter eine Kategorie werden die Kategorien Mann und Frau als überregional, ahistorisch und selbstverständlich konstruiert. Das erste und zweite Geschlecht,43 also Mann und Frau erfahren durch die Konstruktion einer dritten Kategorie: Alle Geschlechter, die nicht als erstes und zweites Geschlecht zählen, erfahren eine erneute Bekräftigung, die eine Homogenität in den ersten beiden Kategorien herstellt. Nicht nur im Leistungssport sind diese beiden Kategorien fiktiv, zufällig und willkürlich. Wäre es nicht sinnvoller, wenn die Beinlänge für 41 | Vgl. Vannini; Fornssler: Girl, Interrupted. 42 | Vgl. Herdt, G. (Hg.): Third Sex Third Gender. Beyond Sexual Dimorphism in Culture and History. New York 1994. 43 | Vgl. Beauvoir, Le deuxième sexe.
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das Laufen ausschlaggebend wäre? Wäre es beim Hochsprung nicht einleuchtender, die Größe einer Person als Kriterium für den Wettbewerb zu nehmen? Würde es nicht mehr Sinn machen, die Muskelmasse in Bezug auf das Körpergewicht und die Größe einer Person zu berechnen, um dann als gleich evaluierte Körper gegeneinander antreten zu lassen? Oder würde das wiederum den Wettbewerbssport an sich der Notwendigkeit einer Neudefinition unterziehen? Ist nicht eben genau die Heterogenität der Wettbewerbsteilnehmenden und der unidentifizierbaren Unterschiede das eigentlich Spannende und »Unheimliche« am Leistungssport? Die Idee mancher44 ein dritte Kategorie für Intersex* in den Leistungssport einzuführen ist der Idee geschuldet, dass auch Männer und Frauen als Kategorien komplementär und in sich homogen seien. Demnach gibt es die Vorstellung, dass Intersex* auch eine homogene Kategorie wäre. Intersex* jedoch ist ebenso heterogen wie die Kategorien männlich und weiblich.45
I NTERSE X*UALITÄT IN DER W ISSENSCHAF T – WISSENSCHAF TLICHE I NTERSE X *UALISIERUNG Intersex*ualität ist kein Phänomen, vielmehr das Reden über intersex* und das Bestreben intersex* zu definieren, sind das Phänomen.46 In den USA schreiben feministisch- und queer-Theorie-inspirierte Autor_innen schon seit mehreren Jahrzehnten über dieses wissenschaftliche Phänomen der Intersex*ualisierung. Intersex*ualisierung ruft auch in Deutschland seit ein paar Jahren großes Interesse hervor. Insbesondere nach der Übersetzung von Judith Butlers Thesen in »Das Unbehagen der Geschlechter« haben auch deutsche Forscher_innen begonnen, das Thema aus geisteswissenschaftlicher Perspektive zu betrachten.47 Im anglophonen Sprachraum, vor allem in den feministisch beeinflussten Wissensgebieten, wie 44 | Vgl. Vannini; Fornssler: Girl, Interrupted. 45 | Zu den verschiedenen biomedizinischen Kategorien, die unter die Diagnose Intersex*ualität fallen, siehe Fausto-Sterling, Sexing the body. 46 | Vgl. Holmes, M.: Queer cut bodies. In: Queer Frontiers. Millennial Geographies, Genders, and Generations, edited by J. Boone et al. Madison 2000, 84110; Eckert: Intervening. 47 | Vgl. Dietze, G.: Schnittpunkte. Gender Studies und Hermaphroditismus. 2006, 46-68.; Klöppel, U.: »Störfall« Hermaphroditismus und Trans-Formationen
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der Ethnographie und der Soziologie, haben schon in den 80er Jahren Wissenschaftler_innen begonnen, das Thema Intersex* kritisch zu beleuchten.48 Kritische Biolog_innen haben sich mit dem biologischen Zweigeschlechtersystem (sex) beschäftigt und unterschiedliche Alternativen in der Konzeptualisierung von Geschlecht angeboten (insbesondere Anne Fausto-Sterling49). Hier wurden nicht nur biologische Argumente für ein anderes Konzept von biologischem Geschlecht (sex) angeboten, sondern auch die ethischen Komponenten der Behandlung von als intersex* identifizierter Kinder betrachtet50 und die Argumentationen und Meinungen von behandelnden Ärzten untersucht. Kessler zitiert eine Aussage, die die Anfänge eines Umdenkens bei Mediziner_innen anzeigt. Die interviewte Person fragt sich: »Why do we do all these tests if in the end we’re going to make the decision simply on the basis of the appearance of the genitalia?