Haftbedingungen und Hungerstreiks der ersten Generation der Roten Armee Fraktion - Realität und Propaganda von 1971 bis 1977

May 28, 2017 | Author: Thomas Keplinger | Category: Terrorism, Terror, Ulrike Meinhof, Rote Armee Fraktion, RAF, Terrorismus, Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Astrid Proll, Hungerstreik, Haftbedingungen, Holger Meins, Bakker Schut, Camera Silens, Sjef Teuns, Sensorische Deprivation, Terrorismus, Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Astrid Proll, Hungerstreik, Haftbedingungen, Holger Meins, Bakker Schut, Camera Silens, Sjef Teuns, Sensorische Deprivation
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SEMINARARBEIT

Titel der Arbeit

Haftbedingungen und Hungerstreiks der ersten Generation der Roten Armee Fraktion Realität und Propaganda von 1971 bis 1977 Verfasser

Thomas Keplinger

Wien, 2016

LV-Leiterin:

Univ.-Doz. Dr. Irene Bandhauer-Schöffmann

Studienkennzahl:

033 603

Studienrichtung: Matrikelnummer: e-mail-Adresse:

Geschichte 9540453 [email protected]

Inhaltsverzeichnis: 1 Einleitung

3

2 Hungerstreiks und Haftbedingungen

6

2.1

2.2

2.3

Hungerstreiks

6

2.1.1

Die Hungerstreiks der ersten Generation der RAF

6

2.1.2

Zwangsernährung

11

2.1.3

Der Hungertod von Holger Meins

12

Haftbedingungen

15

2.2.1

Entwicklung der Haftbedingungen von 1971 bis 1977

15

2.2.2

Sensorische Deprivation und Camera Silens

20

2.2.3

Die Sonderfälle Astrid Proll und Ulrike Meinhof

21

Analyse einer zeitgenössischen Quelle

24

Ein exemplarischer Einblick in linke Diskursgrundlagen 3 Resümee

28

4 Quellen- und Inhaltsverzeichnis

31

4.1

Quellen

31

4.2

Literatur

31

5 Anhang

33

Hungerstreikerklärung vom 13. September 1974

2

1 Einleitung Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Zusammenhängen der Haftbedingungen und Hungerstreiks der ersten Generation der Roten Armee Fraktion (im Text kurz RAF) und der Propaganda, die die RAF aus diesen Anlässen betrieben hat. Die RAF war eine sozialrevolutionäre terroristische Gruppe, deren Grundstein in den Studentenprotesten Ende der 1960er Jahre gelegt wurde. Diese richteten sich hauptsächlich gegen „die personellen Kontinuitäten vom ,Dritten Reich‘ zur Bundesrepublik“1, den Einsatz der USA im Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze der Großen Koalition2 - Motive, die sich in veränderter Form auch in den Kampfschriften der RAF finden. Ihre Entstehung wird heute auf zwei mögliche Zeitpunkte datiert: Die RAF selbst sieht ihre Geburtsstunde in einer Befreiungsaktion für Andreas Baader am 14. Mai 1970. 3 Seit diesem Tag war auch Ulrike Meinhof Teil der RAF, die bis dahin als Journalistin tätig war.4 Die Bundesanwaltschaft in einer Anklageschrift gegen Andreas Baader und das Oberlandesgericht Stuttgart in den Stammheim-Hauptverfahren gehen jedoch davon aus, dass sich die RAF erst ab August 1970 „nach ihrer Rückkehr aus dem Nahen Osten [als] eine festgefügte Gruppe“ gebildet hatte.5 Nachdem diese im Mai 1972 ihre sogenannte Mai-Offensive mit vier Todesopfern und 53 Verletzten6 durchführte, wurden im Juni 1972 die führenden Köpfe festgenommen und in verschiedenen Haftanstalten untergebracht. Andreas Baader wurde in Schwalmstadt, Jan-Carl Raspe in Köln, Holger Meins in Wittlich, Gudrun Ensslin in Essen und Ulrike Meinhof in Köln-Ossendorf untergebracht.7 Vor allem die Haft von Meinhof war es, die ab diesem Zeitpunkt die Strategie der RAF im Umgang mit der BRD entscheidend verändern sollte, wie im Zuge dieser Arbeit noch erläutert wird. 1 Katrin Hammerstein, Wider den Muff von 1000 Jahren. Die 68er Bewegung und der Nationalsozialismus. In: Bundeszentrale für politische Bildung, 5.6.2008, online unter (12. Mai 2016). 2 Hammerstein, Wider den Muff. 3 Butz Peters, Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF (Berlin 2004), 757f., Christopher Daase, Die erste Generation der RAF (1970-1975). In: Bundeszentrale für politische Bildung, 20.8.2007, online unter (25. Juni 2016). 4 Leith Passmore, International Law as an Extralegal Defense Strategy in West Germany's Stammheim Terror Trial. In: Law Culture and the Humanities 9, Issue 2 (2013) 375-394, hier 376. 5 Peters, Tödlicher Irrtum, 757f. 6 Jan-Hendrik Schulz, Zur Geschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) und ihrer Kontexte: Eine Chronik, In: Zeitgeschichte-online, Mai 2007, (12. Mai 2016). 7 Leith Passmore, The Art of Hunger. Self-Starvation in the Red Army Faction. In: German History 27, Issue 1 (2009) 32-59, hier 38.

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Am 18. Oktober 1977 endete die Geschichte der ersten Generation der RAF mit der sogenannten Todesnacht von Stammheim, in der Baader, Ensslin und Raspe Selbstmord begingen und Irmgard Möller ihren Selbstmordversuch schwer verletzt überlebte. Das Ende der Terrorgruppe folgte am 20. April 1998, als die dritte Generation schriftlich ihre Auflösung bei der Nachrichtenagentur Reuters bekannt gab.8 Zwischen 17. Jänner 1973 und 2. September 1977 führten die inhaftierten RAF-Angehörigen fünf Hungerstreiks durch.9 In den entsprechenden Hungerstreikerklärungen wurde vor allem die Abschaffung der Isolationshaft verlangt. Weitere Forderungen betrafen Zusammenlegungen der Häftlinge und die Gleichstellung mit nicht politischen Gefangenen. Ulrike Meinhof stellte am Beginn des dritten Hungerstreiks zudem jedoch „wirklichkeitsfremde Forderungen nach freier Selbstorganisation, tarifgerechten Gehältern und Pensionen, Rente und Krankenversicherung, unbewachtem Besuch, Versammlungsfreiheit, freie Arztwahl sowie Abschaffung von Postkontrolle und Geschlechtertrennung für alle Strafgefangenen.“10 Petra Terhoeven hält fest, dass diese Forderungen der „Diffamierung des Staates an sich“ 11 dienten. Politische Zugeständnisse als Reaktion auf die Hungerstreiks wurden oft wieder zurückgezogen, führten aber dennoch ab 1973/74 zu schrittweisen Lockerungen der Haftbedingungen.12 Die vorliegende Arbeit untersucht die Hungerstreiks zwischen Jänner 1973 und September 1977 als Propagandainstrumente der RAF und geht der Frage nach, welche Unterschiede zwischen den in den Hungerstreikerklärungen der RAF kritisierten Haftbedingungen und den tatsächlichen Haftbedingungen zu erkennen sind. Zur Beantwortung dieser Frage analysiere ich aktuelle Forschungsliteratur und zeige, bei welchen Themen wissenschaftliche Einigkeit besteht und wo die Forschungsstände divergieren. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Petra Terhoevens „Deutscher Herbst in 8 Wolfgang Kraushaar, Das Ende der RAF. In: Bundeszentrale für politische Bildung, 20.8.2007, online unter (2. Juni 2016) 9 1. Hungerstreik von 17. Jänner bis 16. Februar 1973, 2. Hungerstreik von 8. Mai bis 29. Juni 1973, 3. Hungerstreik von 13. September 1974 bis 15. Februar 1975, 4. Hungerstreik von 29. März bis 1. Mai 1977, 5. Hungerstreik von 9. August bis 2. September 1977, siehe Christoph Riederer, Die RAF und die Folterdebatte der 1970er Jahre (Wiesbaden 2014) 161f. 10 Petra Terhoeven, Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen (München 2014) 258f. 11 Terhoeven, Deutscher Herbst, 259. 12 Terhoeven, Deutscher Herbst, 252.

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Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen“ 13, Christoph Riederers „Die RAF und die Folterdebatte der 1970er Jahre“14, Leith Passmores Aufsatz „The Art of Hunger. Self-Starvation in the Red Army Faction“ 15 und Ralph Jessens Aufsatz „Das Folternarrativ als De-Legitimierungsstrategie. Die Kampagne der RAF zur ,Isolationsfolter‘ in den 1970er Jahren“16. Zur Verdeutlichung der RAF-Propaganda ziehe ich in meiner Arbeit durchgängig als Quelle den Text der dritten Hungerstreikerklärung17 heran, da sich diese nicht nur in Anfeindungen und Hasstiraden gegen den Staat ergeht, sondern in klarer Sprache die tatsächlichen oder angeblichen Missstände im Strafvollzug aus Sicht der Roten Armee Fraktion aufzählt. Der Volltext dieser Erklärung ist im Anhang zu finden. Als zweite Quelle fand Pieter Herman Bakker Schuts Buch mit dem Titel „Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion“18 Eingang in meine Arbeit. Damit zeige ich anhand eines zeitgenössischen Werks, das ich auf Basis der Erkenntnisse moderner Forschungen analysiere, wie die Propaganda der RAF betreffend Hungerstreiks und Haftbedingungen von einem Unterstützer aufgegriffen und weiterbetrieben wurde. Auf diese Weise soll ein klares Bild der Thematik gezeichnet werden, das dem Lesenden einen fokussierten Blick auf das Zusammenspiel aus staatlichen Maßnahmen, Hungerstreiks und ihrer Wirksamkeit in der Öffentlichkeit ermöglicht. Dieses klare Bild spiegelt sich im logischen Aufbau der Gliederung meiner Arbeit wider, die über die Analyse der Hungerstreiks und anschließend der Haftbedingungen zu jener der zeitgenössischen Quelle voranschreitet. Konkret bespreche ich in Kapitel 2.1 die kollektiven Hungerstreiks der ersten Generation der RAF, die gleichzeitig von den inhaftierten Mitgliedern abgehalten und in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Zuvor durchgeführte individuelle Hungerstreiks einzelner Gefangener schafften es kaum in die Berichterstattung.19 In Unterkapitel 2.1.1 gebe ich einen Überblick über die Entstehung des Hungerstreikgedankens und eine Schilderung der Entwicklung der Zusammenhänge zwischen Haftbedingungen und Hungerstreiks. Unterkapitel 2.1.2 beschäftigt sich im Anschluss mit der 13 Petra Terhoeven, Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen (München 2014). 14 Christoph Riederer, Die RAF und die Folterdebatte der 1970er Jahre (Wiesbaden 2014). 15 Leith Passmore, The Art of Hunger. Self-Starvation in the Red Army Faction. In: German History 27, Issue 1 (2009) 32-59. 16 Ralph Jessen, Das Folternarrativ als De-Legitimierungsstrategie. Die Kampagne der RAF zur „Isolationsfolter“ in den 1970er Jahren. In: Karsten Altenhain, Nicola Willenberg (Hg.), Die Geschichte der Folter seit ihrer Abschaffung (Göttingen 2011) 189-210. 17 ID-Verlag, Rote Armee Fraktion, 190-192. 18 Pieter Herman Bakker Schut, Stammheim. Der Prozess gegen die Rote Armee Fraktion (Kiel 1986). 19 Riederer, Folterdebatte, 160.

