– HUGO und die Magie des Kinos – von Thomas Bendels (16.2.2016)
Scorseses, Hugo und Méliès: Martin Scorseses HUGO aus dem Jahr 2011 ist der erste und bis dato einzige Film des US-amerikanischen Regisseurs, der Kinder als Zielgruppe adressiert. Nach eigenen Angaben in einem Making-of 1 zu HUGO, wollte Scorseses schon immer einen Film machen, den auch seine Tochter sehen könne. Seine Werke zu denen Filme wie TAXI DRIVER, GOOD FELLAS, GANGS
OF
NEW YORK oder THE DEPARTED zählen und mit
denen der Regisseur das zeitgenössische US-amerikanische Kino maßgeblich mitgeprägt hat, sind bekanntermaßen nicht für Kinder geeignet. Für die Adaption des Kinderbuchs The Invention of Hugo Cabret wendete sich Scorsese somit von seinen sonstigen Themenschwerpunkten ab und stattdessen einer Herzensangelegenheit zu und betrachtet die Magie des Kinos. Hugo Cabret ist ein Waisenkind, das hinter den Mauern und zwischen den Uhren des Pariser Bahnhofs Montparnasse in den 1930er Jahren lebt. Er hat im Bahnhof die Arbeit seines verschwundenen Onkels übernommen und repariert dort die Uhren, um nicht aufzufallen und ins Waisenhaus geschickt zu werden. Dabei ist sein einziger Bezugspunkt zu seinem verstorbenen Vater der mechanischer Mensch, an dem sie zusammen arbeiteten. Für die Reparaturen an dieser Maschine stielt der Junge Ersatzteile von einem Spielzeugladen im Bahnhof, bis er schließlich von dessen Besitzer
erwischt
wird
und
ihm
das
Handbuch
seines
Vaters
mit
den
Reparaturanleitungen abgenommen wird. Hugo arbeitet darauf für den Ladenbesitzer, um
die
von
ihm
gestohlenen
Dinge
auszugleichen
und
sein
Handbuch
zurückzubekommen, bis er zusammen mit dessen Nichte das Geheimnis um den Mann lüftet: Bei diesem handelt es sich um den berühmten und totgeglaubten Magier und Filmregisseur Georges Méliès, der während des Ersten Weltkrieges alles verloren hatte und all seine Filme aus finanziellen Gründen einschmelzen musste, sodass ihm nichts weiter als schmerzhafte Erinnerungen an seine Zeit als Filmemacher geblieben waren. Nur den mechanischen Menschen hatte er nicht zerstören können, welcher dann durch 1 Der Making-of Film „Auf den Mond geschossen: Das Making-of von Hugo“ ist auf der Kauf DVD und Blu-Ray von HUGO enthalten.
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ein Museum an Hugos Vater geraten war. Der Junge schafft es, den gebrochenen alten Mann wieder Glücklich zu machen, indem er ihm den mechanischen Menschen zurückbringt und George Méliès und seine Filme wieder bekannt macht. Schließlich wird der Regisseur als Ehrenmitglied in die Filmakademie aufgenommen, von seinen 500 entstandenen und verloren geglaubten Filmen werden zahlreiche wiedergefunden und Hugo wird von der Familie aufgenommen. Die Figur Hugo Cabret ist zwar frei erfunden aber Méliès' Geschichte mit seinem Erfolg, Ruin und Wiederentdeckung stimmt in großen Teilen mit seinem wahren Leben überein. Der Filmkünstler war einer der ersten Filmemacher, der das fassettenreiche Potenzial des neuen Mediums erkannte und seinen Charakter einer Jahrmarktsattraktion mit den illusorischen Aspekten einer Zaubervorstellung und den narrativen Elementen von fantastischen Geschichten verband. Daraus entsannt eine wahre Traumfabrik in der Filmtricktechnik,
fantastischen
Welten
und
wundersamen
Geschichten
zusammenflossen und den frühen Film fundamental gestalteten.