«51 Die weitere Auseinandersetzung zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde stark von der aufkommenden intersex* Bewegung (vor allem aus den USA) und der wachsenden Bereitschaft von Mediziner_innen, mit »Betroffenen« ins Gespräch zu kommen, beeinflusst. Jedoch ist in der Debatte zwischen Intersex*ualisierten und Mediziner_innen ein Ungleichgewicht zu entdecken, das den Behandelnden einen Expertenstatus zu- und den Behandelten abspricht. Die Intersex*-Bewegungen (zum Beispiel Aissg, Accord Alliance, OII) sind sehr unterschiedlich in ihren Zielsetzungen und ihren Absichten. So verfolgen nach Davidson manche einen eher evolutionären, andere einen revolutionären Ansatz.52 Diese beiden Ansätze unterscheiden sich in ihrer Perspektive auf Geschlecht und die damit einder Kategorie »Geschlecht«. 2002, 137-150, Klöppel, XX0XY; Voss, H.-J.: Making Sex Revisited, Bielefeld 2010; Eckert: Intervening etc. 48 | Vgl. Kessler, S.; McKenna, W.: Gender: An Ethnomethodological Approach. London 1978. 49 | Vgl: Fausto-Sterling, A.: The Five Sexes: Why Male and Female are not enough. The Sciences 33, March/April 1992, 20-25; Fausto-Sterling, Sexing the body. 50 | Vgl. Dreger, A. D.(Hg.): Intersex in the Age of Ethics. Hagerstown 1999. 51 | Kessler, S.: The Medical Construction of Gender: Case Management of intersexed Infants. 1990, 13. 52 | Vgl. Davidson, R.: DSD debates: social movement organizations’ framing disputes surrounding the term ›Disorders of Sex Development.‹ Liminalis, 3, 2009, 60-80.
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hergehenden Zuweisungen und Operationen (an Kindern). Die grundsätzliche Frage, die hier gestellt wird, ist die nach der Notwendigkeit eines eindeutigen Geschlechts und seiner Zuweisung durch Mediziner_innen bei der Geburt eines als intersex* identifizierten Kindes. Foucault, der die Biographie Herculine Barbins herausgab, versah sie mit einem Begleitwort, aus dem die immer noch zu stellende Frage stammt: Brauchen wir ein wahres Geschlecht?53 Im Fall Caster Semenya geht es nicht um ein wahres Geschlecht oder seine Herstellung und Definition, sondern um das beste oder legitimste Geschlecht. Ein Geschlecht, das uns immer zu einer oder der anderen Kategorie zuordenbar und damit auch kontrollierbar macht. Ein Geschlecht, das innerhalb gesellschaftlicher Repräsentation, wie in der Sphäre des Leistungssportes und damit auch innerhalb der zweigeschlechtlichen Ordnung des modernen Nationalstaates einen Sinn ergeben kann.
S TÖRUNGEN DER SOZIALEN E NT WICKLUNG Die Wissenschaftshistorikerin Myra Hird war 2000 auf der Konferenz »Atypical Gender Identity Development: Therapeutic Models, Philosophical and Ethical Issues« der Tavistock/Portman Klink. Hird berichtete neben einer Zusammenfassung der Beiträge Folgendes: Vorträge wurden von Psychiater_innen, Psycholog_innen und Mediziner_innen, die mit intersex* und trans* Patient_innen aus England, Kanada und den USA arbeiten, gehalten. Den Vorträgen zufolge waren sich alle einig, dass »normale« Mädchen Kleider und »normale« Jungen Hosen mögen und tragen. Hird berichtet weiterhin von ihrer Verblüffung, bezüglich folgender Situation: »All the female clinicians, including the presenters were wearing trousers. Moreover, none of the female clinicians in the small group wore nail polish or high heels and use of make-up was minimal.«54 All die Kriterien, die von den Vortragenden als Insignien normaler Weiblichkeit definiert wurden und bei ihrer Absenz als Zeichen von Geschlechtsidentitätsstörungen gedeutet wurden, wurden von den Expert_innen selbst nicht getragen. Hird schließt daraus, dass weibliche Expert_innen die Aussagen 53 | Vgl. Foucault, M. (Hg.): Herculine Barbin. Frankfurt a.M. 1998. 54 | Hird, M.: A Typical Gender Identity Conference? Some Disturbing Reports from the Therapeutic Front Lines. 2003, 189.
