Tanulmányok az első világháború 100. évfordulójára
Főszerkesztő Majoros István Szerkesztők Antal Gábor Hevő Péter M. Madarász Anita
BUDAPEST 2015
Sorsok, frontok, eszmék. Tanulmányok az első világháború 100. évfordulójára, Főszerkesztő: Majoros István Szerkesztők: Antal Gábor, Hevő Péter, M. Madarász Anita, ELTE, BTK, Budapest, 2015.
Péter Hevő
Gustav Stresemann und seine Ostpolitik Abstract Gustav Stresemann’s achievements regarding the reconciliation between Germany and the Entente are well-known (for example the Locarno Treaties, Germany’s admission to the League of Nations, the evacuation of the allied troops from the Rhineland). But as long as Germany officially recognized the new - post-World-War I - western borders, the eastern borders were not guaranteed by a general agreement. The paper analyses the so-called „Ostpolitik” of the German Foreign Minister until his unexpected death in 1929. The study comes to the conclusion that at the end of the 1920’s the chance of a peaceful change in the East was significantly reduced, which is one reason why the Wilhelmstrasse refused to proceed with this prudent policy. Keywords: Locarno Treaties, Weimar Republic, Gustav Stresemann, Ostpolitik, German foreign policy, Versailles system.
G
ustav Stresemanns Außenpolitik als Kanzler und wenig später als Außenminister, gehört zu den meisterforschten Themen der Geschichte der Weimarer Republik.1 Zu gleicher Zeit liefert die Forschung seines Lebenswerks viel Stoff für Diskussionen. Das Interesse an Stresemanns Außenpolitik ist unter anderem deswegen so rege, weil man seit Jahrzehnten die Antwort auf die Frage sucht, ob die innen- und außenpolitische Katastrophe des Nationalsozialismus unvermeidlich war. Die Meinungen sind sehr verschieden, manche nennen Stresemann zusammen mit Aristide Briand - den „ersten Europäer”, den Vorläufer europäischer Verständigung 2, manche aber nur einen äußerst cleveren Realpolitikern, der auch ein Vertreter des deutschen Imperialismus war. Diese Frage im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg könnte so lauten: war er ein Wegbereiter oder ein potentieller Verhinderer Hitlers3, oder keiner der beiden? Wegen der unterschiedlich interpretierenden Quellen, die er zurückließ, und wegen seines frühen Todes, bleiben die Theorien vielfältig. 1 SCHOT LEIDEN, Bastian: Stresemann, der deutsche Osten und der Völkerbund, SteinerVerlag-Wiesbaden-GmBH, Stuttgart, 1984. 5. 2 WEIDENFELD, Werner: Gustav Stresemann – der Mythos vom engagierten Europäer. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 23 (1973), 740-750. 3 KÖRBER, Andreas: Gustav Stresemann als Europäer, Patriot, Wegbereiter und potentieller Verhinderer Hitlers, Dr. Reinhold Krämer Verlag, Hamburg, 1999.; ZIMMERMANN, Ludwig: Deutsche Außenpolitik in der Ära der Weimarer Republik, Musterschmidt Verlag, Göttingen, 1958.
353
Péter Hevő: Gustav Stresemann und seine Ostpolitik
Die meisten Forschungen konzentrieren sich auf die westliche Integration Deutschlands in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, seltener auf Stresemanns Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern. Das erste ausführliche Buch, das sich mit dem sogenannten „Ostlocarno-Problem” beschäftigt4, ist von Christian Höltje im Jahr 1958 erschienen. Bastian Schot Leiden in seinem, 1984 erschienenen Buch5 nähert sich der Frage aufgrund der deutschen Minderheiten in den östlichen Staaten und im Völkerbund. Die detaillierteste Zusammenfassung der Forschungen im letzten Jahrzehnt ist die Doktorantenarbeit von Georg Arnold.6 Auf den nächsten Seiten möchte ich die wichtigsten Motive und Ereignisse der Beziehungen zwischen Deutschland und Osteuropa vorführen, wobei ich die parallelen westlichen Geschehnisse nur als Hintergrund der Ostpolitik erwähne. Stresemanns außenpolitische Grundgedanken bis zur Kapitulation des Kaiserreiches Die Wissenschaftler, die überzeugt sind, dass Gustav Stresemann ein gerissener Vertreter und Nachfolger des wilhelminischen deutschen Imperialismus in den 1920er Jahren war, basieren ihre Theorien unter anderen auf die persönlichen Schriften Stresemanns vor 1918. 7 Es hat natürlich seine Gründe. Stresemann war vor und während des Ersten Weltkrieges ein unmissverständlich die deutsche wirtschaftliche und politische Expansion unterstützender Politiker. Seine Grundidee war es mit militärischer Macht aber ohne einen Krieg - den deutschen Export nicht nur in Europa, sondern in die ganze Welt zu erweitern.8 In diesem wirtschaftlichen Krieg war seiner Meinung nach der größte Kontrahent - und nicht Feind - England. Am 14. 4 HÖLTJE, Christian: Die Weimarer Republik und das Ostlocarno-Problem 1919-1934, HolznerVerlag, Würzburg, 1958. 5 SCHOT LEIDEN, Bastian: Stresemann, der deutsche Osten und der Völkerbund, SteinerVerlag-Wiesbaden-GmBH, Stuttgart 1984. 6 ARNOLD, Georg: Gustav Stresemann und die Problematik der deutschen Ostgrenzen, Lang, Frankfurt am Main, 2000. 7 Die andere charakteristische Quelle als Beweis für dieser Gedankengang ist der sogenannte „Kronprinzenbrief“ vom 7. September 1925. In den Jahren 1932 und 1933 veröffentlichte Vermächtnis - BERNHARD, Henry: Gustav Stresemann. Vermächtnis: Der Nachlass in drei Bänden, Ullstein, Berlin, 1932-33. - hat für heftige Aufregung gesorgt, und den Mythos des „Verständigungspolitikers” geschadet. Im Brief sind Sätze zu lesen, die man auch so interpretieren kann, dass Stresemann in Wirklichkeit ein zynisches Doppelspiel getrieben hat. KOLB, Eberhard: Gustav Stresemann, CH Beck, München, 2003. 107. 8 BAECHLER, Christian: Gustav Stresemann (1878-1929). IN: Politiker und Bürger. Gustav Stresemann und seine Zeit. POHL, Karl HEINRICH (Hrsg.), Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 2002. 75.