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Propaganda infolge der Zwangsernährung und Unterkapitel 2.1.3 analysiert den Verlauf des Todes von Holger Meins, seine Auswirkungen auf die Agitation der RAF und seine Wirksamkeit in der Öffentlichkeit. Darauf folgt in Kapitel 2.2 ein Einblick in die Haftbedingungen. Dazu stelle ich in Unterkapitel 2.2.1 die Bedingungen und die Entwicklung der Einzelhaft von 1971 bis 1977 direkt den Hungerstreikforderungen gegenüber, sodass ein möglichst umfassender Verlaufsüberblick dieser Entwicklung entsteht. In Unterkapitel 2.2.2 gehe ich anschließend auf das Phänomen der sensorischen Deprivation und deren Verwendung in der Propaganda der Hungerstreiks ein. Unterkapitel 2.2.3 beschäftigt sich daraufhin mit den Haftbedingungen von Astrid Proll und Ulrike Meinhof und dem vermeintlichen Konnex mit der sensorischen Deprivation. Auf diese Weise beleuchte ich die Frage, wie der Isolationsfoltervorwurf der RAF-Propaganda entstehen konnte und inwieweit er zutraf. Kapitel 2.3 widmet sich der Frage, welche Argumente von RAF-Unterstützenden verwendet wurden, um die Rolle der Haftbedingungen und Hungerstreiks der RAF zu bekräftigen. Dazu analysiere ich die oben angeführte zeitgenössische Quelle von Bakker Schut, deren Inhalte suggerieren, dass die Folter tatsächlich praktiziert worden wäre. Sein Werk gibt Einblick in die Argumentation und Perspektive linker Unterstützender und Sympathisierender.

2 Hungerstreiks und Haftbedingungen 2.1

Hungerstreiks 2.1.1

Die Hungerstreiks der ersten Generation der RAF

Zwischen 1971 und 1973 waren die RAF-Gefangenen Haftbedingungen unterworfen, die sie nach der Verhaftung der führenden Köpfe im Juni 1972 einsetzten, um sich sowohl vor Gericht als auch in der medialen Berichterstattung als Folteropfer darzustellen. Der konkrete Beginn dieses Wechsels von der politischen Kampfrhetorik hin zur Selbstviktimisierung lag laut Ralph Jessen im Zeitraum zwischen Dezember 1972 und Sommer 1973.20 Um ihre Propaganda in die Öffentlichkeit zu transportieren, benötigte die RAF Ereignisse, die von den Medien aufgegriffen und so der Bevölkerung näher gebracht wurden. Von Andreas 20 Jessen, Folternarrativ, 194.

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Baader wurden Hungerstreiks als diese Ereignisse auserkoren. 21 Martin Jander spricht hierbei von einem „Aufhänger, um Medienvertreter zu einer Berichterstattung über die Haftbedingungen zu veranlassen.“22 Darin übereinstimmend führte dies in den Worten von Andreas Elter zu einem „Multiplikationseffekt [, auf den] die RAF so vorher nicht zählen“ 23 konnte. Denn durch objektive Berichterstattung war gewährleistet, dass sowohl die Presseerklärungen der Anwälte als auch die Hungerstreikerklärungen der RAF-Gefangenen wortwörtlich abgedruckt wurden, wodurch deren Kampfbegriffe, wie Isolationsfolter oder Vernichtungshaft, direkt in die Öffentlichkeit gelangten.24 Dort sollten diese Begriffe eine ganz bestimmte Wirkung bei Zeitungslesenden oder Nachrichtensehenden erzielen, nämlich die Wahrnehmung augenscheinlicher Verletzungen der Menschenrechte durch die rechtsstaatliche Bundesrepublik Deutschland (BRD).25 Doch dies war nicht der einzige Effekt, den die RAF in der Öffentlichkeit erzielen wollte. Christoph Riederer spricht hier von der Absicht der RAF-Gefangenen, mittels der Hungerstreiks nicht primär die Haftbedingungen verbessern zu wollen, sondern mindestens im gleichen Maße die „Desavouierung des westdeutschen Rechtsstaates“ 26 anzustreben. Nebeneffekte, die sich in erhöhten Sympathiewerten in der Bevölkerung und dem Rekrutieren neuer Anhänger zeigten, waren durchaus beabsichtigt.27 Für Petra Terhoeven hingegen steht der Sympathieaspekt der Hungerstreiks im Vordergrund, indem sie diese in aller Deutlichkeit als „Mitleidskampagnen“ bezeichnet, „um Sympathisanten zu gewinnen“.28 Leith Passmore erweitert in diesem Zusammenhang die Sichtweise bis hin zur „construction of self-starvation in the hunger strikes of this first generation as performative moments within a broader understanding of terrorism as a complex of representation and counterrepresentation.“29 So gelang es den Mitwirkenden dieser Inszenierung, ihre Körper als das Abbild dessen zu präsentieren, das sie gleichzeitig und schon zuvor anprangerten, nämlich als durch einen faschistischen Staat misshandelten Körper. Neben dieser angestrebten Außenwirkung erfüllten die Hungerstreiks aber auch die interne Funktion der Disziplinierung in der Gruppe und der Stärkung der Gemeinschaftsidentität. In diesem Sinne verlieh die 21 Terhoeven, Deutscher Herbst, 257f. 22 Martin Jander, Isolation. Zu den Haftbedingungen der RAF-Gefangenen. In: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus 2 (Hamburg 2006) 973-993, hier 979. 23 Andreas Elter, Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien (Frankfurt am Main 2008) 156. 24 Elter, Propaganda, 156f. 25 Terhoeven, Deutscher Herbst, 258. 26 Riederer, Folterdebatte, 337. 27 Riederer, Folterdebatte, 159. 28 Terhoeven, Deutscher Herbst, 656. 29 Passmore, Art of Hunger, 33.

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inhaftierte Führungsriege der RAF den Hungerstreiks nach irischem Vorbild eine „heilige“ Bedeutung, die außen zwar nicht als solche wahrgenommen wurde, doch umso stärker nach innen in die Gruppe wirkte, um es Zweifelnden schwerer zu machen, der Gruppe den Rücken zu kehren. Dies stellt eine Umkehrung zu den IRA-Hungerstreiks dar, deren heilige Natur in der Öffentlichkeit Unterstützung und Sympathie erzeugen sollte, die innerhalb der Gruppe jedoch nur der säkularen Erreichung ihrer Ziele dienten.30 Riederer führt einen weiteren interessanten Aspekt zur Bedeutung der Hungerstreiks an. Zeigte sich in den Haftbedingungen die Macht des Staates über den Körper des Gefangenen, so zeigte sich im Hungerstreik der Versuch des Gefangenen, die Macht über seinen Körper zurückzugewinnen. Im selbstverständlichen Konzept der RAF dehnte sie diesen Versuch aus und versuchte, den Staat zu erpressen und somit Macht über ihn zu erlangen.31 Wie es im Zitat von Holger Meins erkennbar wird, betrachtete die RAF sich selbst – die Menschen und somit ihre Körper – als Waffen.32 Doch zu Beginn der 1970er Jahre gab es bezüglich der Wirkung der Hungerstreikpropaganda in der Öffentlichkeit einen scharfen Konkurrenten in der Berichterstattung. Viele Artikel zwischen den späten 1960ern und Mitte der 1970er Jahre beschäftigten sich mit Missständen und Skandalen in westdeutschen Haftanstalten.33 Damit waren jedoch nicht die Zustände im RAF-Umfeld gemeint, sondern diverse Misshandlungen im Normalhaftvollzug, teilweise gar mit Todesfolge. Der Blick nach Irland zeigte den führenden Köpfen der RAF jedoch, dass man durch den Einsatz des eigenen Körpers den Rechtsstaat erpressen und die mediale Aufmerksamkeit für sich gewinnen konnte. Ein weiterer wichtiger Grund, sich für den Einsatz des Druckmittels Hungerstreik zu entscheiden, war die Erkenntnis, dass ein geschundener Körper im Betrachter starkes Verlangen nach Gerechtigkeit evozierte. Der misshandelte menschliche Körper sollte einerseits durch die zu erwartende massive Gewichtsabnahme der Hungerstreikteilnehmenden geformt werden. Andererseits war seit der erstmaligen Anwendung der Zwangsernährung während des zweiten Hungerstreiks (8. Mai bis 29. Juni 1973) klar, dass sich die teils massive Gewaltanwendung dieser Prozedur sehr gut propagandistisch verwerten ließe. Diese Überlegungen führten ab dem dritten Hungerstreik (13. September 1974 bis 15. Februar 1975) zur Kombination aus Hungern und 30 31 32 33

Passmore, Art of Hunger, 33, 44. Riederer, Folterdebatte, 160. Riederer, Folterdebatte, 206. Beispiele für Schlagzeilen solcher Artikel siehe Riederer, Folterdebatte, 87, 209.

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Zwangsernährenlassen, die zum Ziel hatte, die weiter oben beschriebenen Effekte in Staat und Öffentlichkeit zu erzielen.34 Schon mit dem ersten kollektiven Hungerstreik (17. Jänner bis 16. Februar 1973), dem 40 Gefangene beitraten, wurde die Abschaffung der zu diesem Zeitpunkt noch sehr harten Haftbedingungen gefordert, da Ulrike Meinhof in dieser Phase ihrer Haftzeit noch in der psychiatrischen Frauenabteilung der Justizvollzugsanstalt (im Text JVA) Köln-Ossendorf (von der RAF auch Toter Trakt genannt) einsaß.35 Am 9. Februar wurde Meinhof verlegt.36 Riederer sieht hier sowohl „einen Erfolg der Aktionen der RAF und ihrer Anwälte […], als auch [einen] Beweis für den Einfluss der öffentlichen und veröffentlichten Meinung auf die Institutionen des Rechtsstaates“37. Dem zweiten Hungerstreik (8. Mai bis 29. Juni 1973) schlossen sich bereits 80 Häftlinge an. Neben den Forderungen nach Zusammenlegungen und freier politischer Information galt auch dieser Streik der Abschaffung der Isolationshaft. Während des 52-tägigen Hungerstreiks, der mit zunehmender Dauer für die Öffentlichkeit uninteressanter wurde, wandte man erstmals die Methode der Zwangsernährung an.38 Aus diesem Zeitraum ist auch der Versuch der Behörden bekannt, den Hungerstreik mittels Wasserentzug zu brechen. Hier zeigt sich deutlich der Unterschied in den Erklärungen der RAF bzw. ihrer Anwälte und der offiziellen Stellen. Die RAF-Anwälte behaupteten, die Behörden entzögen Baader das Trinkwasser, was zu schmerzhaften Vergiftungserscheinungen führe. Die Behörden verlauteten daraufhin, die Abstellung der Trinkwasserzufuhr stelle eine gesundheitliche Maßnahme im Sinne des Hungerstreikenden dar, für den Wasseraufnahme schädlich sein könne.39 Er bekäme stattdessen Milch.40 Mit diesem Umstand war ein neuer Vorwurf geboren, der sich in der Propaganda der dritten Hungerstreikerklärung mit der Formulierung „Mordversuche durch Wasserentzug bei Hungerstreiks in Schwalmstadt, München, Hamburg, Köln“41 wiederfand. Zwischen zweitem und drittem Hungerstreik radikalisierte sich die Durchführungsenergie um einen entscheidenden Schritt. Meinhof schlug vor, die Wirkung des nächsten Hungerstreiks in der Öffentlichkeit durch kranke oder gar tote Häftlinge zu erhöhen. Ensslin stimmte zu und 34 35 36 37 38 39 40 41

Riederer, Folterdebatte, 209f. Passmore, Art of Hunger, 35. Riederer, Folterdebatte, 130. Riederer, Folterdebatte, 132. Passmore, Art of Hunger, 35. Die medizinische Widerlegung dieser Maßnahme ist in Kapitel 2.3, 27 dieser Arbeit nachzulesen. Riederer, Folterdebatte, 171f. ID-Verlag, Rote Armee Fraktion, 191.

