Husserl Stud (2010) 26:49–66 DOI 10.1007/s10743-010-9067-5
Husserls Idee einer nicht-empirischen Wissenschaft von der Lebenswelt Rochus Sowa
Published online: 18 February 2010 Springer Science+Business Media B.V. 2010
Zusammenfassung Dass Husserl seine Wissenschaft von der Lebenswelt als eine zweistufige Wissenschaft entworfen hat, die eine empirische Unterstufe und eine nicht-empirische (eidetische) Oberstufe hat, wird gewöhnlich in der Literatur zu Husserls Lebensweltkonzeption übersehen. Diese Wissenschaft beschäftigt sich nur auf ihrer Unterstufe direkt mit unserer faktischen Lebenswelt und zielt auf allgemeine Aussagen über ihre Strukturen und die Weisen ihrer Gegebenheit. Aber auf der zweiten Stufe, die für Husserl die primäre ist, zielt sie auf allgemeine Aussagen über eine Lebenswelt überhaupt und nicht über unsere faktische Lebenswelt, die auf dieser Stufe nur als eine mögliche unter unendlich vielen möglichen Lebenswelten zählt. Die Lebensweltwissenschaft der Oberstufe ist nämlich eine deskriptive Eidetik, d.h. eine nicht-empirische deskriptive Wissenschaft, die aus reinen deskriptiven Begriffen und reinen deskriptiven Gesetzen (deskriptiven Wesensgesetzen) aufgebaut ist, in denen weder explizit noch implizit Faktisches mitgesetzt wird. In einem Exkurs werden die Elemente, Prinzipien und die Methodik einer deskriptiven Eidetik allgemein skizziert, die dann auf die deskriptive Eidetik der Lebenswelt angewandt werden, die Husserl in der Vorlesung über Phänomenologische Psychologie von 1925 entwickelt, in welcher er seine Wissenschaft von der Lebenswelt explizit als eine zweistufige Wissenschaft mit einer nicht-empirischen (eidetischen) Stufe als der primären darstellt. Abstract Commonly overlooked in the commentaries on Husserl’s conception of the lifeworld is the fact that Husserl conceived his science of the lifeworld as a twostage science with an empirical as well as a non-empirical (eidetic) stage. At the Überarbeitete Fassung eines Sektionsvortrags, der auf dem XXI. Deutschen Kongress für Philosophie (,,Lebenswelt und Wissenschaft‘‘) 15.-19.9.2008 in Essen gehalten wurde. R. Sowa (&) Husserl-Archiv, HIW, Katholieke Universiteit Leuven, Kardinaal Mercierplein 2, 3000 Leuven, Belgium e-mail:
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lower stage, it deals with our factical lifeworld and aims at general propositions about the very world we live in. At the higher stage, i.e., the primary stage for Husserl, it aims at general propositions about the lifeworld as such but not about our factical lifeworld, which now serves only as one possible lifeworld among others. This higher-level science of the lifeworld is a descriptive eidetics made up of pure descriptive concepts and pure descriptive laws (descriptive eidetic laws), in which no factical entity is posited explicitly or implicitly. The present paper analyzes these relationships. In an excursus, it also traces out the elements, principles and methodology of a descriptive eidetics in general to see how they are applied to Husserl’s descriptive eidetics of the lifeworld as it is subsequently developed in his lectures on Phenomenological Psychology from 1925, a text in which Husserl explicitly outlines his science of the lifeworld as a two-stage science.
Der von Husserl in die Philosophie eingeführte Begriff der Lebenswelt wird heute in der Regel auf zwei Weisen verwendet: Zum einen spricht man von ,,der Lebenswelt‘‘ und bezieht sich mit dem singulären Terminus ,,die Lebenswelt‘‘ ähnlich wie mit dem Ausdruck ,,die Welt‘‘– auf das eine und einzige, alles Reale umfassende Ganze, in dem wir Menschen gegenwärtig leben und das aus all unseren Erfahrungen, Handlungen, Wertungen etc., aus unserem ganzen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Leben, seinen aktuell uns geltenden Sinn hat.1 Aber ähnlich wie man auch von ,,einer Welt‘‘ spricht und sich damit auf eine von vielen Welten bezieht, so spricht man auch von ,,einer Lebenswelt‘‘ und von ,,Lebenswelten‘‘ im Plural und gebraucht dabei ,,Lebenswelt‘‘ als generellen Terminus. Diese Verwendung von ,,Lebenswelt‘‘ erlaubt es, die uns gegenwärtig geltende Lebenswelt, die wir zunächst unmittelbar als die eine und einzige allumfassende erfahren, zu relativieren und sie nur noch als eine Lebenswelt unter vielen zu betrachten; sie gilt uns dann trotz ihrer Universalität als eine historisch kontingente und auf uns Gegenwärtige relative Sinn- und Geltungseinheit unter zahllosen anderen solchen Einheiten. In diesem Sinne von ,,Lebenswelt‘‘ spricht man dann auch von geographisch entlegenen Lebenswelten wie derjenigen der Eskimos im Norden Kanadas oder von versunkenen, historisch gewordenen Lebenswelten wie z.B. von der Lebenswelt des Nürnberger Bürgertums um 1500. Aber die uns Mitteleuropäern gegenwärtig geltende, allumfassende Lebenswelt erweist sich nicht nur als eine historisch kontingente Lebenswelt, sie weist auch in sich eine Unzahl von parallelen und sich überschneidenden Lebenswelten auf, und zwar so, dass diese Pluralität von Lebenswelten mit zum Sinn der uns heute geltenden Lebenswelt gehört. Denn wir wissen von einer Unzahl von Kulturen und Subkulturen, von größeren und kleineren personalen Gemeinschaften, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebensweisen und der dazugehörigen Erfahrungs- und Wertungsweisen 1
Das ,,wir‘‘ und ,,uns‘‘, das sich hier naiv als Korrelat der gegenwärtigen Lebenswelt ansetzt, ist natürlich ein standpunktgebundenes, ein historisch und geographisch gebundenes ,,wir‘‘ und ,,uns‘‘; nur nimmt es seinen Standpunkt unbesehen als den Standpunkt schlechthin. Dieser naive Absolutismus der Perspektive ist freilich notwendig: er ist der notwendige Ausgangspunkt aller Relativierung des jeweils eigenen Standpunktes und der Einsicht in die notwendige Pluralität aller Wir-Standpunkte und der diesen korrelativen Lebenswelten.
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in eigenen Lebenswelten leben. Man denke hier etwa an so verschiedene Lebenswelten wie die Lebenswelt der brasilianischen Amazonasindianer und an die Lebenswelt von Frankfurter Börsenmaklern. Wenn wir von ,,der‘‘ Lebenswelt reden, haben wir implizit immer auch schon eine Pluralität diverser Lebenswelten im Blick. In diesen beiden auch bei Husserl zu findenden Verwendungsweisen des Ausdrucks ,,Lebenswelt‘‘ – sowohl in seiner Verwendung als singulärer Terminus (,,die Lebenswelt‘‘) als auch als genereller Terminus (,,eine Lebenswelt‘‘) –, liegt aber eine implizite und in aller Regel unbemerkte Beschränkung und Bindung des Lebensweltbegriffs. Denn er wird in der Rede von ,,der‘‘ Lebenswelt entweder auf die je eigene bzw. je unsere gegenwärtige faktische Lebenswelt bezogen oder aber in der Rede von ,,einer Lebenswelt‘‘ auf irgendeine menschliche faktische Lebenswelt, die sich räumlich (geographisch) und zeitlich (historisch) in der Raumzeit des uns geltenden Universums lokalisieren lässt und darin von uns ohne weiteres lokalisiert wird. In beiden Verwendungsweisen wird der Ausdruck ,,Lebenswelt‘‘ also wie selbstverständlich auf etwas Faktisches bezogen. Es ist charakteristisch für die Husserl’sche Konzeption von Lebenswelt, dass diese Beschränkung des Lebensweltbegriffs und seine zumeist bloß implizite Bindung an das Faktum dieser unserer raumzeitlichen Welt explizit gemacht wird und zwecks Gewinnung eines unbeschränkt allgemeinen Lebensweltbegriffs aufgehoben wird. Diese Aufhebung ist konstitutiv für Husserls Idee einer nichtempirischen Wissenschaft von der Lebenswelt, die einen reinen, d.h. von allen Bindungen an unsere faktische Welt gereinigten Begriff von Lebenswelt zu erarbeiten sucht und auf allgemeine Aussagen zielt, die für jede erdenkliche Lebenswelt gelten. Dies geschieht in einer deskriptiven Eidetik der Lebenswelt, die als apriorische oder nicht-empirische Wissenschaft gleichsam die Oberstufe der vollen Husserl’schen Lebensweltwissenschaft darstellt, zu der als notwendige Unterstufe eine empirisch-deskriptive Teilwissenschaft gehört, in der die allgemeinen Strukturen unserer bzw. einer irdisch-menschlichen Lebenswelt überhaupt herausgearbeitet werden. Dass Husserl seine Wissenschaft von der Lebenswelt als eine solche zweistufige Wissenschaft konzipiert hat, ist – soweit ich sehe – bislang nicht beachtet worden. Der Grund für diese Nichtbeachtung ist wohl hauptsächlich darin zu sehen, dass sich die Rezeption des Husserl’schen Begriffs von Lebenswelt und seiner Idee einer phänomenologischen Lebensweltwissenschaft fast ausschließlich auf die Mitte der 1930er Jahre entstandene Krisis-Schrift stützte. In diesem Werk findet sich de facto zwar auch die genannte Zweistufigkeit, sie wird aber dort nicht eigens thematisiert. Dies geschieht dagegen in der von Husserl 1925 gehaltenen und in Husserliana IX veröffentlichten Vorlesung Phänomenologische Psychologie. In dieser Vorlesung entwirft Husserl zunächst eine empirische Wissenschaft von der Lebenswelt und dann eine nicht-empirische Lebensweltwissenschaft in Form einer deskriptiven Eidetik der Lebenswelt. Um die Zweistufigkeit von Husserls Lebensweltwissenschaft herauszuarbeiten, werde ich mich daher im Folgenden vor allem auf diese Vorlesung stützen. Diese Vorlesung, worin Husserl im Rückgang auf die vorwissenschaftliche oder vortheoretische Lebenswelt die Thematik einer apriorischen Psychologie herauszuarbeiten sucht und dabei in einem Exkurs auch relativ ausführlich auf die hier geforderte Methodik reflektiert, bietet überdies die Gelegenheit, den allgemeinen Charakter von Husserls deskriptiver
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Eidetik zu erläutern und dabei seinen Begriff von Apriori und speziell seinen Begriff eines Apriori der Lebenswelt zu entfalten. Auf diesen Exkurs werde ich unten, ebenfalls in Form eines Exkurses, näher eingehen, aber nur so weit, als es für die Klärung der Husserl’schen Idee einer apriorischen Lebensweltwissenschaft erforderlich ist.