354
Sorsok, frontok, eszmék. Tanulmányok az első világháború 100. évfordulójára, Főszerkesztő: Majoros István Szerkesztők: Antal Gábor, Hevő Péter, M. Madarász Anita, ELTE, BTK, Budapest, 2015.
Oktober 1911 schrieb er: „Wir müssen mehr Kolonien haben. Wer hindert uns daran? England. Daher Flotte.“9 Vom Ausbruch des Krieges im Jahr 1914 war er überrascht, 10 aber von dort an stand er mit völliger Überzeugung hinter dem Heer. Er rechnete mit einem schnellen Sieg der deutschen Armee, und im Dezember 1914 verfasste er die wichtigsten Kriegsziele seiner Meinung nach. 11 Im Westen verlangte er Zeebrügge, Ostende, Nieuport, Dünkirchen, Calais, Boulogne, und Belgien sollte geteilt werden. Im Osten, von Russland sollte das nordwestliche Polen mit Warschau und die russischen Ostseeprovinzen bis zur Narwabucht Deutschland gehören. Nach seinem eigenen MitteleuropaPlan sollte eine Zollunion in der Region gebildet werden, natürlich unter deutscher Herrschaft. Er hielt an seinen Konzeptionen und der Fortsetzung des Krieges bis zum Sommer 1918 fest. Er unterstützte unter anderem auch den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Man kann sagen, dass er einer der größten Verbündeter12 der Oberste Heeresleitung (die OHL) im Reichstag war, deswegen nannten ihn die Sozialdemokraten spöttelnd „den jungen Mann von Ludendorff“.13 Sein Glaube an den deutschen Sieg zerbrach endgültig nur im September 1918, als die OHL die Verhandlungen mit den Alliierten forderte.14 Die vierzehn Punkte des amerikanischen Präsidenten, Woodrow Wilson, enthielten zwei sehr wichtige Punkte, die die östlichen Grenzen Deutschlands beeinflusst haben: einerseits die Selbstständigkeit Polens, andererseits das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Mitteleuropa.15 Die zwei neugegründeten Länder - Polen und die Tschechoslowakei - besaßen eine zahlreiche deutsche Minderheit, und beide Länder waren für Frankreich zuverlässige Verbündete im Kampf gegen die deutsche Expansion in Mitteleuropa. Wie die meisten Deutschen, war auch Stresemann durch die Forderungen der Alliierten in dem Versailler Vertrag geschockt, darüber schrieb er: „Es ist möglich, dass wir zugrunde gehen, wenn wir den Vertrag nicht unterzeichnen. Aber wir haben alle die Empfindung: es ist sicher, dass wir 9 Notiz Stresemanns für einen Vortrag in Konstanz, 14. Oktober 1911. Zitiert nach MAXELON, Michael-Olaf: Stresemann und Frankreich 1914-1929. Deutsche Politik der Ost-West-Balance. Droste, Düsseldorf, 1972. 28. 10 ARNOLD, 22. 11 Notizen für einen Vortrag Stresemanns in Chemnitz am 28. August 1914. Zitiert nach MAXELON, 38. 12 Stresemann erhielt das Eiserne Kreuz II. Klasse im März 1917, obwohl er wegen gesundheitlicher Probleme gar nicht zum Militär eingezogen wurde. ARNOLD, 24. 13 RUGE, Wolfgang: Stresemann, ein Lebensbild. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1965. 26. 14 ARNOLD, 26. 15 ARNOLD, 34.
355
Péter Hevő: Gustav Stresemann und seine Ostpolitik
zugrunde gehen, wenn wir ihn unterzeichnen.“16 Gleichzeitig wusste er auch, dass es keine andere Alternative gab, als den Vertrag zu akzeptieren. Die Verantwortung es abzulehnen, und die Konsequenzen einer militärischen Intervention der Alliierten in Deutschland zu übernehmen wollte er natürlich nicht.17 Deutschland verlor schließlich rund 70 000 km2 seines Staatsgebietes; im Osten musste das Memelgebiet an Litauen, Teile Posens, Westpreußens und Oberschlesiens an Polen, das Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei abtreten, und Danzig kam als freie Stadt unter der Hoheit des Völkerbundes zustande. Orientierung nach dem Versailler Vertrag Stresemann brauchte auch einige Jahre um den deutschen Handlungsspielraum im System von Versailles durchzuschauen, letztlich wurde er einer der besten dessen Taktiker. Die größte Erkenntnis Stresemanns nach 1919 war die Notwendigkeit der deutsch-französischen Annäherung, besser gesagt, dass Deutschland und Frankreich wirtschaftlich auf einander gestellt sind.18 Auf dieser Erkenntnis baute er seine außenpolitische Konzeption auf: „Frankreich aber weiß das eine, daß unser wirtschaftlicher Untergang auch der wirtschaftliche Untergang Frankreichs sein würde. Es hat das größte Interesse daran, uns wirtschaftlich nicht zu solchen zerrütteten Verhältnissen kommen zu lassen.”19 Die engeren Beziehungen zwischen den beiden Staaten sollten auch bei dem territorialen Revisionismus im Osten helfen. Stresemann wollte natürlich nicht auf die verlorenen deutschen Ostgebiete verzichten, und die Revision sollte ohne einen weiteren Krieg, ohne Waffen, und mit der Unterstützung Frankreichs in den nächsten Jahren erreicht werden. Am Anfang der 1920er Jahre, als Stresemann noch nicht wusste, wie empfindlich die Franzosen auf eine eventuelle Revision des Versailler Vertrages reagieren würden, war er noch nicht vorsichtig genug. So sagte er dem französischen bürgerlichen Politikern, de Cassagnac am 19. Februar 1922, folgendes: „Wir sind Realpolitiker und verstehen, dass Frankreich als Siegerland Elsass-Lothringen genommen hat. Falsch aber war es, uns unsere Kornkammern Westpreußen und Posen zu nehmen. Falsch war es, Deutschland die gemeinsame Grenze zu Russland zu nehmen. Deutschland und Russland, zusammen fast 200 Millionen Menschen, werden es sich auf Dauer nicht gefallen
16 Stresemann in den Verhandlungen der Nationalversammlung, 12. Mai 1919. Zitiert nach MAXELON, 82. 17 ARNOLD, 45-46. 18 ARNOLD, 59. 19 Gustav Stresemann in einer Rede vor der Nationalversammlung am 8. Oktober 1919. Zitiert nach MAXELON, 86.; ARNOLD, 59.