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über Geschlechtsidentitätsstörungen machen, sich selbst, wenn sie nur in dieser Logik kohärent wären, als »gestört« in ihrer geschlechtlichen Identität diagnostizieren müssten (»made assessments of GID based on behaviors, roles, clothing and so on which, by their own assessment, would render themselves as suffering from GID«).55 Demnach muss die Geschlechtsrolle gerade von Menschen, denen eine Intersex* oder Trans* Diagnose gegeben wird, übererfüllt werden.56 Jedoch ist diese Übererfüllung nicht nur auf die äußerliche Repräsentation bezogen, sondern sie geht viel weiter. Die Koordinaten, die uns gesellschaftlich verorten, sind binär organisiert. Die Ausrichtung an diesen Koordinaten ist gesellschaftlich sanktioniert. Sichtbar wird diese Ausrichtung erst dann, wenn sie eine Herausforderung darstellt. Im Fall Semenya wurde Geschlecht als Koordinate im Leistungssport überdeutlich; was diese Sichtbarmachung verursacht hat, ist nicht Semenyas Körper, sondern die Störungen, die in Bezug auf die klaren Grenzen gesellschaftlicher Verortung von Körpern entstanden sind. Im Oktober 2005 auf einer Konferenz in Chicago, die von der Lawson Wilkins Pediatric Endocrine Society (LWPES) und der European Society for Pediatric Endocrinology (ESPE), ausgerichtet wurde, kamen 50 internationale Expert_innen und 2 Intersex*-Aktivist_innen zusammen, um neue Forschung- und Behandlungsperspektiven zu formulieren. Die entstandene Publikation, das sogenannte ›Consensus Statement‹, führte den neuen Begriff ›Disorders of Sexual Development‹ (DSD)57 als Bezeichnung für Intersex*ualität ein. In diesem Dokument ist folgender Satz zu finden: »a key point to emphasize is that the DSD child has the potential to become a well-adjusted, functional member of society«58 . Wiederum wird hier die Notwendigkeit der Anpassungsfähigkeit und der Funktionabilität der zu behandelnden Person aufgegriffen und ins Zentrum der derzeitigen Behandlungsmaximen gestellt. Ich finde auch hier wieder die Wortwahl besonders interessant: To be well-adjusted kann ins Deutsche nicht nur als 55 | Ebd., 190. 56 | Vgl. Klöppel: »Störfall«, 173. 57 | Oft wird der Begriff auch als Disorders of Sexual Differentiation gehandelt. Im ursprünglichen »Consensus Statement« wird DSD jedoch als Disorders of Sexual Development bezeichnet; Hughes, I.A. et al.: Consensus statement on management of intersex disorders. Archives of Disease in Childhood, 91, 2006, 554-563. 58 | Ebd., 151.
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angepasst, sondern auch als bereinigt oder eingestellt übersetzt werden. Operative Eingriffe an intersex*ualisierten Kindern, die jetzt unter dem Begriff DSD gefasst werden, stellen demnach unter der neuen Nomenklatur eine Störung dar, die bereinigt werden muss. Alyson Spurgas hat die Begrifflichkeit des DSD wie folgt beschrieben: »[DSD] positions the pre-/ post-/intersex body as a haunted body that must be constantly surveilled and preemptively managed, so that the individual’s at-risk status is never realized, the ambiguity is kept in (profitable) remission, and the (hetero-) normative identity remains secure«.59 »Disorder of Sexual Development« wird oft als »Störung der Geschlechtsentwicklung« ins Deutsche übersetzt.60 Meine polemische Ausgangsfrage an dieses Konzept möchte ich hier gerne mit meinen Leser_innen teilen, vor allem, weil diese Frage in meinem Nachdenken über Intersex*ualisierung in den Nationenstaat ein wichtiger Moment war. Ist diese Bezeichnung, und vor allem auch die Behandlung von als intersex* bezeichneten Menschen nicht eher die Störung? Stellen nicht die gewaltsamen operativen Eingriffe an Körpern eine »soziale Störung« dar? Ist nicht die Ignoranz und Auslöschung der Vielfalt von sex zugunsten eines Zweigeschlechter-Systems die soziale Störung? Was würde mit sex passieren, wenn eine immer noch hierarchische und patriarchalische Gesellschaft von dem Konzept gender Abschied nehmen würde? Die Dissoziation des Konzeptes gender von sex, also dem sogenannten biologischen oder materiellen Körper ist die Voraussetzung für die Differenzierung und auch die Pathologisierung von beiden Konzepten. Wäre es möglich sex als solches, als solch ein variables materielles Erscheinungsbild, das es ist, zu denken, hätte gender eigentlich keine Existenzberechtigung mehr. Körper und ihre Materialität sind vielfältiger als das Konzept gender es jemals sein kann. Gender ist ein soziales Konzept, das der symbolischen Ordnung zufolge binär angelegt ist. Diese dichotome symbolische Ordnung ist immer hierarchisch angeordnet, da Gesellschaften sich hierarchisch organisieren. Was also würde mit sex passieren, wenn gender keinen Einfluss mehr auf die Wahrnehmung und Konzeption von sex hät59 | Spurgas, A.K.: (Un)Queering identity: The biosocial production of Intersex/ DSD. Farnham 2009, 114. 60 | Vgl. zum Beispiel Thyen, U.; Hampel, E.; Hiort, O.: Störungen der Geschlechtsentwicklung. Disorders of sex development. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 2007, 1569-1577.
