Human Rights and its Discontents Postkoloniale Interventionen in die Menschenrechtspolitik
Unbestritten haben die Shoah und der Zweite Weltkrieg weltweit ein Nachdenken über Gewalt, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit angestoßen, welches bis zum heutigen Tage anhält. Die Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), die Flüchtlingskonvention, die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Genozids) etc. können allesamt als materialisierte Konsequenz von Auschwitz betrachtet werden. Der vorliegende Text beleuchtet die Menschenrechtsdebatte im Zusammenhang mit der Suche nach einem adäquaten Umgang mit historischer Gewalt und den Wirkungen „totaler Herrschaft“ (Arendt) und fragt nach den möglichen Impulsen für mögliche ethisch-pädagogische Interventionen im 21. Jahrhundert. In den Worten von Christoph Menke und Arnd Pollmann ist die AEMR Ergebnis einer fundamentalen „politisch-moralischen Katastrophe“, die die Menschenrechtsgeschichte „bis in ihre Grundfesten erschüttert“ hat.1 Sie kann ihnen zufolge nicht nur als eine Lehre, die aus dem Grauen und Entsetzen des Nationalsozialismus wie auch des Zweiten Weltkrieges und des Stalinismus zu ziehen ist, interpretiert werden, sondern muss wohl eher als Versuch gelesen werden, die Wiederholung der politisch-moralischen Katastrophe aktiv zu verhindern. Es ist dies eine Lesart, die die lineare und bruchlose Standarderzählung der Menschenrechtsgeschichte herausfordert. Die Rede von den drei Phasen: a) Entwurf des philosophischen Naturrechts im 17. und 18. Jahrhundert, b) Erklärungen der Menschenrechte als Bürgerrechte während der bürgerlichen Revolution in Frankreich und in den sich konstituierenden Vereinigten Staaten von Amerika und schließlich c) die Zusammenführung hin zu den universalen und rechtlich positivierten Men-
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Christoph Menke/Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 2007, S. 16.
schenrechten in der AEMR (1948)2 erscheint gerade aufgrund der Unambivalenz der Narration problematisch. Denn die Annahme hier ist die einer ‚rationalen Weiterentwicklung’ der Menschenrechtsidee, welche die Shoah letztendlich verharmlost. Und so ist es sicherlich kein Zufall, dass in akademischen und politischen Kreisen häufig über die AEMR gesprochen und geschrieben wird, ohne dass das spezifische historische Moment der Entstehungsgeschichte Beachtung findet. Zeitgleich mit der Proklamierung der AEMR zwangen die beginnenden Dekolonisierungsbewegungen in Asien und Afrika Europa auch zum Überdenken von Imperialismus und Kolonialismus. Das britische Empire begann zu wanken und auch die französischen Kolonien in Afrika wurden nicht mehr unhinterfragt hingenommen. Widerstand regte sich spürbar: „Die Tatsache, daß der Kolonisierte in seiner Ungeduld nach Kräften mit der Gewalt droht, beweist, daß er sich des außergewöhnlichen Charakters der gegenwärtigen Situation bewußt ist und sie zu nutzen gedenkt.“3 Doch obschon die meisten liberalen europäischen Intellektuellen die AEMR wie auch die Genfer Flüchtlingskonvention begrüßten, schlugen sie sich nicht zwangsläufig auf die Seite der antikolonialen Bewegungen.4 Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre gehörten so zu den Wenigen, die sich im Algerienkrieg politisch eindeutig auf Seite der kolonisierten Algierer_innen stellten und Kolonialismus und Imperialismus scharf verurteilten. Bereits 1947 schrieb Sartre etwa: „Afrika jedoch ist für viele von uns abwesend, und dieses große Loch in der Landkarte ermöglicht es uns, ein gutes Gewissen zu bewahren.“5 Hannah Arendts und Raphael Lemkins Positionen zu Kolonialismus und Imperialismus sind dagegen bestenfalls als zwiespältig zu beschreiben. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1986/1955) stellt Arendt etwa nicht nur kritisch fest, dass sich die AEMR letztendlich nur auf die
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Vgl. ebd., S. 12 ff. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.M. 1981/1966, S. 62. Vgl. auch Richard H. King, On Race and Culture. Hannah Arendt and Her Contemporaries, in: Politics in Dark Times. Encounters with Hannah Arendt, hg. v. S. Benhabib, Cambridge 2010, S. 113-134. Jean Paul Sartre, Wir sind alle Mörder. Der Kolonialismus ist ein System. Artikel, Reden, Interviews 1947–1967, Reinbek 1988/1947, S. 9. Ein Bild, welches viele Jahre später von Achille Mbembe aufgegriffen und in seinem Buch On the Postcolony (2001) theoretisiert wird. Das folgende Zitat mag dies verdeutlichen: „Flying in the face of likelihood or plausibility, these systems of reading the world attempt to exercise an authority of a particular type, assigning Africa to a special unreality such that the continent becomes the very figure of what is null, abolished, and, in its essence, in opposition to what is: the very expression of that nothing whose special feature is to be nothing at all.” (S. 4)
Mitglieder einer schon bestehenden Gemeinschaft beziehen kann, da das eigentliche Recht, Rechte zu haben, nicht als naturgegeben gedacht werden könne. Doch obschon sie emphatisch und auch provokant darlegt, dass wir des Wissens um ein Recht, Rechte zu haben erst gewahr wurden, nachdem „Millionen Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben“6, finden sich in diesem Buch, welches Karl Jaspers als „geistig so großartig [bezeichnet], daß es keiner Empfehlung bedarf“7, bedenkliche Passagen wie die folgende: „Wirkliche Rassen […] scheinen auf der Erde nur in Afrika und Australien vorgekommen zu sein; sie sind bis heute die einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen, von denen wir wissen, die einzigen, die sich weder eine Welt erbaut noch die Natur in irgendeinem Sinne in ihren Dienst gezwungen haben.“8 Daneben spricht Arendt im selben Werk von dem „grundsätzlichen Entsetzen“,9 welches weiße Europäer_innen bei ihrer Begegnung mit der schwarzen Bevölkerung empfanden, als sie zum ersten Mal Fuß auf den afrikanischen Kontinent setzten. Die Beschreibungen irritieren vor allem deshalb, weil Arendts kritische Haltung zum Imperialismus und ihre Zurückweisung von „Rassenpolitiken“ in ihrem intellektuellen Umfeld eher ungewöhnlich waren. Die bloße Feststellung, dass sie ein „Kind ihrer Zeit“ gewesen sei, ist darum nicht wirklich hilfreich. Vielmehr ist Richard King zuzustimmen, der feststellt, dass Arendt mit der These, dass die imperialistische Erfahrung in Afrika einen wichtigen Faktor bei der Erstarkung des Totalitarismus in Europa darstellte, ihrer Zeit weit voraus war.10 Seyla Benhabib zufolge ist Arendts Analyse darauf angelegt, „zu zeigen, inwiefern es in der politischen und moralischen Kultur der europäischen Menscheitsgeschichte während der vorausgegangenen zwei Jahrhunderte bestimmte Elemente gegeben hatte, die rückblickend – und allein im Rückblick – als Vorboten einer neuen Form politischer Macht in der Geschichte gesehen werden können.“11 Wie können wir uns in diesem Zusammenhang erklären, dass eine liberale, kritische und in vielen Punkten ihrer Zeit voraus denkende Theoretikerin
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Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 1986/1955, S. 462. 7 Karl Jaspers, Geleitwort, in: H. Arendt, a.a.O., S. 9. 8 Hannah Arendt, a.a.O., S. 323. 9 Ebd., S. 322. 10 Vgl. Richard H. King, On Race and Culture. Hannah Arendt and Her Contemporaries, in: A.a.O., S. 113. 11 Seyla Benhabib, Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Frankfurt a.M. 2006/1996, S. 115.
