Im Zweistromland der Geldentstehungstheorie. Neutralität und quantifizierte Schuld bei Karl Polanyi und David Graeber. In: Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten. Hg. von Thomas Macho. München: Fink 2014. S. 343–366.

May 27, 2017 | Author: Anna Echterhölter | Category: Sociology of Money, Money, Sovereign Debt, Economics of Culture, David Graeber, Daily Economic Practices, Geldgeschichte, Geldtheorie, Economic Theory and Practice, Daily Economic Practices, Geldgeschichte, Geldtheorie, Economic Theory and Practice
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Im Zweistromland der Geldentstehungstheorie

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IM ZWEISTROMLAND DER GELDENTSTEHUNGSTHEORIE. NEUTRALITÄT UND QUANTIFIZIERTE SCHULD BEI KARL POLANYI UND DAVID GRAEBER

Im Zuge der Finanzkrise haben sich die theoretischen Vorzeichen des Geldes vervielfältigt: Geld fluktuiert nicht länger als neutrales Zwischentauschmittel unter anonymen, gleichrangigen Agenten in globalen Ökonomien – Geld steht, etwa bei Maurizio Lazzarato und David Graeber, für asymmetrische Machtverhältnisse und hierarchisierende Aggression. Die dunklen Seiten des Verschuldungssystems Geld treten bereits bei seinem historischen Erstauftritt im alten Mesopotamien zutage. Schulden und Schuld – vertragsbasiertes Verleihen und illegitimes Verhalten – Finanzwelt und Moral sind in diesen neuen Theorien rückgekoppelt, wobei die bisher dominante Auffassung von der Neutralität des Tauschmediums konterkariert wird.1 Analysiert werden die ökonomischen Schulden mit Ute Tellmann nicht als bloßer Begriff, sondern als Hybrid, das aus Zeichen, Dingen, Akteuren und Theorien zusammengesetzt ist – Dingen, die im Zuge der Finanzkrise die Form des Pfandes annehmen, Relationen, die im Zuge hypertrophierender Schuldverschreibungen an den Börsen plötzlich das Ausmaß »monetärer Konnektivität« sichtbar machen.2 Verfolgt man jedoch das Hybrid der ökonomischen Schuld mit seinen Institutionen, Programmen und Vertragskulturen, so fällt auf, dass die moralischen Elemente der Schuld einen Gegenspieler in der kulturellen Konstruktion einer Neutralität der monetären Sphäre finden. 1

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Vgl. das Überblickskapitel Die Neutralität des Geldes in: Gerhard Stavenhagen: Geschichte der Wirtschaftstheorie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969. S. 453–465. Ute Tellmann: Verschulden. Die moralische Ökonomie der Schulden. In: ilinx. 3/2013. S. 3–24; hier S. 6 f.

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Einen Typus von Argument, das sowohl zur Codierung der Schuld als auch der Neutralität wichtige narrative Bausteine beiträgt, liefern die zu Beginn des 20. Jahrhunderts proliferierenden Geldentstehungstheorien. Sie lassen das Geld aus Schuldverhältnissen, Schatzhortung, aus Krieg, religiösen Opfern, aus Schmuck oder dem Strafrecht hervorgehen.3 In diesem Theorietypus geht es oftmals primär um die moralisch-ökonomischen Spieleinsätze, die durch eine »Politik des Anfangs« hergestellt werden – und mithin um die Frage, wie die monetäre Entstehungsgeschichte rhetorische Schatten auf die jeweilige ökonomische Gegenwart der Theoretiker wirft.4 Die Mehrzahl der Geldentstehungstheorien haben die Gemeinsamkeit, dass sie ihre Analysen zeitlich weit vor dem Auftreten der Münzprägung ansetzen, das Geld also unabhängig vom materiellen Korrelat der ›baren Münze‹ definieren. Der stärkste Rückhalt, auch für Graebers These, dass eine Geschichte der Schulden als Geschichte des Geldes zu schreiben sei, liegt in der Ökonomiegeschichte Mesopotamiens und hier wiederum in der Kategorie des Buchungsgeldes begründet. Seine methodische Vorgehensweise soll jedoch im Zusammenhang mit Karl Polanyis genealogischem Portrait des Geldes als Bündel unterschiedlicher Herkünfte parallelisiert werden – denn nicht umsonst trägt ein resümierender Artikel zu Graebers Bestseller Debt. The First 5,000 Years den Untertitel Polanyian Meditations.5 Beide Wirtschaftskritiker erreichen ihre größte Genauigkeit nicht in den historischen Rekonstruktionen, sondern der diskurspolitischen Codierung und Recodierung ökonomischer Institutionen, wobei ein mehr oder weniger zeitloses Mesopotamien den entscheidenden Hintergrund liefert.6 Beide nutzen Situierungsverfahren und Rekontextualisierungen, beziehen also die historischen Praktiken nicht nur systematisch mit ein, sondern erreichen durch diese leichte Erweiterung oder Verminderung 3

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Vgl. die Gesamtdarstellungen bei Paul Einzig: Primitive Money in its Ethnological, Historical and Ethnographic Aspects. New York: Pergamon Press 1949; Christopher A. Gregory: Savage Money. The Anthropology and Politics of Commodity Exchange. Amsterdam: Harwood 1997. Zur Konstruktion von Anfängen vgl. Edward W. Said: Beginnings: Intention and Method. Columbia: Columbia University Press 1985. David Graeber: Debt, violence, and impersonal markets. Polanyian meditations. In: Market and Society. The Great Transformation Today. Herausgegeben von Chris Hann und Keith Hart. Cambridge: Cambridge University Press 2009. S. 106–133. Polanyis These von der Marktlosigkeit des Handels zu Hammurabis Zeiten (1792–1750 v. Chr) gilt als wiederlegt. Zugleich aber ist die Bedeutung und Existenz zentralisierter Palast- und Tempelwirtschaften unstrittig, ihr Einfluss zu den verschiedenen Zeiten wird jedoch als unterschiedlich groß eingeschätzt.

1 _ R e s f u ng i b i l e s u n d Buch u ng s g el d b ei K a r l P ol a n y i

Ein Perspektivwechsel ist die wichtigste Bewegung, der sich Karl Polanyis Positionen zur Geldtheorie verdanken. Für William Stanley Jevons zeichnet sich Geld durch sieben Kriterien aus: utility and value, portability, indestructability, homogeneitiy, divisibility, stability of value, cognizability.8 Dies privilegiert mehr oder weniger uneingestanden den materiellen Phänotyp des Geldes. Polanyi allerdings veranschlagt auch die seltenen und frühen Formen des Geldes und setzt daher weit vor den ersten Münzen an. Seine Theorie des special-purpose money historisiert bekannte Funktionen des Geldes separat, die in ökonomischen Lehrbüchern oftmals mit zwischen drei und fünf angegeben werden: beispielsweise Wertmesser (measure of value), Rechnungseinheit (unit of account), Tauschmittel (medium of exchange), Speicher von Handlungsmacht (store of value), Zahlungsmittel (means of payment).9 Keith Hart fügt die kommemorative Seite des Geldes hinzu.10 7

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Keith Hart sieht die Geldtheorie gespalten in Metallisten und Chartalisten bzw. Keynsianer: Vgl. Keith Hart: Heads or Tails? Two sides of the Coin. In: Man. 21/1986. S. 637–656; hier: S. 638. William Stanley Jevons: Money and the Mechanism of Exchange [1896]. New York: Cosimo 2005. S. 31. Axel Paul: Die Gesellschaft des Geldes. Entwurf einer monetären Theorie der Moderne. Wiesbaden: VS 2004; Nigel Dodd: The Sociology of Money. Economics, Reason & Contemporary Society. New York: Continuum Publishing 1994; Geoffrey Ingham: The Nature of Money. Cambridge: Polity Press 2004. Keith Hart: Money, one anthropologist’s view. In: A Handbook of Economic Anthropology. Herausgegeben von James G. Carrier. Cheltenham: Elgar 2005. S. 160–175; hier: S. 168 f.