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te? Was könnte nicht nur mit sex passieren, sondern auch mit Sexualität? Ich meine hier Sexualität als immer schon auf binärem sex basierend konzeptionalisiert. Sexualität als Begegnung zwischen Körpern, Sexualität als nicht nur, sondern eher unter ferner liefen mit Reproduktion assoziiert? Was würde passieren, wenn wir sex als so vielfältig denken, wie menschliche (und auch tierische und pflanzliche) Körper auf dieser Welt erscheinen? Wie würde unser Konzept von Sexualität sich verändern müssen, wenn wir anfingen, sex als nicht-binär wahrzunehmen? Die wenigsten Arten der sexuellen Interaktion zwischen (menschlichen) Lebewesen sind ausschließlich auf Reproduktion ausgelegt. Andere Resultate von Sexualität oder vielleicht eher Erfahrung, während der sexuellen Begegnung, sind in vielen Fällen wichtiger als die reproduktiven Zukünftigkeiten, Aspekte oder Möglichkeiten. Sobald gender als soziales Konzept mit sex in Verbindung gebracht wird, wird sex wie auch Sexualität immer schon in Zusammenhang mit einer heteronormativen, reproduktiven und sozial effektiven Ordnung verstanden. Sex als Konzept, und die Biologen sind sich darüber einig, ist ein bisher ungeklärtes Phänomen. Gender jedoch ist ein Konzept, das gesellschaftliche (und symbolische) Ordnungen widerspiegelt und erklärt (allerdings auch reproduziert). Gender ist zwar fähig, so etwas wie ein drittes Geschlecht zuzulassen, jedoch bestätigt ein drittes auch immer das erste und zweite Geschlecht. Die Dichotomie und vor allem die Hierarchie wird hier nicht gebrochen, im Gegenteil, sie wird vielmehr bestärkt – denn so wird es vermutlich immer ein erstes, zweites und ein drittes Geschlecht geben. Auch die Vorstellung eines Kontinuums von Geschlecht (hier immer gender und sex als eines gedacht) ist wenig hilfreich, wenn wir gender dekonstruieren wollen.61 An einem Punkt des Kontinuums wird trotzdem der maskuline Mann und am »gegenüberliegenden« Punkt die feminine Frau stehen. Irgendwo in der indifferenten, gesellschaftlich unidentifizierbaren Mitte wird das dritte Geschlecht liegen. Für die gesellschaftliche Ordnung ist dies auch irrelevant – aber nur dann, wenn wir diese gesellschaftliche Ordnung weiterbestehen lassen und als natürlich begreifen. Auch nur dann, wenn wir weiter sex als binär denken und unser Verständnis von Sexualität bestimmen lassen.
61 | Vgl. Eckert, L.: The Category of ›the Third‹ — some theoretical and political implications. Liminalis. Zeitschrift für Geschlechtliche Emanzipation 1, 2007, 6-19.