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schlug eine gestaffelte Todesfolge vor, die zu einem Todesopfer alle zwei bis vier Wochen führen solle. Die führenden Köpfe selbst waren jedoch nicht Teil dieses Sterbeprogramms, da sie im Falle eines neuen Hungerstreiks beabsichtigten, auf Lebensmittelvorräte zurückzugreifen, die sie in der Zwischenzeit angelegt hatten.42 Von 13. September 1974 bis 15. Februar 1975 fand der mit 145 Tagen längste und propagandistisch wirksamste Hungerstreik statt, dem erneut 80 Häftlinge folgten.43 Auch dieser war gemäß der dazugehörigen Erklärung „gegen Sonderbehandlung, gegen die Vernichtungshaft an Politischen Gefangenen in den Gefängnissen der Bundesrepublik und Westberlins; gegen die CounterinsurgencyProgramme der imperialistischen Vollzugsmaschinen […] zur Vernichtung gefangener Revolutionäre und von Gefangenen, die im Gefängnis angefangen haben, sich zu organisieren und zu kämpfen“44 gerichtet. Wirft man jedoch einen Blick auf die tatsächlichen Haftbedingungen, so verlieren die dramatisch formulierten Inhalte an Substanz. Zu diesem Zeitpunkt waren die harten Bestimmungen der Einzelhaft bereits deutlich gelockert worden, was auch in den Medien seinen Niederschlag fand. In der Zeitschrift Spiegel erschien am 9. Dezember 1974 ein Artikel, der anschaulich die erträglichen Haftzustände der RAF-Gefangenen schilderte.45 Trotz dieses Widerspruchs erzielte der dritte Hungerstreik eine starke Wirkung in der Öffentlichkeit. Grund dafür war der Tod von Holger Meins am 9. November 1974, nachdem er bereits in den Wochen davor nur unzureichend mit Nährstoffen versorgt worden war. 46 Bei der zweiten Obduktion von Meins entstand ein Foto des verhungerten toten Körpers, das gleichermaßen berührte und schockierte. Dieses Bild wirkte derart, dass es „nicht nur die erwünschten Assoziationen und Mitleidseffekte hervorrief, sondern eine direkte Mobilisierungsfunktion erfüllte.“47 Bei Demonstrationen wurde es neben dem Bild eines toten KZ-Häftlings durch die Straßen getragen, was die Propaganda, die RAF sei Opfer eines faschistischen Staats, weiter untermauerte. Während des vierten Hungerstreiks (29. März bis 1. Mai 1977) erwogen die Behörden, basierend auf ärztlichen Gutachten, eine weitere Zusammenlegung von RAF-Gefangenen in Stammheim. Dadurch entstand zwar der Eindruck, die Behörden hätten dem durch den 42 43 44 45 46 47

Passmore, Art of Hunger, 44f. Passmore, Art of Hunger, 36. ID-Verlag, Rote Armee Fraktion, 190. Terhoeven, Deutscher Herbst, 259. Terhoeven, Deutscher Herbst, 265-268. Terhoeven, Deutscher Herbst, 269f.

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Hungerstreik ausgeübten Erpressungsdruck nachgegeben, jedoch „war der Vorwurf, die RAFHäftlinge privilegiert zu behandeln, besser zu ertragen, als der Vorwurf, die Häftlinge seien einer ,Isolationsfolter‘ ausgesetzt.“48 Der fünfte Hungerstreik begann am 9. August und dauerte bis 2. September 1977. Gefordert wurde die Zusammenlegung aller RAF-Häftlinge in Stammheim oder wenigstens in Gruppen von mindestens 15 Gefangenen. Zu diesem Zeitpunkt war die Propaganda der RAF auch schon in der Öffentlichkeit durchschaut worden, denn die wahren, privilegierten Haftbedingungen waren bereits in den Medien präsentiert worden, sodass hier kein ausgeprägter Rückhalt mehr zu erwarten war. Im weiteren Verlauf der Berichterstattung änderte sich die Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Die RAF wurde wieder als Tätergruppe erkannt und verlor ihre langjährig inszenierte Opferrolle.49 2.1.2

Zwangsernährung

Während des zweiten Hungerstreiks im Mai/Juni 1973 wurde erstmals die Zwangsernährung der Häftlinge angewandt. Rechtliche Grundlage dafür waren Gesetze von 1923, die die Behörden befugten, aus der Verantwortung des Rechtsstaats gegenüber dem Häftling heraus, diesem zu seinem Wohle gewisse Freiheiten zu entziehen. Damit wurde angestrebt, den Häftling nach Verbüßung seiner Haftstrafe in einem körperlichen Zustand in die Freiheit zu entlassen, in dem er sich befunden hätte, wäre er nicht in Haft gewesen. Diese Handhabung stellte die Erhaltung des Lebens über die persönliche Selbstbestimmung des Gefangenen, sofern „a danger to life or a serious risk to the health of a prisoner“ 50 eintrat. Man einigte sich also auf der Basis der Werteordnung des Grundgesetzes darauf, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht der zwangsweisen Ernährung im Sinne der Gesundheit des Gefangenen auszuüben.51 Diese Grundlage wurde jedoch verschiedentlich in Frage gestellt. Ärzte wandten ein, zwangsweise durchgeführte Ernährung könnte in manchen Fällen gefährlicher sein, als nichts zu tun. Anwälte wiederum gingen so weit, das Recht des Menschen auf Suizid zu respektieren, auch wenn dies in grundsätzlichem Gegensatz zum Zweck des Hungerstreiks stünde und eine dritte Meinung besagte, der Häftling sei nur dann künstlich zu ernähren, wenn 48 Riederer, Folterdebatte, 302f. 49 Riederer, Folterdebatte, 261-267. 50 Leith Passmore, The Ethics and Politics of Force-Feeding Terror Suspects in West German Prisons. In: Social History of Medicine 25, Issue 2 (2012) 481-499, hier 485. 51 Passmore, Force-Feeding, 484f.

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dieser die Zustimmung dazu gebe. Letztendlich rückte die Gesetzgebung jedoch kaum vom „overarching principle of the fiduciary duty of care“ 52 ab, sodass auch nach einer Gesetzesänderung am 1. Jänner 1977 selbst die politische Opposition der Meinung war, Zwangsernährung könne angewandt werden, aber nur dann, wenn der Häftling sich in akuter Lebensgefahr befände.53 Somit hatte sich für die RAF das Spektrum der propagandistisch verwertbaren Anlässe um einen Aspekt erweitert. Nutzte der Staat die Möglichkeit der Zwangsernährung während eines Hungerstreiks, so nutzte im Gegenzug die RAF deren primitive Durchführung für ihre Darstellung als Folteropfer. Sofern man sich der Zwangsernährung widersetzte, entstanden „neue Gewaltereignisse, die sich mit größter moralischer Empörung propagandistisch inszenieren ließen“54, wie Ralph Jessen bestätigt. Eine Beschreibung dieser Tortur findet sich bei Leith Passmore: Die RAF-Gefangenen wurden festgehalten oder an einen Tisch geschnallt. Dann schob man einen Schlauch über ein eingesetztes Mundstück in ihren Bauch, durch den dickflüssiger Nahrungsbrei gefüttert wurde. Nach Abschluss der Prozedur übergaben sich die Gefangenen entweder als Folge der Zwangsernährung oder willentlicher Herbeiführung, was dazu führte, dass man sie noch eine Stunde in ihrer festgeschnallten Position beließ, um den Nahrungsbrei verdauen zu lassen.55 Während des zweiten Hungerstreiks gestaltete sich die Berichterstattung über die Zwangsernährung noch verhalten, wodurch die öffentlichkeitswirksame Opferdarstellung nicht gelang. „Heading into this second strike, the prisoners worked on the assumption that everyone being ‘on the hose’ would engender public support for the RAF, but failed to take into account the lack of reporting.“56 Jedoch erfüllte sie ab dem dritten Hungerstreik, in dessen Zuge Holger Meins infolge mangelhafter Zwangsernährung verstarb, umso mehr ihren Zweck, propagandistisch genutzt zu werden. 2.1.3

Der Hungertod von Holger Meins

Am 9. November 1974 verstarb Holger Meins in der JVA Wittlich an Unterernährung während des dritten Hungerstreiks. Schon kurz nach seinem Tod wurden Stimmen laut, die 52 Passmore, Force-Feeding, 486f. 53 Passmore, Force-Feeding, 487. Dies steht in Gegensatz zur „Englischen Lösung“, die die Autonomie des Patienten respektiert und keine Zwangsernährung vorsieht. Diese fußt allerdings auf einer anderen Rechtslage als in Deutschland, siehe Passmore, Force-Feeding, 487f. 54 Jessen, Folternarrativ, 193. 55 Passmore, Art of Hunger, 35. 56 Passmore, Art of Hunger, 55.

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verkündeten, sein Tod wäre vermeidbar und nur das Ergebnis unzureichender medizinischer Versorgung gewesen. Die Vorwürfe schaukelten sich hoch: RAF-Anwälte warfen der Justiz grobe Fahrlässigkeit im Umgang mit Meins vor, diese reagierte mit einem Strafantrag wegen verleumderischer Behauptung und die Verteidiger wiederum mit einer Strafanzeige wegen Verdacht eines vollendeten Mordes, die sich „nicht nur gegen das leitende Personal der JVA Wittlich richtete, sondern unter anderem den Leiter der Staatsschutzabteilung des BKA sowie den Generalbundesanwalt persönlich miteinschloss.“57 Aus medizinischer Sicht ist die Einschätzung des Stuttgarter Gefängnisarztes Helmut Henck aufschlussreich, dessen Ausführungen man bei Andreas Elter findet. Ihm gemäß sei die Zwangsernährung eines Menschen, der dies nicht wolle, zwar schwierig, aber grundsätzlich möglich. Den Tod von Meins hielt er jedenfalls für vermeidbar, wenn man die körperlichen Anzeichen der Zustandsverschlechterung erkannt und entsprechend behandelt hätte, im konkreten Fall mit permanenter Intensivpflege. Da diese jedoch nicht angeordnet wurde und der verantwortliche Gefängnisarzt von Wittlich ohne Vertretung ins Wochenende ging, ist auch für Elter klar, dass erst durch diese Versäumnisse im bereits akut lebensbedrohlichen Zustand Meins' dessen erkennbar bevorstehender Tod nicht verhindert wurde. Direkt im Anschluss an Meins' Tod übernahmen manche Boulevardzeitungen die Propagandaaufgabe für die RAF. Als Beispiel sei die Berichterstattung der Zeitung Bild angeführt: Ohne das Zutun der RAF „stimulierte Bild die Sympathisantenszene zusätzlich“58 und erzeugte „durch die Rede von der ,Vernichtungshaft‘“59 und eines Rache-Aufrufs im Titel der betreffenden Ausgabe bei den aggressiven Zielgruppen das erwünschte Vergeltungsbestreben und bei gemäßigteren Gruppen Mitleid. Ihr Artikel wirkte also durchaus im Sinne der Rekrutierung neuer Mitglieder für die RAF. Elter beschreibt den Effekt der in diesem Fall in hohem Maße von den Anwälten betriebenen Propaganda, als die Wirkung der Tatsache, dass der Vorwurf, die Behörden hätten den Tod von Meins absichtlich herbeigeführt, indem sie nicht rechtzeitig lebensrettende Maßnahmen ergriffen, den neutralen Beobachter kaum beeinflusste, dem „prädisponierten Leser [jedoch] eine deutliche Meinungsbestärkung“60 verschaffte. Dieser Effekt beschränkte sich nicht nur auf den aktionswilligen Menschen von nebenan, sondern entfaltete sich auch bei Schriftstellern und Intellektuellen des linken Lagers, sodass einzelne

57 58 59 60

Terhoeven, Deutscher Herbst, 266. Elter, Propaganda, 158. Elter, Propaganda, 158. Elter, Propaganda, 157.