1 Die Wissenschaft von der Lebenswelt als eine zweistufige, sich in eine empirische und eine apriorische Stufe gliedernde Wissenschaft von der vorgegebenen Welt In der Krisis-Schrift, in der Husserl ,,der […] allumspannenden Seinsweise der Lebenswelt systematisch, d.i. in einer angemessenen Wissenschaftlichkeit genugtun‘‘ (Hua VI, 134) möchte, erweckt er den Anschein, als sei die dort entworfene Wissenschaft von der Lebenswelt eine Wissenschaft von dieser unserer Lebenswelt, so etwa, wie die Geographie Wissenschaft von der Erde, von diesem von uns bewohnten Planeten, ist. Husserls Wissenschaft von der Lebenswelt ist aber nur zu einem Teil, nämlich nur sozusagen in einer Unterstufe eine Wissenschaft von unserer aktuellen Lebenswelt, also eine Wissenschaft von einem Faktum, die in all ihren Aussagen Faktisches setzt oder mitsetzt. Als solche ist sie eine im Husserl’schen Sinne empirische Wissenschaft. In der von Husserl eigentlich angestrebten und die Unterstufe ergänzenden und sie ,,rationalisierenden‘‘, sie im höchsten Sinne verwissenschaftlichenden Oberstufe ist seine Lebensweltwissenschaft aber eine nicht-empirische oder apriorische, nämlich eine eidetisch-deskriptive Wissenschaft. Deutlicher als in der Krisis-Schrift, wo eine apriorische Lebensweltwissenschaft zwar hier und da erwähnt wird (Hua VI, 144, 176, 177, 181) und dort ,,reine Wesenslehre‘‘ und ,,Ontologie‘‘ der Lebenswelt genannt wird, arbeitet Husserl in der Vorlesung Phänomenologische Psychologie den Zweistufencharakter dieser ,,sonderbaren Wissenschaft‘‘ (Hua VI, 158) und insbesondere den apriorischen Charakter ihrer Oberstufe heraus, und zwar im Ausgang von einer Charakterisierung ihrer eigentümlichen empirischen Unterstufe. Dass die Lebenswelt oder ,,vortheoretische Erfahrungswelt‘‘, die sich im Fortgang unserer Erfahrungen immer wieder als ein ,,Einheitsbestand einstimmiger Gesamtwirklichkeit‘‘ (Hua IX, 60) herausstellt, ,,eine generelle systematische Struktur‘‘ (Hua IX, 64) hat, ist die Grundannahme und Grundvoraussetzung einer auf diese Erfahrungswelt bezogenen Wissenschaft. Als eine ,,universale‘‘ Wissenschaft sucht sie die der vortheoretisch erfahrenen Welt als solcher innewohnende ,,universale Weltstruktur‘‘ herausarbeiten und in theoretischen Wahrheiten prädikativ auszuprägen (ebd.). Ihre Leitfrage ist: ,,Was ist von der Welt ganz allgemein in ihrer totalen Betrachtung auszusagen, rein als Welt schlichter Erfahrung, wann immer und wo immer wir die Erfahrung betrachten als Erfahrung einer Welt?‘‘ (IX, 65)2 Die Beantwortung dieser Frage soll uns ,,den inhaltsvollen Begriff von der 2
Husserl akzentuiert hier mit dem Begriff der Erfahrungswelt dasjenige an der Lebenswelt, was allen lebensweltlichen Aktivitäten, seien dies praktische, theoretische oder sonstige Aktivitäten, ,,vorgegeben‘‘ ist. Der Ausdruck ,,schlichte Erfahrung‘‘ bezeichnet demnach die komplexe Leistung, durch die uns die konkrete Welt – also nicht nur die lebensweltliche Natur, sondern auch die uns durch ,,Interpretation‘‘
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natürlichen Erfahrungswelt‘‘ (ebd.) aufbauen, den Husserl in Übernahme des von Avenarius geprägten Begriffs auch den ,,natürlichen Weltbegriff‘‘ nennt. Genauer besehen, wird nach ,,dem typisch Allgemeinen‘‘ der natürlichen, vortheoretischen Erfahrungswelt gefragt, und zwar nach dem typisch Allgemeinen, das ,,in jeder Welterfahrung‘‘ (ebd.) zu finden ist. Dabei geht es um die ,,Gesamteigenheiten‘‘ der vortheoretisch erfahrenen Welt, um die Eigenheiten, die sie ,,als gesamte und einheitliche‘‘ hat (ebd.). Um diese ,,Gesamteigenheiten‘‘ zu bestimmen, müssen wir nach Husserl von Beispielen ausgehen, und zwar – und das ist hier entscheidend – ,,von Beispielen wirklich betätigter Welterfahrung‘‘ (Hua IX, 66, meine Hervorhebung). Dass hier nur wirklich betätigte, also faktische Welterfahrung als Sphäre von Beispielen in Frage kommt, ist, wie sich zeigen wird, von ausschlaggebender Bedeutung für den ,,empirischen‘‘ Charakter der hier skizzierten Lebensweltwissenschaft der Unterstufe. (Diese Beschränkung der Beispielssphäre auf wirkliche Welterfahrung, auf Erfahrung dieser Welt, wird, wie wir sehen werden, bei der nicht-empirischen Lebensweltwissenschaft aufgehoben.) Besinnt man sich auf Beispiele wirklich betätigter vortheoretischer Welterfahrung, so stellt man bald fest, dass die Welterfahrung in all ihren besonderen und ständig wechselnden Erfahrungsinhalten so etwas wie einen allgemeinen, uns vertrauten und implizit bekannten Stil hat und dass ,,der Stil bisheriger Erfahrung […] für jede ins Spiel zu setzende mögliche Erfahrung eine unbestimmte allgemeine Erwartung kommender Gegebenheiten ähnlichen Stils [bringt]‘‘ (ebd.). Der Fortgang der Welterfahrung im Sinne der Stilähnlichkeit ist, wie Husserl sagt, ,,horizonthaft‘‘ bewusst bzw. gewusst. Die Welt, wie sie künftig in etwa sein und erfahren sein wird, gehört in der Weise eines protentionalen Horizontes, d.h. eines ständig mitgeltenden Hintergrundes von Antizipationen, der den Sinn, das Als-was, des jeweils gegenwärtig Erfahrenen mitbestimmt, zu der jeweils aktuell erfahrenen Welt. Wollen wir uns diesen Horizont methodisch anschaulich machen und den allgemeinen Stil unserer Welterfahrung bestimmen, so müssen wir exemplarisch vorgehen: Wir müssen uns exemplarisch ,,irgendeinen bestimmten Fortgang‘‘ der Welterfahrung ,,in vergegenwärtigender ,Phantasie‘ vorstellig machen‘‘, irgendeinen typischen Fortgang, den wir mit den Worten kommentieren würden: ,,etwa dergleichen muß oder müsste kommen‘‘ (ebd.), z.B. in räumlicher Hinsicht: irgendwelche ihrem besonderen Typ nach mehr oder weniger vertrauten Dinge und diese Dinge in mehr oder weniger vertrauten Umgebungen. Auf dem Wege solcher exemplarischer Horizontexplikationen, in denen wir uns allgemein auf die durch unsere jeweiligen wirklichen Erfahrungen motivierten möglichen Erfahrungen besinnen, erfassen wir Schritt für Schritt das komplexe Stil-Allgemeine dieser unserer faktischen Welterfahrung und das überaus komplexe Typisch-Allgemeine der ihr korrelativen Erfahrungswelt, und zwar sofern diese Erfahrungswelt eben ,,individuell diese‘‘, eben die von uns faktisch erfahrene ist, und ,,als diese einen überall gleichartigen Stil hat‘‘ (Hua IX, 67, meine Hervorhebungen). Dies gilt nach Husserl sowohl in Bezug auf ,,die allgemeine Verknüpfungsgestalt‘‘ der unmittelbar begegnende Welt der Kulturobjekte und Kultursubjekte – vorgegeben ist; es ist die eigentlich weltvorgebende Leistung (vgl. Hua IX, 60–62 und 111–118, insbesondere 115).