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G ESELLSCHAF T UND A K TIVISMUS , Q UEER - ANARCHISTISCHE Ü BERLEGUNGEN Verschiedene Intersex* Bewegungen haben sich für unterschiedliche Strategien entschieden, um die psychologische und physiologische Gewalt gegen Menschen, die als intersex* diagnostiziert wurden, zu bekämpfen.62 Dass es sozial-politische Bewegungen gibt, die sich mit diesem Thema beschäftigen, bestätigt meine Annahme, dass intersex* kein medizinisches Problem ist, sondern ein sozial-politisches. Die meisten Intersex*-Bewegung haben ähnliche Ziele: sie wollen den Fokus auf gender hin zu einem Fokus auf medizinische Notwendigkeiten richten. Mit Robert Davidson habe ich die Unterscheidung zwischen solchen Bewegungen gemacht: Bewegungen, die einen eher revolutionären und anderen, die einen eher evolutionären Charakter haben.63 Die Bewegungen, die wir unter »evolutionär« gefasst haben, zielen darauf ab, die Methoden, nach denen entschieden wird, wie Intersex* medikalisiert wird, zu verändern. Das wichtigste Anliegen ist hier innerhalb des medizinischen Paradigmas zu argumentieren und anhand einer medizinischen Sprache für eine Veränderung in der Intersex*-Behandlung zu arbeiten. Die Bewegungen, die wir als revolutionär bezeichnet haben, lehnen den medizinischen Diskurs um Intersex* und auch die Sprache mit der Intersex* verhandelt wird, ab.64 Viele der Aktivist_innen, die in diesen Bewegungen organisiert sind, gehen davon aus, dass ihr »Problem« kein medizinisches, sondern ein gesellschaftlich-politisches ist. Demnach liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Organisation von Gesellschaft und den Strukturen von sex und gender. Diese Graswurzelbewegungen sind nicht willens, den medizinischen Diskurs zu bedienen und bewegen sich auch oft nicht in Sprachparametern, die auf den ersten Blick intelligibel sind.65 62 | Dreger, A. D.; Herndon, A.M.: Progress and politics in the intersex rights movement. 2009, 199-224. 63 | Vgl. Davidson, R.; Eckert, L.: DSD debates: identifying revolutionary and evolutionary approaches. Paper given at the Disorderly Conduct conference, Wilfrid Laurier University, CA, July 24-26, 2009. 64 | Vgl. Davidson: DSD debates, 64. 65 | Vgl. OII, n.d.: FAQ: About the Organisation Intersex International. www. intersexualite.org/Organisation_Intersex_International.html (Zugriff: 01.09. 2011).
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G ESCHLECHT UND N ATION Foucault stellte in einer seiner Vorlesung fest »being homosexuals, we are in a struggle with the government, and the government is in a struggle with us«.66 Was mich hier interessiert, ist Foucaults Feststellung, dass es eine Störung oder sogar einen Kampf zwischen nicht-normativer Sexualität und damit auch dem Zweigeschlechtersystem und dem modernen Nationalstaat gibt. Ich möchte also der Frage nach einer In-BeziehungSetzung verschiedener Graswurzelbewegungen und deren Denkbewegungen innerhalb der modernen Nationalstaaten, deren Organisation auf dem Zweigeschlechtersystem beruht, nachgehen. Der moderne europäische Nationalstaat ist ein relativ neues politisches Gebilde, das nicht nur in erster Linie, sondern aufgrund seiner Entstehungsgeschichte männliche Individuen in einer politischen Gemeinschaft zusammengeschlossen hat. Das Zweigeschlechtersystem, wie wir es heute noch kennen, ist demnach von zentraler Bedeutung für die Herausbildung von Nationalstaaten gewesen. Das Konzept Nation basiert auf dem Konzept Zweigeschlechtlichkeit in seinen vielfältigen aber immer hierarchischen Verhältnissen. Feministische Studien zur Gleichzeitigkeit der Entstehung von Nationenstaaten und Geschlechterhierarchie haben aufgezeigt, dass mit der Emanzipation des Bürgers (der vorher Untertan war in der Feudalgesellschaft) die Institutionalisierung und Konstruktion der bürgerlichen Ehe einherging (Unterwerfungsvertrag).67 Erna Appelt schreibt, dass »[die] soziale und politische Kategorie Geschlecht [ist] eines der wichtigsten strukturbildenen Elemente von Staat und Nation« ist.68 Der Begriff Nation wurde seit dem 18. Jahrhundert in unterschiedlichster Weise definiert. Jedoch sind alle Definitionen darauf ausgerichtet, festzulegen, welche Kriterien eine Zugehörigkeit oder einen Ausschluss 66 | Foucault, M.: Sex, power, and the politics of identity. New York 1997. 67 | Vgl. Pateman, C.: »God has Ordinained to Man a Helper«: Hobbes, Patriarchy and Conjugal Rights. Cambridge 1991; Frevert, U.: »Mann und Weib, und Weib und Mann« Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München 1995; Frevert, U.: Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit. Frankfurt a.M. 1996; Rumpf, M.: Staatsgewalt, Nationalismus und Geschlechterverhältnis in der Frühen Neuzeit. Tübingen 1996. 68 | Appelt, Erna: Geschlecht, Staatsbürgerschaft. Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa. Frankfurt a.M. 1999, 20.