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der Definitionsbasis die entscheidenden Perspektivwechsel. Beide richten sich zudem gegen die kulturelle Dominanz der Ansicht, dass das medium of exchange Neutralität behaupten könne. Entlang der Frage der schuldbasierten Entstehung des Geldes in Mesopotamien wird daher zugleich die Quantifizierung der Schuld als folgenreiche Schnittstelle analysiert, die bei Polanyi angelegt und bei Graeber ausgebaut wird. Dies geschieht mit dem Ziel, die Umschlagspunkte zu bestimmen, in denen ein moralisch konnotiertes Schuldverhältnis zwischen Privatpersonen oder staatlichen Einheiten in ein neutrales, vertragliches Verhältnis übersetzt wird. Wendet man sich gegen diese Neutralitätsbehauptung der neoklassischen ökonomischen Theorie seit Carl Menger oder Raymond Firth, so wird die Dimension der Neutralität notwendigerweise als Kehrseite einer Geldauffassung gleichermaßen erklärungsbedürftig wie die der Schuldverschreibung und Asymmetrie.7

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Polanyi baut auf diesen bekannten Funktionen des heutigen Geldes auf, das er Allzweckgeld (all-purpose money) nennt,11 reklamiert jedoch für Geldformen in nicht-industrialisierten Ökonomien, dass Spezialzweckgeld (special-purpose money) den Regelfall bildet.12 Einzelne stoffliche Träger erfüllen je nur eine der Funktionen, etwa wenn der Wertmaßstab in Rindern oder sogar Sklaven bemessen wird, diese Einheiten jedoch niemals zur Speicherung von Wert verwendet werden, wo etwa Barrengeld oder Hacksilber zum Einsatz kommen, während ein Tauschmittel wie Münzgeld fehlt und jeweils gängige Gebrauchsgüter – etwa gewogene Gerste – diese Funktion übernehmen. Die komplexen Transaktionen waren also vor allem in Mesopotamien neben der Buchungseinheit von metrologischen Dienstleistungen abhängig, was auch von altertumswissenschaftlicher Seite bestätigt wird.13 Polanyis Artikel Money as a Semantic System ist als Beitrag zur substantivistischen Wirtschaftsethnologie zu sehen und richtet sich explizit gegen Raymond Firths enge Definition des Geldes.14 Die erweiterte Fassung von Polanyis Artikel findet einen Platz in dem posthum erschienenen »The Livelihood of Man« und eröffnet dort Polanyis Relektüren der katallaktischen Trias von Geld, Markt und Handel.15 Für die Analyse von Schuld, Schulden und Neutralität sind drei Aspekte von Polanyis Auffassung der frühen Geldformen aufschlussreich, die mit den Hauptfunktionen in Beziehung stehen, die Polanyi dem Zwischen11

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Von Jacques Melitz wurde die Existenz des all-purpose money in heutigen Industriegesellschaften bestritten. Jacques Melitz: The Polanyi School of Anthropology on Money. An Economist‘s View. In: American Anthropologist, New SerieS. 72,5/1970. S. 1020–1040; vgl. zudem die neutrale Diskussion Jean-Michel Servet: L’institution monétaire de la société selon Karl Polanyi. In: Revue économique. 44,6/1993. S. 1127–1149. Vgl. Karl Polanyi: Money Objects and Money Uses. In: ders.: The Livelihood of Man. London: Academic Press 1977. S. 97–121; hier: S. 99. Auch Vertreter des Naturaltausches in Mesopotamien sind sich einig, dass kein Münzgeld existierte und der Metrologie vielmehr eine große Rolle zukam: Vgl. Marvin A. Powell: Money in Mesopotamia. In: Journal of the Economic and Social History of the Orient. 39,3/1996. S. 224–242; hier: S. 226. Karl Polanyi: Die Semantik der Verwendung von Geld. In: ders.: Ökonomie und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. S. 317–346. Original: The semantics of money uses. In: ExplorationS. 8/1957. S. 19–29. Raymond Firth: Artikel Currency Primitive. In: Encyclopaedia Britannica. Band VI. London 141929. S. 881. Karl Polanyi: Money Objects and Money Uses. A.a.O. Vgl. zudem den Abschnitt Die Verwendung von Geld in Polanyis klassischem Artikel: Die Wirtschaft als (ein)gerichteter Prozeß. In: ders: Ökonomie und Gesellschaft. A.a.O. S. 219–244; hier: S. 236–239.

1.1 _ Buch u ng s g el d : Da s Kon k r e t e der Qua n t i tät

Eine Funktion, die Polanyi in seiner Erläuterung des special-purpose money separat historisiert, ist die Maßeinheit des Wertes. Diese wird bei ihm im Wesentlichen aus der Bürokratie und Verwaltung abgeleitet. Polanyi nennt die Kategorie des Buchungsgeldes (unit of account) oftmals in einem Atemzug mit dem Maßstab (standard of value/measure of value):16 »Abstrakte Einheiten sind bloß Verbalisierungen oder schriftliche Symbole, die so behandelt werden, als seien sie quantifizierbare Einheiten, und die hauptsächlich zum Zweck von Zahlungen oder als Maß verwendet werden. Die ›Funktion‹ besteht in der Manipulation von Schuldkonten nach den jeweils gültigen Regeln. Solche Konten sind im Leben der Primitiven ein häufiges Faktum und nicht, wie oft angenommen, eine Besonderheit monetärer Ökonomien. Die frühesten Tempelökonomien Mesopotamiens wie auch der frühen assyrischen Händler praktizierten den Kontoausgleich ohne Zwischenschaltung von realem Geld.«17 Polanyi versteht Geld nicht in erster Linie zeichentheoretisch, sondern betont die Nähe zu physikalischen Objekten und Praktiken. Hier dient es nicht ausschließlich der Bestimmung von physischen Größen, sondern bildet ein Maß für die Bedeutung, die das in Frage stehende Objekt für seine Nutzer hat.18 So unterscheidet Polanyi nicht zwischen Gerstengeld, Goldgeld und Papiergeld.19 Mit Blick auf marginale Ökonomien können sogar Grastücher und Strohmatten diese Funktion übernehmen, selbst wenn diese bereits in Fetzen gehen sollten.20 Damit stellt er sich zugleich gegen Metallisten, die den Wert des Geldes aus dem (ungeklärten) Wert von Metallen herleiten und gegen die Zeichentheoretiker des Geldes, die den Wert nur in vereinbarten Symbolen sehen und die physikalischen Trä-

»Standard of value or unit of account«, Karl Polanyi: Money Objects and Money Uses. A.a.O. S. 108. Als gesonderte Funktion wird das Buchungsgeld ebenfalls genannt: ebd. S. 99. 17 Karl Polanyi: Die Wirtschaft als (ein)gerichteter Prozeß. A.a.O. S. 238 f. 18 Vgl. Karl Polanyi: Money Objects and Money Uses. A.a.O. S. 98. 19 Karl Polanyi: Die Semantik der Verwendung von Geld. A.a.O. S. 318. 20 Ebd. 16

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tauschmittel (medium of exchange), das gängige Definitionen fälschlicherweise dominiert, konkurrierend zur Seite setzt. Deshalb wird zunächst das Buchungsgeld, dann das Zahlungsmittel eingehender erläutert, woran sich ein Ausblick auf das Phänomen des ranked money bei George Dalton anschließt.