356
Sorsok, frontok, eszmék. Tanulmányok az első világháború 100. évfordulójára, Főszerkesztő: Majoros István Szerkesztők: Antal Gábor, Hevő Péter, M. Madarász Anita, ELTE, BTK, Budapest, 2015.
lassen, dass der polnische Korridor zwischen ihnen liegt.”20 Genauso - in der Diplomatie ungewöhnlich - offen sprach er mit dem italienischen Botschafter, als er schon Kanzler war, im August 1923 über den Wunsch einer gemeinsamen Grenze zwischen Deutschland und Italien, und, dass die beiden Staaten ein Wiedererstehen des „alten Österreichs” verhindern sollten.21 Nach seiner kurzen Kanzlerschaft 1923 wurde Stresemann zum Außenminister ernannt. Jetzt konnte er seine außenpolitischen Vorstellungen im Rahmen des Systems von Versailles verwirklichen, natürlich in einem sehr engen Freiraum. Er musste dabei seine Ostpolitik sehr vorsichtig und geschickt kommunizieren. Auf der einen Seite war er bereit, die westdeutschen territorialen Verluste zu akzeptieren, und mit Hilfe der Einigung im Westen die Hoffnungen auf eine Revision im Osten am Leben zu halten.22 Diese revisionistischen Wünsche konnte er aber nur sehr langsam und diskret den Westmächte präsentieren. Auf der anderen Seite stand er innenpolitisch unter Druck, er musste nämlich seine eigene Partei, den Reichstag und hauptsächlich die Wähler davon überzeugen, dass er - trotz der Versöhnung mit Frankreich und England - mit dem Versailler Vertrag nicht einverstanden ist. Natürlich musste er wegen dieser Verständigungspolitik vieles erleiden, so verbreiteten zum Beispiel die Deutschnationalen das Gerücht, dass Frau Stresemann die Schwester der Frau des französischen Ministerpräsidenten, Raymond Poincaré ist.23 Schließlich darf man einen für Stresemann persönlich gefährlichen Aspekt auch nicht vergessen: nur einige Jahre früher wurden zwei polarisierende Persönlichkeiten der Weimarer Republik, Matthias Erzberger und Walther Rathenau ermordet.24 Die Revision der Ostgrenzen bezeichnete er später als „die wichtigste Aufgabe unserer Politik, ja die wichtigste Aufgabe der europäischen Politik überhaupt”25. Egal wie bedeutsam es für ihn war, das Ziel musste ohne Waffen erreicht werden. Das bedeutet nicht, dass er ein engagierter Pazifist war, sondern er konnte einfach die internationale Lage Deutschlands 20 Unterredung Stresemanns mit dem französischen bürgerlichen Politiker und Parlamentarier de Cassagnac am 19. Februar 1922. Zitiert nach MAXELON, 110. 21 Aufzeichnung Stresemanns, 17. August 1923. IN: ERDMANN, Karl Dietrich/VOGT, Martin (Hrsg.): Die Kabinette Stresemann I und II, Dokument 8. Zitiert nach WRIGHT, Jonathan: Gustav Stresemann, 1878-1929. Weimars größter Staatsmann, übersetzt von SCHMIDT, Klaus-Dieter, Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2006. 270. 22 WRIGHT, 269. 23 KOLB, Gustav Stresemann, 100. 24 GRAML, Hermann: Zwischen Stresemann und Hitler. Die Außenpolitik der Präsidialkabinette Brünning, Papen und Schleicher. R. Oldenbourg Verlag, München, 2001. 24. 25 Stresemann, 19. April 1925. Zitiert nach GRATWOHL, Robert: Betrachtungen über Stresemanns Außenpolitik. In: MICHALKA, Wolfgang / LEE, Marshall M. (Hrsg.): Gustav Stresemann. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1982. 240.
357
Péter Hevő: Gustav Stresemann und seine Ostpolitik
realpolitisch erkennen. Das Reich verfügte nur über geringe militärische Möglichkeiten, wobei das französisch-polnische Bündnis in den 1920er Jahren die größte Militärmacht Europas zusammenstellte.26 Im Reichswehrministerium wurde sogar während der Ruhrbesetzung nicht ausgeschlossen, „daß im Zusammenhang mit der Ruhraktion eine ähnliche Aktion im Osten erfolgt, um Deutschland auch die Verfügung über die letzten großen Kohlengebiete zu nehmen und damit dem französischen Willen gefügiger zu machen.“27 Der deutsche Völkerbundbeitritt sollte der erste Schritt in der Richtung einem international anerkannten Deutschland sein, aber es sollte auch einen anderen Zweck dienen. Im Rahmen des Völkerbundes würde nämlich der Fall der deutschen Minderheiten in Osteuropa größere Öffentlichkeit bekommen, und eine fortdauernde Beschäftigung mit der Minderheitenthematik sollte für die Aufrechterhaltung der Revisionsforderungen im Osten wichtig sein.28 Aber mit welchen Grenzen war Deutschland eigentlich nicht einverstanden? Als erste könnten wir den deutschen Anspruch auf der Vereinigung mit Österreich, den Anschluss erwähnen. Was 1871 nicht verwirklicht wurde, könnte nach dem Ersten Weltkrieg endlich passieren, dachten viele auf beiden Seiten. Im Februar 1924 wurden Handelsgespräche mit Österreich aufgenommen, nachdem vorher der österreichische Kanzler Ignaz Seipel ein Grußtelegramm von Stresemann bekommen hatte. Darin stand der eindeutige deutsche Anspruch an den Anschluss Österreichs: er betonte die Absicht, „das Recht der beiden stammverwandten Völker seiner Vereinheitlichung näher zu bringen.“29 Doch Stresemann war es völlig bewusst, welche außen- und innenpolitischen Probleme ein Anschluss mit sich bringen würde, deshalb konnte er diesen Wunsch öfters - ohne Risiken - wiederholen. In Wirklichkeit sah er in der Vereinigung ein Opfer, das vielleicht einmal gebracht werden muss. Aber bis dahin würde die beste Alternative eine Angleichung der Außenpolitik, der Wirtschaft oder der Rechtsprechung bedeuten.30 Wichtig war es die kulturelle Zusammengehörigkeit der beiden Länder immer wieder zu betonen, damit die österreichische Beteiligung in einer eventuellen Donaukonföderation zu
26 Am 19. Februar 1921 wurde eine vornehmlich gegen Deutschland gerichteter polnischfranzösischer Bündnisvertrag unterschrieben, der durch eine geheime Militärkonvention ergänzt wurde. ARNOLD, 78-79. 27 Der stellvertretende bayrische Bevollmächtige im Reichsrat Ministerialrat Speer, 2. Februar 1923. Zitiert nach HÖLTJE, 39. 28 ARNOLD, 80. 29 Stresemann an Seipel, 20. August 1923, in: ADAP (Akten zur Auswärtigen Politik 19181945), Serie A, Bd. 8, Dokument 109. Zitiert nach WRIGHT, 270. 30 TORUNSKY, Vera: Entente der Revisionisten? Mussolini und Stresemann 1922-1929. Böhlau Verlag, Köln/Wien, 1986. 210-212.