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Vertreter wie Ernst Bloch, Erich Fried und Martin Walser Unterstützungserklärungen unterzeichneten.61 Somit erfüllte Holger Meins fortan die Rolle des Märtyrers in der Öffentlichkeitsarbeit der RAF. In direkter Konsequenz seines Todes folgten die Ermordung des Präsidenten des Westberliner Kammergerichts Günter von Drenkmann durch die Bewegung 2. Juni und die zahlreichen auf diese Ereignisse bezogenen Erklärungen, die von der RAF, den Roten Brigaden, Rudi Dutschke und den RAF-Anwälten teils in der Öffentlichkeit - und somit erneut propagandistisch wirksam - abgegeben wurden. Diese aufgeheizte Stimmung wurde von den inhaftierten RAF-Anführern und -Anführerinnen weiter angefacht. Horst Mahler richtete den Aufruf an die Anwälte, die Pressearbeit zu organisieren und Gudrun Ensslin rief zum weiteren Hungern auf, um der Kampagne zu maximaler Verbreitung in Buchhandlungen, Studentengemeinden und weiteren öffentlichen Plätzen zu verhelfen. Die Mobilisierung beschränkte sich jedoch nicht auf terroristisch und politisch Aktive, sondern manifestierte sich auch in Demonstrationen von Sympathisierenden und Unterstützenden. Diese stellten das Bild des toten Meins dem Bild eines ausgemergelten KZ-Häftlings gegenüber, um auch hier den Vorwurf zu nähren, die RAF in Person des verblichenen Holger Meins wäre das Opfer eines vermeintlichen NS-Nachfolgestaats, der faschistischen BRD.62 Dominique Martine Grisard hält fest, dieses Bild „shifted the public's understanding of the terrorist as perpetrator to the terrorist as victim.“ 63 Die suggestive, paarweise Anordnung der Bilder „analogised the state's ,murder‘ of Meins to the atrocities committed by the Nazis.“64 Zusammenfassend lässt sich zu den Auswirkungen von Meins' Tod sagen, dass es der RAF zu dieser Zeit am besten gelang, die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen, zum Protest zu mobilisieren und neue Mitglieder zu rekrutieren. Dies zeigt sich zum einen in den Aussagen einiger Terroristen und Terroristinnen, wie Inge Viett oder Hans-Joachim Klein, die angaben, das Bild von Holger Meins hätte in ihnen Gefühle wie Wut und Hass erzeugt, die ihnen Energie zur Durchführung weiterer politisch motivierter Straftaten lieferten.65 Zum anderen wurde das Bild von den RAF-Anwälten vorwiegend jenseits der deutschen Grenzen bei Pressekonferenzen verwendet, um Unterstützung im Kampf gegen die Haftbedingungen bzw. generell den Rechtsstaat zu erhalten. Petra Terhoeven beschreibt die Wirkung des Bildes als 61 Elter, Propaganda, 159. 62 Terhoeven, Deutscher Herbst, 266-271. 63 Dominique Martine Grisard, The spectacle of the hunger-stricken body: a German-Italian terrorist, Swiss prisons and the (ir)rational body politic. In: European Review of History – Revue européenne d'histoire 22, Issue 1 (2015) 138-160, hier 150. 64 Grisard, hunger-stricken body, 149. 65 Terhoeven, Deutscher Herbst, 270.

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„transnationale Ikone der militanten Linken in Europa“ 66. So wurden infolge der Veröffentlichung dieser Fotografie selbst in Frankreich neue Kämpfer und Kämpferinnen rekrutiert und italienische Sympathisierende verübten Anschläge auf deutsche Einrichtungen.67

2.2

Haftbedingungen

Nachdem der Führungskader der ersten Generation der RAF im Juni 1972 verhaftet und auf verschiedene Haftanstalten der BRD aufgeteilt wurde, änderte sich kontinuierlich die Kommunikationsstrategie gegenüber dem westdeutschen Staat. Stand bis zu diesem Zeitpunkt die politische Kampfrhetorik im Vordergrund, so wurde sie in den folgenden Jahren immer mehr durch eine Selbstdarstellung abgelöst, die die RAF als Folteropfer eines faschistischen Staats68, genauer „einer unerbittlichen staatlichen Vernichtungsmaschinerie“ 69 in der Öffentlichkeit präsentieren sollte. Maßgeblichen Einfluss auf diese Veränderung bewirkte die isolierte Unterbringung von Astrid Proll und Ulrike Meinhof im Trakt der psychiatrischen Frauenabteilung KölnOssendorf in den Jahren von 1971 bis 1973, die den Vorwurf der Folter in Form sensorischer Deprivation in Camera silens-Zellen nährte. Ebenso trug die Anordnung strenger Einzelhaft für die Mitglieder der RAF in anderen Vollzugsanstalten zu diesem Vorwurf bei.70 2.2.1

Entwicklung der Haftbedingungen von 1971 bis 1977

In diesem Kapitel beschreibe ich, wie die Einzelhaft der RAF-Gefangenen beschaffen war und welche Anordnungen für ihre Unterbringung getroffen wurden. Zur Herausarbeitung der Veränderungen in der Haftsituation zeige ich ihre Entwicklung zwischen verschiedenen Erhebungszeitpunkten. In diese Analyse der Haftsituation füge ich die zeitliche Abfolge der Hungerstreiks ein, sodass sowohl ein Überblick über die Haftbedingungen entsteht als auch deren Konnex mit den Hungerstreiks. Schwierig für eine umfassende Darstellung ist der

66 67 68 69 70

Terhoeven, Deutscher Herbst, 272. Terhoeven, Deutscher Herbst, 268-272. Jessen, Folternarrativ, 189f. Terhoeven, Deutscher Herbst, 257. Jessen, Folternarrativ, 193f.

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Umstand, dass sich die Haftbedingungen abhängig von Bundesland und Haftanstalt in einzelnen Maßnahmen und Bestimmungen unterschieden.71 Martin Jander beschreibt die Haftsituation am Beispiel von Margrit Schiller. Sie wurde am 22. Oktober 1971 verhaftet und in Hamburg in strenger Einzelhaft verwahrt. Das bedeutete, dass ihre Hände außerhalb des Haftraums am Rücken zu fesseln waren, nur zwei Beamtinnen gemeinsam mit einem Beamten ihre Zelle betreten durften, sie weder am Gottesdienst noch einer anderen Gemeinschaftsveranstaltung teilnehmen durfte, sie halbstündlich beobachtet wurde, ihr alle Einrichtungsgegenstände, ebenso wie Besteck und Kleider abgenommen wurden und ihr weitere Einschränkungen und Bestimmungen auferlegt wurden. 72 Diese strengen Bedingungen dienten der RAF im Jahr darauf als Legitimation für einen Anschlag. Nachdem am 15. Mai das Kommando Manfred Grashof einen Mordversuch an Richter Wolfgang Buddenberg ausführte, wurde diesem in der dazugehörigen Erklärung vom 20. Mai 1972 die Verantwortung für „Einzelhaft, Einzelhofgang, Redeverbot mit Mitgefangenen, permanente Verlegungen, Arreststrafen, Beobachtungszelle, Briefzensur, Unterschlagung von Briefen, Büchern, Zeitschriften, (…) grelle Zellenbeleuchtung nachts, häufiges Wecken und Durchsuchen, Fesselung beim Hofgang [und] körperliche Mißhandlungen“73 gegeben. Streng genommen fanden in diesem Zeitraum schon die ersten Hungerstreiks statt. Als Beispiel sei der Einzelstreik von Gudrun Ensslin erwähnt, die diesen nach ihrer Verhaftung am 7. Juni 1972 abhielt, um mit ihrem Verteidiger Otto Schily in Kontakt treten zu dürfen. 74 Da diese auch von anderen RAF-Häftlingen durchgeführten individuellen Hungerstreiks jedoch weder von den Medien noch der Öffentlichkeit beachtet wurden, änderte man ab Jänner 1973 die Strategie und organisierte konzertierte Aktionen in Gestalt kollektiver Hungerstreiks.75 Forschungen über die Hungerstreiks in den Jahren 1971 bis 1973 kommen bezüglich der tatsächlichen Haftbedingungen der RAF zu unterschiedlichen Ergebnissen. Petra Terhoeven argumentiert, dass die Haftbedingungen in Köln-Ossendorf zwar „besonders problematisch“ waren, aber nur „vorgeblich unmenschliche Behandlung“ bedeutet und „für den taktischen Einsatz der Hungerstreiks nie die entscheidende Bedeutung“ 76 besessen hätten. Leith 71 72 73 74 75 76

Terhoeven, Deutscher Herbst, 251. Jander, Isolation, 982. Terhoeven, Deutscher Herbst, 242f. Passmore, Art of Hunger, 35. Riederer, Folterdebatte, 160. Terhoeven, Deutscher Herbst, 258.

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Passmore dagegen betont die Schwere der anfänglichen Haftbedingungen, denn er bemerkt, die Gefangenen „suffered terribly under earlier prison conditions“ 77. Dies sei auch auf die besonderen Anordnungen zurückzuführen, die mit dieser Unterbringung erlassen wurden. Sie besagten, dass das Licht in der Zelle Tag und Nacht zu brennen habe und die Nebenzellen nicht belegt werden durften.78 Interessant sind in diesem Zusammenhang die Forschungen Christoph Riederers, der sehr anschaulich die Versuche durch die Behörden aufzeigt, den Gefangenen Erleichterungen zu gewähren. So wurde Astrid Proll am 19. Dezember 1972, als sie in der psychiatrischen Männerabteilung Köln-Ossendorf einsaß, angeboten, an Gemeinschaftsveranstaltungen teilzunehmen, was von ihr jedoch abgelehnt wurde. Vielmehr soll sie sich, statt das Angebot gemeinschaftlichen Fernsehens anzunehmen, ein eigenes Fernsehgerät für ihre Zelle gewünscht haben.79 Die offizielle Darstellung zeigte demnach das Bild besorgter Behörden, deren Bemühungen um angenehmere Haftbedingungen von den Häftlingen selbst verweigert wurden. Weitere Möglichkeiten, die Haft erträglicher zu gestalten, beinhalteten das Hören von Radiosendungen und das Lesen von Büchern, Tagesund Wochenzeitschriften, ebenso wie das Schreiben von Briefen.80 Trotz der angeführten Angebote für Hafterleichterungen erklärte die RAF am 17. Jänner 1973 den ersten Hungerstreik, der sich gegen die strengen Haftbedingungen richtete.81 Nachdem Meinhof am 9. Februar 1973 aus der psychiatrischen Frauen- in die Männerabteilung verlegt worden war82, endete der erste Hungerstreik am 16. Februar. Ab 5. März wurde eine weitere Erleichterung in Köln-Ossendorf infolge ärztlicher Bedenken zu den negativen Auswirkungen der strengen Einzelhaft gewährt, indem man Raspe, Meinhof und Müller täglichen Umgang mit anderen Gefangenen erlaubte. Diese durften weder ihrer Gruppe entstammen noch wegen der gleichen Delikte in Haft sein. Nur Meinhof machte von dieser Regelung Gebrauch, doch schon bald wurde diese Möglichkeit der Bildung und Aufrechterhaltung sozialer Kontakte von den RAF-Gefangenen wieder abgelehnt, weil sie sich durch diesen sogenannten Beigeherbeschluss bespitzelt fühlten.83 Im weiteren Verlauf gelangte die RAF zur Ansicht, die Haftbedingungen von Meinhof in der psychiatrischen Männerabteilung seien jenen ihrer vorherigen Haftsituation im toten Trakt ebenbürtig und rief darauf am 8. Mai den zweiten Hungerstreik aus, der sich erneut gegen die 77 78 79 80 81 82 83

Passmore, Art of Hunger, 38. Passmore, Art of Hunger, 38. Riederer, Folterdebatte, 119f. Riederer, Folterdebatte, 121. Passmore, Art of Hunger, 35. Riederer, Folterdebatte, 130. Riederer, Folterdebatte, 133f.