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ger außer Acht lassen.21 Polanyi geht vielmehr in jeder seiner Kategorien systematisch von praxeologisch gefassten Situationen als Analyseeinheiten aus, wobei unterschiedliche Formen der Quantifizierung entworfen werden.22 1.2 _ S t r a f j u s t i z u n d h a l b e Z ä h l b a r k ei t

Machtverhältnisse sieht Polanyi verschiedentlich in den einzeln historisierten Funktionen des Geldes angelegt, am hervorstechendsten jedoch nicht im Buchungsgeld, sondern in der Kategorie des Zahlungsmittels (means of payment): »Payment is settling an obligation by handing over quantifiable objects ( fungibles).«23 Wenn in der Definition zunächst lediglich von »Verpflichtung« die Rede ist, die beglichen werden soll, zeigen die weiteren Ausführungen die Nähe von Bezahlung und Strafe, von Verpflichtung und Verbrechen. Dies resultiert für Polanyi aus einer frühesten Entwicklungsschicht, in der die Quantifizierung der Schuld erst langsam zur Entwicklung des ökonomischen Schuld- bzw. Kreditbegriffes führt und die beiden Pole – Schuld und Schulden – vielmehr in sakral oder autoritär garantierten Vorformen des Strafrechts organisiert sind. Die Zahlung von Obligationen sowie der Loskauf von Verpflichtungen entstanden so zunächst gegenüber Mächtigeren: »Thus payment was due alike from the guilty, the impure, the weak and lowly; it was owed to the gods and their priests, the honoured, and the strung. Punishment, like offense, was in sacral and social terms. It resulted in the diminution of sanctity, prestige, and status of the payer, not stopping even at his physical destruction.«24 Nicht die Vermehrung von Werten, sondern die Verminderung der Lebensgrundlage des Schuldigers/Schuldigen ist die Anfangsszene, die Polanyi für die Entstehung des Zahlungsmittels angibt – letztlich also eine Machtbeziehung. Insofern wäre hier von einer asymmetrischen Erlernung des asymmetrischen Geldbegriffes zu sprechen, denn in dieser Fassung ist die Zahlung nur von einer Seite her an Güter gebunden und quantifiziert. Ebd. Vgl. Karl Polanyi: Money Objects and Money Uses. A.a.O. S. 102. 23 Ebd. S. 102–103. Das Zahlungsmittel unterscheidet Polanyi vom Zwischentauschmittel (medium of exchange), da letzteres weder die Dimension der Schuld oder Verpflichtung transportiert. Das Zwischentauschmittel arbeitet indirekter, medialer, ist auf dauerhafte Zirkulation angelegt und beruht auf Geld als »middle term«, das am Ende der Transaktionen vermehrt vorliegen kann, also etwas anderes bezeichnet als das Wertobjekt, das »von Hand zu Hand« geht. 24 Karl Polanyi: Money Objects and Money Uses. A.a.O. S. 105. 21

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Ebd. S. 106.

26 Ebd. 27

Bernhard Laum: Heiliges Geld. Eine historische Untersuchung über den sakralen Ursprung des Geldes [1924]. Berlin: Semele 2006. S. 34.

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Die Gegenseite tritt nicht in ein ökonomisches, sondern ein juristisches Zwangsverhältnis ein, oder versucht sich vielmehr aus diesem zu lösen, was durch Verminderung der eigenen Lebensgrundlage oder sozialen Stellung nach spezifischen Zählungen erreicht wird: »At this point, one of the elements of the payment use of money enters, however, namely, quantification. Punishment approximates payment when the process of riddance of guilt is quantified, as when lashes of the whip, turns of the praying mill, or days of fasting dispose of the offense. But though the punishment has now become an ›obligation to pay‹, the offense is still atoned for, not by handling over quantified objects but by a loss of qualitative life-values or of sacral and social status.«25 In dieser Szene ist die Nehmerseite bereits »Empfänger« zählbarer Gegenleistungen, während die Herauslösung aus der Verpflichtung bei Polanyi zugleich noch soziale Verhaltensweisen impliziert, die nicht quantifiziert oder gar nur quantifizierbar sind, nämlich im richtigen Moment die richtigen Verhaltensweisen an den Tag zu legen.26 Der Bezahlung ist nach Polanyi folglich die Entgeltung eingeschrieben, eine frühe Funktion bargeldlosen Verkehrs von Werten, der bemerkenswerterweise nur auf der Rezipientenseite als Warenzirkulation anzusehen ist. Die Geberseite hingegen löst sich aus einem Schuldverhältnis, das als Tötungsdelikt, Gewaltverbrechen oder Transgression von sakralen Regeln gedacht werden kann. Polanyi bezieht sich in seiner Darstellung nicht explizit, aber unübersehbar auf Bernhard Laum, als dem exponiertesten Vertreter des sakralen Ursprungs des Geldes. Nach dessen geschäftlich-pragmatischer Auffassung religiöser Kulte, waren bestimmte Opferpraktiken für die Geldentstehung ausschlaggebend: wie etwa das Erlernen von Wertmaßstäben durch die Ausmusterung des besten Opfertieres aus der Herde27 oder die langsame Etablierung von öffentlichem Vertrauen in Opferspieße (oboloi), welche zunächst Priester, später auch Bürger, im archaischen Griechenland als Ausgleich für ihre religiöse oder politische Arbeit erhielten. Der klassisch gewordene Artikel zum juristischen Ursprung des Zahlungsmittels – Philip Griersons Wergeld-Hypothese – erwähnt seinerseits Laum nicht, obwohl er ebenfalls an der Funktion des Wertmessers im sakral-juristischen Bereich ansetzt, nicht wie Polanyi an der Zahlungs-

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funktion.28 Zuerst entsteht nach Grierson eine für alle verbindliche und kenntliche Skala zur Bemessung von Werten (measure of value). Diese unterscheidet den Kauf vom Naturaltausch, da nicht Gabe und Gegengabe bzw. der ungefähr taxierte lokale Wert einer Ziege in Decken und Korn aufgeboten wird, sondern sowohl das Vieh als auch die Haushaltsgüter an einem externen Standard gemessen werden, der sich beispielsweise in einer Quantität Silber ausdrücken lässt. Philip Grierson, der sich als einer der renommiertesten Numismatiker neuerer Zeit und intimer Kenner vor allem der byzantinischen und mittelalterlichen Münzen mit der Geldentstehungstheorie beschäftigt, ist im Anschluss an Polanyi und Dalton ebenfalls der Auffassung, dass die Phase vor der Verwendung des geprägten Metallgeldes entscheidend ist: »Money lies behind coinage«.29 Letztlich ist es die metrologische Etappe der Geldgeschichte, der die wichtigsten Aufschlüsse und Entwicklungen zugetraut werden. In einem bestechenden Ausschlussverfahren bringt Grierson die bekannten Funktionen des Geldes in eine temporale Reihenfolge, die beweist, dass das Tauschmittel (medium of exchange) nur eine späte Entwicklung sein kann und die Bemessung des Wertes (measure of value) vielmehr als entscheidenderer Punkt anzusehen ist: »Money as a standard in fact lies behind money as a medium of exchange«.30 Durch diese Setzung gewinnt Grierson ein überzeugendes Minimalkriterium für die Definition des Geldes, von dem überall dort ausgegangen werden darf, wo die Zirkulation von Waren anhand einer intersubjektiv akzeptierten und bekannten Skala vor sich geht, die zudem klare Äquivalenzen erlaubt.31 Die Leistung, die eine solche Entwicklung abstrakter Maße im Gegensatz zu den von der Materie einfach ablesbaren Längenmaßen bedeutet, streicht 28 Polanyi hätte sich auf mehrere Theoretiker der juristischen Theorie der

Geldentstehung berufen können, die bereits früh breite Zustimmung unter Spezialisten fand. Vgl. Paul Einzig: New Light on the Origin of Money. In: Nature. 162 (4130)/1948. S. 983–985; hier: S. 984. 29 Philip Grierson: The Origins of Money. In: Research in Economic Anthropology. 1/1978. S. 1–35; hier: S. 6. Aktualisierter Vortrag von 1970. Vgl. zudem Philip Grierson: Numismatics. London u. a.: Oxford University Press 1975. S. 5–8. Dalton wird auf S. 9 erwähnt, allerdings gilt für Grierson die mesopotamische Ökonomie bereits als Allzweckgeld (general-purpose money). Er schreibt wenig polemisch, lediglich die klassische Ökonomiegeschichte John Hicks wird als Kontrapart mit mildem Spott bedacht, wobei die Ausräumung der Geltung des medium of exchange auch bei Grierson gegen die Marktgenese des Geldes aufgeboten wird. 30 Philip Grierson: The Origins of Money. A.a.O. S. 11. 31 Ebd. S. 10.

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Ebd. S. 11. Ebenfalls plausibel argumentiert er, dass die speziellen Maße, die an ein einzelnes Produkt gebunden sind, den Ausgangspunkt bilden, wie heute beispielsweise noch die Einheit Karat, die ausschließlich für Diamanten Verwendung findet. Von diesen spezifischen Maßen (special-purpose measures) werden diejenigen für allgemeine Maße entwickelt. Ebd. Ebd.