358
Sorsok, frontok, eszmék. Tanulmányok az első világháború 100. évfordulójára, Főszerkesztő: Majoros István Szerkesztők: Antal Gábor, Hevő Péter, M. Madarász Anita, ELTE, BTK, Budapest, 2015.
verhindern.31 Für Deutschland war dieser kleiner Staat wegen seine geographische Lage ganz wichtig, nicht zu vergessen, dass Wien als ehemalige Hauptstadt der habsburgischen Monarchie immer noch das Finanzzentrum der Region blieb. Eine der größten Gegner des Anschlusses war die Tschechoslowakei. Nach einem möglichen Zusammenschlusses beider Staaten wäre nämlich Böhmen fast völlig umgeschlossen von dem Reich, und die Grenzen wären gerade bei dem Sudetenland gewesen, wo zu dieser Zeit 3 Millionen Deutschen lebten. In Deutschland waren die revisionistischen Ansprüche gegenüber der Tschechoslowakei nicht so laut, wie zum Beispiel gegen Polen, deswegen hatten die Sudetendeutschen ihre Befürchtungen mehrmals geäußert. Der tschechoslowakische Außenminister, Eduard Beneš sprach persönlich für „die Notwendigkeit einer Revision“32, aber natürlich war er nur mit der deutsch-polnischen Grenze so einsichtig und großzügig. Stresemann betrachtete die Grenzen zu Polen - und hauptsächlich, dass Ostpreußen vom Rest des Reichs durch den „polnischen Korridor“ getrennt worden war - als der größte Fehler des Versailler Vertrags.33 Darüber sprach er mit dem französischen Botschafter Pierre Jacquin de Margerie, und erklärte: „Wenn man für lange Zeit den Krieg in Europa vermeiden wolle, müsse man die Dinge ausräumen, die gewissermaßen unfreundlich in der Luft schwebten, und dazu gehörte auch die Abtrennung Deutschlands von Ostpreußen, die meiner Meinung nach unpolitisch sei und als Schikane empfunden würde. Dabei handle es sich aber gar nicht um eine aktuelle Frage und sicherlich nicht um eine Frage des Krieges, die irgendwie in die Sicherheit Frankreichs hineinspiele...” 34 Alle deutschen Parteien lehnten den vorhandenen Grenzverlauf ab, außer den Kommunisten. Die Polen sahen mit großer Sorge, dass Deutschland sich Mitte der 1920er Jahre aus der diplomatischen Isolierung befreien anfing. Was man mit Krieg nicht erreichen kann, sollte man mit wirtschaftlichem Druck, so Stresemann. Bis 1925 waren der Weimarer Republik durch den Versailler Vertrag Abnahmeverpflichtungen für polnische Waren auferlegt worden.35 Ab Juni legte aber Deutschland hohe Einfuhrzölle auf diese Waren, was für Polen erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Das war auch das Ziel Stresemanns: „Eine friedliche Lösung der Grenzfragen, die unseren Forderungen wirklich gerecht wird (…), wird nicht zu erreichen sein, ohne dass die wirtschaftliche und finanzielle Notlage Polens den 31 KRÜGER, Peter: Die Außenpolitik der Republik von Weimar. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1985. 402-406. 32 Eduard Benes (undat.). Zitiert nach GRATWOHL, in: MICHALKA/LEE, 229. 33 STRESEMANN, Wolfgang: Mein Vater Gustav Stresemann. Herbig Verlag, München 1979. 492. 34 Aufzeichnung Stresemanns, 12. Februar 1924, in: ADAP, Serie A, Bd. 9, Dokument 148; Zitiert nach WRIGHT, 271. 35 ARNOLD, 87.
359
Péter Hevő: Gustav Stresemann und seine Ostpolitik
äußersten Grad erreicht und den gesamten polnischen Staatskörper in einen Zustand der Ohnmacht gebracht hat.“36 Das war also der Plan, mit dem wirtschaftlichen Druck Deutschlands Polen in die Knie zu zwingen. Letztlich war noch ein kleines Gebiet, das Memelland, welches das deutschlitauische Verhältnis seit 1923 belastete. Die zwei Isolierten: Deutschland und die Sowjetunion Polen betrachtete nicht nur die immer stärker werdende internationale Position Deutschlands in Westeuropa mit Furcht, sondern die Beziehungen zur Sowjetunion auch. Im April 1922 nahm Deutschland durch den Vertrag von Rapallo die diplomatischen Beziehungen zum sowjetischen Staat auf. Außerdem hatten die Reichswehr und die Rote Armee enge Beziehungen zueinander. Die zwei früheren Großmächte, die aus den Pariser Friedensverhandlungen ausgeschlossen wurden, hatten viel gemeinsam. Eines davon war das Verhältnis zu Polen. Beide Staaten waren unzufrieden mit den neuen polnischen Grenzen, und fanden sich nicht damit ab.37 Die Westmächte waren natürlich besorgt, dass sich in die Zukunft ein eventuelles deutsch-sowjetisches militärisches Bündnis gestalten wird, welches sich Polens vierte Teilung vollzieht.38 Die stresemannsche Außenpolitik wollte aber die diplomatische Annäherung zu Frankreich und England nicht mit den sowjetischen Beziehungen belasten, und versuchte diese Kontakte zu lockern. Stresemann wollte zwar gutes Verhältnis mit der Sowjetunion aufrechterhalten, aber es war ihm nicht so wichtig, dass er deswegen mit den Westmächten in Konflikte gerät. Außerdem war er misstrauisch gegenüber den Bestrebungen des Kommunismus auf die Weltrevolution. Schließlich hat der Oktober 1923 ein Schlüsselerlebnis für ihn bedeutet, als er als Kanzler mit den von Moskau gesteuerten Aufstandsversuchen der deutschen Kommunisten zu bekämpfen musste.39 Darüber schrieb er im Juli 1925: „Eine Ehe einzugehen mit dem kommunistischen Rußland, hieße, sich mit dem Mörder des eigenen Volkes ins Bett legen. Schließlich kann auf die Dauer nicht die Fiktion aufrechterhalten werden, daß es eine russische Regierung gibt, die eine deutschfreundliche Politik treibt, und eine Dritte Internationale, die sich bemüht, Deutschland zu unterminieren.”40 Das Attentat auf den bulgarischen König, Boris III. am 16. April 1925 schockte ihn, und war gleichermaßen 36 Stresemann in einem Schreiben an die deutsche Botschaft in London, 19. April 1926, in: ADAP, B II/1, Nr. 150, S. 363f. Zitiert nach ARNOLD, 88. 37 NIEDHART, Gottfried: Die Aussenpolitik der Weimarer Republik. Oldenbourg, München, 2006. 22. 38 WRIGHT, 272. 39 NIEDHART, 22. 40 THIMME, Annelise: Gustav Stresemann. Goedel, Frankurt am Main, 1957. 108.