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unmenschlichen Haftbedingungen richtete. Eine erneute Verlegung von Meinhof wurde dieses Mal nicht erreicht. Nachdem die Medien das Interesse verloren, beendete die RAF am 29. Juni 1973 den Hungerstreik.84 Schon von 13. September 1973 bis 15. Februar 1974 folgte der dritte kollektive Hungerstreik, den ich in Unterkapitel 2.1.1 bereits genauer untersucht habe. In dessen Erklärung wurde bereits die tragische Entwicklung vorweggenommen: „Wir können nur unterdrückt werden, wenn wir aufhören zu denken und aufhören zu kämpfen. Menschen, die sich weigern, den Kampf zu beenden, können nicht unterdrückt werden – sie gewinnen entweder oder sie sterben, anstatt zu verlieren und zu sterben.“85 Ein völlig falsches Bild von den Haftbedingungen erhielt Jean-Paul Sartre, als er am 4. Dezember 1974 zu einem Treffen mit Andreas Baader in der Besucherzelle erschien. Er dachte in der Zelle Baaders zu sein und beschrieb sie als weiße Zelle, in der man nichts hörte, außer drei mal am Tag die Schritte der Wächter und dass es in den Zellen der anderen Gefangenen 24 Stunden am Tag hell wäre. Diese Angaben erhielt er jedoch von Baader selbst, sodass sie nur als Teil des Propagandavorwurfs zu werten sind, die BRD würde danach trachten, die RAF-Gefangenen mittels sensorischer Deprivation psychisch und physisch zu vernichten. Der Vergleich von Sartres Bericht mit dem Artikel in der Zeitschrift Spiegel im nächsten Absatz führt deutlich die Unterschiede in den Schilderungen vor Augen.86 Am 9. Dezember 1974 zeichnete der Spiegel bereits ein Bild der Einzelhaft in der JVA Stammheim, das mit der Schilderung Sartres und den Forderungen der Hungerstreikenden nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Hier ist die Rede von Umschluss 87, Regalen mit hunderten Büchern, gar einer eigenen Bücherzelle für Gudrun Ensslin, Leselampen, Schreibmaschinen, Landkarten an der Wand, Abschaltung des Zellenlichts um 22 Uhr im Winter und um 23 Uhr im Sommer und zahlreicher Besuche der Verteidiger und seltener ihrer Angehörigen.88 Nach Riederer wurden im Herbst 1975 infolge eines ärztlichen Gutachtens, das den RAFHäftlingen einen bedenklichen Gesundheitszustand attestierte, weitere Erleichterungen gewährt. Der Hofgang wurde von 60 auf 90 Minuten erhöht und durfte mit anderen Häftlingen durchgeführt werden. Es gab Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung bis hin 84 Riederer, Folterdebatte, 162. 85 Die ausführlichen Forderungen der dritten Hungerstreikerklärung siehe ID-Verlag, Rote Armee Fraktion, 190f. und im Anhang dieser Arbeit. 86 Terhoeven, Deutscher Herbst, 284f. 87 Unter Umschluss versteht man den zeitlich auf etwa drei bis vier Stunden befristeten Zusammenschluss zweier Häftlinge in einer Zelle. 88 Terhoeven, Deutscher Herbst, 259.

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zum Tischtennisspiel zu viert, Umschluss an vier Tagen pro Woche für jeweils zwei, später sogar für vier Stunden.89 Trotz der infolge des Gutachtens bereits durchgeführten Erleichterungen diente es Baader als Grundlage für die Erklärung des vierten kollektiven Hungerstreiks, der erneut auf eine Besserung der Haftsituation abzielte.90 Riederer ergänzt mit seinen Forschungen jene von Gerd Koenen, der 2006 noch davon ausgegangen war, dass die Kerngruppe der RAF 1975 als Konsequenz nach dem Tod von Holger Meins in Stammheim zusammengelegt wurde. Im streng gesicherten siebenten Stock dehnte sich der Umschluss bei geöffneten Zellentüren immer weiter aus, bis zuletzt sogar die Trennung der Geschlechter nicht mehr beachtet wurde. 91 Leith Passmore bestätigt die bis 1977 fortschreitenden Lockerungen, wenn er schreibt, dass „towards the ends of their lives the RAF prisoners lived in larger than normal cells, which more closely resembled academic offices than prison cells, were allowed to spend much of the day with each other, and had access to books and individual televisions, conditions not enjoyed by other prisoners“.92 Passmores Ausführungen werden durch Martin Janders Analyse der Haftsituation in Stammheim nach dem vierten Hungerstreik, der am 1. Mai 1977 beendet wurde, ergänzt. Zu diesem Zeitpunkt gaben die Behörden den Forderungen der Hungerstreikenden nach und legten zehn RAF-Gefangene in Stammheim zusammen. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war zusätzlich die Einschätzung des Psychiaters Wilfried Rasch, der den Angeklagten Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe die Diagnose stellte, sie litten unter „Koordinations- und Orientierungsstörungen, Vergesslichkeit, Konzentrationsmangel, Schwindelgefühl, Wahrnehmungseinengung, gesteigerte Müdigkeit und herabgesetzte Leistungsfähigkeit“93 als Folge der Einzelhaft, womit sich nach seiner Ansicht eine nur beschränkte Verhandlungsfähigkeit ergäbe. Zur Vorbeugung einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands empfahl Rasch die Zusammenlegung in Gruppen politischer Gefangener.94 Von Juni bis August bestand diese mit Haftprivilegien ausgestattete

89 Riederer, Folterdebatte, 296f. 90 Riederer, Folterdebatte, 295f. 91 Gerd Koenen, Camera Silens. Das Phantasma der „Vernichtungshaft“. In: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus 2 (Hamburg 2006) 994-1010, online unter (23.05.2016) 29. 92 Passmore, Art of Hunger, 38. 93 Jander, Isolation, 983. 94 Jander, Isolation, 984.

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Großgruppe, die nach einer Schlägerei und allzu intensiver Missachtung der Geschlechtertrennung wieder aufgelöst wurde.95 2.2.2

Sensorische Deprivation und Camera Silens

1973/74 widmeten sich Wissenschaftler am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf im Sonderforschungsbereich 115 dem Generalthema „Psychosomatische, psychodiagnostische und psychotherapeutische Aspekte der Aggressivität“.96 Um die Auswirkungen völligen Entzugs optischer und akustischer Reize auf den Menschen zu erforschen, bediente man sich einer Zelle, die diese Bedingungen ermöglichte, der Camera silens, die schon 1967 am Klinikum installiert wurde.97 Ziel war es letztendlich, festzustellen, wie sich längerfristige Deprivation auf die Aggressionen auswirkt, die der Proband oder Patient den Menschen gegenüber zeigt, mit denen er während dieser Behandlung in Kontakt steht.98 Der Zusammenhang mit dem Foltervorwurf ergab sich aus den Erkenntnissen der Testreihen mit psychiatrischen Patientengruppen. Gesunde Probanden fühlten in der Camera silens nichts Besonderes. „Psychotiker und Schizophrene dagegen fühlten sich geborgen und geschützt wie im Mutterleib, was einer auch von Burchard [Professor Johann M. Burchard, d.V.] vertretenen Deutung ihrer Krankheit entspricht. Die Depressiven dagegen steigerten sich in kindliche Verlassenheitsängste und wollten, entgegen ihren sonst typischen Rückzugsbedürfnissen, nach kurzer Zeit raus aus der Kammer.“99 Diese Reaktionen griff der niederländische Psychiater Sjef Teuns auf und behauptete, mittels der Camera silens könne man die eigentliche Natur der in ihr befindlichen Person hervorkehren bzw. zum eigentlichen Menschen vordringen. Von hier aus war es nicht mehr weit zu dem Schluss, die Camera silens wäre das Instrument der Wahl, um Menschen umzuprogrammieren und zum Sprechen zu bringen. Im weiteren behauptete er, Mitglieder der RAF würden einer „weißen Folter“ unterzogen, „so wie vor allem Ulrike Meinhof im ,toten Trakt‘ im Gefängnis Köln-Ossendorf.“100 Petra Terhoeven charakterisiert die propagandaunterstützende Konstruktion Teuns' klar als „abenteuerlichen, durch nichts belegten Zusammenhang zwischen den Hamburger 95 Jander, Isolation, 984f. 96 Koenen, Camera Silens, 20. 97 Koenen, Camera Silens, 15f. 98 Koenen, Camera Silens, 21. 99 Koenen, Camera Silens, 17. 100Koenen, Camera Silens, 23.

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Experimenten und der Einzelhaft der RAF-Gefangenen“ und eine „frei erfundene Behauptung“.101 Auch Gerd Koenen hält fest, dass es für diesen Zusammenhang „nicht die Spur eines dokumentarischen Beweises“102 gibt. Für die RAF war diese Folter- und Gehirnwäscheargumentation jedoch ein willkommenes neues Argument für ihre Propaganda. So verwundert es nicht, dass die Camera silens eine scheinbar wissenschaftliche Untermauerung eines Hungerstreiks bildete, wie aus den entsprechenden Passagen der dritten Hungerstreikerklärung vom 13. September 1974 ersichtlich wird: „ – Umerziehungs- und Aussageerpressungsfolter in Gehirnwäschetrakts – seit Anfang Mai sitzt Ronald Augustin im Toten Trakt des Gefängnisses in Hannover; – die neuen Camera-Silens-Zellen mit Dauerhitze, Dauerton und TV-Überwachung nach dem Modell des Hamburger DFG-Forschungsprojekts in Berlin-Tegel, Berlin-Lehrter Straße, Bruchsal, Essen, Köln, Straubing; […] – seit zweieinhalb Jahren Unterbringung in Spezialzellen in Köln-Ossendorf unmittelbar neben den zwei Hauptdurchgangstüren des Knasts – nie Ruhe; dasselbe in BerlinMoabit;“103 Dass sich die RAF in dieser Auflistung von Missständen selbst widersprach, ist augenscheinlich. Einerseits wird die Camera silens in der Wissenschaft als völlig licht- und schallisolierte Kammer beschrieben, andererseits wird in der Hungerstreikerklärung sowohl auf einen Dauerton, als auch auf die Unterbringung in Spezialzellen, in denen nie Ruhe herrschte, hingewiesen. Dennoch entwickelte der dritte Hungerstreik die im Sinne der RAFPropaganda höchstmögliche Dynamik, wie in Kapitel 2.1.3 gezeigt wurde.

2.2.3

Die Sonderfälle Astrid Proll und Ulrike Meinhof

In diesem Unterkapitel analysiere ich den historischen Kontext der Haftbedingungen von Proll und Meinhof zu den daraus abgeleiteten Foltervorwürfen. Es dient somit als grundlegende Information, um zu verstehen, auf welche Weise der Vorwurf der Folter in die Propaganda der RAF Eingang gefunden hat.

101Terhoeven, Deutscher Herbst, 262. 102Koenen, Camera Silens, 30. 103ID-Verlag, Rote Armee Fraktion, 191.