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Grierson eigens heraus.32 Zudem erfordert die Herstellung eines homogenen Raumes der interobjektiven Wertmessung einen Tribut: Bei Grierson steht der zunehmende Abstraktionsgrad der Wertmesser im Zusammenhang mit einer Entkoppelung der Messung von den konkreten Bedürfnissen der Personen. Der Naturaltausch wird demgegenüber fast als überlegen geschildert – sowohl was die Wünsche der Tauschenden als auch was die Qualität der Produkte angeht: »The parties concerned in any transaction are comparing their individual and immediate needs, not values in the abstract, and can balance these out against the particular merits or defects of the goods involved.«33 Die Entwicklung des allgemeinen, numerisch-quantitativen Wertstandards wird von Grierson jedoch nicht einfach aus sich heraus erklärt, sondern in den Kontext von Körperverletzung gestellt – und damit Momenten konkreter moralischer Schuld zugerechnet. Es ist die aus dem angelsächsischen Raum bekannte Institution des »Wergeldes«, die Grierson als entscheidende Praxis vorschlägt, also die Rekompensationszahlung für Schaden an Leib und Leben, die laut Grierson nur in auffällig geringerem Maße für die Beeinträchtigung oder Zerstörung der privaten Sachgüter galt. Der hypothetischen Form seiner Begründungen stets Rechnung tragend, schlägt Grierson also eine juristische Herkunfts-Szene vor, die um Jahrtausende später als die Entwicklung des Geldes liegt. Erst im Anschluss liefert er Indizien für die alten Kulturen, wobei ethnologische und archäologische Befunde oder Etymologien weit eher als numismatisches Fachwissen herangezogen werden. Hauptquelle seiner Interpretation des measure of value bleiben aber die mittelalterlichen Gesetzessammlungen, deren Strafgeldkataloge säuberlich über den Wert Auskunft geben, den verletzte Arme, verlorenes Leben oder Vergewaltigung als Ausgleich fordern, wobei genau spezifiziert wird, ob etwa ein Schädelbruch vorliegt, der das Gehirn oder lediglich die Knochen bloßlegt: »The conditions under which these laws were put together would appear to satisfy, much better than any market mechanism, the prerequisits for the establishment of a monetary system. The tariffs for damages were established in public assemblies, and the common standards were based on objects of some value which a householder might be expected to pos-

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sess or which he could obtain from his kinsfolk. Since what is laid down consists of evaluations of injuries, not evaluations of commodities, the conceptual difficulty of devising a common measure for appraising unrelated objects is avoided.«34 Neben den Strafzahlungen, die Gewalttaten an Körpern betreffen, ist Grierson vorsichtig, die Bezahlung des Brautgeldes vorschnell mit der Etablierung von Wertungspraktiken in eins zu setzen, auch wenn er auf die Yurok (Kalifornien) verweist, wo das Wergeld direkt von der Höhe des Brautpreises abhängig ist und die Beziehungen außer Frage stehen.35 In Griersons Darstellung wird zudem drittens auf den Sklavenhandel verwiesen, bei dem Rekompensation der Familie, Körperverletzung und Rechte über Personen einen engen Nexus eingehen.36 für die Inklusion des Sklavenhandels spricht die Tatsache, dass in vielen Kulturen nicht die Körper der Tiere den höchsten Wertmaßstab abgeben, sondern die Währungsund Werteinheit des Sklaven zu Verrechnungszwecken diente,37 was sich für Graebers Position als entscheidend erweisen wird. 1. 3 _ H i er a rch i s ch e s M at er i a l

Schließlich zeigen die archaischen Formen des Geldes bei Polanyi oftmals eine dritte Asymmetrie: Die Trennung der Währungen für Eliten von den Transaktionsstoffen der allgemeinen Bevölkerung. Damit ist nicht unbedingt eine Schuldbeziehung, allerdings eine soziale Dominanzbeziehung des special-purpose money angesprochen. Erneut bezieht sich Polanyi zur Erläuterung auf die Verhältnisse in Mesopotamien, in denen Tempel-Darlehen für die bessere Gesellschaft in Silber ausgegeben wurden, für die einfache Bevölkerung jedoch nur Quantitäten des gängigen Tauschmittels Gerste.38 Bei der Rückzahlung kamen nach Polanyi ungleiche Zinssätze zur Anwendung, wie die »customs of ›plus one‹ «, das Recht zum Aufrunden zu ihren Gunsten, für Menschen von Status. Eine weitere direkt in die 34 Ebd. S. 13. 35

Ebd. S. 15.

36 Bezeichnend: »The laws of Gortyn in Crete, one of the few to have survived,

include a section on rape with tariffs worthy of the Germanic codes – it extended from 100 staters compensation for the rape of a free woman down to one or two obols for a domestic slave who was not a virgin – and a speech of Lysias, in early fourth-century Athens, refers to the fine for rape as being ›double damages‹ i. e., twice the value of a person.« Ebd. S. 18. 37 Ebd. S. 12. Vgl. Einzig, Polanyi u.a. Häufig mit mangelhafter Unterscheidnung zwischen Lösegeld für Kriegsgefangene und Sklavenmärkten (Philip Grierson: The Origins of Money. A.a.O. S. 16). 38 Karl Polanyi: Money Objects and Money Uses. A.a.O. S. 118.

39 Ebd. S. 128. 40 Vgl. George Dalton: Primitive Money. In: American Anthropologist. 67/1965.

S. 44–65; hier: S. 44. Zu den nichtkommerziellen Gebrauchsformen rechnet Dalton auch die Steuern, Bußgelder und Geschenke, S. 48. 41 Ebd. S. 49. 42 Ebd. S. 56. Dalton bezieht sich auf Wallace E. Armstrong: Rossel Island money. A unique monetary system. In: Economic Journal. 34/1924. S. 423– 429; hier: S. 428; sowie ders.: Rossel Island. Cambridge: Cambridge University Press 1928. S. 67.

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Geldverwendung eingeschriebene Form sozialer Hierarchisierung bezieht sich auf ranked money, also Gebrauchsformen von Währung, bei denen in unterschiedlichen sozialen Sphären getrennte Zahlungsmittel zur Anwendung kommen. Polanyi verweist auf Paul und Paula Bohannans ethnologische Studien über die Tiv, deren Geld in Rangsystemen für unterschiedlich prestigeträchtige Verwendungszwecke geordnet ist.39 Eine Aufhebung der Neutralität und egalitären Wirkung des Tauschmediums wird geradezu zu einem Hauptmerkmal des special-purpose money bei Polanyis Kollegen George Dalton. Geldobjekte können eine persönliche Geschichte haben, nicht-ökonomischen Transaktionen dienen, als einzigartige Objekte bekannt sein und dem Neutralitätsgebot im Sinne individueller Bedeutungen zuwiderlaufen.40 Dalton erarbeitet seine Kritik anhand der Darstellung des Rossle Island Money durch Wallace E. Armstrong: Es erzeugt nicht bloß Subsistenz oder Lebensunterhalt, es geht in den hohen Werteinheiten nahtlos in die Organisation des Soziallebens über.41 Auf diese Weise funktioniert beispielsweise Muschelgeld, das in Skalen hierarchisiert verwendet wird, in den hohen Werteinheiten jedoch ausschließlich den Häuptlingen vorbehalten bleibt. Es dient in diesem Bereich der »social obligation«: dem Spenden eines Schweines für ein Fest, dem Erstgebrauch eines Kanus oder dergleichen mehr. Die höchste Währungseinheit, die bei Armstrong unter der Nummer 20 geführt ist, wirkt schließlich nicht nur im Sinne sozialer Bindungen proaktiv, sie dient im Bereich der Vergeltung und Sühne der »Entgeltung« unbezahlbaren Verlustes und makaberer Fälle: »No 20 is a necessary indemnity payment to the relatives of a man ritually murdered and eaten, a transaction which is part of mortuary rites of the death of a chief.«42 Im Gegensatz zu Armstrong etabliert Dalton, dass es ausgeschlossen ist, diese höheren Währungseinheiten mit denen von geringerem Wert aufzuwiegen. Dalton schließt mit der Beobachtung, dass die echelon shell currency in mehrfacher Hinsicht eingebunden ist, die Geldwerte in Subsitenz oder Prestige zerfallen und somit das Geld in sich als ein Machtsy-

