PerspektivWechsel oder: Die Wiederentdeckung der Philologie Band 1: Sprachdaten und Grundlagenforschung in der Historischen Linguistik Herausgegeben von Sarah Kwekkeboom und Sandra Waldenberger
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Renata Szczepaniak und Fabian Barteld (Universität Hamburg)
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus 1. Einleitung Im Hamburg-Münsteraner Projekt „Entwicklung der satzinternen Großschreibung im Deutschen. Eine korpuslinguistische Studie zum Zusammenspiel kognitivsemantischer und syntaktischer Faktoren“ (kurz: SiGS)1 werden die Faktoren, die die (Durch-)Setzung der satzinternen Großschreibung steuern, in von Jürgen Macha u.a.2 edierten Hexenverhörprotokollen aus dem 16./17. Jahrhundert untersucht. Ausgehend von den bisherigen Forschungsergebnissen3 fokussiert das Projekt die Phase 1
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3
Das Projekt wurde finanziell unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), SZ 280/2-1 und KO 909/12-1: Münsteraner Gruppe (Klaus-Michael Köpcke, Mark Schutzeichel), Hamburger Gruppe (Fabian Barteld, Renata Szczepaniak). AnnotatorInnen: Annemarie Bischoff, Lisa Dücker, Julia Hübner, Johanna Legrum, Katja Politt, Nikolai Pudimat, Eleonore Schmitt, Annika Vieregge und Nicholas Wieling. Jürgen Macha u.a. (Hg.): Deutsche Kanzleisprache in Hexenverhörprotokollen der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2005. Vgl. v.a. Helene Malige-Klappenbach: Die Entwicklung der Großschreibung im Deutschen, in: Wissenschaftliche Annalen 4, 1955, S. 102–118; Walter Rudolf Weber: Das Aufkommen der Substantivgroßschreibung im Deutschen. Ein historisch-kritischer Versuch, München 1958; Manfred Kaempfert: Motive der Substantivgroßschreibung. Beobachtungen an Drucken des 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 99, 1980, S. 72–98; Ursula Risse: Untersuchungen zum Gebrauch der Majuskel in deutschsprachigen Bibeln des 16. Jahrhunderts. Ein historischer Beitrag zur Diskussion um die Substantivgroßschreibung, Heidelberg 1980; Claudine Moulin: Der Majuskelgebrauch in Luthers deutschen Briefen (1517–1546), Heidelberg 1990; Claudine Moulin: Aber wo ist die Richtschnur? Wo ist die Regel? Zur Suche nach den Prinzipien der Rechtschreibung im 17. Jahrhundert, in: Germanistische Linguistik 108–109, 1991, S. 23–51; Utz Maas: Einige Grundannahmen zur Analyse der Groß- und Kleinschreibung im Deutschen, insbesondere zu ihrer Grammatikalisierung in der Frühen Neuzeit, in: Chronologische, areale und situative Varietäten des Deutschen in der Sprachhistoriographie. Festschrift für Rudolf Große, hg. v. Gotthard Lerchner, Marianne Schröder, Ulla Fix, Frankfurt/Main 1995, S. 85–100; Peter Ernst: Beobachtungen zur Großschreibung in den deutschsprachigen Wiener Ratsurkunden des Spätmittelalters, in: Sprachnormung und Sprachplanung. Festschrift für Otto Back zum 70. Geburtstag. Mit Beiträgen aus den Bereichen Graphematik, Orthographie, Namenkunde u.a., hg. v. Heiner Eichner, Peter Ernst, Sergios Katsikas, Wien 1997, S. 387–396; Rolf Bergmann, Dieter Nerius: Die Entwicklung der Großschreibung im Deutschen von 1500 bis 1710, Heidelberg 1998, 2 Bde; Paul Rössler: Die Großschreibung in Wiener Drucken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, in: Beharrsamkeit und Wandel. Fest-
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Renata Szczepaniak und Fabian Barteld der graphematischen Variation und der zunehmenden Verwendung der Majuskel im Satzinneren, um die sich wandelnde Gewichtung der Einflussfaktoren zu erfassen und auf diese Weise die Herausbildung der heutigen satzinternen Großschreibung zu modellieren. Komplementär zu der regionenübergreifenden Studie von Bergmann und Nerius4, die die Entwicklung der satzinternen Großschreibung in Drucken dokumentieren, steht in diesem Projekt die historische Handschriftlichkeit im Vordergrund. Dieser Beitrag fokussiert die Besonderheiten der handschriftlichen Hexenverhörprotokolle, deren Produktion und Edition sowie die korpuslinguistische Aufbereitung für die Untersuchung der satzinternen Majuskelverwendung. Darüber hinaus werden beispielhafte Analysen gezeigt. In Kap. 2 wird der Entstehungskontext von Hexenverhörprotokollen skizziert, um die Produktionsbedingungen, die für diese Textsorte und damit die Projektdatenbasis charakteristisch sind, zu definieren. In Kap. 3 folgt eine exemplarische Diskussion der Form der handschriftlichen Kleinund Großbuchstaben und der Prinzipien der Edition von Macha u.a.5 Diese digital verfügbare Edition bildet die Annotationsgrundlage im Projekt; stichprobenhaft wird ebenfalls auf Faksimiles zurückgegriffen. Kap. 4 stellt die Arbeitshypothese des Projekts vor und nennt die angenommenen Einflussfaktoren auf die Groß- bzw. Kleinschreibung. In Kap. 5 wird anhand des Beispiels Tokenisierung die korpuslinguistische Aufbereitung der Texte vorgestellt. Hierbei wird grundsätzlich zwischen graphischen und syntaktischen Tokens unterschieden, um die Basis für eine Annotation der (nicht-standardisierten) historischen Texte zu schaffen, die sich für die Untersuchung graphematischer Variationsphänomene eignet. Schließlich werden in Kap. 6 zwei Kleinstudien zur Setzung der Klein- und Großbuchstaben präsentiert. Sie betreffen die (teil-)satzinitiale (Kap. 6.1) sowie satzinterne Großschreibung in getrennt geschriebenen N+N-Komposita (Kap. 6.2).
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schrift für Herbert Tatzreiter zum 60. Geburtstag, hg. v. Werner Bauer, Hermann Scheuringer, Wien 1998, S. 205–238; Klaus-Peter Wegera: Zur Geschichte der Adjektivgroßschreibung im Deutschen: Entwicklung und Motive, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 115, 1996, S. 382–392; Rolf Bergmann: Zur Herausbildung der deutschen Substantivgroßschreibung. Ergebnisse des Bamberg-Rostocker Projekts, in: Das Frühneuhochdeutsche als sprachgeschichtliche Epoche, hg. v. Walter Hoffmann u.a., Frankfurt/Main 1999, S. 59–79; Rolf Bergmann, Ursula Götz: Zum Aufkommen der Großschreibung der Familiennamen, in: Familiennamen im Deutschen. Erforschung und Nachschlagewerke, hg. v. Karlheinz Hengst, Dietlind Krüger, 1. Halbbd.: Deutsche Familiennamen im deutschen Sprachraum. Jürgen Udolph zum 65. Geburtstag zugeeignet, Leipzig 2009, S. 297–330. Bergmann, Nerius (Anm. 3). Macha u.a. (Anm. 2).