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Neben die in dieser Arbeit bereits zitierten Stellen der dritten Hungerstreikerklärung stelle ich hier eine weitere Passage im Originalwortlaut, die das Unrecht, das der RAF aus deren Sicht angetan wurde, verdeutlichen soll: „Isolation ist die Waffe des Vollzugs gegen alle Gefangenen, die entschlossen sind, sich im Gefängnis nicht vernichten zu lassen, das Menschenexperiment, die Gehirnwäsche, das Programm des imperialistischen Vollzugs zu bekämpfen. Sie werden isoliert, um Politisierung, Widerstand im Gefängnis überhaupt zu liquidieren; um alle anderen Gefangenen, die noch nicht durchblicken, obwohl sie leiden und eigentumslos sind wie wir und nichts mehr zu verlieren haben als ihre Ketten, umso totaler unterdrücken zu können.“104 Für die RAF-Gefangenen galten äußerst strenge Anordnungen, die auf die Furcht der Behörden vor Befreiungsversuchen und der Vermeidung einer Politisierung Mitgefangener abzielten.105 Gemäß der Ausführungen von Passmore war es die Verdunklungsgefahr („danger of suppression of evidence“106), die die Behörden zu harten Anordnungen gemahnte107, während für Riederer in diesem Punkt vor allem die hohe Gewaltbereitschaft der RAF, als auch die Gefahr einer Gefangenenbefreiung die Gründe für die verschärften Sicherheitsmaßnahmen darstellen.108 Die Unterbringung von Astrid Proll und Ulrike Meinhof in der psychiatrischen Frauenabteilung der JVA Köln-Ossendorf trug jedoch in hohem Maße dazu bei, den Foltervorwurf gegen die Bundesregierung zu formulieren. Bei dieser Abteilung handelte es sich um einen ebenerdigen Trakt mit zehn Zellen innerhalb der Haftanstalt, der speziell für die Bedürfnisse psychiatrisch zu untersuchender Häftlinge eingerichtet war. Die Zellen waren mit einer Grundfläche von 9,7 m2 etwas größer als im Normalvollzug und die Fenster waren vom Innenhof abgewandt, sodass keinerlei Kontaktaufnahme zu dort befindlichen Gefangenen möglich war. Aus hygienischen Gründen waren sowohl die Zellenwände als auch die Einrichtungsgegenstände bzw. das Mobiliar weiß gestrichen. Ein Fliegengitter vor dem Fenster sollte das Weiterreichen von Kassibern verhindern, ein Oberlicht konnte jedoch geöffnet werden.109 Als Erste wurde Proll am 22. November 1971 dort in Verwahrung genommen. Der Grund dafür bestand in diversen Vergehen gegen die Einzelhaftbestimmungen, die sie seit 7. Mai

104ID-Verlag, Rote Armee Fraktion, 192. 105Terhoeven, Deutscher Herbst, 252. 106Passmore, Art of Hunger, 39. 107Passmore, Art of Hunger, 39. 108Riederer, Folterdebatte, 98. 109Beschreibung der Hafträume der psychiatrischen Frauenabteilung siehe Riederer, Folterdebatte, 96f. und 99.

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begangen hatte.110 Dort blieb sie bis 14. Jänner 1972 und wurde anschließend wieder in strenger Einzelhaft im „Hafthaus für erwachsene weibliche Gefangene“ 111 gehalten. Als sie erneut gegen die Bestimmungen verstieß, verlegte man sie am 12. April wieder in die Zelle der psychiatrischen Frauenabteilung, bis am 16. Juni Ulrike Meinhof in Köln-Ossendorf inhaftiert wurde. Astrid Proll bekam eine andere Zelle in der psychiatrischen Männerabteilung der Haftanstalt und Meinhof wurde die Zelle zugewiesen, in der zuvor Proll untergebracht war.112 Aufgrund der strengen Bestimmungen, die besagten, dass Proll und Meinhof weder untereinander noch mit Mithäftlingen Kontakt aufnehmen durften 113, beschränkte sich der menschliche Kontakt, der von den Behörden gestattet wurde, auf Wärter und Wärterinnen, Verteidiger und Angehörige. Leith Passmore erhellt die Details. Seinem Artikel zufolge umfassten die strengen Bestimmungen weiters, dass ein- und ausgehende Post nur verteidigeroder angehörigenbezogen sein durfte. Diese unterlag verschiedenen Stufen der Zensurierung. Zeitungen und Zeitschriften durften nach Beantragung bei der Gefängnisverwaltung erst bezogen werden, nachdem diese die Bestellung abgesegnet hatte und von Ausgabe zu Ausgabe über den weiteren Bezug entschied.114 Petra Terhoeven kommt hingegen zur Einschätzung115, dass Proll und Meinhof „monatelang in einem abgelegenen Teil der Anstalt isoliert wurden und einer Totalüberwachung einschließlich nächtlicher Dauerbeleuchtung ihrer Zellen ausgesetzt waren“ 116, was letztendlich im Falle Proll zur Haftunfähigkeit durch gesundheitliche Probleme führte.117 Meinhof kreierte für diese Abteilung in Köln-Ossendorf aufgrund der Isolation der Gefangenen und der Nichtbelegung der umliegenden Zellen den Terminus Toter Trakt.118 Auch sie erreichte gemäß eines Gutachtens des Anstaltspsychologen Dr. Bernd Götte vom 1. 110Besitz eines Taschenmessers, Haschisch in der Zelle, Umgehung der Briefkontrolle u.a., siehe Riederer, Folterdebatte, 97. 111Riederer, Folterdebatte, 97. 112Riederer, Folterdebatte, 97f. 113Riederer, Folterdebatte, 97. 114Passmore, Art of Hunger, 39. 115Terhoeven bezieht sich dabei allerdings auf die Sekundärliteratur Gisela Diewald-Kerkmann, Frauen, Terrorismus und Justiz. Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni (Düsseldorf 2009), während Riederer die Stellungnahme des Leiters der JVA Köln vom 27. August 1973 zur Unterbringung der Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe für seine obigen Ausführungen auswertete. Diese Informationen beruhen also nur auf dieser einen Stellungnahme und wurden nicht mit anderen Quellen verglichen, womit sich eventuell eine einseitige Interpretation der Situation ergibt. 116Terhoeven, Deutscher Herbst, 251. 117Gisela Diewald-Kerkmann, Bewaffnete Frauen im Untergrund. Zum Anteil von Frauen in der RAF und der Bewegung 2. Juni. In: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus 1 (Hamburg 2006) 657-675, hier 659. 118Riederer, Folterdebatte, 104.

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Februar 1973 ihre Grenzen der Belastbarkeit, weswegen er „die strenge Einzelhaft für Meinhof nicht mehr länger für vertretbar hielt“.119 Riederer verweist bezüglich der harten Haftbedingungen auf die Erkenntnis des Leiters der JVA Köln-Ossendorf Georg Bücker vom 20. Dezember 1972, die besagt, dass Proll „im Männertrakt der Untersuchungsabteilung zumindest akustisch an dem Leben in dieser Abteilung teilnehmen kann, [jedoch] die Gefangene Meinhof in ihrem Haftraum auch akustisch isoliert [sei].“120 Interessant ist an dieser Stelle der Hinweis von Ralph Jessen in seinem Beitrag über das Folternarrativ als DeLegitimierungsstrategie, dem nicht entgangen ist, dass selbst ein kritischer Autor wie Leith Passmore anscheinend der Wirkung der Propaganda erlegen ist, wenn er in seinem englischen Originaltext den toten Trakt mit „death wing“121, statt des korrekten „dead wing“ übersetzt.122 Am 9. Februar 1973 wurde Meinhof, ebenso wie zuvor schon Proll, in die psychiatrische Männerabteilung verlegt.123 Für diese schleppende Verlegung war nicht nur die ärztliche Empfehlung ausschlaggebend, sondern, wie Leith Passmore beleuchtet, der befürchtete Kontrollverlust der Behörden über den Informationsfluss zwischen den RAF-Gefangenen und ihren Helfern.124 Meinhof wurde von 21. Dezember 1973 bis 3. Jänner 1974 erneut in der psychiatrischen Frauenabteilung isoliert, wohin am 5. Jänner auch Gudrun Ensslin verlegt wurde.125 Da in der Folge den beiden Frauen Umschluss gestattet wurde, stellt dieses Datum das Ende der Einzelbelegung des Trakts dar.

2.3

Analyse einer zeitgenössischen Quelle

In diesem Kapitel gebe ich einen Einblick in die Perspektive und Argumentation eines Autoren, der den Foltervorwurf propagandistisch untermauerte. Dazu stütze ich mich auf die bereits in der Einleitung angeführte Quelle des niederländischen Rechtsanwalts Pieter Herman Bakker Schut126. Sein Buch war dafür gedacht, die Propaganda der RAF zu stärken und eine vermeintlich unterdrückte Wirklichkeit zu offenbaren. Bakker Schut ist als politischer Aktivist zu betrachten, der nicht nur in seiner Rolle als Rechtsanwalt Ronald Augustin 119Riederer, Folterdebatte, 122. 120Riederer, Folterdebatte, 122. 121Passmore, Art of Hunger, 35 und 52. 122Jessen, Folternarrativ, 197. 123Riederer, Folterdebatte, 130. 124Passmore, Art of Hunger, 39. 125Diewald-Kerkmann, Bewaffnete Frauen, 659. 126Pieter Herman Bakker Schut, Stammheim. Der Prozess gegen die Rote Armee Fraktion (Kiel 1986).

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verteidigt hat, sondern auch in seiner Rolle als Gründungsmitglied des Internationalen Komitees zur Verteidigung politischer Gefangener (kurz IVK) Ende 1974 und als Gründer des „Medisch-Juridisch Comité voor Politieke Gevangenen (MJC, Medizinisch-Juristisches Komitee für Politische Gefangene)“127 Anfang 1975 seinen Beitrag zu den bereits in Unterkapitel 2.1.1 dargelegten Wunscheffekten der RAF-Propaganda, wie Mitleid und Mobilisierung, geleistet hat. Die Reichweite Bakker Schuts in der Meinungsbildung der politisch linken Bevölkerung ist nicht zu unterschätzen. Er war nicht nur in IVK und MJC aktiv, sondern stand auch der Rood Verzetsfront (RVF, Rote Widerstandsfront) nahe. Dabei handelte es sich um eine Vereinigung ähnlich den deutschen Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD. Sie wurde von jungen Aktivisten gegründet, die es der RAF gleichtun wollten und den bewaffneten Kampf befürworteten. Diese Aktivisten wurden von Bakker Schut herangezogen, um Informationsbulletins des MJC zu drucken oder zu verteilen.128 Er stand also einerseits mit Angehörigen des niederländischen Untergrunds in offensichtlich freundschaftlichem Kontakt und war andererseits durch seine Publikationen direkt an der Meinungsbildung in weiten Kreisen der Bevölkerung beteiligt. Das Buch bietet Einblick in Diskursgrundlagen der politisch Linken in den 1970er Jahren und wird von mir auf Basis der Forschung analysiert, wofür ich exemplarisch jene Inhalte anführe, in denen sich Bakker Schut auf Hungerstreiks bezieht. Bakker Schut gibt in der Einleitung seines Buches vor, einen neutralen Standpunkt einzunehmen. Analysiert man jedoch seine Formulierungen und vor allem die Kommentierungen, die er nicht geschrieben hat, so relativiert sich dieser Anspruch nicht nur, weil keine Quelle neutral ist, sondern es zeigt sich das genaue Gegenteil in der Form, dass der Autor gezielte Beeinflussungen der Lesenden in den Text eingeflochten hat. Bevor ich zur Thematik der Haftbedingungen und Hungerstreiks aus seinem Werk komme, zitiere ich zum Verständnis seiner manipulativen Schreibweise einige Beispiele aus dem Buch, die das Selbstverständnis Bakker Schuts herausstellen. So schreibt er in den einleitenden Worten, „daß politische Strafverfahren häufig inquisitorische Züge aufweisen. Die Moral des überzeugten politischen Gegners muß gebrochen werden, damit seine antagonistische Konzeption der Wirklichkeit im Prozeß selbst 127Pekelder, Dynamiken des Terrorismus, 410. 128Pekelder, Dynamiken des Terrorismus, 423.