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stem kenntlich wird, wobei die höchsten Stufen dieser Werte stets »rights in persons« sind, wie Keith Hart resümiert.43 Im Bereich des special-purpose money ist Geld mithin alles andere als neutral, es spiegelt Machtverhältnisse und steht im Zusammenhang mit juridischen Schuldproblemen. Polanyi folgert: »Most of this remains necessarily invisible under the formula of ›money, a means of exchange.‹«44 Durch Polanyis Verfahren, die einzelnen Funktionen des Geldes zu historisieren und es so einer genealogischen Analyse der Herkünfte zu unterziehen, die sich auf wenig bekanntes Wissen von Praktiken beruft, erscheint das all-purpose money in anderem Licht. Durch die Einbettung in mesopotamische Verhältnisse tritt nun ihrerseits die moderne Dimension der Neutralität als Artefakt und Konstruktion in den Vordergrund. 2 _ Dav i d G r a eb er u n d di e S i t u i eru ng von G e wa lt

Die Entziffernung der mesopotamischen Keilschrift bezeichnet David Graeber als finale Widerlegung der (neo)klassischen Geldentstehungstheoretiker, die von einer Marktgenese des Geldes ausgehen.45 Kredite und imaginäres Geld stehen nicht am Ende einer Entwicklung, die über Naturaltausch, Münzgeld, überregionale Märkte bis hin zum industrialisierten Bankenwesen und fiat money verläuft. Sie stehen an deren Anfang, wie die zahllosen Quellen über sumerische und akkadische Verwaltungspraktiken, elaborierte Kredit- und Schuldsysteme sowie die dies ermöglichende Buchungseinheit (unit of account) belegen. Naturaltausch ist für Graeber ein spätes und peripheres Phänomen.46 Die legitimatorische Stellung, die der Überwindung des Tausches durch den Kauf in den Theorien von Adam Smith über William Stanley Jevons bis hin zu Carl Menger zukommt,47 beruht damit für Graeber auf einer schwan43 Keith Hart: Money, one anthropologist’s view. A.a.O. S. 164. 44 Karl Polanyi: Money Objects and Money Uses. A.a.O. S. 119. 45 David Graeber: Debt. The First 5,000 Years. New York: Melville House 2011;

ders.: Debt, violence, and impersonal markets: Polanyian meditations. A.a.O.; ders.: Die falsche Münze unserer Träume. Wert, Tausch und menschliches Handeln [2001]. Zürich: Diaphanes 2012. 46 Für Mesopotamien sind Existenz und Ausmaß des Naturaltausches umstritten: Marvin A. Powell: Money in Mesopotamia. A.a.O. S. 225. 47 Carl Menger: Artikel Geld. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Herausgegeben von Johannes Conrad, Wilhelm Lexis, Ludwig Elster und Edgar Loening. Band IV. Jena: Fischer 31909. S. 555–610; Carl Menger: On the origins of money. In: Economic Journal. 2,6/1892. S. 239-255; Joachim Höltz: Kritik der Geldentstehungstheorien. Carl Menger, Wilhelm Gerloff und eine Untersuchung über die Entstehung des Geldes im alten Ägypten und Mesopotamien. Frankfurt am Main: Reimer 1984 (= Mainzer ethnologische Arbeiten. Band V).

48 David Graeber: Debt. A.a.O. S. 23. 49 Carl Menger: Artikel Geld. A.a.O. S. 557. Mit Bezug auf Heinrich Barth: Rei-

sen und Entdeckungen in Nord- und Zentralafrika (1849–1855). Band II. S. 396. 50 William Stanley Jevons: Money and the Mechanism of Exchange. A.a.O. S. 1.

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kenden historischen Grundlage, dem, was er eine »phantasy world of barter«48 nennt (ohne jedoch diese in ihrer Wirksamkeit zu unterschätzen). In der Tat wird die Lästigkeit und Umständlichkeit des Naturaltausches bei Carl Menger durch sehr bezeichnende Passagen belegt: Seine Beispiele sind Reiseberichten entnommen, deren kolonialer Blick auf unverstandene ökonomische Gebräuche selbst durch die Zitate hindurch deutlich wird. Die Mühsamkeit des Naturaltausches exemplifizieren beispielsweise mehrere Diener des »berühmten Reisenden« H. Barth, die »oft im Zustande äußerster Erschöpfung«49 von dem Versuch zurückkehrten, die erforderlichen Materialien in der Fremde einzutauschen. Hat man keine Beziehungen und kennt man die Gepflogenheiten nicht, wird die Suche nach einem Tauschpartner, der Interesse an den verfügbaren Materialien hat, zu einem doppelten Zeitverlust, was die berühmte »double coincidence of wants and needs« theoretisch zu begründen hilft. Vergleichbar feinfühlige Interpretationen bietet William Stanley Jevons mit dem Auftakt seiner Abhandlung über das Geld: Die Sängerin Mademoiselle Zélie wird nach einem Auftritt auf den Society Islands mit einem veritablen Zoo lebender Tiere sowie einer nicht geringen Anzahl an Kokosnüssen und Orangen bedacht – ein erheblicher Wohlstand, den man ihr in Ermangelung von Bargeld als Vergütung zahlte, den sie aber gezwungen war, zur Fütterung ihrer Tiere mit sich selbst zu dezimieren.50 Funktionelles Äquivalent der kolonialen Naturaltauschszene ist bei Graeber der geldtheoretische Topos Mesopotamien. Die sumerischen und assyrischen Kulturleistungen fanden nicht nur unter Kritikern und Historikern, sondern auch im Kerngebiet volkswirtschaftlicher Theoriebildung viel Beachtung. Zählt Adam Müller noch zu den Vorläufern, so ist Alfred Mitchell Innes ein erster Vertreter der ökonomischen Schuldverschreibungsthese, der bereits vor Georg Friedrich Knapp Geld als »creature of the state« fasste. Exponiertester Vertreter der chartalistischen Geldentstehungstheorie bleibt jedoch zweifelsohne John Maynard Keynes mit seiner Analyse der Instabilitäten der zwischen Banken und Staaten ausgehandelten Währungspolitik. Schuld ist bei Keynes über Schuldverschreibung und Steuern als Verpflichtung dem Staat gegenüber gefasst. Als staatlich regulierte Einheit

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ist Geld bei Keynes zunächst »Rechnungseinheit«, also Buchungsgeld: »Wir gehen aus von dem Begriff der Rechnungseinheit, in der Schulden, Preise und allgemeine Kaufkraft ausgedrückt werden.«51 Die Erfindung des Münzgeldes markiert bei Keynes keine prinzipiell neue Etappe. Was für die erste Stufe des Warengeldes hingegen ausschlaggebend ist, ist die staatlich vorgegebene Norm oder quantitative Einheit, seien dies Gewichte, Weizenkörner oder Ziegen.52 Es war Geoffrey Ingham, der nachwies, in welchem Ausmaß sich Keynes Privilegierung des Buchungsgeldes einer langjährigen Beschäftigung mit mesopotamischer Metrologie und Zeugnissen des Antiken nahen Nahen Ostens verdankt – eine Phase, die Keynes selbst als seine ›Babylonian Madness‹ bezeichnet habe.53 Als bekennender Anarchist streift Graeber die Genese des Staates aus dem Geld und der ersten Schuldform der Tribute und Steuern durch die Buchungseinheit als tendenziell parasitäres Projekt. Neben dieser Institution der Verschuldung durch die unit of account erweitert Graeber die Perspektive auch auf die Vorbedingungen der schuldfreien und neutralen Einheit des medium of exchange. Vor dem Horizont der ausgehebelten Naturaltauschthese der Neoklassik stellt Graeber vielmehr die Analysefrage neu, und er tut dies eingedenk der aktuellen Exzesse des Buchungsgeldes, die sich erstmals zu einer Bedrohung aller Volkswirtschaften ausgewachsen haben, mit gesteigerter Eindringlichkeit auf dem Feld monetärer Quantifizierung und Messung. Der Prozess der Monetarisierung, die Einführung exakter numerischer Werte, wird immer wieder als riskanter Übersetzungsprozess gefasst. Weder die Operationen, die die unit of account ermöglicht, noch die Logiken, die mit dem wesentlich später einsetzenden medium of exchange einhergehen, sind voraussetzungsfrei. Vielmehr muss nach Graeber zunächst geklärt werden, wie diese neuen Evaluationssituationen hergestellt werden, denn »commercial transactions imply both equality and separation.«54 Ökonomischer Tausch ist demnach eine Verfahrensweise, die Neutralität der Beziehungen voraussetzt, wobei der entscheidende Wechsel immer wieder in der numerischen Messung gesehen wird. Der Hand-