360
Sorsok, frontok, eszmék. Tanulmányok az első világháború 100. évfordulójára, Főszerkesztő: Majoros István Szerkesztők: Antal Gábor, Hevő Péter, M. Madarász Anita, ELTE, BTK, Budapest, 2015.
angespannt, als in der Sowjetunion zwei deutsche Studenten wegen angeblicher terroristischer Tätigkeit vor Gericht gestellt wurden.41 Als Reichskanzler versuchte er mit dem Präsidenten Friedrich Ebert und mit dem Botschafter in Moskau Graf von Brockdorff-Rantzau, die militärische Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Rote Armee zu beenden. Doch die Führung der Reichswehr setzte sich durch, und machte es auf eigene Verantwortung weiter.42 Die Hauptgründe um gute Beziehungen mit der Sowjetunion aufrechtzuerhalten war, es zu verhindern, dass die Russen eine neue Entente mit Frankreich und England bilden. Deutschland sollte einen Verbündeten haben, falls aus irgendwelchen Gründen - wie im Jahr 1923 das Verhältnis zu Frankreich noch mal verschlechtern sollte. Es hatte auch noch einen innenpolitische Grund gehabt: die rechte Opposition zu schwächen. Seine rechtsorientierten Kollegen forderten nämlich eine engere Kooperation zwischen Deutschland und der Sowjetunion, damit das System von Versailles gemeinsam zu zerstören. Die Beziehungen der beiden Länder erschwerte aber die offene Westorientierung des Außenministers. Eines von Stresemanns kurzfristigen Zielen sollte der Völkerbundbeitritt Deutschlands sein, was aber die Sowjetunion mit großen Sorgen betrachtete. Sie befürchtete nämlich, dass Deutschland das letzte Glied in dem Kreuzzug der kapitalistischen Länder des Völkerbunds gegen den Kommunismus wird. So musste Stresemann den Völkerbundbeitritt von Deutschland und auch den Vertrag von Locarno den Russen so akzeptierbar vorführen, damit die Beziehungen nicht schaden. Sein größtes Argument war, dass Deutschland mit einem ständigen Sitz im Rat die Sowjetunion helfen könnte, die Sanktionen gegen das Land mit seinem Veto zu blockieren.43 Stresemann war so entschlossen die westliche Integration Deutschlands vorzusetzen, dass er sogar vorsichtig einen sowjetischen Vorschlag im Jahr 1924 abgelehnt hat, eine WRIGHT, 324. Am Ende der 1920-er Jahre haben Presseveröffentlichungen zu dem militärischen Geheimabkommen mit der Sowjetunion zu öffentlichen Diskussionen geführt. Wegen diese Veröffentlichungen wurden hauptsächlich Journalisten vor Gericht gestellt, der skandalöste Prozess davon wurde gegen den Herausgeber der Weltbühne Carl von Ossietzky und den Journalisten Walter Kreiser anhängig gemacht. Kreiser hat in einen Artikel behauptet, dass sich nicht alle Flugzeuge des deutschen Militärs in Deutschland befinden, und damit auf die geheime Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Sowjetunion hingewiesen. Das Gericht wollte mit dem Fall ein Exempel statuieren, deswegen wurden beider Angeklagten zu je 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Walter Kreiser wollte auf die Vollstreckung des Urteils nicht warten, und ist nach Paris emigriert. Carl von Ossietzky blieb aber in Deutschland, und nach der Gefängnisstrafe wurde er in das KZ Oranienburg gebracht, wo er 1938 starb. IN: LAMBSDORFF, Graf, Hans Georg: Die Weimarer Republik. Krisen – Konflikte – Katastrophen. Peter Lang, Frankfurt am Main - Bonn - New York - Paris, 1990. 264-265. 43 WRIGHT, 313. 41
42
361
Péter Hevő: Gustav Stresemann und seine Ostpolitik
gemeinsame Revision in Polen nach „ethnographischen Gesichtspunkten” zu unterstützen. Er forderte den Botschafter in Moskau, Brockdorff-Rantzau auf, die Russen davon zu überzeugen, dass Deutschlands Beitritt im Völkerbund auch ein Vorteil der Sowjetunion sein würde. Einen Geheimvertrag mit den Sowjets gegen Polen hat er aber ausgeschlossen: „Ich möchte auf die Frage, ob wir einen Geheim-Vertrag mit Russland haben, mit Nein antworten können.”44 Schließlich wurde mit der UdSSR kurz vor Abschluss der Konferenz von Locarno am 12. Oktober 1925 ein Handels-, Konsularund Schifffahrtsvertrag und am 24. April 1926 den Berliner Vertrag unterzeichnet.45 Von beiden Seiten gab es Bestrebungen, den Vertrag auf militärischer Ebene zu vertiefen46, aber es löste eine Hysterie in der französischen Presse aus. Stresemann entschied deswegen, dass ein solcher Projekt „mit der Gesamtlinie unserer Politik nicht vereinbar ist”.47 Im Berliner Vertrag garantierten beide Länder gegenseitige Neutralität falls eine der beiden von einer dritten Macht angegriffen wurde. Das bedeutete auch, dass Frankreich bei einem Krieg zwischen Polen und der Sowjetunion keine materielle Hilfe durch Deutschland Polen leisten könnte.48 Aus deutscher Sicht hatte der Vertrag mehrere Ziele zu erfüllen: die deutsch-sowjetische Beziehungen zu verbessern; die Sowjetunion zu beruhigen, dass es keiner kapitalistischer Kreuzzug gegen sie gerichtet wird; die schlechte geopolitische Lage Deutschlands zu verbessern, und damit auch eine Revision der verlorenen Ostgebiete wieder in greifbare Nähe zu rücken.49 Anhand der Quellen scheint es aber eindeutig, dass in diesen Jahren die Westorientierung viel wichtiger für ihn war, als ein Bündnis mit der Sowjetunion. Laut Gottfried Niedhart war diese Ostpolitik letztendlich auch Teil seiner „Westpolitik”, weil die Weimarer Republik die Sowjetunion in den globalen Markt und in die internationale 44 Erklärung Stresemanns gegenüber die Presse, 4. Oktober 1925. Zitiert nach MAXELON, 188. 45 ZAUN, Harald: Paul von Hindenburg und die deutsche Außenpolitik 1925-1934, Böhlau Verlag, Köln - Weimar - Wien, 1999. 435. 46 In seinem Tagebuch schrieb er am 27. April 1926, dass die sowjetische Regierung eine Verlegung der düsseldorfer Rheinische Metallwerke, der Deutsche Werke, der Rheinmetallwerke, der Siemens-Schuckert-Werke und der essener Krupp-Werke ins Donezbecken forderte. Die Reichswehr und die deutsche Nationalisten unterstützten diese Idee, damit ein deutsch-sowjetisches Waffenarsenal jederzeit zu Verfügung stehen hätte. IN: Gustav Stresemann. His diaries, letters, and papers. SUTTON, Eric (Hrsg.), Bd. II., MacMillan and Co., Limited St. Martin’s Street, London, 1937. 490. 47 Staatssekretär Schubert an den deutschen Botschafter in Moskau, Graf Bockdorff-Rantzau, 3. April 1926, in: ADAP, B II/1, Nr. 102, 261. Zitiert nach ARNOLD, 107. 48 KOLB, Eberhard: Deutschland 1918-1933. Eine Geschichte der Weimarer Republik. Oldenbourg Verlag, München, 2010. 103. 49 ZAUN, 436.