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Erfahrungswelt und ihren Ganzheitsstil als auch in Bezug auf die Einzelrealitäten in der Welt, bei denen sich ,,eine universal gültige Typik nach Artung der Gehalte und des inneren Aufbaus‘‘ aufweisen lässt (ebd., siehe zum Ganzheitsstil der Erfahrungswelt 67–69) Indem wir auf dem Wege der exemplarisch vorveranschaulichenden Horizontexplikation den in unserer faktischen Welterfahrung beschlossenen allgemeinen Stil enthüllen, schaffen wir, Husserl zufolge, ,,den inhaltsvollen Weltbegriff‘‘, der die ,,allgemeine Strukturform der Welt zu wissenschaftlicher Ausprägung bringt, als Welt bloß aus schlichter Erfahrung‘‘ (Hua IX, 69). Die Wissenschaft, die dies leistet, bezeichnet Husserl als ,,die deskriptive Wissenschaft von der Welt als purer Erfahrungswelt und nach ihrem Generellen‘‘; sie geht als ,,erste Weltwissenschaft‘‘ ,,allen Weltwissenschaften, die als streng begründete sich ihres tiefsten Grundes bemächtigen wollen‘‘, voran (ebd., meine Hervorhebungen).3 Was ich soeben anhand des Textes der Vorlesung von 1925 skizzierte, ist aber nicht die ganze ,,erste Weltwissenschaft‘‘, nicht die ganze Wissenschaft von der Lebenswelt, sondern nur ihr empirischer Teil, ihre auf diese faktische Welt bezogene Unterstufe. Den Übergang zu ihrem apriorischen Teil, ihrer nichtempirischen oder ,,eidetischen‘‘ Oberstufe, leitet Husserl in der Vorlesung mit folgenden Worten ein: ,,Es ist nun an der Zeit, unser ganzes bisheriges Vorgehen einer Kritik zu unterziehen und uns zur Einsicht zu bringen, daß es in einer empirischen Bindung durchgeführt worden ist, die behoben werden kann und muß. Mit anderen Worten, es ist nicht schwer einzusehen, daß diese an sich erste Weltwissenschaft von der universalen Strukturform der Erfahrungswelt als solcher ihre reine Gestalt hat als reine apriorische Wissenschaft.‘‘ (Hua IX, 69, meine Hervorhebungen) Worin genau besteht nun die empirische Bindung, die die Lebensweltwissenschaft als erste Weltwissenschaft zu einer im Sinne Husserls empirischen Wissenschaft macht? – Es ist die Bindung an ein bestimmtes weltliches Faktum bzw. die Bindung an eine ganze Sphäre der Faktizität, die sich darin ausdrückt, dass in den Begriffen bzw. Aussagen der Lebensweltwissenschaft Wirklichkeiten dieser faktischen Welt explizit oder implizit mitgesetzt werden bzw. diese faktische Welt als ganze explizit oder – wie zumeist – implizit mitgesetzt wird. Die obigen allgemeinen Betrachtungen der Lebenswelt als einer vorgegebenen Erfahrungswelt (im weitesten Sinne) gingen aus – wie Husserl sagt – ,,vom Faktum unserer Erfahrung und der darin erfahrenen Welt […] und wollten sich auch nur auf dieses Faktum beziehen‘‘ (Hua IX, 70, meine Hervorhebungen). Unsere Frage nach der universalen lebensweltlichen Typik war demnach die Frage nach der durch diese von uns faktisch erfahrene Welt überall hindurchgehenden Typik, denn ,,wir fassten das jeweilig typische Allgemeine als gefordert vom faktischen Erwartungsstil der Welterfahrung her‘‘ (ebd.), und es betraf dieser universale Erwartungsstil sowohl die 3
Hier findet sich also – lang vor Abfassung der Krisis-Abhandlung – der Gedanke der lebensweltlichen Fundierung der objektiven Wissenschaften in einer eigenen theoretischen Lebensweltwissenschaft (vgl. Hua VI, § 34).
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typisierten ,,Einzelrealitäten in der Welt‘‘ als auch die ,,Universalstrukturen der Welt als eines Ganzen‘‘ (ebd.). Es zeigte sich, dass unsere gesamte vergangene Welterfahrung der künftigen Welterfahrung ihren ,,Ähnlichkeitsstil‘‘ (ebd.) vorschreibt. Wenn wir allgemein überlegen, was künftige Welterfahrung bringen und wie das Kommende im Allgemeinen aussehen mag, können wir nicht anders, als ,,dem eigenen Sinneszug‘‘ unserer bisherigen Erfahrung zu folgen und ,,die unbestimmte künftige Welt im allgemeinen Stil der vergangenen zu entwerfen‘‘ (ebd.). Reflektieren wir auf einen solchen allgemeinen Entwurf von Welterfahrungszukunft, wie er implizit in aller unserer Welterfahrung steckt – z.B. dass die von uns erfahrene Welt sich immer wieder als eine räumlich verfasste und um uns herum orientierte zeigen wird –, so bemerken wir, dass es zwischen gewöhnlichen lebensweltlichen Erwartungen einzelner künftiger Ereignisse und Zustände, also von Erwartungen, wie wir sie ,,in der konkreten Empirie‘‘ (ebd.) finden, und der allgemeinen Antizipation des Stils künftiger Welterfahrungen und künftig erfahrener Welt einen bedeutsamen Unterschied gibt: Dass ein Hund nach einem Stück Fleisch schnappen wird, das man ihm vors Maul hält, ist zwar sehr wahrscheinlich, aber nicht notwendig; es ist denkbar, dass er es aus irgendwelchen Gründen, die wir nicht kennen, nicht tut. Demgegenüber ist es undenkbar, dass die von uns erfahrene Welt irgendwann oder irgendwo unräumlich wird; sie wird immer eine um uns, die sie Erfahrenden, herum orientierte Welt des Neben- und Hintereinander sein. In Bezug auf diesen allgemeinen Sachverhalt fühlen wir eine Notwendigkeit eigener Art. Von einer solchen zunächst nur gefühlten, noch unbegriffenen Notwendigkeit, die sich als Undenkbarkeit des Gegenteils bekundet, sagt nun Husserl, dass jede solche Notwendigkeit ,,Anzeichen eines Apriori‘‘ sei, und zwar eines Apriori ,,im Sinn einer unbedingten, einer sogenannten apodiktischen und als das einsehbaren Allgemeinheit‘‘ (ebd.). Eine solche unbedingte Allgemeinheit bezeichnet Husserl gewöhnlich als ,,Wesensgesetz‘‘. Hier verwendet Husserl einen Begriff von Apriori, der für seine deskriptive Eidetik als eine apriorische Wissenschaft spezifisch ist und sein Projekt einer nichtempirischen Wissenschaft von der Lebenswelt, also die Lebensweltwissenschaft in ihrer ,,reinen Gestalt‘‘, von Grund auf bestimmt. Es ist der Begriff eines materialen (,,synthetischen‘‘) und näher eines deskriptiven Apriori in Gestalt deskriptiver Wesensgesetze. Da Husserls Begriff des Apriori und insbesondere sein Begriff des ,,synthetischen‘‘ Apriori von demjenigen Kants und der sich an Kant orientierenden Tradition abweicht,4 bedarf er einiger Erläuterungen. Die hier nötigen Erläuterungen möchte ich im Folgenden in einem Exkurs geben, in dem ich auf Husserls Idee einer deskriptiven Eidetik und ihre Methode der Aprioriforschung eingehe, und zwar so weit, als es für die Bestimmung der reinen Gestalt der Husserlschen Lebensweltwissenschaft notwendig ist. Nach diesen allgemeinen methodologischen Erörterungen zu Husserls deskriptiver Eidetik werde ich zu seiner Idee einer nichtempirischen Lebensweltwissenschaft als einem speziellen Typ von deskriptiver 4
Siehe hierzu die §§ 11 und 12 in der III. Logischen Untersuchung, wo Husserl sich ausdrücklich von den Kantischen Bestimmungen des synthetischen und analytischen Apriori absetzt, die seines Erachtens ,,keineswegs ,klassisch‘ genannt zu werden verdienen‘‘ (Ende von § 12).