solchermaßen rassistische Ideen vertritt? Anne Norton ist gar der Annahme, dass Arendt den Afrikaner_innen Geschichte und Politik abspricht.12 Benhabib widerspricht dieser These zwar vehement und argumentiert dagegen, dass es Arendt in erster Linie darum ging „die Verbindungen zwischen dem Aufkommen des Totalitarismus in Europa und dem „scramble for Africa“ zu untersuchen“13. Doch selbst sie muss in ihrer Besprechung des kontrovers diskutierten Artikels Little Rock, in dem Arendt die Aufhebung der Rassentrennung in den US-Amerikanischen Schulen bespricht, um sich dann gegen diese auszusprechen, zugeben, dass es Arendt nicht immer gelingen mag, „den Standpunkt der anderen Beteiligten wirklich einzunehmen.“14 Warum, so ließe sich weiter fragen, war Arendt, obschon sie Kenntnis davon hatte, nicht willens, außereuropäische Reaktionen auf die Französische Revolution als ebensolche Revolutionen anzuerkennen. Nach einem über zehnjährigem Kampf zwischen aufständischen Sklav_innen und den Kolonialherr_innen, so wissen wir, errang Haiti als erster schwarzer Staat der Amerikas die Unabhängigkeit.15 In den klassischen Revolutionserzählungen spielt dieses historische Ereignis selten eine Rolle, womit Arendt in ihrer Ignoranz sicher nicht beispiellos ist. Dennoch verwundert es, wie es ihr gelingt, in den 1960er Jahren ein Buch Über die Revolution zu schreiben, ohne die Revolution in Haiti mit auch nur einem einzigen Wort zu erwähnen. Ohne Zweifel kann bezüglich der bemerkenswerten Geschehnisse auf der Karibikinsel von einem „Pathos des Neubeginns“ ausgegangen werden. Und es steht außer Frage, dass die politischen Forderungen in Haiti „mit Freiheitsvorstellungen verknüpft“ wurden. Somit wären die Arendtschen Kriterien erfüllt, die einen Aufstand von einer Revolution differenzieren.16 Warum also diese bemerkenswerte Auslassung? Sybille Fischer erklärt sich dies folgendermaßen: „Revolutionary antislavery is a contradiction in terms. Haiti becomes unthinkable. Deeply ingrained Eurocentrism, racial hierarchies that express themselves in the weight assigned to some forms of oppression over others, and a continuation of colonialist ways of assessing ‘what matters’ are likely root causes for some of these striking omissions.”17
12 Anne Norton, Heart of Darkness: Africa and African Americans in the Writings of Hannah Arendt, in: Feminist Interpretations of Hannah Arendt, hg. v. B. Honig, Philadelphia 1995, S. 247-261. 13 Seyla Benhabib, a.a.O., S. 146. 14 Ebd., S. 246. 15 Vgl. Sibylle Fischer, Modernity Disavowed. Haiti and the Culture of Slavery in the Age of Revolution, Durham 2004. 16 Vgl. Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1994/1963, S. 41. 17 Sibylle Fischer, a.a.O., S. 9.
Der Jurist Lemkin dagegen, der wie Arendt in den 1930er Jahren aus Nazideutschland fliehen musste und sich wie diese lange vorher schon mit der Naziherrschaft auseinandersetzte, schrieb bereits 1944 sein berühmtes Werk Axis Rule in Occupied Europe. Er fordert hier die Einführung der strafrechtlich verfolgbaren Kategorie des Genozid, die es erlauben würde, die Verbrechen der Nazis vor Gericht zu bringen.18 Obschon Arendt Lemkin an keiner Stelle erwähnt oder gar zitiert, so macht sie doch Gebrauch von der Kategorie des Genozids und stellt fest, dass Genozide vor allem eins tun, nämlich Vielfalt zerstören. Sie stellen ihr zufolge ein Verbrechen gegen die Conditio Humana dar und nicht nur einen „einfachen“ kriminellen Akt gegenüber einzelnen Menschen.19 Lemkin dagegen bedient sich nicht nur kulturalisierender Beschreibungen, sondern weigert sich auch, wie Benhabib aufzeigt, Sklaverei als Genozid zu beschreiben – obschon er dies paradoxerweise für den Drogenhandel tut.20 Es sind diese Widersprüche, die verwirren. Widersprüche und Auslassungen, die die epistemische Gewalt der Moderne zu Tage transparent werden lassen. Folgen wir Foucault, so wissen wir, dass das, was der Diskurs verschweigt, oft wichtiger ist als das, was er sogleich offenbart. Vielleicht hatte der afroamerikanische Intellektuelle James Baldwin ja recht, als er in den 1960er Jahren schrieb, dass die Weißen, aber nicht die Schwarzen „überrascht von der Massenvernichtung in Deutschland“ waren. „Sie [die Weißen, MCV/ND] haben nicht gewußt“, so Baldwin, „daß sie sich so aufführen können. Aber ich bezweifele sehr, ob die Schwarzen überrascht waren“.21 Baldwin zeigte sich erschüttert über Auschwitz, doch glaubt er nicht, dass wir es mit demselben Schock zu tun haben, der Weißen widerfuhr, als sie die Details über die nazideutsche Vernichtungsmaschinerie vor Augen geführt bekamen. Zu was Weiße in der Lage sind, dass wusste die schwarze Bevölkerung der USA, die in den 1960er Jahren noch darum kämpfte, dass die Bill of Rights auch auf sie Anwendung fand und Lynchmorde, von Weißen an Schwarzen begangen, durchaus nicht selten waren, nur allzu gut. Die Mehrheit der Europäer_innen wähnte sich dagegen selbst im späten 20. Jahrhundert noch im Glauben an ihre eigene Zivilisiertheit und verortete die Barbarei außerhalb der europäischen Grenzen. Auch aus
18 Vgl. Seyla Benhabib, International Law and Human Plurality in the Shadow of Totalitarianism. Hannah Arendt und Raphael Lemkin, in: Politics in Dark Times. Encounters with Hannah Arendt, hg. v. S. Benhabib, Cambridge 2010, S. 219-243, S. 220 f. 19 Vgl. ebd., S. 222. 20 Vgl. ebd., S. 242. 21 James Baldwin, Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung. The Fire Next Time, Reinbek 1964, S. 62 f.