362
Sorsok, frontok, eszmék. Tanulmányok az első világháború 100. évfordulójára, Főszerkesztő: Majoros István Szerkesztők: Antal Gábor, Hevő Péter, M. Madarász Anita, ELTE, BTK, Budapest, 2015.
Staatengemeinschaft einbeziehen wollte.50 Der Vertrag von Locarno Stresemann war überzeugt, dass er zu seinem Ziel, mit dem Einverstanden oder sogar mit der Hilfe der Westmächte die Ostgrenzen zu Gunsten Deutschlands zu verändern, mit den am 16. Oktober 1925 in Locarno paraphierten Vertrags einen Schritt näher gekommen ist.51 Mit diesem Vertrag wollte er zwei Probleme auf einmal beseitigen. Einerseits festigte er zusammen mit Frankreich und Belgien die westdeutschen Grenzen. Natürlich war das ein Verlust im Vergleich zu den Grenzen des Bismarckreiches, aber es bedeutete auch, dass die neuen Grenzen die Franzosen und Belgier genauso respektieren mussten. Am 3. November 1925 erklärte er den Kritikern in einer Rundfunkrede, dass ein Verbot eines Angriffskrieges „für die französischen Staatsmänner mindestens so viel bedeutet als für uns, denn sie stehen mit ihrem starken Heer einem machtlosen Lande gegenüber, und in ihrem Lande hat es genug Leute gegeben, die den Rhein als Grenze gefordert haben.”52 Dabei hat es ihm geholfen, dass der Räumung der Kölner Zone von dem 1. Dezember 1925 in zwei Monaten abgeschlossen wurde.53 Andererseits erreichten die Deutschen, dass sie keine Garantie der deutschen Ostgrenzen von Versailles ausgesprochen mussten, Chamberlain und Briand hatten sogar ein milderndes Verständnis an dem deutschen Wunsch nach der Revision ausgesprochen.54 In derselben Rundfunkrede hat er am 3. November der Öffentlichkeit die Verpflichtungen des Vertrages erklärt: „Frankreich hat hinsichtlich Polens und der Tschechoslowakei keine anderen Rechte erhalten, als wie sie ihm aus seiner Zugehörigkeit zum Völkerbund zustehen. Darüber hinaus haben wir keinerlei Bindungen angenommen und auch die französisch-polnischen und französisch-tschechoslowakischen Zusatzverträge enthalten nichts anderes und können nichts anderes erhalten, als eine Anpassung NIEDHART, 91. Die beiden Vertreter der Tschechoslowakei und Polens, Außenminister Edvard Beneš und Aleksander Skrzynski erlebten in Locarno eine äußerst peinliche Situation: sie saßen die ganze Zeit in ihren Hotels herum, weil sie gar nicht zu den Besprechungen der „Großen“ noch zu den Sitzungen der Konferenz hinzugezogen wurden. Zwischen Deutschland und Polen und Deutschland und der Tschechoslowakei wurden Schiedsverträge unterzeichnet, aber ohne eine Anerkennung der Grenzen. Schließlich gaben Frankreich und die beiden osteuropäischen Staaten gegenseitig eine Garantie für die Einhaltung der Verpflichtungen, die Deutschland ihnen gegenüber übernommen hatte. In: Quellen zur Außenpolitik der Weimarer Republik 19181933. ELZ, Wolfgang (Hrsg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2007. 118-119. 52 Rundfunkrede Stresemanns zum Vertrag von Locarno am 3. November 1925, in: STRESEMANN, Gustav: Reden und Schriften. Politik – Geschichte – Literatur 1897-1926. BECKER, Hartmuth (Hrsg.), Duncker & Humblot, Berlin, 2008. 358. 53 ARNOLD, 95. 54 ARNOLD, 97. 50
51
363
Péter Hevő: Gustav Stresemann und seine Ostpolitik
der bisherigen freien Bündnisverträge dieser Länder an das Verfahren der Völkerbundssatzung.”55 Für Deutschland war es ein erheblicher Erfolg, den territorialen Status quo nicht anerkennen zu müssen. Der Vertrag von Locarno hat die französischen Sicherheitsforderungen einigermaßen befriedigt, deswegen glaubten die Deutschen, es sei ein guter Ausgangspunkt zur Revision.56 Die Außenpoli tik nach Locarno: eine Sackgasse? Nach dem Vertrag von Locarno schien das Experiment Gustav Stresemanns, die Grenzen im Osten mit Hilfe der Westmächte zu revidieren, für einen Augenblick erfolgreich. Sowohl der britischer Außenminister Austen Chamberlain als auch der Premierminister Stanley Baldwin hatten das Recht Deutschlands anerkannt, eine mögliche Revision anzustreben. Die The Times hat einen Artikel veröffentlicht, in dem Polen geraten wurde, eine offene Geste Deutschland gegenüber zu machen.57 Am 17. September 1926 trafen sich Gustav Stresemann und der französische Außenminister Aristide Briand zu einem politischen Gespräch in Thoiry. Briand zeigte sich ungewöhnlich nachsichtsvoll und großzügig, und die Angelegenheit Eupen-Malmédy wurde zu einem Skandal. Briand und auch die Belgier zeigten eine gewisse Verhandlungsbereitschaft in Bezug auf ein kleines Gebiet, Eupen-Malmédy. Es hätte aber mehr als eine kleine Revision im Westen für Deutschland bedeutet. Stresemann dachte, es könnte ein Präzedenzfall der revisionistischen Träume sein, womit man eine „Bresche in das territoriale System des Versailler Vertrages” 58 schlagen könne. Dieser voreilige Versuch beiden Politiker wurde aber schnell verhindert. In Frankreich war der Initiator hauptsächlich der Premierminister Raymond Poincaré, und auch auf der Insel betrachtete man das Treffen mit Skepsis. Ein Jahr vorher, am Anfang des Zollkrieges zwischen Deutschland und Polen, ließ Stresemann den deutschen Gesandten in Warschau, Ulrich Rauscher ein Dokument zukommen, in dem die deutsche territoriale Forderungen, aber auch ihre Angebote zu lesen waren.59 Deutschland strebe die Wiedereingliederung Danzigs, der Nordhälfte des Korridors und Oberschlesiens, aber die Provinz Posen werde man nicht zurückverlangen. Polen sollte zum Ausgleich einen Freihafen in Danzig sowie Transitrechte erhalten. Er wusste natürlich, dass Warschau ohne wirtschaftlichen, STRESEMANN, Reden und Schriften, 360. NIEDHART, 24. 57 WRIGHT, 314. 58 Aufzeichnung vom 28. Juli 1926. Zitiert nach KRÚGER, 358. 59 Runderlass vom 30. Juni 1925, in: ADAP, Serie A, Bd. 13, Dokument 177; Zitiert nach WRIGHT, 314-315. 55