John Maynard Keynes: Vom Gelde [1930]. Übersetzt von Carl und Louise Krämer. Berlin: Duncker & Humblot 1955. S. 1. 52 Ebd. S. 11. 53 Geoffrey Ingham: »Babylonian Madness«. On the Historical and Sociological Origins of Money. In: What is Money? Herausgegeben von John Smithin. London: Routledge 2000. S. 16–41. 54 David Graeber: Debt. A.a.O. S. 68. 51

55

Ebd. S. 214.

56 Ebd. S. 52. 57

Ebd. S. 65.

58 Ebd. 59 Michael Hudson: The Archaeology of Money. Debt versus Barter Theories of

Money’s Origins. In: Credit and State Theories of Money. The Contribution of A. Mitchell Innes. Herausgegeben von Randall Wray. Cheltenham: Elgar 2004. S. 99–127. 60 David Graeber: Debt. A.a.O. S. 19.

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lungsrahmen eines aufrechenbaren, ökonomischen Vertrages gleicht für Graeber in nichts einer sozialen Verpflichtung. Dennoch sind Kredite und Gaben, Schulden und Schuld durch einen Nexus verbunden, der schon etymologisch nicht von der Hand zu weisen ist. Die metrologische Dimension sowohl der Schuld- als auch der Geldgeschichte bei Graeber läuft stets implizit mit, etwa wenn Graeber von »accounting measure«55 spricht, oder Geld nicht als Ding, sondern als Verfahren beschreibt – »[as] a way of comparing things mathematically.«56 Beispielsweise ist das Aufkommen umfänglicher Schuldverschreibungen in Mesopotamien in Jahren schlechter Ernten ein Faktor, der tief in die Lebensgrundlage des Schuldners einschneidet. Genommen werden ihm zuerst Korn, dann Vieh, Felder, Häuser, schließlich aber auch Familienmitglieder.57 Verbunden mit der Buchungseinheit entsteht so die geographische Dislokation von Personen, die zugleich auf der Vertikalen Persönlichkeitsrechte einbüßen. Hier liegt das Störungspotential der neuen staatlichen Kredit- und Steuersysteme begründet.58 Graeber betont mit Michael Hudson für Mesopotamien jedoch die Praxis der »clean slates«, der Schuldenerlasse, die die Herrscher bei Regierungsantritt oder zum Neuen Jahr ausrufen konnten, um die in Abhängigkeit geratenen und zerstreuten Personen wieder zu ihren eigenen Feldern und gesellschaftlichen Rechten zurückkehren zu lassen.59 In Graebers Perspektive zeichnet sich bereits die Fluchtlinie der Argumentation ab, dass die Etablierung von neutralem Tausch bereits auf der Ebene des Buchungsgeldes nur durch Gewaltverhältnisse gewährleistet werden kann, die die erforderliche Beziehungslosigkeit herstellen. In diesen Effekten auf die Gesamtsituation bildet die unit of account jedoch eine Vorstufe: Deutlich tritt das Löschen althergebrachter Relationalität erst mit der Einführung eines mediums of exchange auf, denn die Etablierung des Handels unter Marktbedingungen setzt für Graeber Gewalt voraus: »to demonstrate how the very principle of exchange emerged largely as an effect of violence.«60

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Unschärfe in Tauschbeziehungen wird hingegen mehrfach mit der Hervorbringung sozialer Bindungen gleichgesetzt. Sein Beispiel ist eine Erfahrung, die Laura Bohannan bei ihrer ersten Begegnung mit den Tiv in Nigeria macht. Die Frauen des Dorfes beginnen, ihr kleine Geschenke zu übergeben, die sie samt Namen auf Papier notiert. Wie man sie jedoch aufklärt, wäre eine exakte Erwiderung des gegebenen Wertes vollkommen widersinnig gewesen, pflegten die Frauen der Tiv doch auch untereinander ein ausgeklügeltes System leicht verminderter oder erhöhter Gegengaben, die ihrerseits jeweils nur ungefähr beantwortet wurden, denn: »To bring back an exakt equivalent would be to suggest hat one no longer wishes to have anything to do with the neighbor.«61 Der exakte Wert stiftet in dieser Logik das Ende von Beziehungen. Die formale Äquivalenz ist zugleich Ausdruck dafür, dass die Relationalität aus der Interaktion herausgekürzt wurde: »Exchange encourages a particular way of conceiving human relations.«62 Die Handlungslogik des monetären Tausches beruht auf einer instantanen Gleichrangigkeit: »Exchange is all about equivalence. […] often there is an element of competition […] But at the same time, there’s a sense that both sides are keeping accounts, and that, […] the entire relationship can be canceled out, and either party can call an end to it at any time.« 63 Tausch und Buchhaltung sind insofern erst möglich, wenn eine Basis der Impersonalität geschaffen wurde, ein Absehen von genau den Effekten, die Graeber in fast allen Formen des savage money als Hauptzweck ihrer Existenz liest. 2 .1 _ G el d a l s r i s k a n t e s O r n a m e n t

Gebrauchsformen des Geldes in nichtindustrialisierten Gesellschaften lassen sich als social currencies beschreiben, wenn sie nicht der Subsistenz, sondern der Prestigeerzeugung dienen. Wie die Begrüßungsgeschenke Laura Bohannans ihre Ankunft markieren, begleiten symbolische und rituell durchstrukturierte Formen des Tausches alle entscheidenden Lebensstationen und Ereignisse. Die Lebenserhaltung kann dabei unmöglich durch dieselben Objekttypen markiert werden wie Hochzeiten oder Todesfälle. Die höchsten Denominationen der Tiv – raffia cloth, camwood bars, brass coils – sieht Graeber einerseits in der Tradition des Schmuckgeldes, denn Kleidung, rote Körperfarbe und Metallreifen bilden aus nackten Körpern soziale Wesen. Diese Position aus früheren Texten wird bei Gra61

Ebd. S. 105.

62 Ebd. S. 122. 63 Ebd. S. 103.

64 Ebd. S. 150. 65 Ebd. S. 131. 66 Ebd. S. 133. 67 David Graeber: Debt, violence, and impersonale markets. A.a.O. S. 125.