diesem Grunde macht es Sinn, Micha Brumliks Plädoyer zu beherzigen und Arbeiten zur Shoah nicht ausschließlich aus einer rein nationalgeschichtlichen Perspektive zu betrachten. Denn, wie er plausibel darlegt, deutet schon der transatlantische Sklavenhandel auf die Entwicklung des modernen Rassismus hin, wie auch der Genozid an den Hereros und Armeniern als Vorläuferverbrechen für die Shoah angesehen werden können22 eine umstrittene, dennoch deswegen nicht weniger plausible These.
Menschenrechtsgeschichte Widerspruchslandschaften Wenn Lemkin wie auch Arendt nachzuweisen ist, dass, obschon sie sich für Freiheit und Gleichheit aller Menschen aussprachen, sie dies gleichwohl nicht für alle gleichermaßen forderten und zuweilen ein seltsames Verständnis für Ungleichbehandlung an den Tag legten, so ließe sich fragen, was dies für die Idee der Menschenrechte bedeutet? Es ist wohl nicht von ungefähr, dass Menschenrechte wie auch Menschenrechtspolitiken immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik stehen. Ein genaues Hinschauen auf die Widerspruchslandschaften erscheint daher sinnvoll. Bekanntlich postulieren die ersten menschenrechtlichen Überlegungen im 17. Jahrhundert die Anerkennung der Naturrechte, die allerdings zunächst als dem Staat untergeordnet gedacht wurden. Thomas Hobbes Leviathan (1651) ging etwa von der Notwendigkeit einer Instanz aus, die für Ordnung sorgt und die Unberechenbarkeit, die dem Menschen innewohnt, zügeln kann. Bei Locke (1689) ist wenige Jahre später von der Überordnung der Menschenrechte über den Staat die Rede, während Locke, dem die Prägung des Menschenrechtsbegriffs nachgesagt wird, feststellt, dass die Legitimation des Staates ausdrücklich daraus resultiert, dass dieser die Naturrechte des Menschen sichert und erhält. Im 18. Jahrhundert spricht dann Rousseau (1755) davon, dass das Gut der Freiheit die eigentliche Grundlage für das Menschsein sei. Gedanklicher Dreh- und Angelpunkt bildet die Frage nach der Gleichheit aller Menschen in Verbindung mit dem Recht auf Freiheit. So spricht Rousseau davon, dass Menschen von Natur aus frei und gleich sind und dies auch im Staat bleiben sollen, während für Kant Freiheit das Menschenrecht schlechthin darstellt. Vom Recht auf Freiheit lassen sich, ihm folgend, alle anderen Menschenrechte ableiten. Die Sicherung und Erhaltung der Freiheitsrechte wird damit zur wesentlichen Aufgabe des Rechtsstaates, wobei das Recht für Kant immer historische, soziale und
22 Micha Brumlik, Aus Katastrophen lernen? Grundlagen zeitgeschichtlicher Bildung in menschrechtlicher Absicht, Berlin 2004.
religiöse Rahmungen transzendiert. In seiner Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre wird folgerichtig das Vernunftrecht als ein Recht beschrieben, das dazu dient, die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit in Einklang zu bringen. „Eine jede Handlung“, so Kant, „ist Recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“.23 Das klingt nachvollziehbar, so dass das Plädoyer Gayatri Chakravorty Spivaks, die kanonischen Texte der Aufklärung im Sinne einer transformativen Politik zu nutzen, politisch sogleich einleuchtet.24 Sehr dezidiert weist Spivak darauf hin, dass unterdrückte Minderheiten, wenn auch nicht immer bewusst, sich des Diskurses der Aufklärung bedienen, sobald sie bürgerliche und politische Rechte einklagen. Eine kategorische Zurückweisung der Aufklärung lehnt sie daher ab und plädiert stattdessen für einen anderen Umgang mit den Schriften der Aufklärung, der darin besteht, „sie von unten zu gebrauchen“ (to ab-use)25: „Um ihre guten Strukturen für alle bewohnbar zu machen, muss ich die Aufklärung für das öffnen, was durch sie ausgeschlossen werden sollte aber nicht in einer unkritischen Weise.“26 Aufklärung beschreibt sie als ein Codewort für die Regulierung von Öffentlichkeit und die Defeudalisierung des Gemeinwesens, die während der bürgerlichen Revolution in Europa und den sie andernorts begleitenden kolonialen Formationen stattgefunden haben.27 Obschon eine Refeudalisierung mancherorts traurige Realität ist, wird dies doch selten als eine positive Entwicklung beschrieben. Von der Perspektive (ehemals) Kolonisierter aus betrachtet, kann es nur darum gehen, die „befähigende Verletzung“, die von den Schriften der Aufklärung ausging, strategisch zu nutzen.28 Der Versuch, die epistemische Gewalt der Moderne herauszufordern, sollte sich eben jene philosophischen Traditionen zu Nutze machen, die Legitimierungsnarrative für Herrschaft und Unterdrückung bereitstellten.29 Eine simple Ablehnung der Aufklärung, wie dies immer wieder in linken Kreisen oder von einzelnen Mitgliedern der globalisierungskritischen Szene gefor-
23 Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Kompletter Text unter: http://www.zeno.org (letzter Aufruf 15.01.2013), 1797, S. 230. 24 Gayatri Chakravorty Spivak, Feminism and Human Rights, in: The Present as History: Critical Perspectives on Global Power, hg. v. N. Shaikh, New York 2007, S. 219. 25 Ebd., S. 181. 26 Gayatri Chakravorty Spivak, Other Asias, New York 2008, S. 259. 27 Gayatri Chakravorty Spivak, Feminism and Human Rights, a.a.O., S. 181. 28 Dies., Other Asias, New York 2008, S. 263. 29 Vgl. auch Nikita Dhawan, Zwischen Empire und Empower: Dekolonisierung und Demokratisierung, in: Femina Politica, 2 (2009), S. 52-63.