56
364
Sorsok, frontok, eszmék. Tanulmányok az első világháború 100. évfordulójára, Főszerkesztő: Majoros István Szerkesztők: Antal Gábor, Hevő Péter, M. Madarász Anita, ELTE, BTK, Budapest, 2015.
diplomatischen, oder vielleicht auch militärischen Druck dazu nicht bereit sein würde, deswegen zählte man offenbar auf die Westmächte, aber auch auf die Sowjetunion, denn „ohne ein Zusammenwirken Russlands und Deutschlands ist eine Lösung der Korridorfrage schwer denkbar”. In einem anonym veröffentlichten Artikel schrieb Stresemann: „In dem Augenblick, in dem die russische Entscheidung darüber fällt, ob es sich dauernd innerhalb dieser Grenzen bewegen will, oder ob es die Randstaaten - und die polnische Frage aufrollt: in diesem Augenblick beginnt ein neuer Abschnitt der europäischen Geschichte. (...) diese ganzen Fragen die Erörterung einer großen internationalen Konferenz bilden werden, die hier neues Recht namentlich in Bezug auf die wirkliche Selbstbestimmung der Völker schafft.”60 Die politische und wirtschaftliche Lage Polens geriet indessen, in Verbindung mit der Zollpolitik von Deutschland, immer tiefer in die Krise.61 Stresemann wusste aber, dass die Situation des Landes noch schlimmer sein sollte. Darüber schrieb er am 19. April 1926 folgendes: „Solange sich das Land noch irgendwie bei Kräften befindet, wird keine polnische Regierung in der Lage sein, sich auf eine friedliche Verständigung mit uns über die Grenzfragen einzulassen.”62 Die internationale Lage Polens hat sich durch die Locarno-Verträge deutlich verschlechtert, weil das polnisch-französische Bündnis nur dann nützlich gewesen wäre, falls Deutschland in einem deutschpolnischen Krieg in der Rolle des Angreifers auftrat.63 Die unangenehme Überraschung folgte im Mai 1926, als sich Józef Pilsudski zu einem Staatsstreich in Polen entschloss. Der Marschall stellte die politische Stabilität des Landes wieder her, und seine Expertenregierung hat die wirtschaftliche Krise durch Reformen gestoppt. Im Oktober des folgenden Jahres erhielt Polen von den Vereinigten Staaten und Großbritannien ein internationales Darlehen, und spätestens derzeit wurde es offensichtlich, dass die Deutschen das Land unterschätzt hatten, und die Revision durch einen wirtschaftlichen Zusammenbruch Polens ausgeschlossen ist.64 Diese langjährige Konzeption scheiterte endgültig. In Bezug auf die anderen Länder wurden die friedlichen revisionistischen Schwierigkeiten auch deutlicher. Im März 1926 traf sich Stresemann mit dem österreichischen Bundeskanzler und Außenminister Rudolf Ramek. Sie stimmten darin überein, dass der Anschluss Österreichs überhaupt nicht aktuell ist, und die Propaganda der Vereinigung schädlich ist.65 Stresemann erklärte sogar, dass es „in absehbarer Zeit” keine Chance für eine Korrektur der deutsch-tschechoslowakischen Grenze gibt. 60 Hamburger Fremdenblatt, 10. April 1925, in: BERNHARD, Bd. II., 88-95. Zitat auf 93. 61 SUTTON,
Bd. II. 494-496. Stresemann mit einem Schreiben an die deutsche Botschaft in London, 19. April 1926, in: ADAP, B II/1, Nr. 150, 363f. Zitiert nach ARNOLD, 109. 63 KOLB, Deutschland, 103. 64 ARNOLD, 110. 65 WRIGHT, 363. 62
365
Péter Hevő: Gustav Stresemann und seine Ostpolitik
Die Revisionspropaganda blieb in Deutschland gegenüber der Tschechoslowakei weiterhin vorsichtig, welche damit zusammenhängt, dass in Tschechien - im Gegenteil zu Polen - die Minderheitsrechte mehr oder weniger respektiert wurden. Herrn Schwager prophezeit er aber in einem Brief am 9. Juni 1926, dass in den nächsten 20-25 Jahre die Tschechoslowakei ausschließlich von den Tschechen geführt wird, ohne den geringsten Einfluss der Deutschen. Doch diese Assimilation, den Verlust des Einflusses darf man mit Krieg nicht verhindern. Er empfehlt vielmehr, dass die Deutschen in der Regierung sich beteiligen sollen, aber nur, wenn sie die kulturelle Autonomie bekommen. 