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eber indessen überlagert durch die entscheidende Entstehung der unmöglichen Äquivalenz von 100 Basttüchern (raffia cloth) für ein menschliches Leben, gezahlt an die Eltern der Braut. Diese Sonderform der Zahlung im rituellen Austausch der Tiv ist entscheidend für die Einübung in die Ökonomisierung höchster und eigentlich inkommensurabler Werte. Graeber schildert zudem das elaborierte Heiratssystem der Lele, in der eine Frau nur durch die Gegengabe einer Schwester erlangt werden kann, eine Person also nur durch eine andere Person substituiert werden darf. Dieser Frauentausch bedeutet keinesfalls Sklaverei, Graeber weist jedoch darauf hin, dass dem Menschenhandel unter den Bedingungen gezielter Anarchie durch westliche Sklavenhandelsgesellschaften so Vorschub geleistet werden kann und die Rituale der social currency unter Umständen die Kommodifizierung von Personen begünstigt. Es kommt hinzu, dass die Währung aus Messingdraht (brass coils), die im 18. Jahrhundert im mittleren Ostafrika als Währung verbreitet war und in den von Graeber geschilderten Gesellschaften zu den höchsten Denominationen gehörte, in Birmingham als Massenprodukte hergestellt und in die Region verschifft wurden.64 Das Beispiel des transatlantischen Sklavenhandels führt für Graeber die plausibelste Geldentstehungstheorie vor Augen. Nachdem er die »primordial debt theory« oder totale Verschuldungszustände gegenüber der Gesellschaft, wie sie Auguste Comte veranschlagt, mehrheitlich kritisch diskutiert, schließt sich Graeber Philippe Rospabé an, der Geld als Tauschmittel aus einem unmöglichen Zahlungsvorgang für menschliche Personen auf paradoxe Weise hervorgehen sieht: »Its a way of recognizing the existence of debts that cannot possibly be paid.«65 Graeber denkt das Geld folglich von inkommensurablen Werten her. Es wird zu einem Zeichen für das unbezahlbare Leben,66 zu einer Bestätigung nicht leistbarer Rekompensation. Diese Anerkennung des Wertes von Personen mittels social currencies kann jedoch in ihr invertiertes Anderes kippen: »The history of the expansion of the slave trade into Africa and South East Asia, […] is a story of the abusive manipulation of forms of debt and of the abusive transformation of obligations into commodities.«67 Was die Relationen einer gleichrangigen Gruppe stiften sollte, wird zuallererst im Sklavenhandel in eine Manifestation dislozierender Herrschaftsbeziehungen verkehrt.

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Für Graebers Theorie der Geldentstehung und gleichfalls für seine Interpretation der Funktion von Schuldbeziehungen und Schulden in heutigen Gesellschaften ist entscheidend, dass der »konzeptionelle Sprung«68 von symbolischen zu Marktökonomien ausschließlich durch einen Prozess hergestellt wird, den Graeber als »alchemy of violence« bezeichnet.69 Anders als in Griersons Wergeld-Hypothese ist bei Graeber die entscheidende Gewalt kein Delikt, das der Zahlung vorausgeht. Gewalt ist hier nicht tatgebunden, sie schafft eine neutrale Situation, in der relationslose Beziehungen und Freiheit von Rücksicht- oder Kenntnisnahme erstmalig möglich waren. An den frühen irischen Wergeld-Praktiken (ca. 600 n. Chr.) betont Graeber daher nicht wie Grierson die Institution der Strafe, sondern die Parallelität symbolischer Zahlungen und tatsächlicher Rekompensation durch Sachwerte in Gewaltkontexten. Belegt sind diese Praktiken, da eine juristische Klasse besondere Ingenuität darin entwickelt hatte, die unterschiedlichsten Verletzungen oder Personenschäden bis hin zu Mord mit Äquivalenzen zu versehen. Für Graebers Argument ist die Tatsache entscheidend, dass dem so quantifizierten Blutpreis zudem ein unabhängig davon zählender Preis für die Ehre der Person (honour price) zur Seite gestellt wurde – etwa bei direkten Beleidigungen oder der Schädigung zugehöriger Personen, bei inadäquatem Verhalten der Personen selbst (wie ein König, der bei der Feldarbeit gesichtet wurde). Entscheidend ist jedoch die Buchungseinheit, die als Wertmaßstab hauptsächlich zum Einsatz kam: Es waren cumal, demnach Sklavenmädchen, zuweilen ergänzt durch Rinder. So können sechs der rechtlos gewordenen Frauen den Ehrenpreis einer beleidigten königlichen Majestät ausmachen. Zur Zeit der Kodifizierung entsprachen die Sachwerte, die tatsächlich ausgehändigt wurden, nicht den Buchungseinheiten. Dennoch ist die numerische Quantifizierung der Ehre für Graeber ein entscheidender Schritt: »But what does all this have to do with the origins of money? The answer is, surprisingly: everything. Some of the most genuinely archaic forms of money we know about appear to have been used precisely as measures of honor and degradation: that is, the value of money was, ultimately, the value of the power to turn others into money.«70

68 Ebd. S. 125. 69 Ebd. S. 124. 70 David Graeber: Debt. A.a.O. S. 171.

2 . 2 _ Jen s ei t s von B eu t e u n d T r a n s pa r e n z

Ebd. S. 128. David M. Schaps: The invention of coinage and the monetization of ancient Greece. Ann Arbor: University of Michigan Press 2004. 73 David Graeber: Debt. A.a.O. S. 122. 74 Polanyi entwickelt in The Great Transformation vier Formen der Integration von Gesellschaft durch Tausch- und Versorgungsformen: Reziprozität, Redistribution und Markttausch, in späteren Darstellungen entfällt der vierte Typus der Haushaltung. 75 David Graeber: Debt. A.a.O. S. 94. 71

72

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In Graebers Geschichte der Schulden, die als Geschichte des Geldes durchgeführt wird, steht zudem die Erklärung aus, wie das Münzgeld entstand. Da die Entwicklung aus dem quantifizierten Naturaltausch durch findige Unternehmer von ihm für ungültig erklärt wurde – er nennt diese friedliche Version gelegentlich »touchingly utopian«71 – fällt diese Perspektive aus. Für die historischen Kontexte, in denen Münzgeld als Tauschmedium erstmalig auftrat – am Yangze in China, am Ganges in Nordindien sowie rund um das Mittelmeer, wobei Lydien in der heutigen Westtürkei eine Vorreiterrolle zugesprochen wird – konzediert Graeber im Anschluss an David Schaps72 zunächst kriegerische Perioden, die mit den instabilen politischen Verhältnissen zwischen 800 und 600 v. Chr. zusammenhängen. Die Portabilität kleiner Edelmetalleinheiten ist in Zeiten der Beute, Plünderung, aber auch der Besoldung von Soldaten von neuer Bedeutung. All dies sind für Graeber Charakteristika des marktförmigen Tauschmodus’ des commodity exchange, welcher sich mit dem Zwischentauschmittel des Münzgeldes einstellt. Das Entscheidendste an Graebers Entwurf bleibt dennoch, dass seine Systematik der Tauschformen deren Geltungsbereich beschränkt. Konzeptionell sieht er Handlungsräume vor, die der Logik des medium of exchange entzogen sind: »All human interactions are not forms of exchange. Only some are. Exchange encourages a particular way of conceiving human relations. This is because exchange implies equality, but it also implies separation.«73 In Konkurrenz zu den Unterscheidungen von Gaben- und Warenökonomien in der Nachfolge Marcel Mauss’ ist allerdings nicht die Reziprozität oder die Erwiderung das zentrale Unterscheidungskriterium, geschweige denn der moralisch höherwertige Modus. Anders auch als Marshall Sahlins, der konzeptionell bereits negative Reziprozität vorgesehen hatte, und in klarem Kontrast zu Karl Polanyis drei Modi des Tausches74 analysiert Graeber nicht in erster Linie Tausch-, sondern Sozialbeziehungen. Ihm geht es um »moral principles on which economic relations can be funded«.75 Die Kategorie der Gabe oder Reziprozität ist nicht positiv besetzt. Sie löst sich bei Graeber