dert wird, wird dagegen als politisch gewagt erachtet. Horkheimer und Adorno verstehen die notwendige Kritik an der Aufklärung als den Versuch, einen „positiven Begriff von ihr“ vorzubereiten, „der sie aus der Verstrickung in blinder Herrschaft löst“.30 Wenn „[d]as Programm der Aufklärung […] die Entzauberung der Welt [war]“,31 so ruft dies seinerseits nach einer Entzauberung der Aufklärung selbst. Konsequenterweise ist es politisch fraglich, wenn sich unbedacht auf die Menschenrechte berufen wird, denn die dringend erforderliche Erneuerung der Menschenrechtsbewegung kann nur durch die Offenlegung der Aporien in Gang gebracht werden. Eine gedankenlose (Re-)Zitierung derselben ist dagegen ebenso wenig gewinnbringend, wie ihre ausnahmslose Verurteilung als eurozentrisch. Kritik an einem naiven Zugang zu den Menschenrechten findet sich bereits bei Arendt, die ihrerseits den Konservativen Edmund Burke anführt, der in seiner Schrift Reflections on the Revolution in France (1790)32 feststellt, dass die Erklärung der Menschenrechte durch die Französische Revolution beweist, wie Arendt anmerkt, dass es sich bei denselben nur um eine „sinnlose ‚Abstraktion‘“ handelt und es offensichtlich ist, dass die Rechte wie eine „überkommene Erbschaft“ tradiert werden. Ihm zufolge ist es politisch töricht, Rechte als unveräußerliche Menschenrechte zu reklamieren, schließlich seien dies immer Rechte, die an nationale Zugehörigkeit gebunden blieben.33 Arendt erscheint dies plausibel. Ihrer Ansicht nach hat die Idee der Menschenrechte in eben dem Moment an Glaubwürdigkeit verloren, in dem Menschen sich nur noch auf sie und nicht mehr auf nationale Rechte berufen konnten. Dann nämlich, wenn sie aus ihrer Staatsbürgerschaft entlassen wurden und gewaltsam zu Staatenlosen gemacht wurden.34 In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, sich Burkes Position vis-àvis der Kolonialisierung Indiens zu veranschaulichen. Seinerzeit erhob jener Menschenrechtskritiker Burke vor dem britischen Unterhaus Klage gegen den Generalgouverneur Ostindiens Warren Hastings nach dessen Rückkehr nach England, und wies ihm während seiner Tätigkeiten für das Britische Empire Tyrannei nach. Das Verfahren erregte großes Aufsehen, und obwohl Burke den Prozess verlor und Hastings rehabilitiert wurde, verlor Hastings sein gesamtes Vermögen. Und doch stellte Burke damit keinesfalls
30 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1998/1969, S. 6. 31 Ebd., S. 9. 32 Text online unter: http://www.econlib.org/library/LFBooks/Burke/brkSWv2c1.html (letzter Aufruf 25.03.2013) 33 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 1986/1955, S. 466. 34 Vgl. ebd.
seine antiimperialistische Haltung unter Beweis. Vielmehr ging es ihm darum, den Einfluss der East India Company einzuschränken. Die Verwaltung wie auch die militärische Herrschaft in Indien sollten allein der britischen Regierung vorbehalten bleiben. Burkes Vertrauen in den Nationalstaat und das Recht desselben auf Kolonialisierung waren geradezu unbegrenzt, von Menschenrechten hielt er dagegen nicht viel. Arendt dagegen hegte ein berechtigtes Misstrauen gegen den Nationalstaat – vor allem in Bezug auf dessen Verhältnis zu Minderheiten –, doch schien ihr, pragmatisch besehen, dies die einzige Zugehörigkeit zu sein, die Individuen Schutz gewähren kann. Die Berufung auf das bloße Menschsein mutet ihr dagegen – auch in Anbetracht eigener Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Internierung – hoffnungslos an. So bleibt sie, wenn auch widerstrebend, dem nationalstaatlichen Denken verhaftet. Während Burke und Arendt Zweifel daran hegten, dass Menschenrechte Bürgerrechte ersetzen können, machten Wollstonecraft und de Gouges darauf aufmerksam, dass Menschenrechte, die lediglich als Männerrechte gedacht werden, keine wirklichen Menschenrechte sein können. Jahrhunderte später wurden Frauenrechte zu einem grundlegenden Bestandteil universeller Menschenrechte. Unbestritten ist heute, dass sexistische Strukturen Frauen weltweit einem erhöhten Risiko von Armut, Gewalt, Gesundheitsproblemen sowie schlechter Schul- und Berufsausbildung aussetzen. Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) wurde mittlerweile von den meisten Staaten der Vereinten Nationen ratifiziert.35 Die juristische Praxis zur Durchsetzung von FrauenMenschenrechten reicht von präventiven Ansätzen zur Verbesserung der medizinischen Versorgung, dem Schutz sexueller und reproduktiver Rechte, der Förderung junger Frauen für bessere Bildungs- und Berufschancen, bis hin zur Sichtbarmachung der besonderen Verletzlichkeit von Frauen in Kriegsgebieten. Dagegen sind die Yogyakarta-Prinzipien, die die Menschenrechte in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität anwenden bzw. erweitern, kaum bekannt. Wie die FrauenMenschenrechte sollen sie Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans*Personen vor Verletzungen schützen. Und wenngleich kaum infrage gestellt wird, dass es sich hierbei um besonders verletzliche Gruppen handelt, hat bisher lediglich die argentinische Regierung im Mai 2012 ein an die Yogyakarta-Prinzipien angelehntes Gesetz zur Gender-Identität erlassen, das fortan in Argentinien
35 Es bestimmt unter anderem das Recht auf körperliche Integrität sowie das Wahlrecht (suffrage), das Recht öffentliche Ämter zu bekleiden, das Recht auf einen fairen und gleichwertigen Lohn, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Bildung und das Recht, Verträge abschließen zu dürfen.