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nicht mehr thematisiert zu werden braucht.“129 Damit beschreibt er seine Sichtweise der Justiz gegenüber der RAF als so gewaltvoll und übermächtig wie die Inquisition und erzeugt die entsprechenden negativen Bilder in den Köpfen der Leserschaft. Mit seiner zur Diskussion gestellten Frage, ob er mit der „für die Durchführung der Studie erforderlichen wissenschaftlichen Objektivität“130 an die Bearbeitung herangegangen sei, bedient er sich erneut einer manipulativen Ausdrucksweise, die darauf abzielt, den Lesenden von seiner Integrität zu überzeugen. Denn niemand würde diese Frage in den Raum stellen, wenn er nicht davon überzeugt wäre, sie zustimmend beantworten zu können. Sein einleitendes Kapitel beschließt er mit dem nicht näher erläuterten Satz: „Wenn in der Studie Interpretationen zum Zuge kommen, die in der bisherigen ,Geschichtsschreibung‘ den Kürzeren gezogen haben, entspricht dies meiner Absicht, einen Beitrag zur Rekonstruktion einer unterdrückten Wirklichkeit zu leisten.“131 Die weiteren Beispiele manipulativer Formulierungen beschränke ich auf einige, die dem Thema Haftbedingungen und Hungerstreiks zuzuordnen sind. So beschreibt er die anfangs ungenügende Zusammenarbeit der RAF-Verteidiger mit den Gefangenen, die sich erst besserte, als sie sich der „gesundheitlichen Zerstörung ihrer Mandanten“132 bewusst wurden. Damit bedient er sich des Vokabulars, das man ansonsten nur in Erklärungen der RAF selbst finden konnte und erzeugt durch diese drastische Ausdrucksweise beim Lesenden das Bild der durch die Haftbedingungen hervorgerufenen körperlichen Zerstörung der Inhaftierten. Diese Beschreibung des Gesundheitszustands der Gefangenen fällt in den Zeitraum zwischen der Verhaftung der führenden RAF-Mitglieder im Juni 1972 und dem Beginn des ersten Hungerstreiks am 17. Jänner 1973. In dieser Phase der Untersuchungshaft herrschten zwar tatsächlich noch sehr harte Haftbedingungen, wie meine Ausführungen in Kapitel 2.2.1 zeigen. Dennoch hätte er hier eine neutralere Formulierung finden müssen. Weiters vertrat er die Meinung, dass der Justizapparat „bis hinauf zu den höchsten Instanzen menschenunwürdige Haftmaßnahmen absegnete und […] auf das letzte Protestmittel der Gefangenen, den Hungerstreik, mit unmittelbar lebensbedrohenden Maßnahmen wie etwa den Wasserentzug reagierte.“133 Hier wird, neben der Betonung auf den menschenunwürdigen 129Bakker Schut, Stammheim, 26. 130Bakker Schut, Stammheim, 29. 131Bakker Schut, Stammheim, 32. 132Bakker Schut, Stammheim, 89. 133Bakker Schut, Stammheim, 91.

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Maßnahmen, erkennbar, wie leicht es die Justiz der RAF und ihren Anwälten machte, Propaganda gegen sie zu betreiben. Wasseraufnahme ist bei einem Hungerstreik von höchster Wichtigkeit, da der Tod durch Dehydration bei absoluter Nahrungskarenz binnen drei bis vier Tagen eintreten würde.134 Im Kapitel, das Bakker Schut der sensorischen Deprivation widmet, wird sein Bestreben, die Leserschaft zu beeinflussen, am deutlichsten. Hier schreibt er von einer Reihe von Vorfällen, die bereits bestehende Vermutungen der Gefangenen bestätigten, „daß zwischen ihrer Haftsituation und der Hamburger Untersuchung ein direkter Zusammenhang bestehe, vor allem, was den ,Toten Trakt‘ betrifft, aber auch, was die wissenschaftliche Fundierung und Programmierung ihrer Behandlung anging.“135 Weiters betont er die Erkenntnis, die er aus einem Artikel von Jan Gross gezogen hat, dass es sich dabei um „Methoden der Gehirnwäsche, der Umerziehung und Geständniserzielung“136 handelt. Eine Verbindung zwischen Hamburg und Köln-Ossendorf stellt er mit seiner Andeutung her, dass ein Bericht in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ über sensorische Deprivation von einem ranghohen Beamten des nordrhein-westfälischen Innenministers verfasst wurde und dieser sich darin direkt auf die Hamburger Forschungen bezog. Die Andeutung folgt im nächsten Satz, in dem er nur darauf hinweist, dass jener Innenminister auch für die JVA Köln-Ossendorf zuständig sei.137 Das Kapitel beschließt Bakker Schut mit manipulativen Sätzen, die er beim Lesenden wirken lässt: „Aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen läßt sich nicht leugnen, daß es aus der Sicht der Gefangenen nahe lag, einen direkten Zusammenhang zwischen ihrer Haftsituation und dem SFB-115-Projekt zu vermuten. Daß dies noch kein juristischer [sic!] Beweis für den Zusammenhang darstellt, scheint mir angesichts des objektiven wissenschaftlichen Stellenwerts, den das Forschungsprojekt hinsichtlich der Beurteilung der Haftbedingungen einnimmt, unerheblich zu sein.“138 Im Kapitel, das Bakker Schut über den Tod von Holger Meins verfasst hat, geht er zwar in allgemeiner Form auf Hungerstreiks und Zwangsernährung ein, lässt allerdings implizit, dennoch deutlich, durchklingen, dass er die Behandlung von Meins als auf „medizinisch unverantwortbare und infolgedessen äußerst schmerzhafte Weise vorgenommen“ 139 134Thomas Kunkel, Noemi Eich, Raimund Novak, Ingeborg Oster, Praktische Fragen in der medizinischen Betreuung von Hungerstreikenden. In: Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (Hg.), Themen: Medizin & Ethik, Dezember 2014, online unter (1. Juni 2016) 15. 135Bakker Schut, Stammheim, 111. 136Bakker Schut, Stammheim, 113. 137Bakker Schut, Stammheim, 114. 138Bakker Schut, Stammheim, 115. 139Bakker Schut, Stammheim, 120.

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betrachtete. Im weiteren spricht er von einer Behandlung, bei der „ein Gefangener an den Folgen einer nicht adäquaten oder medizinisch stümperhaft durchgeführten Zwangsernährung“140 stirbt. Das Ende seines Kapitels bildet ein Zitat von Holger Meins, in dem dieser seine Verteidiger wissen lässt, er würde nie Selbstmord begehen und ganz gleich, wie die Begründung für seinen Tod in Haft lauten würde, wäre es auf jeden Fall Mord gewesen.141 Dass Bakker Schut genau dieses Zitat am Ende seines Kapitels verwendet und es nicht weiter kommentiert, zeigt sehr deutlich, dass er Meins' Einschätzung teilt bzw. propagandistisch verwertet, sein Tod stellte einen Mord, begangen durch offizielle Behörden, dar.

3 Resümee In dieser Arbeit habe ich untersucht, auf welche Weise die Hungerstreiks, Haftbedingungen und Propaganda der RAF zusammenspielten. Im Kapitel zu den Hungerstreiks der ersten Generation der RAF zeigte ich, wie sich zwischen Dezember 1972 und Sommer 1973 die Kampfrhetorik der RAF zur Opferrhetorik wandelte und wie sie die Medien dazu nutzte, ihre Selbstdarstellung als Opfer eines faschistischen Staats in die Öffentlichkeit zu transportieren. Dabei wurde durch die Analyse der Forschungsliteratur deutlich, dass die Hungerstreiks nicht hauptsächlich dem Zweck dienten, die Haftbedingungen zu verbessern, sondern den Staat zu desavouieren und intern das Identitätsgefühl innerhalb der Gruppe zu stärken. Weiters beabsichtigte die RAF, mit den Hungerstreiks in der Bevölkerung Wut oder Mitleid hervorzurufen, um neue Mitglieder oder Sympathisierende zu gewinnen. In der anschließenden Betrachtung des zeitlichen Ablaufs der Hungerstreiks wurde ersichtlich, dass sich die Denkweise der RAF-Mitglieder zur Maximierung der Effizienz der Hungerstreiks durch eine bewusst geplante Todesfolge der Hungernden weiter radikalisierte. Diese extreme Intensivierung der Durchführungsenergie entstand, nachdem während des zweiten Hungerstreiks erstmals die Zwangsernährung durchgeführt worden war. Der dritte Hungerstreik entfaltete durch den Tod von Holger Meins seine Wirksamkeit in der Öffentlichkeit am stärksten und erzielte den beabsichtigten Effekt der Mobilisierung der Massen, um gegen den Staat zu demonstrieren oder sich gar der RAF anzuschließen. Im 140Bakker Schut, Stammheim, 120. 141Bakker Schut, Stammheim, 122.

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weiteren wird deutlich, dass die Wirksamkeit der folgenden Hungerstreiks in der Bevölkerung nachließ, weil durch Artikel in Zeitschriften die tatsächlichen Haftbedingungen bereits bekannt wurden. Im Kapitel zur Zwangsernährung beleuchtete ich die rechtlichen Grundlagen dieser Maßnahme und wie sie ab dem zweiten Hungerstreik durch ihre teils brutale und schmerzhafte Durchführung einen weiteren Aspekt in der Propaganda der RAF darstellte. Das Kapitel zum Hungertod von Holger Meins hat gezeigt, welch starken Effekt sein Tod, besonders wegen der augenscheinlichen Versäumnisse in der Zwangsernährung, in der Öffentlichkeit hatte. Einerseits verstärkte die mediale Berichterstattung die RAF-Propaganda zusätzlich, andererseits folgten seinem Tod die Ermordung des Präsidenten des Westberliner Kammergerichts und zahlreiche Erklärungen, die erneut propagandistisch wirkten. Das Foto des toten Holger Meins mobilisierte die Bevölkerung und sorgte für Mitgliederzulauf bei der RAF. Selbst über die Grenzen der BRD hinaus entfaltete das Bild seine Kraft, indem Anschläge auf deutsche Einrichtungen in Italien verübt wurden. Im Kapitel zur Entwicklung der Haftbedingungen von 1971 bis 1977 analysierte ich den genauen zeitlichen Verlauf der Änderungen in der Haftsituation und fügte in diesen Verlauf die Hungerstreiks ein, sodass klar ersichtlich wurde, dass die Haftbedingungen bis 1973/74 tatsächlich hart waren und die Forderungen in den Hungerstreikerklärungen auf reale Umstände Bezug nahmen. Ab diesem Zeitpunkt jedoch wurden die Haftbedingungen kontinuierlich verbessert, bis sie 1977 eine Form annahmen, die zahlreiche Privilegien gegenüber den Häftlingen im Normalvollzug aufwies, was sich aber in den verlautbarten Forderungen zu den Hungerstreiks nicht niederschlug. Im Kapitel zur sensorischen Deprivation und Camera silens konnte ich zeigen, dass der Zusammenhang zwischen den Forschungen des Sonderforschungsbereiches 115 des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf mit den Haftbedingungen der RAF nur auf der vagen Konstruktion einer Schlussfolgerung des Psychiaters Sjef Teuns basierte und durch nichts belegt werden konnte. Dennoch fand der Vorwurf, mittels Camera silens gefoltert zu werden, Eingang in die Propaganda der RAF und wurde in der dritten Hungerstreikerklärung sogar wörtlich angeführt. Das Kapitel zu den Sonderfällen Astrid Proll und Ulrike Meinhof zeigt, dass die strengen Haftbedingungen der beiden Frauen zwischen November 1971 und Jänner 1974 aufgrund der weitgehenden Isolation sehr wahrscheinlich nur schwer zu ertragen waren, aber dennoch nicht einer sensorischen Deprivation entsprachen, weil die Gefangenen Kontakt zu Angehörigen, 29