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zu einer Nation herstellen. Demnach bedeuten diese Kriterien somit die Herstellung von Identitäten und damit immer auch die Bestimmung des Nicht-Identischen, also des Außen, des Anderen, des Fremden. Damit ist das Konzept des Nationenstaates eines, das definiert, wer dazugehört, wer legitim »innen« ist und wer nicht. Der Zugriff des Nationenstaates auf diejenigen, die als zugehörig definiert werden, ist demnach eine politische Herstellung von Identitäten. Die feministische Forschung hat die Entstehung der Industriegesellschaften bereits überzeugend in Beziehung mit der Transformation dem System der Zweigeschlechtlichkeit und den Veränderungen in der Bedeutung der modernen Familie als Sozialisationsinstanz gesetzt.69 Der moderne Nationalstaat wird als autonom verstanden, dem die männlichen Bürger ihre Macht übertragen. Zur gleichen Zeit entstand ein Verständnis von Männlichkeit oder Männlich-Sein, das sich von einem Verständnis von Weiblich-Sein oder Weiblichkeit abgrenzen musste. Die Erfindung des modernen Nationenstaates ging Hand in Hand mit der Erfindung der Trennung von Weiblichkeit und Männlichkeit, von Öffentlich und Privat, von Autonom und Abhängig. Ebenso gab es eine Militarisierung des männlichen Staatsbürgers. Die moderne Familie und ihre Sozialisationsmechanismen sind zu tiefst verbunden mit der Legitimierung des hierarchischen Geschlechterverhältnisses. Der Begriff des Bürgers, und zwar des männlichen, nicht des weiblichen Bürgers, ist ein Schlüsselbegriff der europäischen Nationenstaaten. Alle männlichen Bürger sind hier »gleich« und werden als solche verstanden. Diese haben demnach die Gemeinsamkeit der politischen Partizipation. Nur männliche Bürger haben den Status eines politischen Bürgers, der sich nach Appelt dreifach abgrenzt.70 Erstens nach oben gegenüber der Obrigkeit, zweitens nach außen gegenüber Fremden und drittens nach innen gegenüber dem Binnenbereich der familial organisierten Privatsphäre, der Produktionsbetriebe und damit denjenigen, die abhängig sind, und daher keine Gleichen unter Gleichen sind. Diese Nicht-Gleichen unter Gleichen sind im modernen Nationalstaat in erster Linie Frauen. Staatsbürgerschaft definiert sich einerseits über die Inklusion der Gleichen und andererseits der Exklusion 69 | Vgl. Bernold, M. et al.: Familie: Arbeitsplatz oder Ort des Glücks? Historische Schnitte ins Private. Wien 1990; Mazohl-Wallnig, B.: Bürgerliche Frauenkultur im 19. Jahrhundert. Wien 1995. 70 | Vgl. Appelt: Geschlecht, Staatsbürgerschaft. Nation, Frankfurt a.M. 1999, 15ff.
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derer, die nicht gleich sind. Dieser Prozess, in dem wir uns immer noch befinden, auch wenn der öffentliche Raum zunehmend von Frauen erobert wird (sogar im Leistungssport können Frauen inzwischen eine Geschichte verzeichnen), ist der Prozess der Institutionalisierung der Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatheit. Der moderne Nationalstaat basiert auf dieser Dichotomie, die durch und über das Zweigeschlechtersystem verhandelt und repräsentiert wird. Was würde es also heißen, Geschlecht nicht mehr binär zu denken? Was würde es heißen, Geschlecht nicht mehr binär zu leben? In erster Linie würde das vermutlich heißen, dass wir von vielen binären Organisationsstrukturen Abschied nehmen müssten, die nicht nur unsere Körper in eine binäre Architektur einlassen, sondern auch unsere Arbeitsverhältnisse und unsere Kommunikationsstrukturen – im Zuge dessen auch die jene Struktur, die diese einzelnen Verhältnisse zusammenhält: den Nationalstaat. Herrschaft auf nationaler und geschlechtlicher Ebene wird dann prekär, wenn Irritation entsteht; denn so wird sie sichtbar. Im Falle von Caster Semenya wird klar, dass ein Event wie die Olympischen Spiele, die bisher auf dem Wettbewerb zwischen Nationalstaaten beruht haben, prekär wird. Das Koordinatensystem der Zweigeschlechtlichkeit wird herausgefordert und sichtbar, wenn seine Grenzen von anderen Entwicklungen tangiert werden. Geschlecht ist das wichtigste Instrument der Nationalstaaten. Vielleicht dient die Grenzziehung, wenn es bei Olympia dem Kampf der Völker, um Geschlecht geht, der Versicherung der alten Ordnung. Vielleicht zeigt aber auch die Angst um die Geschlechtergrenzen nur die Angst um die Grenzen zwischen den Nationalstaaten.