jeder Person das Recht einräumt, autonom zu entscheiden, ob sie im Reisepass oder der Geburtsurkunde als Frau oder Mann eingetragen wird.36 Die AEMR wurde fast 20 Jahre vor dem ersten großen Erfolg des Civil Rights Movement und zu Zeiten eines fast ungebrochenen kolonialen Begehrens in den USA feierlich proklamiert. In den ersten Artikeln heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren“ (Art. 1) und „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ (Art. 3). Eine Erklärung, die von Seiten der damals noch kolonialisierten Länder skeptisch zur Kenntnis genommen wurde. Während Verbrechen gegen die Menschheit vor allem von Europa ausgingen, denkt die Mehrheit bei Menschenrechtsverletzungen nicht an Europa, sondern eben an jene Länder, die Europa angeblich zu „zivilisieren“ trachtet(e). Kritik an der gegenwärtigen Menschenrechtsbewegung wird denn auch kaum zufällig aus postkolonialen Räumen heraus artikuliert. Der Rechtswissenschaftler Makau Mutua beispielsweise plädiert in seinem 2002 veröffentlichten Buch Human Rights. A Political and Cultural Critique für „neue multikulturelle Menschenrechte“.37 Seiner Ansicht nach scheint es der Menschenrechtsbewegung darum zu gehen, erneut unter Beweis zu stellen, dass der globale Süden barbarisch und keiner eigenen Regierung fähig ist. Mutua verdichtet dies in dem Bild „Wilde-Opfer-Retter“ (savage-victim-savior): „The human rights movement is marked by a damning metaphor. The grand narrative of human rights contains a subtext which depicts an epochal contest pitting savages, on the one hand, against victims and saviors, on the other.”38 Der „Wilde“ ist derjenige, der die Menschenrechte nicht respektiert und diese mit Füßen tritt. In der klassischen Vorstellung ist dies ein nichtwestlicher Staat – in einer kulturalisierenden Darstellungsart auch die nicht-europäische Kultur. Im Zentrum der Menschrechtspolitiken stehen dagegen die Opfer dieser „barbarischen Räume“. Eine solche Menschenrechtspolitik liefert einem Viktimisierungsprozess Vorschub, der eine Handlungsmacht der vorgeblichen Opfer unterläuft. Und so ist die gängige Annahme, dass es die Aufgabe international agierender Nichtregierungsund Wohlfahrtsorganisationen wie auch westlicher Regierungen ist, die „Opfer“ vor den ‚Wilden‘ zu retten. Die „Retter“ ähneln kaum akzidentiell
36 Die Vereinten Nationen haben sich dagegen nur zu Verlesungen von Erklärungen bewegen lassen, die zudem von Gegenerklärungen überschattet waren. Immerhin hat der UN-Menschenrat 2011 eine Resolution zur Beendigung der staatlichen Diskriminierung sexueller Minderheiten verfasst und mit einer knappen Mehrheit von 23 Stimmen, 19 Gegenstimmen und drei Enthaltungen verabschiedet. 37 Makau Mutua, Human Rights. A Political and Cultural Critique, Philadelphia 2002, S. 8. 38 Ebd., S. 10.
den Kolonialbeamten und Missionar_innen imperialistischer Hoch-Zeiten. Es ist auch nicht selten, dass Menschenrechte dann aufgerufen werden, wenn das Ziel lautet, Handelsräume zu erweitern. So wurden bekanntlich Freihandelsabkommen mit Ländern des globalen Südens vom globalen Norden im Gegenzug für Entwicklungshilfe durchgesetzt und diese an menschenrechtliche Vorgaben gekoppelt. Häufig wird Menschenrechtspolitik überdies als Alibi instrumentalisiert, um kriegerische Interventionen gegen die früheren Kolonien zu legitimieren. In Other Asias (2008) konstatiert Spivak – ähnlich wie Mutua –, daß Menschenrechtspolitik fast ausschließlich den globalen Süden ins Visier nimmt, was unweigerlich zu einer Einteilung der Welt in zwei Räume führt: die, von denen die Rechte zu kommen scheinen (globaler Norden), und jenen, in denen scheinbar keine vergleichbaren Rechte institutionalisiert sind (globaler Süden). Den Vorwurf, Menschenrechte seien eurozentrisch und deswegen zurückzuweisen, bezeichnet Spivak als „disingenous“.39 Eher gehe es darum, die Idee der Zuteilung von Rechten und damit auch Gerechtigkeit, die in den Menschenrechtsdiskursen ihren Ausdruck findet, zu hinterfragen. Letztlich handele es sich um eine Spielart des Sozialdarwinismus, nach dem die, die als Opfer markiert werden, wahrgenommen werden, als seien sie weder dazu in der Lage, sich selbst zu helfen noch eigenständig zu regieren. Die Distanz zwischen jenen, die Rechte zuteilen und jenen, die lediglich als Opfer von Unrecht und als Empfänger_innen von Rechten gelten, verharrt mithin unter dem Vorzeichen historischer Gewalt.40
Das Recht, Rechte zu haben: Souveränität und Subalternität Benhabib kritisiert in Die Rechte der Anderen (2004) das Schweigen der Menschenrechtsdiskurse, wenn es um die Rechte von Migrant_innen, Flüchtlingen und Asylsuchenden geht. Ihr Augenmerk richtet sich dabei auf die Frage politischer Mitgliedschaft und das Recht aller Menschen, hier Arendt folgend, „Rechte zu haben“ und damit als Rechtssubjekt Anerkennung zu finden. Zwar wird die Wirkmächtigkeit und normative Legitimität des Westfälischen Modells von Staatssouveränität immer wieder angefochten, dennoch wird das Staatsmonopol über ein bestimmtes Territorium
39 Gayatri Chakravorty Spivak, Other Asias, New York 2008, S. 16. 40 Vgl. Nikita Dhawan, Zwischen Empire und Empower: Dekolonisierung und Demokratisierung, in: Femina Politica, 2 (2009), S. 53; vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Other Asias, New York 2008, S. 14.