Die Magie des analogen Zaubers: HUGO steckt voller Referenzen zum frühen Film und seinen Vordenkern. So sitzt der Maler Salvador Dali, der zu dieser Zeit mit seinen surrealistischen Bildern die Fantasie der Menschen beflügelte, in einem Café und malt, während der Visionär Jules Verne und
seine
Werke
nicht
bloß
einmal
erwähnt
werden.
Neben
zahlreichen
Originalaufnahmen und nachgestellten Szenen aus Méliès' Filmen werden Frühwerke von den Gebrüdern Lumiere wie LA SORTIE
DE L’USINE
LUMIÈRE
À
LYON (Arbeiter
verlassen die Lumière-Werke) und L’ARRIVÉE D’UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT (Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat) gezeigt. Selbst im Kino sitzend sehen Hugo und Méliès' Nichte den Filmklassiker SAFETY LAST! und schließlich hängt Hugo später selbst wie Harold Lloyd am Zeiger einer Uhr über der Stadt. Diese Referenzen zum frühen Film sind jedoch genau wie die Geschichte um den Filmkünstler Méliès nicht bloß versteckte Zusatzinhalte. Die Magie des frühen Kinos ist in ihrer technischen Entstehung wie Wirkung elementarer Bestandteil der Erzählung und visuellen Inszenierung. Dies zeigt sich bereits an kleineren Elementen wie Hugos Notizbuch, das neben den Blaupausen auf jeder Seite auch eine Zeichnung des mechanischen Menschen mit leicht variierter Kopfposition zeigt, sodass dieser sich
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beim schnellen Umblättern der Seiten bewegt. Sowohl die einzelnen Zeichnungen als auch die Blätter sind deutlich zu erkennen, wodurch sich die technische Entstehung dieses Effekts direkt erschließt. Trotzdem fasziniert der Effekt beim Umblättern so sehr, dass, obwohl man alle Zusammenhänge kennt, dem Zauber erliegt. Die Tricktechnik und seine Entstehung stehen hier also nicht im Spannungsverhältnis, wie beispielsweise ein Kartentrick und seine meist simple Auflösung. Es ist die Faszination für den sichtbaren zauberhaften Effekt und nicht den unbekannten Wirkungsmechanismus im Verborgenen. Genau das ist die Magie des technisch analogen Zaubers, der in HUGO so präsent ist. Der mechanische Mensch ist keine mysteriöse Maschine, die ihren Funktionshintergrund verschweigt, sondern das komplexe Wirken einer malenden Maschine durch ihr sichtbares Inneres mit seinen technischen Teilen geradezu präsentiert und trotzdem magisch und lebendig wirkt. Ebenso wird die Filmtricktechnik von Méliès inszeniert. Bei den filmischen Rückblenden zu den Entstehungen seiner Filme stehen die Tricks und ihre Umsetzung stark im Vordergrund. Es wird gezeigt, wie beispielsweise ein Aquarium vor der Kamera der Unterwasserkulisse zusätzlich Atmosphäre gibt, wie mit Filmschnitten Bildelemente
verschwinden,
mit
Perspektiven
Größe
anders
wirkten,
Filme
nachkoloriert wurden und vieles mehr. Der Film offenbart die technisch analogen Effekte der Filmtricktechnik, jedoch ohne ihr den Zauber zu nehmen und zeigt auf, dass Verzauberung
und
Wissen
um
die
Illusion
nicht
zwangsweise
in
einem
Spannungsverhältnis stehen müssen.