O RDNUNGEN – NATIONAL UND GESCHLECHTLICH – EIN A USBLICK Mit dem Begriff Intersex*ualisierung habe ich versucht, den Prozess zu benennen, durch den bestimmte Körper psychologischen und physiologischen Normalisierungsprozessen unterworfen werden.71 Das Zweigeschlechtersystem des modernen Nationalstaates ist so rigide, dass es Körper, deren äußere und innere Erscheinungsformen nicht den zuvor gesetzten Parametern entsprechen, diesen durch menschliches Eingreifen 71 | Vgl. Eckert: Intervening.
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angepasst werden müssen. Das heißt nicht, dass es diese Körper nicht gibt; es heißt aber auch, dass es kein natürliches Zweigeschlechtersystem gibt. Wenn Körper existieren, deren Materialität die Vorstellung eines Zweigeschlechtersystems übersteigt, muss das notwendigerweise heißen, dass dieses System nicht alle existierenden Körper fassen kann und sie zurichten muss, demnach also fehlerhaft ist. Graswurzel Intersex*-Bewegungen wie OII versuchen, ein Bewusstsein für dieses Verhältnis zu schaffen. Mit der Hilfe von queer-theoretischen Ansätzen und ihrem eigenen Erfahrungsschatz (zumeist gewaltvolle Eingriffe in die körperliche Integrität) stellen sie zur Diskussion, ob die Definition von Intersex*ualität als »Störung« gefährlich ist für das betroffene Individuum oder eher für die Ordnung einer heteronormative Gesellschaft. Mit dieser Diskussion entsteht meiner Ansicht nach eine Öffnung des Intersex*Diskurses für andere Störungen der heteronormativen Gesellschaft und ihrer Organisation. In erster Linie geht es hierbei um queere Subjekte, deren Begehren nicht in heteronormative Strukturen passt, aber auch an viele andere Subjekte und Zusammenhänge von Subjekten, deren Verhalten eine Störung der Ordnung ist. Heterosexualität hat also etwas mit der politischen Organisation des Nationalstaates zu tun. Feministische Analysen haben diese Verknüpfung dichotom organisierten Geschlechtern und Sexualität mit der Trennung von öffentlich und privat, reproduktiver Arbeit und Lohnarbeit, und insbesondere der Stellung der Kleinfamilie als kleinste Zelle des Nationalstaates weitreichend diskutiert ist.72 Intersex* hat in dieser binären, auf Reproduktion ausgelegter kapitalistischer Organisation keinen Platz – Intersex* ist hier unintelligibel.73 Doch können auch andere nicht-normative Sexualitäten, Geschlechter und Identitäten vom Nationalstaat nicht als adäquate Bürger_innen (an-)erkannt werden. Solange der moderne Nationalstaat auf Zweigeschlechtlichkeit als symbolische Verständlichmachung für die Trennung von Öffentlich und Privat, von Innen und Außen beruht, ruft jede Störung in Bezug auf heteronormative und binäre Kategorien Beunruhigung hervor. Im gleichen Moment jedoch definieren sie als Außen – als Objekte – die normative, intelligible Ordnung.74 Intersex* ist eine Vorbedingung für eine binäre Geschlechterkonstruktion; das Dritte bestätigt immer 72 | Vgl. Appelt, Erna: Geschlecht, Staatsbürgerschaft. Nation. Frankfurt a.M. 1999; Seemann, B.: Feministische Staatstheorie, Leverkusen 1996. 73 | Vgl. Butler, J.: Undoing Gender, New York 2004. 74 | Vgl. Kristeva, J.: Powers of Horror. New York 1982.