weiterhin durch Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitspolitiken stabilisiert. Bereits in den Horkheimer-Vorlesungen von 1999 vertritt Benhabib die These, „daß die Debatten über die politische Beteiligung und die Einbürgerungsrechte […] unter veralteten und irreführenden Prämissen geführt werden“,41 wozu sie die „Fiktion einer ‚geschlossenen Gesellschaft’“ zählt.42 Das Konzept der „demokratischen Iterationen“, welches sie in diesem Zusammenhang einführt, theoretisiert die Verhandlungen zwischen den Bekenntnissen zu kontextübergreifenden konstitutionellen und internationalen Normen und dem demokratischen Mehrheitswillen.43 Jeder demokratische Demos ernennt bestimmte Individuen zu vollständigen Mitgliedern, während er andere ausgrenzt. Ihr Vorschlag an dieser Stelle lautet, die komplizierte Beziehung zwischen den Rechten zum Erhalt einer vollständigen Mitgliedschaft und der Möglichkeit zur politischen Partizipation und den territorialen Aufenthalt durch reflexive Handlungen derer zu vermitteln, die in der Lage sind, Exklusionspraktiken zu erkennen und anzugreifen. Durch demokratische Iterationen kann die Trennung zwischen inklusiven Prinzipien des moralischen und politischen Universalismus, verankert in den universellen Menschenrechten, sowie das Paradox demokratischer Abgrenzung neu gedacht und reartikuliert werden.44 Kants Verständnis kosmopolitischer Rechte bemühend, diskutiert Benhabib zudem das Thema der Gastfreundschaft, nicht als eine Frage der Nächstenliebe, sondern als ein „Recht auf Gastfreundschaft“.45 Ihr zufolge muss Gastfreundschaft als ein Recht aller Menschen anerkannt werden, und zwar die Anerkennung des „Recht[s] der Menschheit in der Person des Anderen“.46 Ungeklärt bleibt allerdings, inwiefern das Recht als „gegenseitige moralische Pflicht“ oder als „durchsetzbare Verhaltensnorm“ im rechtlichen Sinne zu verstehen ist, nach der sich Individuen, Gruppen und souveräne Nationalstaaten richten sollten bzw. müssten. Benhabib folgert, dass das Recht auf Gastfreundschaft die Dilemmata einer republikanischen, kosmopolitischen Ordnung deutlich macht, die sich in der ungeklärten Frage äußert, „wie sich unter der Prämisse der Freiwilligkeit – da es keine souveräne Macht gibt, die sie durchzusetzen berechtigt wäre – quasi-gesetzliche, bindende Ver-
41 Seyla Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Horkheimer Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1999, S. 98. 42 Ebd. 43 Vgl. Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen: Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt a.M. 2004, S. 19. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 26. 46 Ebd., S. 28.
pflichtungen schaffen lassen“.47 Daran schließt sie die These an, dass „[d]as demokratische Volk […] sich nur aufgrund solcher historischer Kontingenzen als Souverän eines bestimmten Territoriums konstitutieren [kann], weshalb jedem Akt der Selbstkonstitutierung zugleich etwas Gewaltsames und mithin Illegitimes innewohnt“.48 Moderne Verfassungen formulieren normative Ansprüche, die sie nicht erfüllen können. Dies bleibt ein rechtsstaatliches Problem. Im Fall undokumentierter Migrant_innen, die durch bestehende Politiken kriminalisiert werden, wurde, so Benhabib, „das Recht auf universale Gastfreundschaft auf dem Altar staatlicher Interessen geopfert“.49 Obschon die Demokratie auf Partizipation setzt, „wird die Staatsbürgerschaft“, so Benhabib, „eher aufgrund passiver Zugehörigkeitsmerkmale vergeben [Geburt und Sozialisation oder ethnische Abstammung]“.50 Im Gegensatz zu Benhabib, deren Fokus auf den Rechten von Migrant_innen, Flüchtlingen und Asylsuchenden liegt, beschäftigt sich Spivak mit subalternen Räumen, die von jeglichen Mobilitätslinien abgeschnitten sind. Sie zeigt dabei auf, wie die Lebensbedingungen entrechteter subalterner Gruppen im globalen Süden bei Benhabib und anderen liberalen Denker_innen gleichgesetzt werden mit den Lebensbedingungen der Diaspora in den metropolitanen Zentren. Für Spivak ist Subalternität jedoch das „Andere der Frage der Diaspora“.51 Die zunehmende Fok7ussierung auf Migration, Diaspora, Hybridität und Kosmopolitismus deutet dagegen auf die Tatsache, dass Widerstands- und Handlungsmacht diskursiv hergestellt werden, die Mobilität privilegieren, während sie den Mangel an Mobilitätsmöglichkeiten und -wünschen marginalisierter Gruppen schlicht ignoriert. Die Ermächtigung subalterner Gruppen verlangt nach einer Auseinandersetzung mit einem kruden Anti-Etatismus und der Suche nach den bestehenden Strukturen des Nationalstaats, die hierfür produktiv gemacht werden können. Trotz der Legitimitätskrise der Nationalstaaten stellt der Raum der Nation immer noch den Ort dar, in dem die Kämpfe um hegemoniale Bedeutung geführt werden. Kein anderer demokratisch legitimierter Akteur ist in der Lage, zwischen subalternen Gruppen und transnationalen Machtstrukturen zu vermitteln.52 Juristische Konzepte der Staatssouve-
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Ebd., S. 29. Ebd., S. 175. Ebd., S. 177. Seyla Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, a.a.O., S. 99. Gayatri Chakravorty Spivak, A Critique of Postcolonial Reason: Toward a History of the Vanishing Present, Calcutta 1999, S. 417. 52 Meyda Yeĝenoĝlu, Cosmopolitanism and Nationalism in a Globalized World, in: Ethnic and Racial Studies, 28 (2005), S. 104-105.