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Eidetik zurückkehren. Damit folge ich im Wesentlichen Husserls eigenem Vorgehen in der Vorlesung Phänomenologische Psychologie, in die er einen methodologischen Exkurs eingefügt hat, der den Weg aufweisen sollte, ,,auf dem […] alles echte intuitive Apriori gewonnen wird‘‘ (Hua IX, 72) und somit auch dasjenige Apriori, auf das es die nicht-empirische Lebensweltwissenschaft abgesehen hat.5 Leider hat Husserl mit diesem Exkurs und insbesondere mit seiner sich darin findenden ,,Beschreibung‘‘ der sogenannten eidetischen Variation statt Klarheit eine Scheinklarheit erzeugt, die teils kritikloses Nachreden, teils vehemente Kritik und verschiedene Versuche rettender Umdeutungen hervorgerufen hat.6 Ich werde bei meiner Darstellung der Husserl’schen deskriptiven Eidetik nur einzelne unverzichtbare und methodisch brauchbare Stücke des Exkurses verwenden und ansonsten Husserls problematische methodologische Ausführungen zum Herausschauen von Wesen als Invarianten nicht sonderlich ernst nehmen. Die Lizenz, Husserl hier nicht zu folgen und ihn als Methodologen und Deuter seiner eigenen eidetischen Praxis nicht allzu ernst zu nehmen, hat Husserl uns selbst erteilt. In einem Brief aus dem Jahre 1918 schreibt er an Eduard Spranger: ,,Beurteilen Sie die Phänomenologie nicht zu sehr nach Reflexionen des Phänomenologen über die Phänomenologie, auch nicht nach den meinen vieljährig bedachten. Es ist zweierlei, tun und den Sinn seines Tuns richtig bestimmen. Sehen Sie auf das, was da getan wird […].‘‘ (Husserl an Spranger, ca. 1.IX.1918 (Entwurf), in: Hua Dok III (Briefwechsel), Band 6, S. 419)7
2 Elemente der deskriptiven Eidetik als Form einer nicht-empirischen materialen Wissenschaft Sieht man auf das von Husserl Getane und Geleistete, und insbesondere auf die deskriptiven Resultate seiner phänomenologischen Analysen, so zeigt sich, dass es in der Husserl’schen Phänomenologie als einer eidetischen oder apriorischen Wissenschaft letztlich um Wesengesetze geht und um Verständlichmachung aus
5
In einer Randbemerkung des Vorlesungsmanuskriptes hat Husserl diesen später von Landgrebe in die §§ 87–92 von Erfahrung und Urteil eingearbeiteten methodologischen Exkurs ,,Exkurs über Ideation‘‘ genannt (Hua IX, 560).
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Eine solche Umdeutung liegt eigentlich schon in dem vielzitierten § 87 von Erfahrung und Urteil vor, in dem Ludwig Landgrebe nicht nur Stücke aus Husserls ,,Exkurs‘‘ verwendet hat, sondern auch eigene überleitende Passagen eingefügt hat. Die hier zu findende Rede von ,,Grenzen‘‘ der Variation (S. 411), auf die viele Interpreten dieses Textes zurückgegriffen haben, ist offenbar ein interpretierender Zusatz Landgrebes. Denn von Grenzen der Variation redet Husserl weder im Exkurs von Phänomenologische Psychologie noch in dem Paragraphen zur eidetischen Methodik (§ 98) von Formale und transzendentale Logik, einem Werk, das nur wenige Jahre nach der Psychologie-Vorlesung entstand und ursprünglich als Einleitung zu Erfahrung und Urteil gedacht war.
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Dass Husserl seiner Darstellung der sogenannten eidetischen Variation in dem Exkurs der Vorlesung von 1925 keine große Bedeutung beigemessen hat, davon zeugen die nur wenige Jahre später entstandenen Cartesianischen Meditationen. Hier findet sich in dem der eidetischen Methodik gewidmeten § 34 praktisch nichts von einem Herausschauen eines invarianten reinen Allgemeinen aus einer Variantenreihe.
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Wesensgesetzen.8 Geht man in der Darstellung der Husserl’schen deskriptiven Eidetik von Wesensgesetzen und ihrer allgemeinen Form aus, so erhält man ein recht einfaches Bild von Husserls deskriptiver Eidetik und eine adäquate Vorstellung von ihrer Methode, einer Methode, die – anders als die von Husserl wiederholt dargestellte – nicht nur eine von der Form deskriptiver Wesensgesetze geforderte, sondern auch eine praktikable und hinsichtlich ihrer Ergebnisse intersubjektiv kontrollierbare Methode ist. Von diesem einfachen Bild will ich im Folgenden, wiederum vereinfachend, die Hauptzüge skizzieren.9 Was ist nun ein Wesensgesetz und insbesondere ein deskriptives Wesensgesetz? Wesensgesetze sind nichts anderes als apriorische oder nicht-empirische Gesetze. Solche, wie Husserl auch sagt, reinen Gesetze kennen wir alle aus dem Mathematikunterricht, wo wir erste Bekanntschaft mit einer apriorischen (eidetischen) Wissenschaft und ihrer Vorgehensweise gemacht haben (man denke hier etwa an das unmittelbar einsichtige Kommutativgesetz der elementaren Algebra ,,a ? b = b ? a‘‘ oder an den nur mittelbar, nämlich durch einen Beweis in seiner Wahrheit einsehbaren pythagoreischen Lehrsatz ,,a2 ? b2 = c2‘‘). Unter den apriorischen Wissenschaften war insbesondere die reine Geometrie für Husserl modellhaft. Sie teilt nämlich mit der eidetischen Phänomenologie zwei Eigenschaften: Einerseits ist sie wie die reine Arithmetik eine reine oder apriorische Wissenschaft, die in ihren reinen Begriffen und reinen Gesetzen nichts Faktisches setzt oder implizit mitsetzt, und andererseits ist sie – anders als die reine Arithmetik oder die formale Logik – eine materiale apriorische Wissenschaft, die mit bestimmten sachhaltigen reinen Begriffen wie z.B. ,,Punkt‘‘, ,,Gerade‘‘, ,,Kreis‘‘ etc. operiert und aus ihnen ihre Axiome und Theoreme aufbaut. Diese reinen sachhaltigen oder materialen Begriffe haben allerdings einen ganz anderen Charakter als die reinen sachhaltigen Begriffe, aus denen die reinen Gesetze der Husserl’schen eidetischen Phänomenologie aufgebaut sind. Die sachhaltigen Begriffe der reinen Geometrie beziehen sich nämlich auf prinzipiell unanschauliche Gebilde, nämlich auf aus Idealisierungen anschaulicher Gebilde hervorgegangene sogenannte Limesgestalten wie ideale Geraden, ideale Kreise etc. Diese Gebilde sind nichts real Wirkliches, nichts in der raumzeitlichen Realitätenwelt Vorfindliches; sie kommen weder in der sogenannten Außenwelt raumzeitlicher Realitäten noch in der reflexiv zu thematisierenden sogenannten Innenwelt der Erlebnisse vor. Und sie lassen sich auch nicht als quasi-reale Bestandteile in eine in freier Phantasie erzeugte Realitätenwelt hineinfingieren. Husserl nennt diese idealen oder irrealen Gebilde, denen sich reale bzw. imaginierte ,,geometrische‘‘ Gebilde (z.B. kreisförmige Planetenbahnen und gezeichnete oder vorgestellte Geraden) immer 8
Darin ähnelt die eidetische Phänomenologie anderen ,,nomothetischen‘‘ Wissenschaften, die es – mögen sie apriorische oder empirische sein – auf Gesetze und auf Erklärung aus Gesetzen abgesehen haben. Die klärende und neubildende Arbeit am Begriff ist hier immer nur Voraussetzung für die Arbeit am Gesetz und schließlich an der Theorie.
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Ausführlicher dargestellt ist Husserls deskriptive Eidetik in meinem Aufsatz ,,Wesen und Wesensgesetze in der deskriptiven Eidetik Edmund Husserls‘‘, in: Phänomenologische Forschungen Band 2007, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2008, S. 5–37. Siehe hierzu auch meine Artikel ,,Eidos‘‘, ,,Typus‘‘, ,,eidetische Variation‘‘und ,,Wesensgesetz‘‘ im von Hans-Helmuth Gander herausgegebenen Husserl-Lexikon (Darmstadt 2010).