66 Diese Haltung der deutschen Regierung veranlasste die Sudetendeutschen sich politisch und kulturell zu organisieren. Im Oktober 1926 traten zwei sudetendeutsche Parteien in die Regierung ein. Stresemann selbst begrüßte demnächst diese Art von politischer Aktivität der beiden Parteien. Dieser Schritt bedeutete aber gleichzeitig einen endgültigen Bruch zwischen den sogenannten „Negativisten” (Ablehnern) und „Aktivisten” (Befürwortern) einer 67 sudetendeutschen Mitarbeit im tschechischen Staat. Stresemanns Strategie, mit der wirtschaftlichen Kraft Deutschlands die östlichen Nachbarländer unter Druck zu setzen, erwies auch überschätzt zu sein. Zwar wurde die Weimarer Republik nach Locarno politisch wieder zu den Westmächten aufgestiegen, wirtschaftlich blieb sie aber unter der finanziellen Kontrolle der USA. Die Amerikaner machten hingegen klar, dass sie das Kapital nicht für revisionistische Zwecke zur Verfügung stellen wollen, damit wurde der politische Handlungsspielraum des Reiches eingeengt.68 Obwohl auch Aristide Briand und Austen Chamberlain sich über die Ostgrenzen als die größte Bedrohung für den künftigen Frieden in Europa äußerten, wollten sie die Rolle des Schiedsrichters nicht spielen. Beide zeigten sich verständnisvoll für Stresemann, aber forderten ihm auf, über die Grenzrevision mit dem polnischen Ministerpräsidenten Marschall Pilsudski zu sprechen. Der deutsche Außenminister traf Pilsudski einmal persönlich, aber da scheute er sich, das Thema der deutsch-polnischen Grenzen anzusprechen.69 Die Optionen eines Anspruchs auf eine Revision zu vertreten in Bezug auf Polen wurden immer beschränkter. Stresemann konnte jetzt nur noch den letzten Trumpf ausspielen: die Unterstützung der deutschen Minderheiten im Völkerbund. Dies hatte gleich zwei Aufgaben zu erfüllen: die internationale Öffentlichkeit über die Lage der Minderheiten zu SUTTON, Bd. II. 414. ARNOLD, 106. 68 ARNOLD, 116. 69 WRIGHT, 410. 66 67
366
Sorsok, frontok, eszmék. Tanulmányok az első világháború 100. évfordulójára, Főszerkesztő: Majoros István Szerkesztők: Antal Gábor, Hevő Péter, M. Madarász Anita, ELTE, BTK, Budapest, 2015.
informieren, und die enorme Assimilation und Umsiedlung zu stoppen. Um die letzten zwei Probleme zu lösen, brauchte Stresemann auch materielle und finanzielle Unterstützung, welche Darlehen, Kredite, Rechtsbeihilfen und Subventionen für deutsche Organisationen in Osteuropa beinhaltete.70 Er erhielt vom Auswärtigen Amt dreißig Millionen Mark, um ein geheimes Hilfsprogramm der Minderheiten zu finanzieren.71 Der Außenminister zeigte wachsendes Interesse an der Frage des Minderheitenschutzes durch den Völkerbund in den letzten zwei Jahren seines Lebens. Er geriet sogar im Dezember 1928 in einem erregten Wortwechsel mit dem polnischen Außenminister August Zaleski an der Tagung des Völkerbundsrats. Es ist gerade deswegen beachtenswert, weil er zwischen dem deutschen Völkerbundeintritt und 1928 keinerlei Interesse zeigte, den Schutz der deutschen Minderheiten zu thematisieren.72 Wahrscheinlich hatte es innenpolitische Gründe. Zu dieser Zeit gab es keine reale Chance mehr für eine friedliche territoriale Revision, und Stresemanns Ostpolitik schien an seine Grenzen zu stoßen zu sein. Im Herbst 1928 wurden die unzufriedenen Töne in und auch außer Deutschland immer lauter über die angebliche Stagnation der Locarnopolitik.73 Die Minderheiten und auch einige in der Koalition kritisierten die Vernachlässigung der Minderheitenfrage. Die Zentrumpartei war eine der lautesten, welche für die katholische Bevölkerung Oberschlesiens sprach. Im Grunde genommen hatten ihm die Kritiker keinen anderen Vorschlag auf eine Lösung gegeben, als seine friedliche Revision, die aber die meisten schon als Illusion betrachteten. Unter diesen Umständen blieb ihm nicht mehr anderes übrig, als sich zu entscheiden abzuwarten. Wie Jonathan Wright schrieb, „Stresemann vertagte die Angelegenheit auf lange Zeit, wenn nicht auf immer.”74 Trotz des offensichtlichen Scheiterns seiner Ostpolitik dachte niemand, das Ziel der Revision zu überdenken. Es wäre als Landesverrat angesehen worden, wenn jemand die deutsche Minderheit zur Übersiedlung nach Deutschland oder zur Assimilierung aufgefordert hätte. Eine andere Alternative, als an dem Argument, die östlichen Grenzen von Versailles seien ungerecht, festzuhalten, gab es nicht. Was mit der stresemannschen Ostpolitik passieren hätte, ob er diese geduldige Diplomatie weiter fortführen können hätte, bleibt ein Geheimnis, weil er am 3. Oktober 1929 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele ARNOLD, 118. WRIGHT, 364. 72 WRIGHT, 464. 73 WRIGHT, 465. 74 WRIGHT, 411. 70 71
367
Péter Hevő: Gustav Stresemann und seine Ostpolitik
Spekulationen aufgetaucht, ob Stresemann ein Vorläufer Hitlers gewesen war, und ob er nur auf die Gelegenheit und auf Deutschlands Erstarkung gewartet hätte, um einen Krieg im Osten zu beginnen. Stresemann war natürlich kein Pazifist, und er zog Deutschland nicht aus moralischen, sondern aus realpolitischen Gründen nicht in einen Krieg ein, aber anhand der Quellen können wir nicht feststellen, ob er mit anderen militärischen Möglichkeiten auch an seiner versöhnlichen Politik festgehalten hätte. Während der Außenminister im Westen sich nach Jahren der Isolation durchgesetzt und Deutschland zu einer anerkannten Macht verschaffen hatte, kann man sagen, dass seine Ostpolitik nicht wirklich erfolgreich war. Die Revision der Ostgrenzen schien Ende der 1920er Jahre immer ferner zu sein. Ein wichtiger Erfolg war aber vermeiden zu können, eine Garantie dieser Grenzen aussprechen zu müssen. Dies hat dann später den Nationalsozialisten in ihrem außenpolitischen Handlungsspielraum zu gewissen Vorteilen verschafft.