Die Magie des Digitalen Zaubers: HUGO ist ein filmisches Märchen, das analoge mechanische Effekte geradezu exponiert. Dies tut er jedoch nicht durch den Einsatz selbiger Technik, sondern durch eine stark digitalisierte Form und neuester 3D-Kunst. Bereits die ersten beiden Einstellungen des Films zeigen dies beispielhaft. In der ersten ist die Transformation von animierten Zahnrädern zum Paris der dreißiger Jahre zu sehen, gefolgt von einem praktisch unmöglichen Kameraflug mit Tageszeitenwechsel über die Stadt, die Zuggleise und den Bahnsteig bis hin zu einer Nahaufnahme Hugos, der durch das Ziffernblatt einer Uhr blickt. Besonders bei einer genauen Betrachtung der Plansequenz wird deutlich, dass durch den Einsatz und die Positionierung von dreidimensionalen Objekten und Figuren wie fliegenden Schneeflocken, am Gleis stehende Menschen und dem Qualm der
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Lokomotiven ein möglichst starker und attraktionsreicher Effekt beim Kinobesucher hervorgerufen
werden
soll.
Dabei
zielt
aber
die
gesamte
Bildkomposition
augenscheinlich nicht darauf ab die Bearbeitung des Bildes vollends zu verschleiern, wie der Tageszeitenwechsel, die historische Stadt und der praktisch unmögliche Kameraflug zwischen den Objekten und Figuren deutlich aufzeigen. Ganz im Gegenteil wird hier genau wie im analogen Pendant Méliès gezeigt, dass es sich um ein filmisches Märchen handelt, das verzaubern möchte und für seinen immersiven Effekt nicht möglichst realistisch wirken muss. Die Bildkomposition zielt des Weiteren in vielen Szenen darauf ab mit sich in der tiefe bewegende Objekte, einen räumlichen 3D-Effekt hervorzurufen. Neben der Nutzung von 3D-Effekten werden des Öfteren genau wie in der Eingangssequenz verschiedene digitale Animationstricks bewusst und explizit eingesetzt. Als eine Kiste mit Konzeptzeichnungen zu Filmbildern herunterfällt und die Blätter durch die Gegend fliegen, wechseln Bilder schnell durch und erzeugen erneut den Effekt eines Daumenkinos, während sich ein anderes Bild um sich selbst dreht und sich der dargestellte Inhalt dadurch transformiert. Es sind abermals offensichtliche digitale Animationstricks, die nicht die Realität simulieren, sondern magische Faszination wiederspiegeln und trotz ihrer Erkennbarkeit des bearbeiteten Bildes nicht weniger, sondern sogar mehr faszinieren. Der Trick erstaunt gleichsam auf der Ebene der Erkennbarkeit und Wirkung.
Die Kombination von zwei Welten: HUGO ist zugleich ein mechanisch analoges, wie auch animationstechnisch digitales Abenteuer. Er steht dabei im zeithistorischen Kontext bei der endgültigen Etablierung der digitalen 3D-Technik im Kino und somit an einem weiteren evolutionären Schritt der filmischen Tricktechnik. Dabei muss es sich jedoch nicht um einen evolutionären Schritt handeln, der mit einem Verdrängungsprozess des alten einhergeht. Dies zeigt sich beispielhaft an der wiederkehrenden Motivik der Züge. Der Film L’ARRIVÉE D’UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT (Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat) wird mit seiner Uraufführung auf dem Jahrmarkt 1895 in HUGO im Hinblick auf seinen Attraktionscharakter thematisiert und dargestellt. Dabei wird gezeigt und erklärt, wie sich die Zuschauer erschraken, als der Zug auf sie zukam und sich vor der Leinwand wegduckten. In HUGO gibt es ebenfalls eine Schlüsselszene um einen Zug. In einer Traumsequenz, die an den Unfall am Gare Montparnasse