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus 2. Entstehungskontext der Hexenverhörprotokolle Die vorliegenden Hexenverhörprotokolle stammen aus der Zeit der intensivierten Hexenverfolgung6 vom letzten Drittel des 16. bis zur Mitte des 17. Jh.s. Hexenverhörprotokolle stellen eine besondere Textsorte dar: Als handschriftliche Aufzeichnungen gerichtlicher Verhöre (in Mit- oder Abschriften) sind sie Produkte einer mehr oder minder spontanen Schriftlichkeit, die zur öffentlichen institutionellen Kommunikation von variierendem Radius dienten.7 Im Vergleich zu Drucken ist für Mit- sowie Abschriften eine geringere Planungszeit und damit ein stärker ausgeprägter ‚online‘-Charakter in der Produktion anzunehmen, da Umplanung bei handschriftlicher Fixierung (bei Abschriften in geringerem Maß) nicht ohne Streichungen und Korrekturen möglich und daher sichtbar ist. In Anlehnung an den Begriff ‚online-Syntax‘8 kann in Bezug auf die Hexenverhörprotokolle von einer ‚onlineGraphematik‘ gesprochen werden. Im Gegensatz v.a. zu den Druckerzeugnissen hat Planung in den Protokollen einen anderen Stellenwert. Der geringe Planungsraum, so die Annahme im Projekt, ist für die Setzung oder Nicht-Setzung der satzinternen Majuskeln in der Zeit der Variation von großem Interesse, zumal frühere Studien9 gezeigt haben, dass die Ausbreitung der satzinternen Majuskel in den Druckschriften ihrer Verwendung in Handschriften weit voraus war. Trotz eingeschränkter Vergleichbarkeit ergibt sich eine deutlich schnellere Zunahme der Großschreibung in den Luther-Bibeln von 1522 und 154610 als in den (zeitgleichen) Luther-Briefen in der Zeit von 1517–1522 und 1543–154611: Die Großschreibung von Appellativa steigt von 7,7% in der Luther-Bibel von 1522 auf 60,9% in der Bibel von 1546, wohingegen sie in den Luther-Briefen des zweiten Zeitraums (1543–1546) nur 33% erreicht. Darüber hinaus hat bereits Elvira Topalović12 deutlich gezeigt, dass die Hexenverhörprotokolle das Geschehen nicht nur dokumentieren, sondern auch mit Hilfe 6
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An dieser Stelle möchten wir der dabei verfolgten und hingerichteten Personen gedenken. Eine vollständige Rehabilitation der Opfer und eine Aufarbeitung des Geschehenen, das für viele Menschen den Tod und für Hinterbliebene einen unwiederbringlichen Verlust bedeutet hat, ist immer noch nicht erreicht. Zur Diskussion des Öffentlichkeitsgrades der Hexenverhörprotokolle s. Elvira Topalović: Sprachwahl – Textsorte – Dialogstruktur. Zu Verhörprotokollen aus Hexenprozessen des 17. Jahrhunderts, Trier 2003; Marc Schutzeichel, Renata Szczepaniak: Entwicklung der satzinternen Großschreibung in norddeutschen Hexenverhörprotokollen, in: Deutsch im Norden, hg. v. Markus Hundt, Alexander Lasch, Berlin, Boston [i.Dr.]. Peter Auer: On line-Syntax – Oder: was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen, in: Sprache und Literatur 85, 2000, S. 43–56. V.a. Moulin 1990 (Anm. 3). S. Risse (Anm. 3). V.a. Moulin 1990 (Anm. 3). Topalović (Anm. 7) und Elvira Topalović: Zwischen Nähe und Distanz. Vertextungstraditionen im Osnabrück der frühen Neuzeit, in: Niederdeutsches Jahrbuch 126, 2003, S. 53–84.
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Renata Szczepaniak und Fabian Barteld von diatopischen und konzeptionellen Merkmalen (im Sinne des Schreibsprachenwechsels)13 interpretieren. Zur Interpretation des Geschehens trägt u.a. auch der sich herausbildende onymische Artikel vor Bei-, Familien- und Rufnamen bei.14 Interessanterweise fließen in die Interpretation des Geschehens auch materielle Schriftmerkmale ein, darunter der Gebrauch von satzinternen Großbuchstaben zur (Nicht-) Auszeichnung von geschlechterspezifischen Personenbezeichnungen.15 3. Kernkorpus Im SiGS-Projekt ist anhand der Edition der Hexenverhörprotokolle16 ein Kernkorpus zusammengestellt worden, das aus 18 Protokollen vergleichbarer Länge (Umfang zwischen 1.000 und 2.000 graphischen Worteinheiten) besteht, die gleichmäßig auf sechs Dialektgebiete und drei Zeitspannen verteilt sind: Schreibername/ anzahl
Mit-/Abschrift
1.521
k. A.
k. A.
1618
1.002
k. A.
k. A.
I
1630
1.342
k. A.
k. A.
Perleberg
II
1588
1.326
Stadtschreiber Arnold Crusemark
k. A.
Güstrow
II
1615
1.490
Notarius publicus Nicolaus Wichmann
k. A.
Stralsund
II
1630
1.485
k. A.
überarb. Mits.
Ort
Region17
Jever
I
1592
Meldorf
I
Alme
13
14
15 16 17
46
Zeit
Wortumfang
S. auch Jürgen Macha: Grade und Formen der Distanzsprachlichkeit in Hexereiverhörprotokollen des frühen 17. Jahrhunderts, in: Nähe und Distanz im Kontext variationslinguistischer Forschung, hg. v. Vilmos Ágel, Mathilde Hennig, Berlin, New York 2010, S. 135–153. S. Mirjam Schmuck, Renata Szczepaniak: Der Gebrauch des Definitartikels vor Familien- und Rufnamen im Frühneuhochdeutschen aus grammatikalisierungstheoretischer Perspektive, in: Linguistik der Eigennamen, hg. v. Friedhelm Debus, Rita Heuser, Damaris Nübling, Hildesheim, Zürich, New York 2014, S. 97–137. Renata Szczepaniak: Sprachliche Diskriminierung in der Schrift [i.Vorb.]. Macha u.a. (Anm. 2). Die Regioneneinteilung folgt Macha u.a. (Anm. 2), s. hier für die Auflösung der Sprachräume.
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus Hamm
III
1592
1.860
k. A.
k.A.
Gaugrehweiler
III
1610
948
k. A.
Mitschrift
Lemberg
III
1630
1.331
kaiserlicher Notarius Melchior Wiltperger
k.A.
Georgenthal
IV
1597
1.830
k.A.
Abschrift
Rosenburg
IV
1618
1.673
zwei Schreiber
k. A.
Ostrau
IV
1628
1.014
Notar u. Stadtrichter k. A. Johannes Engelberck
Riedlingen
V
1596
1.173
k. A. (ein Schreiber)
Abschrift
Günzburg
V
1613
1.165
k. A. (ein Schreiber)
Abschrift
Baden-Baden
V
1628
1.022
k. A.
k. A.
München
VI
1600
1.934
(wahrscheinlich) zwei Schreiber
k. A.
Schweinfurt
VI
1616
1.894
k. A.
k. A.
Bamberg
VI
1628
1.073
k. A. (ein Schreiber)
k. A.
Tab. 1: Das Kernkorpus im SiGS-Projekt
Jedes Protokoll aus dieser Sammlung ist von einer anderen Hand geschrieben, so dass zwischen den einzelnen Schreibern – abgesehen von der in zwei Fällen vorliegenden Mehrautorschaft eines Protokolls – keine direkte Verbindung besteht. Die Protokolle sind in einer Zeitspanne von 42 Jahren entstanden. Die Schreiberhand ist in vielen Fällen unbekannt, in einigen Fällen konnten die Editor/inn/en Informationen dazu zusammentragen: In der Edition18 geht jedem Protokoll ein Editorenkommentar voran, gegliedert in ‚Überlieferung‘, ‚Inhalt‘ und ‚Schrift und Sprache‘. In wenigen Fällen wird in ‚Schrift und Sprache‘ der Schreiber namentlich erwähnt. Im Kernkorpus (s. Tab. 1) sind es Notarius publicus Nicolaus Wichmann (Güstrow 18
Macha u.a. (Anm. 2).
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Renata Szczepaniak und Fabian Barteld 1615)19, Stadtschreiber Arnold Crusemark (Perleberg 1588), der kaiserliche Notarius Melchior Wiltperger (Lemberg 1630), Notar und Stadtrichter Johannes Engelberck (Ostrau 1628). München 1600 und Rosenburg 1618 sind von jeweils wahrscheinlich zwei namentlich nicht bekannten Personen verfasst. Generell handelt es sich hierbei um Produkte versierter Schreiber, die Aufzeichnungen von gerichtlichen Verfahren in Form von Mit- oder späteren Abschriften verfasst haben. Aus der Darstellungsform lassen sich Schlüsse bezüglich des Produktionsrahmens herleiten. So interpretieren Macha u.a. das Protokoll Georgenthal 1597 als Abschrift, da es einen weitgehend fehler- und korrekturfreien Schreibduktus aufweist. Gut lesbar und übersichtlich gegliedert ist auch das Protokoll Günzburg 1613. Das sorgfältig geschriebene Riedlingen 1596 ist zusammen mit einem Text überliefert, der die Überschrift Copia Vrgichts trägt. Im Gegensatz dazu liegt mit Stralsund 1630 eine überarbeitete Mitschrift vor, die durch zahlreiche Streichungen und Ergänzungen gekennzeichnet ist. Eine große Menge an Verbesserungen in Gaugrehweiler 1610 deutet ebenfalls auf eine Mitschrift hin. In den Protokollen wird hauptsächlich die gotische Kurrentschrift (Kanzleikursive) eingesetzt; darüber hinaus, v.a. für lateinische Ausdrücke, die Antiqua und zur Hervorhebung von Namen „eine kalligraphisch der Druckschrift nachempfundene Frakturschrift“.20 In der Kurrentschrift gibt es generell die Möglichkeit, dass sich Groß- und Kleinbuchstaben formal voneinander unterscheiden. Da die Form der einzelnen Buchstaben aber recht variabel ist, können idiolektal formale Zusammenfälle von Groß- und Kleinbuchstaben auftreten, so dass die Unterscheidung dann alleine auf der relativen Größe der Zeichen beruhen muss. Dies betrifft v.a. das Buchstabenpaar ‹z/Z›: In der Kurrentschrift, die hier durchaus die formale Unterscheidung zwischen Minuskel und Majuskel ermöglicht, werden von manchen Schreibenden formgleiche Zeichen favorisiert. Manchmal wird auch der Kleinbuchstabe mit einer Oberlänge versehen. Daher ist je nach Schreibgewohnheit der einzelnen Protokollanten die klare Unterscheidbarkeit nicht immer gewährleistet. Dies gilt gleichermaßen für ‹v/V› und ‹h/H›.21 Ähnlich vermerkt bspw. auch Iris Hille, die den editorischen Grundprinzipien von Macha u.a.22 folgt, dass insbesondere im Fall von ‹z/Z› und ‹h/H› Groß- und Kleinschreibung nicht immer unterscheidbar ist. In solchen Fällen befolgt Hille „die heutige Konvention“.23 In der dem Projekt zugrunde liegenden Edition entscheidet bei formaler Gleichheit die relative Größe für die Überführung der Buchstaben als Minuskel oder Majuskel in den Editionstext. Die Binarität der Transliteration (d.h. die Überführung in entweder einen Groß- oder einen Kleinbuchstaben) erfordert hier eine Interpretation, so dass die Buchstabenpaare ‹z/Z›, ‹h/H› und ‹v/V› keinesfalls die handschriftliche Realität abbilden. Interessanterweise haben Macha u.a. „[i]n Abwesenheit von Varianten, die typologisch unter19 20 21 22 23
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Einzelne Protokolle werden durch Siglen aus Ort und Jahr ausgezeichnet. Macha u.a. (Anm. 2), XXII. Ebd., S. XXIII. Ebd. Iris Hille: Der Teufelspakt in frühneuzeitlichen Verhörprotokollen. Standardisierung und Regionalisierung im Frühneuhochdeutschen, Berlin, New York 2009, S. 335.