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das Erste und das Zweite. Intersex* und alle nicht-normativen Geschlechter und Sexualitäten sind demnach auch Vorbedingung für einen binär organisierten Nationenstaat. Intersex* ist eine Bedrohung für Heteronormativität und das Intersex*Management repräsentiert den Kampf von regierenden Institutionen (wie medizinischen Institutionen) mit allem was queer ist.75 In diesem nicht-intelligiblen, oder vielleicht auch nur sehr herausforderndem Sprachduktus gleichen sie sehr vielen Queer Theoretiker_innen, die die symbolische Ordnung infrage stellen. Oft muss ein Gedanke, der etablierte Gedankengänge infrage stellt, außerhalb der einfach verständlichen Sprachgewohnheiten formuliert werden, um sich selbst gerecht werden zu können. Gerade queer-theoretische Diskurse versuchen das: Gedanken zu finden, die ungewohnt sind und deren Ausmaß erst noch verstanden werden muss. Die symbolische und politische Ordnung und die Ordnung von Körpern hängen eng zusammen; auch die Beziehungen zwischen Körpern und ihren Organen und Körpern und anderen Körpern sind durch die symbolische Ordnung und Sprache hervorgebracht und definiert. Wollen wir diese Beziehungen infrage stellen, ist es oft nötig, eine andere Sprache und auch eine andere politische Organisationsform zu finden.
L ITER ATUR Appelt, E.: Geschlecht, Staatsbürgerschaft. Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa. Frankfurt a.M. 1999. Beauvoir, S. de: Le deuxième sexe. Paris 1949. Bernold, M. et al.: Familie: Arbeitsplatz oder Ort des Glücks? Historische Schnitte ins Private. Wien 1990. Brennan, T.: History after Lacan, London 1993. Butler, J.: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991. 75 | Ich möchte hier nicht implizieren, dass intersex* Menschen queer sind, da manche Intersex*Menschen sich explizit abgrenzen von diesem Begriff. Ich möchte vielmehr betonen, dass Intersex*Management als Praxis angelegt ist, heteronormative Binarität herzustellen und zu manifestieren. Gerade indem Intersex*Management-Praxen die Zeichen von Intersex* auslöscht, aufgrund derer sie überhaupt agieren, stellen sie die etablierten Ordnungen immer aufs Neue her.
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—: Undoing Gender, New York 2004. Carpenter, E.: The intermediate sex. A study of some transitional types of men and women. London 1921 [1896]. Cavanagh, S. L.; Sykes, H.: Transsexual bodies at the Olympics: The international Olympic committee’s policy on transsexual athletes at the 2004 Athens Summer Games. Body and Society 12 (3), 2006, 75-102. Chase, C. Letter to the Editor. The Journal of Urology 156, 3, 1996, 1139-1140. Davidson, R.: DSD debates: social movement organizations’ framing disputes surrounding the term ›Disorders of Sex Development.‹ Liminalis, 3, 2009, 60-80. Davidson, R.; Eckert, L.: DSD debates: identifying revolutionary and evolutionary approaches. Paper given at the Disorderly Conduct conference, Wilfrid Laurier University, CA, July 24-26, 2009. Dietze, G.: Schnittpunkte. Gender Studies und Hermaphroditismus. In: Dietze, G, Hark, S (ed.), Gender Kontrovers. Genealogien und Grenzen einer Kategorie, Königstein 2006, 46-68. Dreger, A. D.: Hermaphrodites and the Medical Invention of Sex. London 1998. Dreger, A.D. (Hg.): Intersex in the Age of Ethics, Hagerstown, Maryland 1999. Dreger, A. D., & Herndon, A. M.: Progress and politics in the intersex rights movement. GLQ: A Journal of Lesbian & Gay Studies, 15, 2009, 199-224. Eckert, L.: The Category of ›the Third‹ – some theoretical and political implications. Liminalis. Zeitschrift für Geschlechtliche Emanzipation 1, 2007, 6-19. —: Intervening in Intersexualization: The Clinic and the Colony (Doctoral Dissertation Universiteit Utrecht) 2010. Fausto-Sterling, A.: The Five Sexes: Why Male and Female are not enough. The Sciences 33, March/April 1992, 20-25. —: Sexing the body: Gender politics and the construction of sexuality. New York 2000. Foucault, M.: Abnormal. Lectures at the Collège de France 1974-1975, New York 2003. —: Sex, power, and the politics of identity. In: Rabinow, P. (Hg.): The Essential Works of Foucault 1954-1984. Vol. 1: Ethics: Subjectivity and Truth. New York 1997, 163-74. —: (Hg.): Über Hermaphroditismus. Der Fall Barbin. Frankfurt a.M. 1998.
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Report "Intersexualisierung –Sportliche Gesellschaften, gender tests und Graswurzelbewegungen "