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nur unvollkommen annähern können, ,,reine Möglichkeiten‘‘; sie machen in ihrer jeweiligen offen-unendlichen Gesamtheit das aus, was Husserl als Umfang eines reinen geometrischen Begriffs bezeichnet (so etwa bilden alle idealen, rein möglichen Kreise den Umfang des reinen geometrischen Begriffs ,,Kreis‘‘). Unter diese ,,exakten‘‘ Begriffe kann im eigentlichen Sinne von ,,fallen unter‘‘ kein anschaulicher Gegenstand fallen (z.B. eine mit einem Lineal gezeichnete Gerade ist natürlich keine exakte Gerade im geometrischen Sinne). Einen gänzlich anderen Charakter haben die reinen sachhaltigen Begriffe, die in die Gesetzesaussagen der eidetisch verfassten Phänomenologie eingehen. Sie sind sogenannte Typenbegriffe oder deskriptive Begriffe. Was unter sie fällt, fällt unter sie im eigentlichen Sinne von ,,fallen unter‘‘ und ist prinzipiell anschaulich. Es kann daher auch als echtes Exempel für den jeweiligen Typenbegriff dienen, wogegen etwa gezeichnete geometrische Gebilde nur analogisch veranschaulichende Anhalte für die idealisierende, reine Limesgestalten erzeugende geometrische intellectio sind. Die in den Wesensgesetzen der Phänomenologie gebrauchten Begriffe wie etwa ,,intentionales Erlebnis‘‘, ,,Dingwahrnehmung‘‘ oder ,,Retention‘‘ sind reine Typenbegriffe. Was unter reine Typenbegriffe fällt, gehört als etwas prinzipiell Anschauliches der Sphäre der imaginatio im Sinne Descartes’ an. Ich kann es in äußerer oder innerer (reflexiver) Erfahrung als etwas Wirkliches aufweisen oder aber in der Phantasie anschaulich als etwas Mögliches oder Quasi-Wirkliches vorstellen. Was macht nun die Reinheit der reinen Typenbegriffe aus, die als Begriffe in die deskriptiven Wesensgesetze der Phänomenologie eintreten? Bei der Bestimmung der Reinheit der Typenbegriffe ist für Husserl die Reinheit der geometrischen Begriffe modellhaft. Denn ähnlich wie ein exakter geometrischer Begriff ist ein deskriptiver oder Typenbegriff genau dann rein, wenn er weder explizit noch implizit faktisches weltliches Seiendes bzw. eine faktische Welt von Seienden mitsetzt. Ist in einem Begriff faktisches Seiendes unserer Welt explizit mitgesetzt wie z.B. in dem Begriff ,,(eine) Kirche Kölns‘‘ oder ist in einem Begriff die faktische Welt implizit mitgesetzt wie z.B. in dem Begriff ,,(eine) Milchstraße‘‘, mit dem wir in aller Regel meinen ,,(eine) Milchstraße dieses Kosmos, in dem unsere Milchstraße eine unter vielen ist‘‘, so handelt es sich um einen empirischen Begriff im Sinne Husserls.10 Gesetze, die Begriffe enthalten, die Faktisches bzw. eine Sphäre von Faktischem (eine Realitätenwelt) explizit oder implizit mitsetzen, sind nach der Husserl’schen Terminologie empirische Gesetze, wie z.B. die Naturgesetze der Physik, die implizit oder explizit (mittels Naturkonstanten) bezogen sind auf den faktischen, von uns erfahrenen Kosmos. In deskriptiven Wesensgesetzen, die ähnlich wie die 10 Unter den prima facie empirischen Begriffen gibt es solche, die sich eidetisch reinigen lassen (wie zahlreiche Begriffe für kultürliche Arten), und solche, die ihrer Natur nach eine eidetische Reinigung prinzipiell ausschließen, da sie sozusagen ab ovo empirische Begriffe sind, weil sie indexikalische, auf diese Realitätenwelt verweisende Komponenten enthalten. Zu diesen Begriffen zählen insbesondere die Begriffe für natürliche Arten (siehe hierzu a.a.O., S. 19–29). Empirische oder genauer quasi-empirische Begriffe im Sinne Husserls wären aber auch all jene Begriffe, die explizit oder implizit auf Seiendes (genauer: Quasi-Faktisches) einer fiktiven Welt verweisen, wie z.B. der Begriff ,,(ein) Schuh Aschenputtels‘‘.
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mathematischen Gesetze nur aus reinen Begriffen, aber im Unterschied zu diesen nur aus reinen Typenbegriffen aufgebaut sind, wird ,,nicht das Leiseste ausgesagt […] über die raumzeitliche faktische Welt‘‘, weder explizit noch implizit; es sind Gesetze, die durch ihre reinen Begriffe ,,bezogen [sind] auf mögliche Tatsachen – auf ideal mögliche, ideal erdenkliche‘‘ (Hua IX, 23). In den Umfang eines reinen deskriptiven Begriffs gehören unmittelbar nur reine Möglichkeiten, d.h. mögliche, erdenkliche Gegenstände. Wirklichkeiten, wirkliche Gegenstände gehören nur mittelbar in den Umfang eines reinen deskriptiven Begriffs hinein, sofern sie sich als reine Möglichkeiten auffassen lassen, was ja bei jedem wirklichen Gegenstand prinzipiell möglich ist, da jeder wirkliche Gegenstand immer auch ein möglicher ist. Diese Gleichstellung von Wirklichkeiten mit reinen Möglichkeiten, diese ihre ,,Reduktion auf reine Möglichkeiten‘‘ (1925/26: A IV 8/28b), ermöglicht erst eine deskriptive Eidetik und damit die Phänomenologie als eine nicht-empirische Wissenschaft. Und nur von dieser Gleichstellung her wird – wie gleich zu zeigen ist – auch die Methode der Husserl’schen Aprioriforschung verständlich, in der die Phantasie eine zentrale methodische Funktion hat. Das materiale, genauer das deskriptive Apriori, um das es in Husserls phänomenologischer Aprioriforschung geht, hat die Form von Gesetzen, und zwar von deskriptiven Wesensgesetzen. Diese finden ihren primären Ausdruck in Form von universellen mehr oder weniger komplexen Wenn-dann-Aussagen, in denen ausschließlich reine deskriptive Begriffe auftreten. Treten in einer solchen Aussage im einfachsten Fall nur zwei reine Begriffe auf, sagen wir die Begriffe ,,F‘‘ und ,,G‘‘, so hat das Wesensgesetz die allgemeine Form: ,,Für jedes erdenkliche x gilt: ist x (ein) F, dann ist x (ein) G.‘‘ Wesensgesetze dieser einfachen Form oder einer wenig komplizierteren Form wären z.B. die aus den Logischen Untersuchungen bekannten deskriptiven Wesensgesetze ,,Jede erdenkliche phänomenale Farbe hat irgendeine phänomenale Ausbreitung‘‘ oder ,,Jedes erdenkliche intentionale Erlebnis hat die Momente AktQualität und Akt-Materie‘‘. Ein wenig komplizierter ist das Wesensgesetz, das Husserl in der Phänomenologischen Psychologie als ,,eine höchst bedeutsame, und zwar die universalste Strukturerkenntnis für das Reich möglicher Erfahrungsgegenständlichkeiten‘‘ anführt: ,,Jedes objektiv Erfahrbare und in einstimmiger Erfahrung als objektiv Daseiende, also intersubjektiv Ausweisbare, ist nur denkbar als seiend in einer Welt, es steht im Rahmen einer möglichen universalen Erfahrung, deren universaler Gegenstand die Welt ist. Oder auch: was uns Erfahrung als Reales gibt, ist nur denkbar als Reales in einer Welt, in seiner näher zu erfahrenen Welt.‘‘ (Hua IX, 97) Bei deskriptiven Wesensgesetzen, die die Form universeller Wenn-dannAussagen über erdenkliche Gegenstände haben, sieht man sofort, wie sie zu prüfen und gegebenenfalls zu falsifizieren sind: nämlich anhand von Gegenbeispielen, und zwar anhand bloß erdachter Gegenbeispiele, die als Gegenbeispiele zu Gesetzen natürlich keine Gegenstände, sondern Sachverhalte sind, rein mögliche, erdenkliche Sachverhalte, die sich freilich als mögliche Sachverhalte intersubjektiv auszuweisen und zu bewähren haben. Ein Wesensgesetz der genannten Form, ist – sieht man nur auf seine logische Form als universelle Wenn-dann-Aussage über erdenkliche
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Gegenstände – leicht zu falsifizieren; denn es braucht ja nur ein einziger möglicher singulärer Sachverhalt der Form ,,x ist (ein) F, aber nicht (ein) G‘‘ erdacht und intersubjektiv als möglich ausgewiesen zu werden, um ein prätendiertes Wesensgesetz der Form ,,Für jedes erdenkliche x gilt: ist x (ein) F, dann ist x (ein) G‘‘ als ungültig zu erweisen. Dies geschieht also durch die in freier Phantasie vollzogene Konstruktion eines möglichen singulären Sachverhalts der genannten Form, der vom prätendierten Wesensgesetz als unmöglich ausgeschlossen wird. Und hier, d.h. bei der Prüfung und gegebenenfalls bei der Falsifikation von prätendierten, als gültig beanspruchten deskriptiven Wesensgesetzen, hat die sogenannte freie oder eidetische Variation ihren wahren methodischen Ort und ihre wirkliche methodische Funktion. Als in kritischer Absicht initiierte freie Variation hat sie durch die Vorgabe, im Ausgang von einem gesetzesbewährenden Einzelfall einen potenziell falsifizierenden möglichen Einzelfall bestimmter Form zu konstruieren, eine klare Direktive: Man weiß genau, in welche Richtung man einen das prätendierte Wesensgesetz bewährenden singulären Sachverhalt abzuwandeln hat und was das Resultat solcher Variation zu sein hat. Die freie Variation dient also nicht der Auffindung