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus schieden und damit eindeutig als Großbuchstaben zu erkennen sind, […] beide als Minuskeln wiedergegeben“.24 Speziell im Falle des Buchstabens ‹z/Z› ist auch bei bestehender Oberlänge die Minuskel gewählt worden, v.a. im Wortinneren. Für das SiGS-Projekt bedeutet dies, dass es zwischen dem handschriftlichen Original und der Transliteration keinen Überschuss an Großbuchstaben gibt. Die Edition stellt sich also in der Verwendung von Großbuchstaben eher konservativer dar. Diese hier genannten formalen Überschneidungen zwischen Groß- und Kleinform bei bestimmten, v.a. den hier genannten Buchstaben müssen bei der Analyse berücksichtigt werden, auch wenn in der Transliteration eine Entscheidung zwischen Groß- und Kleinschreibung für alle Buchstaben zwingend getroffen werden musste. In Bezug auf die zum Kernkorpus gehörenden Protokolle vermelden die Editor/inn/en keine gravierenden Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinschreibung.25 Dennoch werden im Projekt die Großschreibungen nach Buchstaben unterschieden, um auch einen möglichen Einfluss der Buchstabenform auf den Anteil der Groß-/Kleinschreibung zu erfassen. Dies ist schließlich ein Faktor, der aus der Perspektive der Schreibproduktion durchaus eine Auswirkung auf die Entwicklung der Großschreibung gehabt haben könnte. 4. Einflussfaktoren bei der (Durch-)Setzung der satzinternen Großschreibung Das Projekt geht von der Arbeitshypothese aus, dass die Setzung der Großbuchstaben und die Entwicklung der satzinternen Großschreibung von mehreren Faktoren abhängig war, die in ihrem Zusammenspiel die Großschreibung im Satzinneren beeinflusst und so ihre Entwicklung vorangetrieben haben. Diese Faktoren können in drei Kategorien eingeteilt werden: die (morpho-)syntaktischen, die kognitiv-semantischen und die Gebrauchsfaktoren. Sie werden im Folgenden kurz skizziert. Betont sei noch einmal die Grundannahme des Projekts, nach der sich der Effekt der einzelnen Faktoren aus dem Zusammenspiel ergibt, d.h. wirksame Faktoren können durch andere Faktoren in ihrem (in Raum und Zeit variierenden) Stärkeeffekt gefördert oder geschwächt werden. Beispielsweise spielt der Belebtheitsgrad eine wichtige Rolle, doch werden belebte Entitäten u.a. eher dann großgeschrieben, wenn sie in der Subjektposition stehen. Zusätzlich existieren Korrelationen zwischen den einzelnen Faktoren, die bei den Analysen berücksichtigt werden müssen; so sind z.B. belebte Referenten im Korpus häufiger als unbelebte. Als interagierende Einflussfaktoren bei der Entwicklung der satzinternen Großschreibung werden angenommen: 1) (Morpho-)Syntaktische Faktoren a. Wortartenzugehörigkeit b. Struktur der Nominalphrase c. syntaktische Funktion 24 25
Macha u.a. (Anm. 2), S. XXIII. Ebd.
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Renata Szczepaniak und Fabian Barteld 2) Kognitiv-semantische Faktoren a. b. c. d.
Belebtheit Individualität (auch: Individuiertheit) Referentialität semantische Rolle
3) Sprachgebrauchsfaktoren a. Gebrauchsfrequenz b. Idiolektalität c. Buchstabenform 1a) Wortartzugehörigkeit: In Bezug auf Druckschriften zeigen Rolf Bergmann und Dieter Nerius26 sowie Bergmann27, dass die Zunahme der Großschreibung vom Anfang des 16. Jh.s bis in das frühe 17. Jh. zwar an bestimmte Wortarten gebunden, aber interessanterweise bis ins 17. Jh. nicht auf Nomina beschränkt war: In dem von Bergmann und Nerius untersuchten Korpus steigt bei proprialen Nomina der um 1500 bereits recht hohe Anteil von Großbuchstaben (58,8%) auf 98,3% um 1620. Bei appellativischen Substantiven ist im selben Zeitraum 1500–1620 ein Anstieg von 4,4% auf 80,7% zu verzeichnen. Doch stellt das Jahr 1620 auch den Höhepunkt in der Großschreibung von Adjektiven dar, die in dieser Zeit zu 17,3%, um 1500 hingegen nur zu 0,7% großgeschrieben werden. Die im gesamten Zeitraum generell seltenere Großschreibung von Verben wächst von 0,1% auf 0,8% um 159028 an. Die Großschreibung von Adverbien, Pronomina, Konjunktionen und Präpositionen hingegen bleibt im gesamten Untersuchungszeitraum (1500–1710) relativ konstant im niedrigen Prozentbereich. Nach 1620 kristallisiert sich allmählich eine Tendenz zur alleinigen Großschreibung der Nomina heraus: So nimmt die Großschreibung von Adjektiven von 17,3% um 1620 auf 11,4% um 1710 merklich ab, wobei desubstantivische Adjektive, die Teil der Anrede an hochgestellte Persönlichkeiten sind, v.a. im 16./17. Jh. zur Großschreibung neigen, z.B. Gnädigster Landesfürst.29 Auch die Großschreibung von Verben wird von 0,5% um 1620 auf 0,1% um 1710 reduziert. Nomina sind also die Wortart, die am häufigsten durch satzinterne Großschreibung ausgezeichnet wird. Um 1500 sind 9,5% aller Substantive, aber nur 0,7% der Adjektive, 0,5% der Adverbien, jeweils 0,3% der Pronomina und der Konjunktionen sowie jeweils 0,1% der Verben und der Präpositionen großgeschrieben. Im Laufe der Zeit geht die Schere immer weiter auseinander, weil der Anstieg der Großschreibung zwar alle Wortarten, jedoch nicht alle im gleichen Ausmaß betrifft. In
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50
Bergmann, Nerius (Anm. 3). Bergmann (Anm. 3). Adjektive mit proprialer Basis werden um 1620 fast ausnahmslos großgeschrieben (98,3%); für alle Wortarten gilt verstärkte Großschreibung bei Fremdwörtern (s. u.a. Bergmann (Anm. 3), S. 71–72). S. Wegera (Anm. 3), S. 389.