ränität und -immunität agieren als faktisch repressiver Widerpart zu den Menschenrechten und verhindern dabei deren Durchsetzung. Menschenrechte können als Waffe besonders verletzlicher Menschen und Kollektive gegen Herrschaftsapparate wirken. Und obgleich eine Kritik der Staatssouveränität und -immunität dringlich und zeitgemäß ist, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, welch wichtige Rolle das Konzept der Staatssouveränität für postkoloniale Nationalstaaten in der Abwehr aktueller imperialistischer Interventionen im Namen des ‚Schutzes der Schwachen‘ spielt. Der der Idee der Menschenrechte inhärente Anti-Etatismus ignoriert ausdrücklich, dass es für entrechtete Gruppen weiterhin darum geht, subalterne Kämpfe innerhalb der Territorialität ihres Staates zu gewinnen. Arendt, so Spivak, „theoretisiert Staatenlosigkeit, was sie aber nicht theoretisieren konnte, ist der Wunsch nach Staatsangehörigkeit. […] Wenn man Hannah Arendt aus der Situation von 1951 und aus dem Kontext der Menschenrechte heraus reterritorialisiert, so entdeckt man Argumente, denen zufolge das Experiment des National-Staates […] kaum mehr als ein Jahrhundert alt ist und nicht wirklich erfolgreich war. […] Die Nation obsiegte […] über den Staat“.53 Anstelle der mühsamen Diskussion um ein Für oder Wider den Staat zu führen, sollte der Fokus, Spivak zufolge, vielmehr darauf gelegt werden, wie die Interessen und Anliegen entrechteter Gruppen in hegemonialen Kämpfen etwa durch Institutionalisierung der Umverteilungsfunktionen des Staates artikuliert werden können.54 Subalterne Gruppen sollten befähigt werden, Forderungen an den Staat zu artikulieren, um so, innerhalb der formellen Grammatik von Rechten und Staatsbürgerschaft, eine Demokratie von unten zu ermöglichen.
Dekolonisierung und Menschenrechtspolitiken Es war Aristoteles Ansicht, dass nicht alle Menschen bereit seien, Teil einer regierenden Klasse zu werden, weil nicht jede_r das notwendige praktische Wissen oder gar die ethische Tugend dafür besäße. Spivak nimmt diese These auf und fragt pointiert, wie den Subalternen der Eintritt in die Hegemonie ermöglicht werden kann, so dass sie zum Regieren befähigt werden. Die „epistemische Diskontinuität“ zwischen den Fürsprecher_innen von Menschenrechten und denen, die sie vorgeben zu schützen, stellt eine steti-
53 Spivak, in: Judith Butler/Gayatri Chakravorty Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, Zürich 2007, S. 51. 54 Ebd., S. 114.
ge Erinnerung an die Subalterne als den „Raum der Differenz“ dar. Die Subalterne, so Spivak, wurde aus der Öffentlichkeit herausgerissen und die Aufgabe besteht nun darin, diesen Riss durch einen langsamen und geduldigen epistemischen Wandel unsichtbar zu verweben.55 Das Ziel kann sich nicht darin erschöpfen, sie ganz anti-Gramscianisch zu Arbeiter_innen zu machen. Vielmehr muss überlegt werden, wie die Subalternen von der Position eines Objekts der Barmherzigkeit hin zu demokratischen Akteur_innen bewegt werden können? Der Umstand, dass Subalterne ihren Status der Subalternität als normal und natürlich ansehen, stellt dabei eine besondere Herausforderung dar. Die größte Aufgabe der Dekolonisierung besteht nach wie vor darin, die Subalternität in eine Krise zu versetzen. Und dies kann eben nicht über die Sicherung der ökonomischen Unabhängigkeit allein bewerkstelligt werden. Selbstverständlich ist die Armutsbekämpfung notwendig, sie stellt jedoch weder Gerechtigkeit noch Gleichheit automatisch sicher.56 In Anschluss an Antonio Gramsci (1996), der darauf hinweist, dass die Probleme von subalternen Gruppen nicht durch eine Diktatur des Proletariats gelöst werden können, betont Spivak, dass Menschenrechte nicht einfach durchgesetzt werden können, indem den leidenden Klassen materielle Güter bereitgestellt werden. In großen Teilen der postkolonialen Welt wird „Klassenapartheid“57 durch das nach der formalen Dekolonisierung etablierte Bildungssystem hervorgebracht und erhalten. Dem größten Teil der zukünftigen globalen Wählerschaft, den Kindern der armen ländlichen Bevölkerung im globalen Süden, so Spivak, wird systematisch der Zugang zu intellektueller Arbeit verwehrt. Womit den extrem Marginalisierten bereits in einem sehr frühen Alter ihre einzige Waffe genommen wird. Sie werden gewissermaßen der Chance beraubt, sich vorzustellen, dass irgendetwas zu ihrem Nutzen existiere.58 Um diesen Prozess zu unterbrechen, müssen Subalterne durch eine Aktivierung demokratischer Routinen in die Hegemonie eingeführt und nicht durch Empowerment-Trainings mit dem Ziel der Bewusstseinsbildung oder der geplanten Anleitung zum Widerstand beschäftigt werden. Spivak berichtet beispielsweise von einer konkreten Erfahrung, die sie in einem der bengalischen Dörfer, in denen sie Schulen etabliert hat, gemacht hat.59 Mehrere Male versuchte sie Regierungsbeamte davon zu überzeugen, einen neuen Brunnen in einem der Dörfer zu bauen,
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Gayatri Chakravorty Spivak, Other Asias, New York 2008, S. 34 ff. Ebd., S. 24 f. Gayatri Chakravorty Spivak, Other Asias, New York 2008, S. 32. Gayatri Chakravorty Spivak, Feminism and Human Rights, in: The Present as History: Critical Perspectives on Global Power, hg. v. N. Shaikh, New York 2007, S. 172. 59 Dies., Other Asias, a.a.O., S. 47.