von Wesensgesetzen durch eine ,,reine Induktion‘‘ (Hua IX, 91) oder gar – wie es manche methodologischen Texte Husserls und insbesondere der Exkurs in der Vorlesung von 1925 nahelegen – dem ,,Herausschauen‘‘ von Wesen als Invarianten aus einer endlichen, ins Unendliche zu erweiternden Variantenmannigfaltigkeit, sondern der Prüfung bzw. Falsifikation von prätendierten deskriptiven Wesensgesetzen, und zwar anhand von in freier Phantasie konstruierten Gegenbeispielen.11 Scheitert ein solcher Falsifikationsversuch und erweist sich eine prima facie falsifizierende Möglichkeit bei näherem Hinsehen doch als Unmöglichkeit, so gilt das prätendierte Wesensgesetz bis auf weiteres als bewährt, und es darf bis auf weiteres, und zwar mit gutem epistemischen Gewissen, als gültiges Wesensgesetz in Anspruch genommen werden. Da deskriptive Wesensgesetze aufgrund ihrer allgemeinen Form prinzipiell durch bloß erdachte Sachverhalte falsifiziert werden können, ergibt sich auch ein einfaches Kriterium, das es erlaubt, zwischen empirischen Gesetzen (z.B. denen der empirischen Psychologie) und den nicht-empirischen Gesetzen einer deskriptiven Eidetik (z.B. denen einer apriorischen Psychologie und denen der eidetischen transzendentalen Phänomenologie) zu unterscheiden. Dadurch nämlich, dass sich die Wesensgesetze einer deskriptiven Eidetik prinzipiell durch bloß fingierte Einzelfälle prüfen und gegebenenfalls falsifizieren lassen und von vornherein als Gesetze gemeint sind, die eine solche Prüfung bzw. Falsifikation zulassen, unterscheiden sie sich wesentlich von empirischen Gesetzen, für die eine Prüfung bzw. eine Falsifikation durch bloß erdachte Gegenbeispiele widersinnig wäre. Dadurch, dass die material-apriorischen Wesensgesetze der deskriptiven Eidetik aber prinzipiell auch durch wirkliche, in dieser Welt vorkommende Einzelfälle 11 Husserl spricht im Exkurs der Vorlesung von 1925 übrigens nicht nur vom ,,Herausschauen eines reinen Allgemeinen‘‘ (Hua IX, 86), sondern auch von der ,,fortschreitende[n] Herstellung des Eidos‘‘ (Hua IX, 93). Mit dieser poietischen Metapher wird das tatsächliche Verfahren einer eidetischdeskriptiven Wissenschaft, zu intersubjektiv haltbaren Ergebnissen (gültigen bzw. bewährten Wesensgesetzen) zu gelangen, sicher angemessener angedeutet als mit jener optischen Metapher.
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prüfbar und gegebenenfalls falsifizierbar sind – indem wir in eidetisch-kritischer Absicht Tatsachen der wissenschaftlichen oder Tatsachen der vorwissenschaftlichen Empirie lediglich als bloße Möglichkeiten unter anderen bloßen Möglichkeiten gelten lassen und sie als potenziell falsifizierende Sachverhalte ins Feld führen –, sind deskriptive Wesensgesetze auch von Seiten der wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Erfahrung her angreifbar und daher alles andere als immun gegen Kritik. In dieser doppelten Falsifizierbarkeit, der Falsifizierbarkeit von Seiten der Empirie und von Seiten der freien Phantasie, besteht auch die eigentümliche Wissenschaftlichkeit der eidetisch-deskriptiven Gesetzesaussagen. Und da die Prüfbarkeit bzw. Falsifizierbarkeit ein wichtiges Kriterium für Wissenschaftlichkeit ist, erweist sich die deskriptive Eidetik als das eigentlich wissenschaftliche Element der eidetisch verfassten transzendentalen Phänomenologie Husserls und rechtfertigt ihren Anspruch, Wissenschaft zu sein.
3 Die nicht-empirische Lebensweltwissenschaft als eine eidetisch-deskriptive Wissenschaft Was von der soeben grob skizzierten deskriptiven Eidetik im Allgemeinen gilt, gilt im Besonderen auch von der eidetisch verfassten Lebensweltwissenschaft, die Husserl als die ,,reine Gestalt‘‘ (Hua IX, 69) und als Oberstufe seiner Wissenschaft von der Lebenswelt konzipiert. Ihre empirische Unterstufe hatte zu allgemeinen Aussagen über unsere faktische Lebenswelt geführt, zu Feststellungen über strukturelle Invarianzen, die aber zunächst nur auf diese unsere faktische Lebenswelt in ihrer raumzeitlichen Ausbreitung bezogen waren. Diese allgemeinen Aussagen waren also Feststellungen über empirische Invarianzen (Konstanten) unserer sich vom Hier und Jetzt aus in ein beliebiges Dort und Dann erstreckenden Erfahrungswelt. Als im Husserl’schen Sinne empirischen Feststellungen lag in ihnen unausdrücklich eine Mitsetzung und damit auch eine Bevorzugung des Faktums unserer Welterfahrung und der in ihr erfahrenen Welt. Die Bewusstmachung und Aufhebung dieser Bevorzugung ist nun grundlegend für die Etablierung einer nicht-empirischen oder reinen Lebensweltwissenschaft. In seiner Psychologie-Vorlesung von 1925, auf deren Gang ich nun wieder zurückkomme, leitet Husserl den Übergang von der empirischen zur nichtempirischen Lebensweltwissenschaft, in der das Apriori (,,Eidos‘‘) der Lebenswelt in Form von deskriptiven Wesensgesetzen herausgestellt werden soll, mit folgenden Worten ein: ,,Jeder versuchte Übergang in ein Apriori […] fordert Befreiung vom Faktum. Das Faktum ist in unserem Fall die von uns wirklich faktisch erfahrene Welt mit diesen faktischen Dingen. Lassen wir dieses Faktum fallen.‘‘ (Hua IX, 71) Wie dieses Fallenlassen des Faktums der von uns wirklich erfahrenen Welt methodisch vollzogen wird, ist nach dem oben über deskriptive Eidetik allgemein Ausgeführten klar: Es besteht in der Gleichstellung dieser faktischen Erfahrungswelt mit möglichen, in reiner Phantasie erdenklichen Erfahrungswelten. Diese Operation charakterisiert Husserl in der Psychologie-Vorlesung mit folgenden Worten:
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,,Statt die faktische Welt zu bevorzugen, indem ich mich auf den Boden ihrer tatsächlichen Geltung stelle […], – kann ich jede fiktive Umwandlung [der faktischen Welt] ihr gleich gelten lassen und sie selbst nur gelten lassen als eine Möglichkeit neben diesen anderen Möglichkeiten: wobei ich also den Boden ihrer Geltung verlasse, diese meine Erfahrungsgeltung sozusagen außer Spiel setze. Dann gibt mir die faktische Erfahrung nur einen exemplarischen Ausgangspunkt, und zwar für den Stil freier Phantasien, die ich ihr nachgestalte, ohne sie im übrigen als Geltung zu benutzen.‘‘ (Hua IX, 71) Diese Gleichstellung von faktischer Erfahrungswelt und fiktiven Erfahrungswelten hat den Effekt einer Entwirklichung, und zwar einer Possibilisierung der faktischen Erfahrungswelt; sie wird zu einer rein möglichen Erfahrungswelt unter anderen rein möglichen Erfahrungswelten.12 Diese gleichstellende Possibilisierung befugt uns, die faktische Erfahrungs- oder Lebenswelt, die uns jetzt nur noch als ein mögliches, prinzipiell austauschbares Exempel ihres allgemeinen Typus gilt, in freier Phantasie beliebig abzuwandeln, ohne uns dabei auf sogenannte reale Möglichkeiten, d.h. an das Faktum dieser Welt und durch dieses Faktum gebundene Möglichkeiten zu beschränken. Über diese Entschränkung der Freiheit der Phantasie in der Abwandlung von Exempeln hinaus hat die Gleichstellung von faktischer Welt und fiktiven Welten zwei bedeutsame methodische Konsequenzen, die für Husserls nicht-empirische Wissenschaft von der Lebenswelt kennzeichnend sind: (1)
Erstens erlaubt diese Gleichstellung die exemplarische Analyse rein möglicher Erfahrungs- oder Lebenswelten, um zu allgemeinen, und zwar wesensgesetzlichen Aussagen über den reinen Typus ,,Lebenswelt überhaupt‘‘ zu gelangen. Auch durch dieses Merkmal unterscheidet sich eine deskriptive Eidetik von einer empirischen Wissenschaft von der Lebenswelt und von empirischen Wissenschaften überhaupt, die, wo sie exemplarische Analysen von Einzelfällen durchführen, diese prinzipiell an wirklichen Fällen durchführen müssen (man denke hier z.B. an psychologische Fallstudien oder an soziologische Analysen von Stichproben aus einer bestimmten Population). Es wäre ja ein absurdes Unterfangen, z.B. in der Biologie zu wissenschaftlichen Aussagen über die biologische Spezies ,,Wolf‘‘ anhand der exemplarischen Untersuchung fiktiver Wölfe kommen zu wollen. Aber was in einer empirischen Wissenschaft – gleichgültig, ob diese eine Natur- oder eine Kulturwissenschaft ist – unmöglich ist, das ist in einer deskriptiven Eidetik in Bezug auf reine Arten bzw. reine Typen als gegenständliche Korrelate reiner deskriptiver Begriffe möglich. So auch für den reinen deskriptiven Begriff der Lebenswelt, der als ,,Umfang‘‘ unmittelbar nur rein mögliche Lebenswelten hat, zu denen eben auch unsere eigene possibilisierte aktuelle Lebenswelt und überhaupt alle als reine Möglichkeiten aufgefassten faktischen Lebenswelten gehören.