Anwälten und dem Gefängnispersonal hatten. Die harten Bestimmungen, die Proll und Meinhof auferlegt wurden, resultierten aus den Befürchtungen der Behörden, in Freiheit befindliche RAF-Mitglieder könnten versuchen, sie zu befreien und wurden für Meinhof, nachdem Proll aus gesundheitlichen Gründen schon zuvor entlassen werden musste, ab Jänner 1974 durch die Möglichkeit des Umschlusses mit Gudrun Ensslin gelockert. Im Kapitel der Analyse einer zeitgenössischen Quelle zeigte ich, wie der RAF-Anwalt Pieter Herman Bakker Schut die Vorwürfe der unmenschlichen Haftbedingungen und die Hungerstreiks in seinem Buch thematisierte. Anhand einiger von mir analysierter Beispiele, die sein Selbstverständnis und seine Versuche verdeutlichen, der Leserschaft eine seiner Ansicht nach unterdrückte Wahrheit zu vermitteln, wurde deutlich, dass sich Bakker Schut manipulativ für die RAF einsetzte und ihre Propaganda in seinem Buch weiter betrieb. Vor allem stärkte er durch seine Ausführungen den Vorwurf der sensorischen Deprivation und den Vorwurf der Ermordung Holger Meins' durch den Staat. Ich habe in dieser Arbeit gezeigt, wie es der RAF, trotz Gefangenschaft über den Zeitraum von etwa fünf Jahren, gelang, ihre Körper als Waffen gegen den Staat einzusetzen und ihn massiv unter Druck zu setzen. Aus den anfangs harten und strengen Haftbedingungen, und etwas später der teilweise brutal durchgeführten Zwangsernährung, erwuchs die Idee, selbige zur Propaganda gegen die BRD zu verwenden. Dazu bedienten sich die RAF-Anführer und -Anführerinnen des Mittels der Hungerstreiks, welche von den Medien aufgegriffen und somit in die Öffentlichkeit transportiert wurden. Auf diese Weise konnten, vor allem nach dem Tod von Holger Meins während des dritten Hungerstreiks, auch gemäßigtere Teile der Bevölkerung erreicht und mobilisiert werden. Demonstrationen und neue Mitglieder für die RAF waren die Folge. Die Kluft zwischen der Haftrealität und den Inhalten der Hungerstreikerklärungen wurde zwischen dem ersten und dem fünften Hungerstreik kontinuierlich breiter. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Haftbedingungen von 1971 bis Jänner 1974 vor allem für Astrid Proll und Ulrike Meinhof zwar sehr hart waren, aber danach schrittweise gelockert und letztendlich sehr angenehm gestaltet wurden. Die Forderungen der Hungerstreikerklärungen änderten sich jedoch kaum. Somit wies schon der dritte Hungerstreik – und damit auch die beiden auf ihn folgenden - keine substantielle Grundlage im Sinne der damit verlautbarten Erklärung mehr auf.

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4 Quellen- und Inhaltsverzeichnis 4.1

Quellen

Zweite Hungerstreikerklärung: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF (Berlin 1997) 187-190. Dritte Hungerstreikerklärung: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF (Berlin 1997) 190-192. Vierte Hungerstreikerklärung: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF (Berlin 1997) 265-267. Erklärung zum Abbruch des vierten Hungerstreiks: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF (Berlin 1997) 268f. Erklärung zum Abbruch des fünften Hungerstreiks: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF (Berlin 1997) 269f.

4.2

Literatur

Pieter Herman Bakker Schut, Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion (Kiel 1986). Christopher Daase, Die erste Generation der RAF (1970-1975). In: Bundeszentrale für politische Bildung, 20.8.2007, online unter (25. Juni 2016). Gisela Diewald-Kerkmann, Bewaffnete Frauen im Untergrund. Zum Anteil von Frauen in der RAF und der Bewegung 2. Juni. In: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus 1 (Hamburg 2006) 657-675. Andreas Elter, Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien (Frankfurt am Main 2008). Dominique Martine Grisard, The spectacle of the hunger-stricken body: a German-Italian terrorist, Swiss prisons and the (ir)rational body politic. In: European Review of History – Revue européenne d'histoire 22, Issue 1 (2015) 138-160.

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Jan-Hendrik Schulz, Zur Geschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) und ihrer Kontexte: Eine Chronik, In: Zeitgeschichte-online, Mai 2007, (12. Mai 2016). Petra Terhoeven, Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen (München 2014).

5 Anhang

Hungerstreikerklä rung vom 13. September 1974

13. 9. bis 15. 2. 1975 Wer seine Lage erkannt hat – wie soll der aufzuhalten sein? Das ist unser dritter Hungerstreik gegen Sonderbehandlung, gegen die Vernichtungshaft an Politischen Gefangenen in den Gefängnissen der Bundesrepublik und Westberlins; gegen die Counterinsurgency-Programme der imperialistischen Vollzugsmaschinen, der Bundesanwaltschaft, der Sicherungsgruppe Bonn – Abteilung Staatsschutz des Bundeskriminalamts zur Vernichtung gefangener Revolutionäre und von Gefangenen, die im Gefängnis angefangen haben, sich zu organisieren und zu kämpfen. Wir können nur unterdrückt werden, wenn wir aufhören zu denken und aufhören zu kämpfen. Menschen, die sich weigern, den Kampf zu beenden, können nicht unterdrückt werden – sie gewinnen entweder oder sie sterben, anstatt zu verlieren und zu sterben. Widerstand gegen Vernichtungshaft, Sonderbehandlung, Counterinsurgency-Programme heißt Widerstand gegen: – Entmenschung durch soziale Isolation – über Jahre; – Umerziehungs- und Aussageerpressungsfolter in Gehirnwäschetrakts – seit Anfang Mai sitzt Ronald Augustin im Toten Trakt des Gefängnisses in Hannover; – die neuen Camera-Silens-Zellen mit Dauerhitze, Dauerton und TV-Überwachung nach dem Modell des Hamburger DFG-Forschungsprojekts in Berlin-Tegel, Berlin-Lehrter Straße, Bruchsal, Essen, Köln, Straubing; – Verschleppung bei jedem Versuch, die totale Isolation durch Zurufe zu anderen Gefangenen zu durchbrechen in die Bunker in Berlin-Moabit, Bunker in Bruchsal, Bunker in Essen, Bunker in Straubing, Bunker in Preungesheim, Bunker in Fuhlsbüttel, Bunker in Mannheim, in die schalltote, TV-überwachte Glocke im UG-Hamburg – darin tagelang angeschnallt; – Mordversuche durch Wasserentzug bei Hungerstreiks in Schwalmstadt, München, Hamburg, Köln; – Konzentrationstrakts für Politische Gefangene in Lübeck, Stuttgart, Berlin; 33

– Fesselung beim Hofgang in Hamburg und Lübeck; – seit zweieinhalb Jahren Unterbringung in Spezialzellen in Köln-Ossendorf unmittelbar neben den zwei Hauptdurchgangstüren des Knasts – nie Ruhe; dasselbe in Berlin-Moabit; – Psychiatrisierungsversuche und die Anwendung und Drohung von und mit Zwangsnarkotisierung für Ermittlungszwecke; – Sprechzellen mit Trennscheiben für Verteidigerbesuche, in denen politische Kommunikation unmöglich ist; in Hannover, Stuttgart und Straubing; – periodische Beschlagnahme des gesamten Materials zur Vorbereitung der Verteidigung – Aufzeichnungen und Post – durch die Sicherungsgruppe Bonn – Abteilung Staatsschutz; – mit den Zellenrazzien der Sicherungsgruppe Bonn zeitlich abgestimmte Pressehetzkampagnen gegen die Verteidiger der Politischen Gefangenen; Kriminalisierung der Verteidiger der Politischen Gefangenen; – Aktenunterschlagung und Aktenmanipulation durch das Bundeskriminalamt; – punktuelle Lockerung der Isolation immer nur, um Gefangene, die im Griff der Polizei sind, als Spitzel und Zeugen für die Prozesse aufzubauen; so in Köln-Ossendorf, wo Jan Raspe seit April den angebotenen Hofgang ablehnt, weil der, an dem er teilnehmen könnte, der des Transporthauses ist, mit täglich wechselnden, auswechselbaren Gefangenen – einer Fluktuation, in der weder Kommunikation noch Orientierung möglich ist. Bei bisher allen als Ausnahmeregelung genehmigten Gefangenenkontakten stellte sich raus, daß es von den Bullen (Sicherungsgruppe) organisierte und kontrollierte Kontakte waren; – Terrorisierung der Verwandten mit Durchsuchung, Bespitzelung, Beschimpfung und Observation vor und nach den Besuchen, um sie unter Druck zu setzen, damit sie auf die Gefangenen im Sinn der Bullen einwirken. Der Hungerstreik ist in der Isolation unsere einzige Möglichkeit zu kollektivem Widerstand gegen die Counterstrategie des Imperialismus. Gefangene Revolutionäre und Gefangene, die im Gefängnis angefangen haben, sich organisiert zu wehren, psychisch und physisch, das heißt politisch zu vernichten, entwaffnet, gefangen, isoliert ist er unsere einzige Möglichkeit, unsere physischen und geistigen Kräfte, unsere Identität als Menschen einzusetzen, um den Stein, den der Staat der herrschenden Klasse gegen uns aufgehoben hat, ihm auf seine eigenen Füße fallen zu lassen. Kampf ist aus Schwäche Stärke machen. Isolation ist die Waffe des Vollzugs gegen alle Gefangenen, die entschlossen sind, sich im Gefängnis nicht vernichten zu lassen, das Menschenexperiment, die Gehirnwäsche, das Programm des imperialistischen Vollzugs zu bekämpfen. Sie werden isoliert, um Politisierung, Widerstand im Gefängnis überhaupt zu liquidieren; um alle anderen Gefangenen, die noch nicht durchblicken, obwohl sie leiden und eigentumslos sind wie wir und nichts mehr zu verlieren haben als ihre Ketten, umso totaler unterdrücken zu können. Wir fordern alle isolierten Gefangenen auf, mit uns die Isolation zu bekämpfen. Die Abschaffung der Isolation ist die Bedingung, die wir uns erkämpfen müssen, wenn Selbstorganisation der Gefangenen, wenn revolutionäre Politik, wenn Befreiungskampf im Gefängnis überhaupt eine realistische Möglichkeit von proletarischer Gegengewalt werden soll – im Rahmen der Klassenkämpfe hier, im Rahmen der Befreiungskämpfe der Völker der Dritten und Vierten Welt, im Rahmen von proletarischem Internationalismus und einer 34

antiimperialistischen Befreiungs- und Einheitsfront in den Gefängnissen und Kriegsgefangenenlagern der vom Imperialismus beherrschten Teile der Welt. Alle Macht dem Volk durch Eroberung der Gewalt! Freiheit durch bewaffneten antiimperialistischen Kampf!142

142ID-Verlag, Rote Armee Fraktion, 190-192.

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