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus den Orthographielehren des 17. Jh.s spiegelt sich diese Entwicklung in der Forderung wider, alle Substantive großzuschreiben.30 Auf Basis der Hexenverhörprotokolle soll überprüft werden, wie sich die Wortartzugehörigkeit auf den Gebrauch der satzinternen Majuskel auswirkt und ob spontane Schriftlichkeit eine andere Verteilung und Entwicklung aufweist als die in den sorgfältiger und aufwändiger geplanten Druckschriften. 1b) Struktur der Nominalphrase: In der bisherigen Forschung gibt es keine systematische Untersuchung zur Rolle der Nominalphrasenstruktur bei der Entwicklung der satzinternen Großschreibung. Dies ist umso erstaunlicher, als allgemein davon ausgegangen wird, dass die Durchsetzung der Großschreibung im Deutschen stark mit der Entwicklung der dehnbaren Nominalklammer zusammenhängt: Der wachsende Umfang der Nominalphrase kann als Grund dafür gelten, dass sich das Bedürfnis nach visueller Auszeichnung des graphisch-distalen Phrasenkopfes entwickelt.31 Anhand des vorliegenden Korpus soll daher der Frage nachgegangen werden, ob erstens der Umfang der Nominalphrase einen Einfluss auf die Setzung der Majuskel hat. Zweitens soll untersucht werden, auf welche Weise sich der graphische Entfernungsgrad zwischen dem klammereröffnenden Determinierer und dem klammerschließenden Nomen auf die Großschreibung einzelner Phrasenelemente auswirkt. Es ist anzunehmen, dass die Großschreibung von klammerinitialen Elementen in Abhängigkeit vom Klammerumfang steht. Drittens soll erarbeitet werden, inwieweit die Zugehörigkeit zur Nominalphrase insgesamt die Wahrscheinlichkeit der Großschreibung von (attributiven) Adjektiven erhöht.32 Schließlich wird viertens überprüft, ob die Nominalität oder die syntaktische Funktion als Phrasenkopf entscheidend ist: So können Substantive, die im Mittelfeld der Nominalphrase stehen oder nachgestellte Genitive bilden, denen gegenübergestellt werden, die den Phrasenkopf stellen oder als vorangestellter Genitiv determinieren. 1c) Syntaktische Funktion: Bezogen auf die Nominalphrasen wird im Projekt die Hypothese verfolgt, dass die Auszeichnung von Nominalphrasen durch die Majuskelsetzung (am Anfang von einem oder mehreren Elementen der Nominalphrase) in Verbindung mit der Hierarchie der syntaktischen Funktionen steht (Subjekt > Objekt > weitere syntaktische Funktionen).33 Hier wird ein intensiverer Gebrauch der Majuskel bei Subjekten als bei Objekten erwartet. Nicht nur die Hierarchie der Verb30 31
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So v.a. J. Bödiker 1690, s. Bergmann (Anm. 3), S. 74. Vgl. Stefan Gfroerer, Hartmut Günther, Michael Bock: Augenbewegungen und Substantivgroßschreibung – eine Pilotstudie, in: Schriftsystem und Orthographie, hg. v. Peter Eisenberg, Hartmut Günther, Tübingen 1989, S. 111–135; Nanna Fuhrhop: Orthografie. 3., aktualisierte Aufl., Heidelberg 2009, S. 54; Damaris Nübling u.a.: Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels. 4., durchgesehene Aufl., Tübingen 2013, S. 233. Bergmann (Anm. 3), S. 75; Wegera (Anm. 3), S. 388. Simon C. Dik: The Theory of Functional Grammar. Part I: The Structure of the Clause. Dordrecht/Providence RI 1989.
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Renata Szczepaniak und Fabian Barteld ergänzungen, sondern auch die der Komplemente von Substantiven, Adjektiven und Adpositionen sollen hierbei berücksichtigt werden. Die syntaktische Funktion ist bei vielen Sprachwandelphänomenen relevant, so u.a. bei der Entwicklung der schwachen Maskulina, die sich durch die Markierung von obliquen Kasus (im Singular) flexivisch von der Nominativ-Singular-Form abgrenzen. Da im Deutschen das Subjekt im Allgemeinen34 im Nominativ steht, werden dadurch schwache Maskulina, die auf belebte Entitäten referieren, jedoch im Satz eine hierarchisch niedriger stehende syntaktische Rolle übernehmen, hervorgehoben.35 Den zweiten Block an interagierenden Einflussfaktoren bilden die kognitivsemantischen Faktoren Belebtheit, Individualität (auch: Individuiertheit), Referentialität und die semantische Rolle. 2a) Belebtheit: Die Kategorie ‚Belebtheit‘ ermöglicht die semantische Klassifizierung der Nomina. Ausschlaggebend ist die jeweilige Ausprägung der semantischen Merkmale [+/–belebt] und [+/–menschlich]. Die darauf basierende Belebtheitshierarchie MENSCHLICH > BELEBT > UNBELEBT36 ist nicht nur ontologisch begründet, sondern korrespondiert auch mit einer dreistufigen kognitiven Skala von 1) Menschen, 2) anderen Lebewesen und 3) unbelebten Gegenständen.37 Die semantische Belebtheitsskala bildet also Kategorien ab, die im Zuge der Konzeptualisierung der außersprachlichen Realität entwickelt werden: semantische Kategorien: [+MENSCHLICH] > [+BELEBT] > [–UNBELEBT] ([+BELEBT]) kognitive Kategorien: Mensch > andere > unbelebte Lebewesen Gegenstände
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Es existieren wenige Ausnahmen wie Mich friert. S. Klaus-Michael Köpcke: Die Klassifikation der schwachen Maskulina in der deutschen Gegenwartssprache. Ein Beispiel für die Leistungsfähigkeit der Prototypentheorie, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 14, 1995, S. 159–180; ders.: Chaos und Ordnung – Zur semantischen Remotivierung einer Deklinationsklasse im Übergang vom Mhd. zum Nhd., in: Angemessene Strukturen: Systemorganisation in Phonologie, Morphologie und Syntax, hg. v. Andreas Bittner, Dagmar Bittner, Klaus-Michael Köpcke, Hildesheim, Zürich, New York 2000, S. 107–122; Renata Szczepaniak: Gemeinsame Entwicklungspfade in Spracherwerb und Sprachwandel? Kognitive Grundlagen der onto- und historiogenetischen Entwicklung der satzinternen Großschreibung, in: Grammatik verstehen lernen, hg. v. Klaus-Michael Köpcke, Arne Ziegler, Berlin, New York 2011, S. 341–359. S. u.a. Michael Silverstein: Hierarchy of features and ergativity, in: Grammatical Categories in Australian Languages, hg. v. Robert M. W. Dixon, Canberra 1976, S. 112–171. Östen Dahl, Kari Fraurud: Animacy in Grammar and Discourse, in: Reference and Referent Accessibility, hg. v. Thorstein Fretheim, Jeanette-K. Gundel, Amsterdam 1996, S. 47–64; Östen Dahl: Animacy and egophoricity: Grammar, ontology and phylogeny, in: Lingua 118, 2008, S. 141–150; Szczepaniak (Anm. 35).
Die bisherigen Untersuchungen zur Durchsetzung der satzinternen Großschreibung weisen indirekt auf den Einfluss des Belebtheitsgrades hin38: Bei Personenbezeichnungen, d.h. Nomina mit hohem Belebtheitsgrad, ist die Tendenz zur Auszeichnung mit einer Majuskel stärker als bei Bezeichnungen für Gegenstände und abstrakte Konzepte. Im Projekt wird der Einfluss der Belebtheit systematisch untersucht, dabei wird auch berücksichtigt, dass Nomina aufgrund metonymischer Erweiterung oder auch metaphorischer Verwendungen (z.B. Personifizierung) je nach Kontext unterschiedliche Belebtheitsgrade aufweisen können. So kann gefengnis entweder den konkreten Gefängnisraum oder wie in (1) abstrakt ‚Gefangenschaft‘ bezeichnen. (1) sie sich erbotten |aus forcht d[er] gefengnis vnd friedlebens willen| die halbe kue zu bezalen, (Gaugrehweiler 1610, 11v)39
2b) Individualität (auch: Individuiertheit): Diese Kategorie nimmt Bezug auf die Distinktivität einer außersprachlichen Entität von ihrer Umgebung, inklusive anderer Objekte. Sie schlägt sich nieder in der sprachlichen Form des Bezugs, so dass ein proprialer Ausdruck ein Individuum am deutlichsten hervorhebt. Eigennamen sind daher mit dem höchsten Individualitätsgrad verbunden. Der Individualitätsgrad ergibt sich weiterhin aus dem Belebtheitsgrad des Nomens in Verbindung mit Numerus, Zählbarkeit und Referentialität.40
38 39
40
S. u.a. Bergmann, Nerius (Anm. 3) und Moulin 1990 (Anm. 3). In dem hier übernommenen Editionssystem von Macha u.a. (Anm. 2) markiert „|“ eine Ergänzung des Schreibers am Rand eingefasst, „[…]“ markiert eine Ergänzung der Editoren. S. Paul J. Hopper, Sandra A. Thompson: Transitivity in Grammar and Discourse, in: Language, 56 (2), 1980, S. 251–299, hier S. 253; Szczepaniak (Anm. 35), S. 344–346.