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angelehnt ist, fährt ein Zug in den Pariser Bahnhof ein, während Hugo auf den Gleisen liegt. Dieser Zug ist zu schnell zum stoppen und durchbricht das Ende der Zugtrasse, fährt durch den Bahnhof, kracht schließlich durch ein großes Fenster und schlägt auf der Straße auf. Diese Szene spielt sich später im Film wirklich ab, jedoch wird diesmal Hugo von den Gleisen gerettet und der Zug stoppt. Interessant bei der Traumsequenz ist sowohl ihre bildliche Darstellung wie auch die produktionstechnische Umsetzung. Bei dieser Szene wird technisch stark mit digitaler 3D-Animation gearbeitet, wodurch der Zug auf die Zuschauer zurast und mit dem überwinden der Gleise gleichsam die Leinwand zu überwinden scheint. Somit entsteht für das zeitgenössische Publikum ein vergleichbarer Effekt wie für das zeithistorische Äquivalent der Gebrüder Lumiere, wo die Menschen die Einfahrt des Zuges zu sehen bekamen. Ein Kinomoment der Attraktion, der wahrscheinlich bei vielen Zuschauer (und besonders Kindern) für einen Überraschungseffekt und vielleicht sogar eine körperliche Reaktion gesorgt hat. Scorsese kombiniert somit einen bekannten Effekt mit einer bekannten Motivik und inszeniert sie mit zeitgenössischen digitalen Filmtricks. Diese Zusammenführung von alter und neuer Tricktechnik fand für diese Szene ebenfalls in der Produktion statt. Viele Teilsegmente der Szene sind animiert, jedoch ist das schlussendliche Krachen durch die Glasfassade mit Miniaturmodellen umgesetzt worden, wozu es auch ein kurzes Making-of gibt 2 . Es ist also auch auf produktionstechnischer Ebene eine Zusammenführung von analoger und digitaler Technik und diese Szene ist nur ein repräsentatives Beispiel. Es gibt im Film noch viele vergleichbare Szenen, wie beispielsweise als Hugos wie Harold Lloyd an der großen Uhr Hängt, und die gesamte Gestaltung des Pariser Bahnhofs. Hugo ist die Liebeserklärung eines Regisseurs an das Medium Film, das es selbst stark mitgeprägt hat. Es ist ein Film, der einen Blick zurück auf die Anfänge des Kinos wirft, jedoch nicht mit einem nostalgisch verklärten oder distanziert abkehrenden, sondern einem zeitlosen und liebevollen Blick. Er ist zugleich moderner technischer Meilenstein, aber negiert seinen Anspruch auf die Ablösung des alten. Vielmehr vereint der Film altes und neues und befreit sich und den Zuschauer von der Wertung über alte oder neue, analoge oder digitale Tricktechnik. Er verrät den Trick, ohne die Illusion zu brechen und fasziniert gleichsam auf der Ebene der Erkennbarkeit und Wirkung. HUGO 2 Der Making-of Film „Große Effekte, kleiner Maßstab“ ist ebenfalls auf der Kauf DVD und Blu-Ray von HUGO enthalten.
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zeigt, wie Kino schon immer verzaubert hat, die Phantasie beflügelt, Träume kreiert und ist zugleich selbst, was er darstellt: Die Magie des Kinos.
Literaturverzeichnis: •
SELZNICK, BRIAN. 2007. THE INVENTION OF HUGO CABRET. Scholastic Press. Filmographie:
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GANGS OF NEW YORK. USA. 2002. Regie: MARTIN SCORSESE. 160 Minuten.
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GOODFELLAS. USA. 1990. Regie: MARTIN SCORSESE. 146 Minuten.
•
HUGO. USA. 2011. Regie: MARTIN SCORSESE. 127 Minuten.
•
LA SORTIE DE L’USINE LUMIÈRE À LYON. Frankreich. 1895. Regie: AUGUSTE LUMIÈRE; LOUIS LUMIÈRE. 1 Minute.
•
L’ARRIVÉE D’UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT. Frankreich. 1896. Regie: AUGUSTE LUMIÈRE; LOUIS LUMIÈRE. 1 Minute.
•
SAFETY LAST!. USA. 1923. Regie: FRED C. NEWMEYER; SAM TAYLOR. 73 Minuten.
•
TAXI DRIVER. USA. 1976. Regie: MARTIN SCORSESE. 114 Minuten.
•
THE DEPARTED. USA. 2006. Regie: MARTIN SCORSESE. 152 Minuten.