nachdem der alte nicht mehr funktionstüchtig war. Zudem konnten, aufgrund der (informell gültigen) Kastengesetze, die indigenen Kinder nicht den zentralen Dorfbrunnen nutzen. Als die Regierungsbeamten in Kalkutta ihre Anfragen ignorierten, ermutigte Spivak die subalternen Kinder Briefe an Regierungsbeamte zu schreiben. Anstatt eine Spendenaktion zu starten und darüber Gelder aus nationalen und internationalen philanthropischen Quellen aufzutreiben, war es ihr wichtiger, langfristige demokratische Gewohnheiten anzuregen. Die Briefaktion blieb erfolglos, aber Spivak erklärt ihre Motivation folgendermaßen: „We want the children to learn about the heartlessness of administrations, without short-term resistance talk. The bounty of some U.S. benefactor would be the sharp end of the wedge that produces a general will for exploitation in the subaltern. Mutatis mutandis, I go with W.E.B. DuBois rather than Booker T. Washington: it is more important to develop a critical intelligence than to assure immediate material comfort.”60 Neokoloniale Strukturen überleben – ähnlich wie bereits der Kolonialismus – dadurch, dass die Privilegierten Gutes tun, während sie den Objekten ihrer Gutherzigkeit unterstellen, keine Handlungsmacht entwickeln zu können. Unter den derzeitigen Umständen können folglich Reden von globaler Gerechtigkeit und Menschenrechten – wenn etwa eine kleine Gruppe von Institutionen, die entweder im Norden verortet ist oder durch ihn finanziert wird, das Unrecht der Welt richten möchten – den berechtigten Verdacht eines neokolonialen Paternalismus hervorrufen.61 Die Beziehung zwischen ökonomischer und politischer Ermächtigung ist diskontinuierlich. Formalisierte demokratische Rechte befähigen nicht automatisch ökonomisch verarmte Staatsbürger_innen, so wie auch ökonomische Ermächtigung nicht gleichbedeutend mit Entsubalternisierung sein kann. Für Spivak folgt daraus, dass der Westen ein für alle Mal den Glauben daran aufgeben muss, dass er notwendigerweise unverzichtbar, besser oder kulturell überlegen ist; es muss von dem Gedanken Abstand genommen werden, dass die Dritte Welt in Schwierigkeiten ist und der Westen über die Rezepte verfügt, diese zu lösen. Es ist unverzichtbar, der Versuchung zu widerstehen, sich oder die eigene Welt auf die Anderen zu projizieren.62 Dies erfordert die Anerkennung der historisch etablierten Diskontinuität zwischen den Subalternen und den Aktivist_innen und Pädagog_innen, die versuchen „zu helfen“. Es muss sich ein Wandel des Verständnisses von
60 Ebd., S. 48 f. 61 Gayatri Chakravorty Spivak, Feminism and Human Rights, in: A.a.O., S. 177. 62 Dies., Other Asias, New York 2008, S. 23.
Verantwortung als einer Pflicht der „Stärkeren“ für die Anderen hin zu einer Verantwortung gegenüber den Anderen vollziehen.63 Die Neuvermessung der Subjekt-Formation durch einen epistemischen Wandel, der sowohl die feministische Aktivistin-Theoretikerin als auch die vergeschlechtlichte Subalterne einbezieht, steht im Zentrum des Projekts der Dekolonisierung und einer feministisch-demokratischen Zukunft. Spivak schlägt hier eine „transnationale Literalität“ vor, die sowohl für die Metropole als auch für die ländlichen Subalternen in je differenter Weise eine supplementierende Pädagogik darstellen könnte. Sie verweist damit auf die Notwendigkeit, die diskontinuierliche Trennung zwischen jenen zu thematisieren, die von oben „Unrecht richten“, und jenen unten, denen Unrecht angetan wird.64 Die Interessen des Anderen „dort drüben“ zu vertreten, bedarf „hier“ einer sorgfältigen Prüfung, und Strategien zur Kritik des Imperialismus müssen von Prozessen begleitet werden, die die eigene Position nicht unbefragt lassen. Kritiker_innen sollten sich demzufolge hinsichtlich ihrer Komplizenschaften stets äußerst wachsam zeigen. Unterbleibt dies, so wird unweigerlich ein Eurozentrismus reproduziert, der Konzepte wie „Demokratie“, „Nation“, und „Partizipation“ als universell, natürlich, gut, unproblematisch und unanfechtbar ansieht und dabei den Kontext und die historischen Umstände vergisst, in denen diese Konzepte entworfen wurden. „History is larger than personal goodwill. In this business of solidarity with the poorest of the poor in the global south personal goodwill is not enough. That’s a Christian thing to think that you can undo thousands of years of oppression by just being nice. It’s not undone in a day. So I just go there and try to learn from them and I learn from my mistakes. But solidarity? Good heavens, I’m a high-caste Hindu. Forget it.”65 Es kann dabei schlechterdings nicht um eine simple Schuldzuweisung gehen, sondern vielmehr um einen Appell an die transnationale Elite, die üblich gewordenen Politiken der Hilfe zu überdenken. Die Kritik an den durch die Aufklärung inspirierten Menschenrechten bedeutet dabei keineswegs, die Idee der Menschrechte an und für sich begraben zu wollen. In einem interessanten Interview mit dem Titel Was ist Aufklärung? stellt Spivak die Abhandlungen von Kant und Foucault gegenüber, um der Frage nachzugehen: „Was ist falsch gelaufen mit dem Besten
63 Ebd., S. 28. 64 Vgl. ebd., S. 16. 65 Gayatri Chakravorty Spivak, Die Macht der Geschichte. Subalternität, hegemoniales Sprechen und die Unmöglichkeit von Allianzen. Interview von Sushila Mesquita/ Vina Yun, in: Frauensolidarität, 104 (2008), S. 27.
der Aufklärung?“66 Den Zugang zur europäischen Aufklärung durch Kolonisierung beschreibt sie als eine „befähigende Verletzung“ und schlägt vor, die Befähigung strategisch zu nutzen, auch wenn die Verletzung dabei neu verhandelt werden muss.67 Und wenn sie das Verhältnis zwischen Postkolonialität und der Aufklärung als eine dilemmatische „double-bindSituation“ beschreibt, empfiehlt sie zugleich, in die Protokolle der kanonischen Texte der Aufklärung einzutreten, um herauszufinden, wie ihre Begriffe für eine gerechtere und demokratischere Postkolonialität genutzt werden können.68 Vielleicht ist es hierfür notwendig, wie Judith Butler bemerkt, Widersprüche zu exponieren und zu bearbeiten. Wenn etwa Freiheit ausgeübt „und eine Gleichheit gerade gegenüber einer Autorität geltend [gemacht wird], die beides ausschließt“69. Eines ist wohl sicher: Einfache Antworten und Lösungsvorschläge sind in Anbetracht der komplexen, komplizierten und sich widersprechenden Narrative und Imaginationen bestenfalls ein Ausdruck von lazy politics womöglich angenehm und beruhigend, aber zutiefst unzureichend vis-à-vis der notwendigen Transformationen aktueller ungerechter und ausgrenzender sozio-politischer und ökonomischer Strukturen.
66 Gayatri Chakravorty Spivak, What Is Enlightenment? Interview with Jane Gallop, in: Polemic: Critical or Uncritical, hg. v. J. Gallop, New York 2004, S. 179. 67 Dies., Other Asias, a.a.O., S. 263. 68 Ebd., S. 259. 69 Judith Butler, in: Judith Butler/Gayatri Chakravorty Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, S. 46.