53
Renata Szczepaniak und Fabian Barteld
hoher Individualitätsgrad Eigenname Mensch, belebt konkret Singular zählbar referentiell, definit
geringer Individualitätsgrad Gattungsname unbelebt abstrakt Plural nicht zählbar nicht-referentiell41
Eigennamen wurden am frühesten großgeschrieben.42 Interessanterweise sind sie nicht nur im Deutschen von der Tendenz zur Großschreibung erfasst worden. So praktizieren viele Sprachen die sog. gemäßigte Kleinschreibung, die die Großschreibung v.a. bei Eigennamen zulässt bzw. verlangt.43 2c) Referentialität: Die Referentialität beruht auf der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen referentieller und nicht-referentieller Verwendung von Nomina. Im Falle der nicht-referentiellen Verwendung hat der Ausdruck keine Verweiskraft. Dabei gibt es aber keine direkte Korrelation zwischen der Referentialität und der Verwendung von Determinierern. So kann auch der Definitartikel nicht-referentielle Phrasen einleiten, darunter solche mit generischer Lesart wie z.B. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, aber auch solche mit unspezifischer Lesart wie die Bäckerei in einem kleinen Städtchen in der Nähe von Frankfurt. Referentialität ist graduierbar, da sie von der Anwesenheit im unmittelbaren Äußerungskontext über Definitheit (=Nicht-Ambiguität)44 bis hin zur Spezifizität reicht. Im Projekt wird die Hypothese überprüft, ob die Majuskelsetzung vom Referentialitätsgrad abhängt, so dass die Wahrscheinlichkeit der Großschreibung umso größer ist, je salienter der Referent ist. 2d) Semantische Rolle: Je nach Semantik des Verbs werden den einzelnen Verbergänzungen semantische Rollen zugeschrieben.45 Wenn ein Verb ein Ereignis bezeichnet, wird dem Subjekt prototypischerweise die semantische Rolle des Agens und dem Objekt die semantische Rolle des Patiens zugeordnet. Die Rollenzuweisung ist bei der Geschehensperspektive (wie im Passiv) anders: Hier fällt dem Sub-
41 42 43
44 45
54
Nach Hopper, Thompson (Anm. 40), S. 253. S. Weber (Anm. 3); Bergmann, Nerius (Anm. 3) und Bergmann, Götz (Anm. 3). Zu den Normierungsproblemen, die sich bei dieser Regelung ergeben, und zu den ‚fließenden‘ Übergängen zwischen Eigennamen, eigennamenähnlichen Substantiven und Gattungsbezeichnungen im Französischen s. Trudel Meisenburg: Die großen Buchstaben und was sie bewirken können: Zur Geschichte der Majuskel im Französischen und im Deutschen, in: Erscheinungsformen kultureller Prozesse, hg. v. Wolfgang Raible, Tübingen 1990, S. 281–315. S. Sebastian Löbner: Definites, in: Journal of Semantics 4, 1985, S. 279–326. S. u.a. David Dowty: Thematic Proto-Roles and Argument Selection, in: Language 67 (3), 1991, S. 547–619.
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus jekt im prototypischen Fall die Rolle des Patiens zu. David Dowty46 verortet die traditionelle Hierarchie der semantischen Rollen – Agens > Experiencer/Instrument > Patiens > Source/Goal – zwischen zwei Polen: dem Proto-Agens und dem ProtoPatiens. Die Eigenschaften des Proto-Agens sind: 1) volitionale Beteiligung am Ereignis/Zustand, 2) Empfindung/Wahrnehmung, 3) Verursachung eines Ereignisses oder Veränderung des Zustands anderer Partizipanten, 4) Bewegung, relativ zur Position anderer Partizipanten und eventuell auch 5) Existenz unabhängig vom Ereignis. Das Proto-Patiens 1) erfährt eine Veränderung, 2) ist ein inkrementelles Thema oder 3) ist von der Wirkung anderer Partizipanten betroffen, 4) ist stativ in Relation zur Position anderer Partizipanten und 5) existiert eventuell nicht unabhängig vom Ereignis. Die einzelnen semantischen Rollen sind damit unterschiedlich nah am Situationskern47: Das Agens kann so gesehen als zentrale semantische Rolle betrachtet werden, da von ihm die Verbalhandlung ausgeht. Es ist zu erwarten, dass diese „Handlungsnähe“ einen Einfluss auf Setzung der Majuskel hat, so dass die Wahrscheinlichkeit der Großschreibung mit der Nähe des Partizipanten zum Proto-AgensPol korreliert.48 3) Schließlich nehmen wir einen dritten Faktoren-Block an, der Gebrauchsfrequenz, Idiolektalität und Buchstabenform umfasst. Es soll überprüft werden, ob die Gebrauchsfrequenz einen Einfluss auf die Ausbreitung der Majuskel hat. Es zeigt sich, dass Lexeme mit einer hohen Gebrauchsfrequenz Prototypen bilden, die als Vorbild für seltenere Lexeme dienen.49 Gerade für die ‚online‘-Graphematik ist die Frage nach der Gebrauchsfrequenz von großer Tragweite. Dabei sollten vor allem Mitschriften von der Stärke der abgespeicherten Repräsentation eines Wortes mit oder ohne Großbuchstaben beeinflusst sein, aber auch in Abschriften ist ein solcher Frequenzeffekt zu erwarten. Damit verbunden gehen wir von einer hohen Variabilität aus, die von idiolektaler Tendenz zur Kleinschreibung, über wortartunspezifische bis hin zur kognitiv-semantisch und syntaktisch gesteuerten Setzung der Großbuchstaben reichen kann.50 Da nicht alle Buchstabenformen gleichermaßen distinkt sind, nehmen wir auch an, dass die formalen Überschneidungen eine ‚Grauzone‘ in der Unterscheidung zwischen Majuskeln und Minuskeln zulassen.51 46 47
48 49
50 51
Ebd. S. Christian Lehmann, Yong-Min Shin, Elisabeth Verhoeven: Direkte und indirekte Partizipation. Zur Typologie der sprachlichen Repräsentation konzeptueller Relationen. Arbeitspapiere des Seminars für Sprachwissenschaft der Universität Erfurt (ASSidUE) 13, Erfurt 2004. S. auch Szczepaniak (Anm. 35). S. Fabian Barteld, Renata Szczepaniak: The usage and spread of sentence-internal capital letters in Early New High German – A multifactorial approach [i.Vorb.]. S. Schutzeichel, Szczepaniak (Anm. 7). Zudem kann davon ausgegangen werden, dass in handschriftlicher Produktion unterschiedliche Buchstabenformen eher dazu ‚einladenʻ, eine Majuskel zu setzen. Dies ist wahrscheinlich typologisch und idiolektal bedingt. Diese Frage kann im Projekt nicht abschließend geklärt werden.
55
Renata Szczepaniak und Fabian Barteld Die konkreten Effektstärken der einzelnen hier besprochenen Faktoren werden mit statistischen Verfahren ermittelt, was eine Modellierung der graphematischen Variation und der Durchsetzung der satzinternen Majuskel ermöglichen wird. 5. Tokenisierung Eine solche multifaktorielle Analyse des sich wandelnden Gebrauchs der satzinternen Großschreibung ist nur mit einer sorgfältigen Annotation zu gewährleisten. Im SiGS-Projekt werden die von Macha u.a.52 edierten Hexenverhörprotokolle (zum Kernkorpus s. Kap. 3) einer mehrschichtigen Annotation unterzogen. Grundlegend ist dabei die Tokenisierung.53 Im Falle der Hexenverhörprotokolle liegt ein Korpus nicht-standardisierter Schriftlichkeit vor. Dies äußert sich unter anderem darin, dass die durch Spatien vorgegebenen graphematischen Wörter häufiger von den nach syntaktischen Kriterien definierten Worteinheiten abweichen als etwa im Gegenwartsdeutschen. Dies tritt z.B. auf bei der Getrenntschreibung von Kompositionsgliedern (2a) und bei graphisch in ein Wort gefassten Klisen von Artikel und Präposition in syntaktischen Kontexten, in denen die Klise im Gegenwartsdeutschen nicht mehr möglich ist (2b). (2) (a)
Auffm APPRART Auff=m auf=DEF.SG.DAT.
Teuffelß NN Teuffel-ß Teufel-SG.GEN.
dantz NN dantz Tanz.SG.DAT.
(b)
ins APPRART in=s in=DEF.SG.GEN.
teüffelß NN teüffel-s Teufel-SG.GEN.
Nahmen NN Nahme-n Name-SG.DAT.
(Alme 1630, 10V; PoS-Annotation nach STTS)54
In der Schrift sind deshalb morphosyntaktische Beziehungen nicht leicht zu erkennen. Während sich der klitisierte Artikel in (2a) auf den getrennt geschriebenen Kopf des Kompositums dantz bezieht, nhd. auf dem Teufelstanz, kongruiert in (2b) der klitisierte Artikel mit einem pränominalen Genitiv. Auffällig bei den Belegen ist 52 53
54
56
Macha u.a. (Anm. 2). S. auch Fabian Barteld, Renata Szczepaniak, Heike Zinsmeister: The definition of tokens in relation to words and annotation tasks, in: Proceedings of the Thirteenth International Workshop on Treebanks and Linguistic Theories (TLT 13), hg. v. Verena Henrich u.a., Tübingen 2014, S. 250–257. Anne Schiller u.a.: Guidelines für das Tagging deutscher Textcorpora mit STTS (Kleines und großes Tagset), Stuttgart, Tübingen 1999.