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Im Unterschied zu dieser ,,Reduktion auf reine Möglichkeit‘‘ (s.o.) nimmt die transzendentalphänomenologische Reduktion der Erfahrungswelt nichts von ihrer Faktizität. Durch diese Reduktion auf das faktische reine Bewusstsein und seine intentionalen Korrelate wird sie als faktische noematisiert, d.h. sie kommt nur noch als Noema, d.h. als Korrelat der sie ,,konstituierenden‘‘ faktischen Noesen, in Betracht.
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Die zweite methodische Konsequenz aus der Gleichstellung faktischer und fiktiver Lebenswelten besteht in der Möglichkeit, Wesensgesetze über rein mögliche Lebenswelten, sowohl an Hand von möglichen als auch an Hand von faktischen Lebenswelten zu prüfen und gegebenenfalls zu falsifizieren. Auch dies macht – wie oben schon für eine deskriptive Eidetik überhaupt allgemein ausgeführt wurde – einen wesentlichen Unterschied gegenüber einer bloß empirischen Lebensweltwissenschaft, die z.B. als Lebenswelt-Anthropologie allgemeine Aussagen über menschliche Lebenswelten überhaupt macht oder als Lebenswelt-Soziologie die Lebenswelten bestimmter menschlicher Gesellschaften oder Gesellschaftsschichten untersucht. Als empirische Wissenschaften dürfen diese Lebensweltwissenschaften ihrem Begriffe nach ihre allgemeinen Aussagen nur anhand von wirklichen (gegenwärtigen oder historischen) menschlichen Lebenswelten überprüfen und falsifizieren. Dieser Einschränkung unterliegt auch Husserls Lebensweltwissenschaft der ersten Stufe. Als empirische, in Bindung an das Faktum der von uns wirklich erfahrenen Welt gebundene Wissenschaft kann sie ihre Aussagen über lebensweltliche Invarianzen nur an Gegebenheiten der wirklichen Lebenswelt bzw. an wirklichen menschlichen Lebenswelten überprüfen. Die von ihr herausgearbeitete invariante ,,Umwelttypik‘‘ stammt ausschließlich ,,aus der Betrachtung dessen, was sich aus dem Blick auf diese Welt als das ,immer wieder‘ und überall Gegebene dem Typus nach darbietet‘‘ (Hua XXXIX, 262). Da die Variation, die der empirischen Erfassung dieser zahllosen lebensweltlichen Invarianzen und der invarianten Form der Lebenswelt zugrunde liegt, eine empirisch-faktische, von unserer Welterfahrung sozusagen selbst dargebotene Variation wirklicher lebensweltlicher Gegebenheiten ist und nur eine solche sein kann, sagt Husserl: ,,die Form der faktischen Welt gewinnen wir nicht durch ihre eidetische Variation‘‘ (Husserl 1932, B I 5/58a). Es ist vielmehr eine empirische Variation, die der Erfassung der faktischen Form unserer faktischen Welt, sie motivierend, zugrunde liegt.
Husserls nicht-empirische Lebensweltwissenschaft überschreitet die Sphäre empirischer Lebenswelt-Variationen, indem sie diese faktische Sphäre und ihre an dieses Faktum gebundenen Variationen mit der offen unendlichen Sphäre frei erdenklicher Lebenswelt-Variationen auf eine Stufe stellt. Durch diese Gleichstellung hat sie es nur noch mit reinen Möglichkeiten von Lebenswelten zu tun. Dadurch wird eine deskriptive Eidetik der Lebenswelt möglich, in der erwogen wird, ,,was in reiner und freier Variation der faktischen Welt und somit auch der zugehörigen Welterfahrungen und der sie erfahrenden Subjekte als unzerbrechliche Notwendigkeit übrigbleibt und zugehörig bleibt zu der einen reinen Korrelation ,Ich und Umwelt‘‘‘ (Husserl 1925/26, A IV 8/28b). In solchen ,,eidetischen‘‘, auf ein Apriori (Eidos) zielenden Betrachtungen wird ,,die invariante Strukturform einer möglichen Welt überhaupt für eine mögliche Subjektivität‘‘ in wesensgesetzlichen Aussagen herausgearbeitet, und ,,es erweist sich das, was in der Einstellung der Faktizität von der Weltform im Bewusstsein der Notwendigkeit im Faktum ausgesagt war, als eidetisch notwendig, als wesensgesetzlich gültig und darum für dieses wie für jedes mögliche Faktum ,im Voraus‘ a priori gültig‘‘ (ebd.).
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Die komplexe, eidetisch invariante Strukturform einer möglichen Lebenswelt überhaupt, die sich in einem Ensemble zusammengehöriger Wesensgesetze ausdrückt und nur als ein solches wissenschaftlich angeeignet werden kann, bezeichnet Husserl auch als Eidos ,,Welt‘‘ oder genauer als ,,das invariante Wesen, das jeder möglichen Welt zugehört als der von der faktischen [aus] eben durch freie Variation zu konstruierenden möglichen, erdenklichen […]‘‘ (Husserl 1932, B I 5/ 57b). Zum komplexen, in Wesensgesetzen artikulierten Eidos ,,Welt‘‘ bzw. ,,Lebenswelt‘‘ gehört nun auch z.B. die raumzeitliche Form als ,,Konfigurationsform‘‘ der von uns vorwissenschaftlich erfahrenen faktischen Welt; und sie gehört auch – wie sich zeigen lässt – zu jeder erdenklichen Erfahrungswelt. Daher kann Husserl hier sagen: ,,Die Form der Welt ist Form jeder erdenklichen […].‘‘ (Husserl 1932, B I 5/58a). Ähnliches gilt von einigen anderen empirisch invarianten Formen der von uns erfahrenen Welt, z.B. ihrer Horizontstruktur, ihrer Orientierungsstruktur oder ihrer Struktur als intersubjektive Welt der Praxis.13 Als ,,tatsächliche allgemeine Weltformen‘‘ lassen sie ,,vermuten‘‘, wie Husserl einmal sagt, ,,dass ,hinter‘ ihnen Wesensformen liegen‘‘, ,,nicht wegzubringende Weltallgemeinheiten‘‘, die ,,sich als wirklich ontologische einsehen‘‘ lassen (Husserl 1936, K III 18/ 19a), und das heißt: als eidetisch allgemeine Weltformen. Die als prätendierte Wesensgesetze auftretenden Vermutungen über derartige Weltformen oder Weltallgemeinheiten werden bestätigt oder aber als falsch erwiesen in den Falsifikationsversuchen, in denen wir unsere Gesetzesvermutungen an Hand tatsächlicher oder fiktiver, in freier Variation konstruierter Einzelfälle auf ihre Gültigkeit prüfen.