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tendenziell in die anderen Formen auf76 und wird vor allen Dingen aus der Marginalität entlassen, da Graeber nicht einzelne Tauschbeziehungen ins historische oder geographische Abseits relegiert. Am deutlichsten ist dies vielleicht in seiner Explikation des kommunistischen Tauschmodus‘, der nicht auf einen generell vorausliegenden Idealzustand abzielt, sondern in heutigen Gesellschaften überall zu beobachten ist. Graeber spricht von kommunistischem Tausch überall dort, wo jeder nach eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen handelt, Leistungen insgesamt allerdings nicht in einer kurzfristigen dyadischen Konstellation vom Ergebnis her aufgerechnet werden. Dieses Verhalten sieht er in Notsituationen (etwa den proaktiven, gemeinschaftsbildenden Phasen nach Naturkatastrophen) selbstverständlich eintreten – ferner zählen die fraglosen günstigen Kredite unter eingespielten Oligarchien zu diesem Handlungstypus. Hierarchische Beziehungen sind demgegenüber häufig einseitige Schuldbeziehungen, die aus der Logik des Vorranges oder der sozialen Ungleichheit der beteiligten Akteure resultieren. Es wird auf ungleicher Basis gegeben und genommen,77 sei es im Raub oder bei einer Charity-Veranstaltung. Die Voraussetzung sind allerdings akzeptierte, stabile Hierarchien, wie das Kastenwesen oder auch die Verhältnisse in Mesopotamien.78 Unter solchen Bedingungen werden einseitige Leistungen selbstverständlich, während die Gleichheit der Akteure aussetzt: »The moment we recognize someone as a different sort of person, either above or below us, then ordinary rules of reciprocity become modified or are set aside.«79 Diesen kritischen Moment des Abgleitens in einen ungleichen Status macht Graeber beispielsweise für die spezifische Schmerzhaftigkeit des Bankrotts verantwortlich. Denn in der Verschuldung nach Marktbedingungen wird temporär in den prinzipiell unter Gleichrangigen ausgetragenen Transaktionen die Logik der Hierarchie eingelassen: »What then is debt: During the time that the debt remains unpaid, the logic of hierarchy takes hold. […] This is what makes situations of effec76 In früheren Formen war die Statuskonkurrenz des Potlatch eine eigene Ka-

tegorie: ders.: Debt, violence, and impersonal markets. A.a.O. S. 114 f. Hierarchie ist das Gegenteil von Reziprozität. Ders.: Debt. A.a.O. S. 110. 78 Ebd. 79 Ebd. S. 111. Sein harsches Beispiel ist der Vergleich der Reaktionen, die auf die Entführung, sexuelle Misshandlung und letztendliche Tötung einer 13-Jährigen folgt: Ist sie ein behütetes Mädchen aus der Mittelklasse, resultiert eine »agonizing national crisis that everyone with a television is expecetd to follow for several weeks«. Handelt es sich hingegen um eine Kinderprostituierte aus mittellosen Schichten, tritt etwas Erwartbares unkommentiert ein. S. 112. 77

80 Ebd. S. 121. 81

Karl Polanyi: Die Wirtschaft als (ein)gerichteter Prozeß. A.a.O.

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tively unpayable debt so difficult and so painful. Since creditor and debtor are ultimately equals, if the debtor cannot do what it takes to restore herself to equality, there is obviously something wrong with her; […] A debt then, is just an exchange that has not been brought to completion.«80 Der Modus des Markttausches kann also in die Logik der Hierarchie übergehen, wie auch die kommunistischen Modi eher als Fundament als im Jenseits heute üblicher Transaktionen angesiedelt werden. Der hierarchische Tausch produziert Herrschaftsbeziehungen und Asymmetrien. Weder der Ursprung des Geldes in den Kreditsystemen Mesopotamiens noch die offensichtliche Dominanz der Kapitalhalter gegenüber den Ärmeren kann als wichtigster Beitrag Graebers zur neueren Geldtheorie angesehen werden: Dieser besteht vielmehr in der flüssigen und adaptionsfähigen Konzeptionierung von Transaktionstypen, die zwar an marginalen Ökonomien modelliert sind, auf diese allerdings nicht beschränkt werden. Unbedingt geht es Graeber um Diesseitigkeit im Sinne gegenwärtiger Verhältnisse in industrialisierten Regionen. Dabei werden diese weder als marginalisierte Gegenbilder aufgeladen noch – und das ist beispielsweise bei Pierre Bourdieu der Fall – eins zu eins mit einer ökonomischen Auffassung des kulturellen Überbaus der Industriegesellschaften gleichgesetzt. Es ist charakteristisch für Graebers Perspektive, dass die Entwicklung abstrakter Zeichen nicht hinterrücks die Rahmung seiner Auffassung diktiert und rationale Leistungen nicht als heroischer Schritt in Richtung Fortschritt gewertet werden. Ökonomische Verhältnisse denkt er vielmehr durchaus nicht neutral und numerisch, vielmehr radikal von den Körpern her. In gewisser Weise nähert er die substantivistische Marktdefinition, der zufolge die Güterzirkulation der Güterallokation des Kollektivs dient,81 an ein biopolitisches Extrem an. In diesem Extrem fungieren die ökonomischen Institutionen stets als potentielle Regulatoren verletzlicher Körper, aber auch des juristischen Status der Person. Gerade durch die Nähe der Gelddefinition zu vitalen Interessen, gerade durch die Kategorie des sozialen Körpers wird darüber hinaus deutlich, in welchem Ausmaß etwa Pierre Klossowski Geld nicht einfach als Körper, sondern nach dem begehrten Körper eines Partners modelliert hat. Betrachtet man das Geld aus dieser Perspektive, so sind Kriegsbeute, Reparationszahlungen, Sklaverei, Prostitution und Menschenhandel sowie die »invertierten Maschinen« der social currencies die Vorbedingung der Aufrechenbarkeit, der Quantifizierung und Darstellung in Form des

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Marktwertes. Der Raum dieser Neutralität musste nach Graeber erst aus dem relationalen Gefüge der älteren Gesellschaftsformen herausgebrochen werden. Die positiven Verschuldungsformen, die Mauss noch mit einer gewissen fordernden Radikalität in der prestation social totale beschrieben hatte, werden bei Graeber mehrfach ins Negative gesetzt: als illegitim erzwungene Beziehungen, als staatliche Dominanz, als durch und durch hierarchische Prestigeökonomien. Die Frage: »[W]hat actually do we owe to each other«82 bezieht ihre Radikalität nicht aus einer absoluten Widmung, sondern aus der Selbstverständlichkeit, mit der Graeber sich seiner ›Lizenz zur Neucodierung‹ bedient. Die Farblosigkeit, Körperlosigkeit, Fluidität und Neutralität des heutigen Geldverständnisses, ist für Graeber kein Missverständnis. Es handelt sich um eine erwartbare Form der Mythologisierung, die sich Gesellschaften geben: »[B]ooks all balance and all debts and credits ultimately cancel one another out.«83 Diese geschönte Vorstellung des Marktes hält Graeber für gleichermaßen inexistent und notwendig: »Nonetheless, such bounded entities are endlessly invoked: in part, so as to create theaters for the realization for certain forms of value and partly in order to make ideological statements about the legitimacy of existing social relations.«84 Das idealisierte Modell des Marktes ist als Konzept unabdingbar, um den Wert beispielsweise eines Hauses bestimmen zu können, zudem aber dient es der Verbreitung und Legitimierung des indigenen ökonomischen Systems des globalen Nordens. 3 _ Au s b l ick

Die Neutralität des Geldes schwindet durch die Konfrontation mit den marginalen Ökonomien und ihren divergierenden Gebrauchsformen des Geldes, wobei im Zusammenhang mit den Schulden vor allem die Kategorie der unit of account und ihre Einführung in Mesopotamien eine herausragende Funktion einnimmt, zumal in den Social Studies of Finance konzediert wird, dass eine fatale Renaissance des Buchungsgeldes die Finanzmärkte an den Rand des Ruins getrieben hat. Womöglich täte man jedoch gut daran, die Kategorie des Wertspeichers (store of value) als Kehrseite des Buchungsgeldes separat zu historisieren. Dies liegt nicht an der namhaften Phalanx derjenigen, die die Geldentstehung aus der Schatzbildung hervorgehen sehen, sondern an der sich aktuell abzeichnenden Ten82 David Graeber: Debt. A.a.O. S. 18. 83 Ders.: Debt, violence, and impersonal markets. A.a.O. S. 132. 84 Ebd.

85 Christoph Pauly: Kunst im Bau. In: DER SPIEGEL. 30/2013. S. 60–62.

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denz, etwa in Basel, Genf oder Singapur Lagerhäuser zu bauen, in denen Kunst, Gold oder Wein sachgerecht gelagert und sicher verschlossen werden kann.85 Entgegen der von Geoffrey Ingham beschriebenen Fähigkeit des Buchungsgeldes, gesellschaftliche Institutionen und sogar Staaten hervorzubringen, konfiguriert die Schatzhortung derzeit geradezu topologische Räume jenseits nationaler Grenzen, digitaler Spuren und fiskalischer Kontrolle.



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