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus die Verwendung des Großbuchstabens jeweils am Anfang der graphischen Einheit, die gleichzeitig als Anfang einer syntaktischen Einheit den Kopf der Gesamt-NP bildet, die in die Präpositionalphrase eingebettet ist: [Auff [=m [Teuffelß dantz]]] vs. [in [[=s teüffelß] Nahmen]. Die besondere Funktion der Großschreibung, die hier die Dekodierung der morphosyntaktischen Struktur fördert, ist erst erkennbar, wenn durch die Trennung der Präposition-Artikel-Klisen und die Verbindung des Kompositums [Teuffelß tanz] die syntaktischen Wörter sichtbar gemacht werden. Da in dem Projekt in erster Linie aber die graphematische Ebene untersucht wird, wäre eine solche durchgehende syntaktische Normalisierung kontraproduktiv – es sind ja gerade die graphischen Einheiten, die durch die initiale Großschreibung ausgezeichnet werden können. Das Projekt verwendet daher zwei unterschiedliche Textrepräsentationen, so dass zugleich die graphischen und die syntaktischen Textsegmente (Tokens) annotiert und bei der Abfrage berücksichtigt werden können. Ähnliche Lösungen werden auch in anderen Korpora historischer Texte verwendet, vgl. z.B. Dipper u.a.55, wo eine diplomatische und eine Token-Ebene angesetzt werden. Eine Besonderheit des SiGS-Projekts ist, dass beide Ebenen, die graphische und die syntaktische, linguistisch annotiert werden (z.B. mit Wortart und Lemma). Damit wird die Auswertung der Schreibung von Teufel, wenn es als graphische Einheit vorliegt, in Verbindung mit dem morpho-syntaktischen Kontext (z.B. Teil eines getrennt geschriebenen Kompositums) möglich. Die graphische Oberflächenannotation kann sich dabei erheblich von der syntaktischen Tiefenannotation unterscheiden: Die in (2) aufgeführten und in (3) wiederholten Beispiele aus Alme 1630 haben eine (bis auf die Verwendung der satzinternen Majuskel) identische Oberflächenstruktur. Sie bestehen aus einer (graphischen) Präposition-Artikel-Klise + Nomen (Gen.Sg.) + Nomen (Dat.Sg.), daher weisen sie auf der graphischen Ebene auch eine identische Part-of-Speech-Annotation nach STTS56 auf. (3) (a)
55
56
Auffm
Teuffelß
dantz
APPRART
NN
NN
Auff
m
Teuffelßdantz
APPR
ART
NN
Stefanie Dipper u.a.: HiTS: Ein Tagset für historische Sprachstufen des Deutschen, in: Journal for language technology and computational linguistics 28(1), 2013, S. 85–137. Schiller u.a (Anm. 54).
57
Renata Szczepaniak und Fabian Barteld (b) ins
teüffelß
Nahmen
APPRART
NN
NN
in
s
teüffelß
Nahmen
APPR
ART
NN
NN
6. Satzinitiale und satzinterne Großschreibung in den Hexenverhörprotokollen Für das Projekt muss klar definiert werden, was unter satzinterner Großschreibung subsumiert wird. Zudem soll das Verhältnis zwischen satzinterner und satzinitialer Großschreibung ausgelotet werden. Claudine Moulin57 beobachtet, dass die Großschreibung am Satzanfang in den Luther-Briefen (1517–1546) bereits ab 1524 fest ist. Auch Teilsätze werden aber noch mit Großbuchstaben markiert: Koordinierende Konjunktionen werden nur dann großgeschrieben, wenn sie am Anfang des zweiten Gefügepartners stehen. Auch asyndetische Parataxen weisen eine Tendenz zur Großschreibung des ersten Wortes des zweiten Gefügepartners auf. Interessanterweise aber ist die Tendenz zur Initialgroßschreibung des zweiten Gefügepartners höher, wenn ein koordinierendes Element vorkommt, auch wenn dieses nicht die Spitzenstellung einnimmt. Zur Großschreibung von Konjunktionen lässt sich generell sagen, dass sie in Luther-Briefen hauptsächlich dann durch eine Majuskel ausgezeichnet worden sind, wenn sie einen vollständigen Hauptsatz einleiten. So wird und zwischen zwei vollständigen Hauptsätzen zu 52,4% großgeschrieben, zwischen einem vollständigen Hauptsatz und einem Hauptsatz mit Ellipsen von Satzgliedern zu 33,7% und zwischen Nebensätzen nur zu 15,1%. Wenn und-Konjunkte nicht satzwertig sind, ist die Großschreibung sehr selten: Zwischen zwei Nominalphrasen ist und in 1,8% aller Fälle großgeschrieben. Im Gegensatz zu Konjunktionen gibt es keine stark ausgeprägte Tendenz zur Großschreibung von Subjunktionen: So stellt Moulin58 fest, dass die Initialgroßschreibung von subjunktional eingeleiteten Nebensätzen nur zu 8,5%, von uneingeleiteten Nebensätzen hingegen zu 52,3% auftritt. Je deutlicher ein Nebensatz als solcher syntaktisch markiert wird, desto seltener wird er zusätzlich durch die Großschreibung ausgezeichnet. Hauptsätze nach vorausgehendem Nebensatz werden ebenfalls häufig durch Majuskel ausgezeichnet. Die Anzahl solcher großgeschriebener Hauptsätze variiert zwischen 26,9% (1533–1537) und 69,2% (1543–1546). Hier lässt sich eine Hierarchie der satzinitialen Großschreibung annehmen: So tendieren Hauptsätze zur satzinitialen Großschreibung auch dann, wenn sie nicht am Anfang des Satzgefüges stehen. In Nebensätzen, die nicht am Anfang des Großganzsatzes stehen, tritt die Majuskel tendenziell dann auf, 57 58
58
Moulin 1990 (Anm. 3), S. 103–184. Moulin 1990 (Anm. 3), S. 141–160.
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus wenn die syntaktische Unterordnung nicht mit formalen Mitteln (v.a. Subjunktionen) markiert wird. Diese Befunde werden im nächsten Kapitel anhand der Konjunktionen mit den Hexenverhörprotokollen verglichen. In Kap. 6.2 wird – beispielhaft für die satzinterne Großschreibung – die Schreibung von Komposita betrachtet. 6.1 Satzinitiale Großschreibung Zur Untersuchung von satzinitialer bzw. satzinterner Großschreibung muss genau definiert werden, wo sich Teil-Satzgrenzen und Ganzsatzgrenzen befinden. Dies stellt sich in den Hexenverhörprotokollen als nicht trivial dar, da z.B. häufig das finite Verb fehlt. So kann es sich bei den unterstrichenen Sätzen in (4) entweder um eine Reihung von Hauptsätzen handeln oder um ineinander geschachtelte Relativsätze. Der Unterschied würde erst anhand der Stellung des hier jeweils nicht realisierten finiten Verbs deutlich werden. (4) Item alß sie vnnd M[aisterin] Simoni In des Scheffmaisters alhie behaussung bey ein nander gewont, da sey wolff Redlein schneidern alhier zue Innen Kommen, dem sie ein salben In ein Pier gerurt d[as] er gethrunk[en] davon weg[en] er außdorren vnndt sterben muess[en] (Ellingen 1590, 7)
Ein anderes Beispiel liegt in (5) vor, wo entweder als dem Satz zugehörig angesehen oder als reines textgliederndes Element, das keinem Satz angehört, gewertet werden kann. Je nach Entscheidung liegt in satzinitiale oder satzinterne Großschreibung vor. (5) Vff den .2. Sagt sie also, das sie darbei gewesen […] (Perleberg 1588, 113r)
Um einen systematischen Umgang mit solchen Fälle zu sichern, wurden im Projekt Annotationsrichtlinien59 entwickelt, die in den konkreten Fällen Reihung von Hauptsätzen in (4) und einen Satz, der enthält, in (5) annehmen.
59
Für eine detaillierte Darstellung vgl. Fabian Barteld u.a.: Richtlinien zur Annotation frühneuhochdeutscher Hexenverhörprotokolle. Annotationshandbuch des DFG-Projekts „Entwicklung der satzinternen Großschreibung im Deutschen. Eine korpuslinguistische Studie zum Zusammenspiel kognitiv-semantischer und syntaktischer Faktoren“ [i.Vorb.].
59
Renata Szczepaniak und Fabian Barteld Grundsätzlich zielen diese Regeln darauf ab, den Text in kleinstmögliche, aber vollständige Ganzsätze bzw. syntaktische Einheiten60 zu unterteilen. Im Folgenden wird die Großschreibung am Anfang von derart definierten Ganzsätzen betrachtet. Aufgrund der problematischen Unterscheidung von Großund Kleinschreibung bei ‹v/V›, ‹h/H› und ‹z/Z› (s. Kap. 2) werden nur Belege betrachtet, die mit keinem dieser Grapheme beginnen. Tabelle 2 zeigt, dass die satzinitiale Großschreibung generell überwiegt, teilweise auch in Protokollen, die wenig bis keine satzinterne Großschreibung zeigen (z.B. Jever 1592). Nur in wenigen Protokollen ist satzinitiale Kleinschreibung häufiger. Diese sind in Tabelle 2 grau hinterlegt. Ort
Region Zeit
Großschreibung Kleinschreibung (abs.) (abs.)
Mit-/Abschrift
Jever
I
1592
45
27
k. A.
Meldorf
I
1618
19
23
k. A.
Alme
I
1630
40
26
k. A.
Perleberg
II
1588
18
30
k. A.
Güstrow
II
1615
42
21
k. A.
Stralsund
II
1630
45
35
überarb. Mits.
Hamm
III
1592
52
28
k.A.
Gaugrehweiler
III
1610
25
34
Mitschrift
Lemberg
III
1630
30
48
k.A.