4 Sinn und Zweck einer nicht-empirischen Wissenschaft von der Lebenswelt Fragen wir abschließend: Was soll uns nun eine nicht-empirische Lebensweltwissenschaft? Welchen Erkenntnisgewinn kann sie uns über eine empirische Lebensweltwissenschaft hinaus bringen, die uns sagt, was die allgemeinen Strukturen dieser unserer Lebenswelt oder einer anderen besonderen und uns fremden Lebenswelt sind und was überhaupt eine menschliche Lebenswelt ist? Besteht ihr Lehrgehalt nicht aus lauter Trivialitäten, aus Sätzen, die sich von selbst verstehen und von einem jeden sofort zugestanden werden? Den Einwand der Trivialität kann man ohne weiteres zugestehen und dieses Zugeständnis sogar mit Husserls Auffassung von der Phänomenologie als Wissenschaft von den Selbstverständlichkeiten untermauern, aber man muss dieses Zugeständnis auch relativieren, da nicht alle deskriptiv-eidetischen Gesetzesaussagen ohne weiteres aus ihren reinen Begriffen ,,axiomatisch einleuchten‘‘ und als unmittelbar evidente Aussagen trivial sind. Dass z.B. jede erdenkliche Wissenschaft eine Lebenswelt voraussetzt, aus der sie hervorgeht, ist ein deskriptives Wesensgesetz der genetischen Phänomenologie, das genauso wenig trivial ist wie die korrelative, ein historisches Faktum betreffende Wesensnotwendigkeit, dass die 13
Siehe hierzu die Texte der Textgruppen II, III und VI in Hua XXXIX. In der Vorlesung von 1925 hat Husserl eine ganze Reihe von Invarianten angeführt, die wohl nicht nur unsere faktische Welt kennzeichnen, sondern zur Strukturverfassung jeder erdenklichen vorwissenschaftlichen Erfahrungswelt gehören (siehe Hua IX, 67–69 und 99–118).
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Galileische Physik eine Lebenswelt voraussetzt, aus der sie hervorgegangen ist.14 Und wie diese nicht-triviale besondere Einsicht die allgemeinere Einsicht in die Gültigkeit des entsprechenden Wesensgesetzes motiviert, so gilt dies generell für das Verhältnis von singulären faktischen oder frei imaginierten Sachverhalten, deren Gegenteil undenkbar zu sein scheint, zu den ihnen korrelativen Gesetzen: Diesen sich als notwendig gebenden Sachverhalten entsprechen oft gültige und nicht selten nicht-triviale Wesensgesetze, und sofern sie ihnen entsprechen und also Einzelfälle von Wesensgesetzen sind, nennt Husserl solche Sachverhalte ,,Wesensnotwendigkeiten‘‘.15 Aber sowohl Wesensgesetze – die übrigens oft mit Wesensnotwendigkeiten verwechselt oder einfach als Wesensnotwendigkeiten bezeichnet werden – als auch die von ihnen abhängigen Wesensnotwendigkeiten sind ständiger Kritik ausgesetzt und haben sich in Prüfungen mittels freier Variation immer wieder als gültige Wesensgesetze zu bewähren. Denn Wahrheit und insbesondere wissenschaftliche Wahrheit ist, wie Husserl einmal treffend sagt, ,,ein Kind der Kritik‘‘ (Husserl 1931, B I 10/56a). Welchen Erkenntnisgewinn bringt uns nun die nicht-empirische Lebensweltwissenschaft mit ihren Wesensgesetzen? Wie das soeben an einem Beispiel aufgezeigte Verhältnis von Wesensgesetz und Wesensnotwendigkeit deutlich macht, gibt uns ein Wesensgesetz, das im einfachsten Fall ein aus seinen reinen Begriffen unmittelbar einsichtiges Prinzip ist, den Grund der Notwendigkeit eines Sachverhaltes an; der Sachverhalt wird, sofern er ein wesensnotwendiger ist, als Einzelfall eines Wesensgesetzes verständlich.16 Diese von Husserl einmal ,,eidetische Erklärung‘‘ (Hua IX, 46) bzw. ,,apodiktische Erklärung‘‘ (Hua XXXV, 253) genannte Form der Verständlichmachung betrachtet Husserl als die höchste Stufe der Rationalität – und die Rationalisierung durch Wesensgesetze als die höchste Stufe der Logifizierung oder Verwissenschaftlichung. Die Verwissenschaftlichung unserer faktischen Lebenswelt (mit ihrer faktischen invarianten Typik)17 durch eine nicht-empirische Lebensweltwissenschaft hat allerdings eine ganz andere Form als die Verwissenschaftlichung unserer Lebenswelt und näher der lebensweltlich erfahrenen Natur, wie sie durch die mathematischen Naturwissenschaften vollzogen wird. Den Unterschied zwischen beiden Formen der Verwissenschaftlichung hat Husserl in einem Text aus dem Jahre 1932 als den Unterschied zwischen ,,ästhetischer Logifizierung‘‘ der Lebenswelt mit Hilfe von reinen Typenbegriffen und deskriptiven Wesensgesetzen und ihrer mathematisch-idealisierenden Logifizierung mittels exakten Begriffen und exakten Naturgesetzen kenntlich gemacht. Aus diesem Text möchte ich abschließend einige Sätze zitieren:
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Aussagen über die besondere historische Lebenswelt, aus der die Galileische Physik hervorgegangen ist, drücken natürlich keine Wesensnotwendigkeiten, d.h. Einzelfälle von Wesensgesetzen aus. 15 Zum Verhältnis von Wesensgesetz (Wesensallgemeinheit) und Wesensnotwendigkeit siehe Hua III/1, § 6. 16
Es ist hier also ähnlich wie bei einem empirischen Sachverhalt, der aus einem entsprechenden empirischen Gesetz (Naturgesetz) und den jeweiligen Randbedingungen als ein empirisch notwendiger Sachverhalt verständlich wird. 17 Die lebensweltliche Erfahrung – in all ihren Formen und Stufen – ,,gibt überhaupt nur Typik‘‘ (Hua XXXII, 219).
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,,Die [mathematische] Idealisierung der Lebenswelt […] denkt sie idealisierend um in eine Welt, die in sich Unendlichkeiten trägt, die äußeren und inneren Unendlichkeiten als ihr selbst einwohnende. Wir können aber auch eine andere Idealisierung oder Logifizierung vollziehen, in der wir unsere Lebenswelt in ihrer Horizonthaftigkeit als frei variierbar behandeln, […] als eine mögliche Lebenswelt überhaupt. […] Indem ich die gegebene Lebenswelt [in ihrer faktischen Typik] frei variiere, entdecke ich die ihr wesensnotwendige Strukturtypik, die ihr notwendigen ,Formen‘ von Typen und ihren ganzen individualtypischen Aufbau. Ich variiere die faktische Lebenswelt notwendig so, dass ich ihre Typen variiere, aber innerhalb einer Allgemeinheit, die selbst eine typische ist. Hier werden also die Typen als Typen logifiziert, ohne dass eine ,exakte’ Idealisierung miterfolgt, die ihnen eine exakte Wahrheit, eine unendliche Idee einlegt. Vollziehe ich transzendentale Reduktion, so gehört die ,ästhetische’ Logifizierung […] in die Logifizierung meiner transzendentalen Subjektivität und der in ihr sich erschließenden transzendentalen Intersubjektivität [hinein] – das ergibt die ,deskriptive‘ transzendentale Phänomenologie.‘‘ (Husserl 1932, B I 32/15 a-b)18
Literatur Hua I (1950) Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg. von Stephan Strasser, Den Haag: Matinus Nijhoff, 1950 (2. Auflage, Nachdruck 1973). Hua III/1 (1976) Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. 1. Halbband: Text der 1.-3. Auflage, Neu hrsg. von Karl Schuhmann, Den Haag: Martinus Nijhoff, 1976. Hua VI (1954). Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana VI, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag: Martinus Nijhoff, 1954. Hua XIX/1 (1984) Logische Untersuchungen. Zweiter Band: 1. Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag: Martinus Nijhoff Publishers, 1984. Hua XXXII (2001). Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927, hrsg. von Michael Weiler, Kluwer Academic Publishers: Dordrecht/Boston/London, 2001. Hua XXXV (2002). Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1922/2, hrsg. von Berndt Goossens, Kluwer Academic Publishers: Dordrecht/Boston/London, 2002. Hua XXXIX (2008). Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937), hrsg. von Rochus Sowa, Dordrecht: Springer, 2008. Hua Dok III/6 (1994). Briefwechsel, Bd. VI: Philosophenbriefe, in Verbindung mit Elisabeth Schuhmann hrsg. von Karl Schuhmann, Kluwer Academic Publishers: Dordrecht/Boston/London, 1994. Husserl, Edmund (1939). Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Redigiert und herausgegeben von Ludwig Landgrebe, Prag: Academia/Verlagsbuchhandlung, 1939 (5. Auflage: Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1976). Husserl, Edmund: Unveröffentlichte Manuskripte aus folgenden Konvoluten des Nachlasses (HusserlArchiv Leuven): A IV 8, B I 5, B I 10, B I 32 und K III 18.
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In den Cartesianischen Meditationen ist im § 34 von ,,apodiktischen Prinzipien‘‘ die Rede, und diese sind ,,die Wesensallgemeinheiten und -notwendigkeiten, mittels deren das Faktum auf seine rationalen Gründe, auf die seiner reinen Möglichkeit, zurückbezogen und damit verwissenschaftlicht (logifiziert) wird‘‘ (Hua I, 106).
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