Georgenthal
IV
1597
40
51
Abschrift
Rosenburg
IV
1618
64
23
k. A.
Ostrau
IV
1628
69
3
k. A.
Riedlingen
V
1596
22
30
Abschrift
Günzburg
V
1613
46
28
Abschrift
Baden-Baden
V
1628
39
16
k. A.
60
60
Der Begriff syntaktische Einheit wird hier verwendet, da teilweise nicht satzwertige Phrasen alleine auftreten, die dann eine eigene syntaktische Einheit bilden. Vgl. auch „syntactic unit“ bei Heike Telljohann u.a.: Stylebook for the Tübingen Treebank of Written German (TüBa-D/Z), Tübingen 2012, S. 14ff.
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus München
VI
1600
90
48
k. A.
Schweinfurt
VI
1616
56
49
k. A.
Bamberg
VI
1628
44
60
k. A.
786
580
Summe
Tab. 2: Ganzsatzinitiale Groß- und Kleinschreibung
Für die Untersuchung der Großschreibung von kon- bzw. subjunktional eingeleiteten Teilsätzen wird eine Bestimmung des syntaktischen Bindungsgrades anhand der Verbstellung vorgenommen. Dies führt zu einer Dreiteilung der großzuschreibenden einleitenden Elemente: Bei finaler oder zumindest eindeutiger Spätstellung wie in (6) wurde der Einleiter als Subjunktion eingestuft (KOU nach STTS). Bei eindeutiger Zweitstellung des Verbs wie in (7) wurde Nebenordnung angenommen (KON). Fälle wie in (8) wurden als ambig annotiert (KO).61 (6) Subjunktion das (KOU nach STTS) vorm kniepes thor, hette sie zu ihr geweiset vnd gesaget, das sie guten ratth wüßte (Stralsund 1630, 3)
(7) Konjunktion aber (KON nach STTS) Confrontirt
mit Hopffens Elßen, Sagt ihme ingleichem das Er im hautschmohr bey einem tantz geweßen, aber zuuor sey S[ancta] Hostia eingegraben word[en]. (Bamberg 1628, 1r)
(8) Konjunktionalsatz ohne Finitum (KO) 2. Wahr d[as] er solches wol gewist, Aber solches nie verthettigt. (Alme 1630, 11v)
61
Vgl. Barteld u.a. (Anm. 59).
61
Renata Szczepaniak und Fabian Barteld Kleinschreibung Großschreibung Subjunktion (KOU)
27
71
Konjunktion (KON)
11
18
Konjunktionalsatz ohne Finitum (KO)
20
34
Tab. 3: Groß-/Kleinschreibung von Konjunktionen (absolut)
Anders als in den von Moulin62 untersuchten Luther-Briefen, wo nur Konjunktionen häufiger groß- als kleingeschrieben vorkommen, zeigt sich in Tabelle 4, dass die satzteilinitiale Großschreibung in Hexenverhörprotokollen unabhängig von der Art des einleitenden Elements überwiegt, allerdings ist der Unterschied nur bei den Subjunktionen (KOU) signifikant (Chi2=19.76, p < 0.001). Weiterhin stellt sich die Frage, ob bei gleichem syntaktischem Bindungsgrad die ganzsatzinitiale Position häufiger als die teilsatzinitiale großgeschrieben wird. Dies soll genauer anhand von weil und aber analysiert werden. In Tabelle 3 wird die ganzsatzinitiale mit der ganzsatzinternen Schreibung, die im Falle von weil teilsatzinitial ist, verglichen. ganzsatzinitial Ort
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus Ostrau
IV
1628
–
–
0
1
Riedlingen
V
1596
–
–
–
–
Günzburg
V
1613
–
–
0
2
Baden-Baden
V
1628
–
–
1
0
München
VI
1600
–
–
0
5
Schweinfurt
VI
1616
2
1
0
3
Bamberg
VI
1628
1
1
0
3
5
7
2
28
Summe
Tab. 4: Groß- und Kleinschreibung von weil
Generell überwiegt die Kleinschreibung von weil, allerdings deutlicher bei der teilsatzinitialen (ganzsatzinternen) Verwendung, d.h. wenn der Nebensatz nicht am Anfang des Ganzsatzes steht. Großgeschrieben wird also eher am Anfang von Ganzsätzen. In Gaugrehweiler 1610 findet sich ein Beleg, der der Tendenz auf den ersten Blick zuwiderläuft: Die einzige Großschreibung von weil kommt ganzsatzintern vor. Allerdings handelt es sich bei dieser ganzsatzinternen Verwendung um den Beginn eines V2-Komplementsatz zu einem Verbum dicendi vgl. (9). (9) Sie geantwo[rtet] Weil sie eben doselbsten gelt zu ford[er]nn gehabt hab sie des kindts halben bey d[er] Ammen sich befragt (Gaugrehweiler 1610, 10v)
Die Verteilung in Tabelle 5 zeigt, dass satzintern die Kleinschreibung von aber deutlich überwiegt, während sich initial Groß- und Kleinschreibung die Waage halten. Einige der Protokolle weisen insgesamt eine klare Tendenz auf, entweder großoder kleinzuschreiben, unabhängig davon, ob satzinitial oder -intern (so z.B. Georgenthal 1597, wo die Großschreibung überwiegt, oder Baden-Baden 1628, wo weil konsequent kleingeschrieben ist). Bei anderen Protokollen zeigt sich die Tendenz, dass Groß- und Kleinschreibung zwischen satzinitial und -intern aufgeteilt sind (z.B. Lemberg 1630). Auch hier wird insgesamt deutlich: Wenn satzintern großgeschrieben wird, dann auch satzinitial. Mit der Großschreibung wird also vor allem der Beginn von Ganzsätzen markiert. Bei der satzinternen Verwendung muss noch beachtet werden, dass aber hier auch als Partikel auftreten kann (vgl. Beispiel 10) und dass diese Verwendung mit 75 Belegen auch die häufigere Variante darstellt, wie Tabelle 6 zeigt.
64
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus (10) Sein Puhlteüflin aber hette Er füchßin nennen müss[en], (Bamberg 1628, 3r) Partikel
Konjunktion
Kleinschreibung
68
10
Großschreibung
7
9
Tab. 6: Ganzsatzinterne Groß- und Kleinschreibung von aber
Betrachtet man nur die als Konjunktion annotierten Belege, deutet sich die gleiche Tendenz an, die Moulin63 in den Luther-Briefen beobachtet: Die Konjunktion aber, die zwei Hauptsätze verbindet, tendiert eher zur ganzsatzinternen Großschreibung als die Subjunktion weil (p < 0,0015, Fisher Test). Ob die Vollständigkeit des mit aber eingeleiteten Satzes auch in den Hexenverhörprotokollen für die Großschreibung eine Rolle spielt, müssen weitere Untersuchungen zeigen. 6.2 Satzinterne Großschreibung am Beispiel der getrennt geschriebenen N+NKomposita Im Kernkorpus finden sich 102 getrennt geschriebene Komposita, davon 10 am Zeilenende getrennte, die durch den Bindestrich markiert sind. Die Mehrheit (49 Belege, d.h. 48%) weist Kleinschreibung von beiden Kompositionsgliedern auf, davon 5 mit Worttrennung am Zeilenende (s. Tab. 7). In 35 Fällen (davon 5 mit Worttrennung am Zeilenende) wird hingegen nur das erste Glied großgeschrieben; sie machen 34% aller getrennt geschriebenen N+N-Komposita aus (s. Tab. 8). Der umgekehrte Fall, in dem nur das Zweitglied großgeschrieben wird, ist mit 5 Belegen am seltensten. In 13 Fällen liegt Großschreibung von beiden Kompositionsgliedern vor. In den Tabellen sind die Komposita, bei denen ein Kompositionsglied mit ‹h/H›, ‹v/V› oder ‹z/Z› beginnt, grau hinterlegt. Erstglied64
Zweitglied
Anzahl Belege
Protokoll/Region
haff teiche
haff
Teiche
1
Jever 1592
haf dike
haf
Dike
1
Jever 1592
winterß zeit
winterß
Zeit
1
Jever 1592
padden fueß
padden
Fueß
1
Jever 1592
63 64
Region I
Beleg
Moulin 1990 (Anm. 3). Ein Bindestrich markiert Worttrennung am Zeilenende.
65
weibes
Gestalt
1
Alme 1630
teufelß dantz
teufelß
Dantz
1
Alme 1630
knotten korff
knotten
Korff
1
Alme 1630
seiden kleideren
seiden
Kleideren
1
Alme 1630
stuten brei
stuten
Brei
1
Alme 1630
teuffelß kunst
teuffelß
Kunst
1
Alme 1630
teuffelß kraut
teuffelß
Kraut
1
Alme 1630
eichen kerbelspon
eichen
Kerbelspon
1
Perleberg 1588
gott vater
gott
Vater
1
Perleberg 1588
zeuber kunst
zeuber
Kunst
1
Perleberg 1588
gast hause
gast
Hause
1
Perleberg 1588
burgk- mans
burgk-
Mans
2
Güstrow 1615
dienst knecht
dienst
Knecht
1
Güstrow 1615
feldt- marcke
feldt-
Marcke
1
Güstrow 1615
silber kleider
silber
Kleider
1
Stralsund 1630
zimer frawe
zimer
Frawe
1
Stralsund 1630
warheits grundt
warheits
Grundt
1
Stralsund 1630
katzen muntze
katzen
Muntze
1
Stralsund 1630
clage puncten
clage
Puncten
2
Hamm 1592
danttz platzen
danttz
Platzen
1
Hamm 1592
bekhendtnuß puncten
bekhendtnuß
Puncten
1
Hamm 1592
geuattern hauß
geuattern
Hauß
1
Hamm 1592
gottes verlaugnungh
gottes
Verlaugnungh
1
Hamm 1592
dantz platzen
dantz
Platzen
2
Hamm 1592
bettell frau
bettell
Frau
1
Gaugrehweiler 1610
korn saath
korn
Saath
1
Lemberg 1630
minschen gestaldt
minschen
Gestaldt
1
Lemberg 1630
66
Region III
weibes gestalt
Region II
Renata Szczepaniak und Fabian Barteld
kriegers gestalt
kriegers
Gestalt
1
Lemberg 1630
menschen hende
menschen
Hende
1
Georgenthal 1597
heselein stecken
heselein
Stecken
1
Georgenthal 1597
lebe- tag
lebe-
Tag
1
Georgenthal 1597
leymen gruben
leymen
Gruben
1
Georgenthal 1597
hoff stett
hoff
Stett
1
Georgenthal 1597
hauß zins
hauß
Zins
geburt zeit
geburt
Zeit
1
Ostrau 1628
hauß- frau
hauß-
Frau
2
Riedlingen 1596
nacht zeit
nacht
Zeit
1
Günzburg 1613
krametbeer brandtweins
krametbeer
Brandtweins
1
Günzburg 1613
kindes händtel
kindes
Händtel
1
München 1600
feurs gefahr
feurs
Gefahr
1
München 1600
kindes händtelin
kindes
Händtelin
1
München 1600
Gesamt:
Region IV
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus
Region VI
Region V
Rosenburg 1618
44 (5)
Tab. 7: Getrennt geschriebene Komposita mit Kleinschreibung beider Kompositionsglieder
Anzahl Belege
Erstglied
Zweitglied
Protokoll/Region
ein Roit Stein- pott
Stein-
pott
1
Jever 1592
Suder seiten
Suder
seiten
1
Jever 1592
Braut- schatzes
Braut-
schatzes
1
Jever 1592
Man fueß
Man
fueß
1
Jever 1592
Gottes wordt
Gottes
wordt
1
Meldorf 1618
Teuffelß dantz
Teuffelß
dantz
2
Alme 1630
Teufelß kraut
Teufelß
kraut
1
Alme 1630
Teufelß dantz
Teufelß
dantz
1
Alme 1630
Region I
Beleg
67
Güstrow 1615
Francken- teiche
Francken-
teiche
1
Stralsund 1630
Dandtz platzen
Dandtz
platzen
1
Hamm 1592
Dantz platzen
Dantz
platzen
1
Hamm 1592
Mey butter
Mey
butter
1
Gaugrehweiler 1610
Pferdts koth
Pferdts
koth
1
Lemberg 1630
Zauber gesellschafft
Zauber
gesellschafft
1
Lemberg 1630
Schmier hafen
Schmier
hafen
1
Lemberg 1630
Millich diebin
Millich
diebin
2
Georgenthal 1597
Schenck keller
Schenck
keller
1
Georgenthal 1597
Brühe fleisch
Brühe
fleisch
1
Georgenthal 1597
Sammet hutt
Sammet
hutt
1
Georgenthal 1597
Gartten- häußlein
Gartten-
häußlein
Rosenburg 1618
Saw- bergk
Saw-
bergk
Rosenburg 1618
Instruments form
Instruments
form
1
Ostrau 1628
Ross koth
Ross
koth
2
Baden-Baden 1628
Viertel stundt
Viertel
stundt
1
Baden-Baden 1628
Viertel stündtlein
Viertel
stündtlein
1
Baden-Baden 1628
Sinds ding
Sinds
ding
1
München 1600
Gottes gebott
Gottes
gebott
1
Schweinfurt 1616
Pfingst feyertag
Pfingst
feyertag
1
Schweinfurt 1616
Pokh hundt
Pokh
hundt
1
Bamberg 1628
Rath- stueben
Rath-
stueben
2
Bamberg 1628
Gesamt:
30 (5)
Tab. 8: Getrennt geschriebene Komposita mit großgeschriebenem Erstglied
68
Region III
1
Region IV
wiese
Region V
Schweine
Region VI
Schweine wiese
Region II
Renata Szczepaniak und Fabian Barteld
Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus Anzahl Belege
Protokoll/Region
perdes Manen
perdes
Manen
1
Meldorf 1618
dantz Leine
dantz
Leine
1
Alme 1630
hals Gericht
hals
Gericht
1
Georgenthal 1597
Manns vnd weibs Persohnen
weibs
Persohnen
1
Günzburg 1613
rindt Viech
rindt
Viech
1
Baden-Baden 1628
Gesamt:
Region I
Zweitglied
Region II
Erstglied
Region III
Beleg
5
Tab. 9: Getrennt geschriebene Komposita mit großgeschriebenem Zweitglied
Anzahl Belege
Protokoll/Region
Milch Eimmer
Milch
Eimmer
1
Jever 1592
Mutter Pferdt
Mutter
Pferdt
1
Lemberg 1630
Milchdieben Tantz
Milchdieben Tantz
1
Georgenthal 1597
Garten Thuer
Garten
Thuer
1
Ostrau 1628
Weibes Bilde
Weibes
Bilde
1
Ostrau 1628
Pezschafft vndt NoNotariat tariat Signet
Signet
1
Ostrau 1628
Gerichts Personen
Gerichts
Personen
2
Ostrau 1628
Teuffels Buhle
Teuffels
Buhle
1
Ostrau 1628
Region I
Zweitglied
Region III
Erstglied
Region IV
Beleg
69
Statt
Mühl
1
Baden-Baden 1628
Buchen Prunnen
Buchen
Prunnen
1
Baden-Baden 1628
Gelt Tischen
Gelt
Tischen
1
München 1600
Landt Sondersiech
Landt
Sondersiech
1
München 1600
Region VI
Statt Mühl
Region V
Renata Szczepaniak und Fabian Barteld
Tab. 10: Getrennt geschriebene Komposita mit Großschreibung beider Kompositionsglieder
Die Hälfte der getrennt geschriebenen N+N-Komposita ist komplett kleingeschrieben, ein Drittel von ihnen enthält ein großgeschriebenes Erstglied. Bei 12% aller Belege sind beide Kompositionsglieder großgeschrieben. Bei nur 5% liegt ein kleingeschriebenes Erst- und großgeschriebenes Zweitglied vor. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Großschreibung als Mittel zur graphischen Hervorhebung komplexer NP-Köpfe eingesetzt wird, denn, sieht man von der vollständigen Groß- und Kleinschreibung ab, die Tendenz zur Majuskelsetzung am Anfang der komplexen syntaktischen Einheit ist deutlich höher: In 30 (+5 Worttrennungs-)Fällen wird das Erstglied, in nur 5 Fällen das Zweitglied großgeschrieben. Die Verteilung der Schreiboptionen lässt jedoch auch einen regionalen sowie v.a. einen idiolektalen Einfluss vermuten, der hier nur angedeutet werden kann.65 So tritt die Option mit ausschließlicher Großschreibung v.a. in Ostrau 1628 auf, wohingegen in Güstrow 1615 oder Stralsund 1630 die durchgängige Kleinschreibung häufiger ist als die Variante mit großgeschriebenem Erstglied. Eine vollständige Untersuchung muss diese offensichtlich schreiberspezifische Verteilung der Varianten mit der für den Schreiber (d.h. im gegebenen Protokoll) spezifischen Ausprägung der in Kapitel 4 vorgestellten Faktoren korrelieren. 7. Zusammenfassung Die Hexenverhörprotokolle stellen eine besonders fruchtbare Grundlage für sprachhistorische Analysen dar. Für die Untersuchung der Entwicklung der Großschreibung liegt die Attraktivität dieses Korpus v.a. darin, dass es ermöglicht, die Setzung der Großbuchstaben in einer (relativ) spontanen Handschriftlichkeit zu untersuchen. Das SiGS-Projekt geht dieser Entwicklung nach, wobei angenommen wird, dass die (Durch-)Setzung der satzinternen Großschreibung in Abhängigkeit vom Zusammenspiel mehrerer (morpho-)syntaktischer, kognitiv-semantischer und Gebrauchsfaktoren verläuft. Neben der satzinternen ist aber auch die teil- und ganzsatzinitiale Großschreibung, die in den Hexenverhörprotokollen noch weit von der heutigen Regel abweicht, in ihrer Dynamik und Konditionierung zu untersuchen. 65
70
S. aber auch Schutzeichel, Szczepaniak (Anm. 7).
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