Gott ist alles, was ist Das Problem der Haecceïtas bei Duns Scotus und Gilles Deleuze
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung: Der Stein ist bewohnt 2. Das Weiße, freiwillige Objekte und die Univozität bei Johannes Duns Scotus 3. Die Haecceïtas in der Immanenzphilosophie von Gilles Deleuze 4. Schlussbemerkungen: Gott ist alles, was ist 5. Literaturliste
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S. 2 S. 4 S. 6 S. 9 S. 10
1. Einleitung: Der Stein ist bewohnt Im Verlauf des vorliegenden Essays soll nicht nur die These entfaltet werden, dass die positive Theologie von Johannes Duns Scotus (1266-‐1308) und dessen Ablehnung des Denkens in Analogien zugunsten eines äquivoken Denkens von emanativen Gottes-‐ bildern abrückt und er aufgrund dessen als Begründer der Univozität gelten kann, wie sie Jahrhunderte später in der Tradition von Spinoza, Nietzsche und Deleuze weiter zugespitzt wird, sondern auch die Konsequenz daraus für Gilles Deleuzes Konzept der Diesheiten (Haecceïtas) angesprochen werden. Zwar geht Duns Scotus noch nicht so weit wie letzterer, lehnt den Pantheismus ab und beharrt auf einer rationalistischen Gottesidee, trotzdem lassen sich in seinem Werk Die Univozität des Seienden – Texte zur Metaphysik Stellen finden, welche geradezu als Kippmomente lesbar sind und vieles vor-‐ wegnehmen, was erst sehr viel später von anderen vollends entfaltet wird. Zu erwähnen ist hier in erster Linie sein Ringen um die Notwendigkeit Gott und seinen Geschöpfen gemeinsamer, äquivoker und nicht analoger Begriffe, die zwar nicht zu vernachläs-‐ sigende formale Unterschiede benennen, aber auch auf die reale Immanenz von allem, was ist, mit allem anderen, das ebenfalls ist, in Gott hindeuten. Obwohl er es letztlich ab-‐ lehnt, einem Stein dieselbe ‚Nähe‘ zu ihm zuzugestehen wie der menschlichen Ratio-‐ nalität, weil er, im Gegensatz zu Spinoza, an einer Hierarchie der Vollkommenheit fest-‐ hält – u.a. Gerechtigkeit, Güte und Weisheit sind demnach vollkommene Eigenschaften Gottes, die sich auf immer nur unvollkommene Weise in seinen Geschöpfen finden –, gerät er im Verlauf der entsprechenden Ausführungen nicht unbeträchtlich ins Schwan-‐ ken. Er stellt fest: „Jede Untersuchung erfasst bei der Übernahme des Vollkommenen in einem Begriff und unter Entfernung und Wegnahme des Unvollkommenen einen Gehalt, der denselben Sinngehalt aufweist wie das, dem er zugeordnet wird beziehungsweise von dem er abgelöst wird. Wenn nämlich die Untersuchung nicht etwas annimmt, das einen Sinngehalt aufweist (etwa die Weisheit), unter Entfernung dessen, was der Weisheit im Geschöpf an Unvollkommenheit zukommt, schließt sie nicht eher auf die Weisheit in Gott als auf einen Stein. Denn [dann] ist Gott ein anderer Begriff des Steines, dem der Begriff des Steines hier zugeordnet wird, so wie du annimmst, wenn die Weisheit von Gott ausgesagt wird, handele es sich um einen anderen Begriff als dann, wenn sie vom Geschöpf ausgesagt wird. Wenn die Untersuchung bei diesem Vorgehen nicht etwas annimmt, was einen Sinngehalt aufweist (etwa die Weisheit), würde es sich gar nicht um eine [wahre] Untersuchung handeln, und sie würde nicht eher darauf schließen, dass Gott das Gute, als dass ihm der Stein innewohnte. Wenn daher die Weisheit in mir ist und ich das ablöse, was an Unvoll-‐ kommenheit ist, und daraufhin die Weisheit Gott zuordne, und wenn jene Weisheit, die ich Gott zuordne, eine äquivoke Weisheit mit der Weisheit ist, die ich habe, teile ich ihm nicht eher die Weisheit als einen Stein zu.“1
1 Johannes Duns Scotus, Die Univozität des Seienden – Texte zur Metaphysik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, S. 19.
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Obwohl Duns Scotus darauf beharrt, dass der Stein, anders als der Mensch, mit Gott nicht den Begriff der Weisheit teilt, da er nicht nur unvollkommen weise, sondern über-‐ haupt nicht weise ist, stellt sich dennoch die Frage, warum sich die Logik der äquivoken Begriffsbildung nicht auch auf das Verhältnis zwischen Gott und Stein anwenden lassen und warum es keine gemeinsamen Sinngehalte zwischen ihnen geben sollte. Weil der Scotismus jegliche Art der Analogiebildung ablehnt, lässt sich mit ihm nicht behaupten, Steine seien wie Gott, ebenso wenig wie er es zulassen würde zu sagen, Menschen seien, zumindest manchmal, in ihrer Weisheit wie Gott. Vielmehr ist die menschliche Weisheit dieselbe wie die Weisheit Gottes, aber in unvollkommener Form. Immerhin heißt es am Ende des oben angeführten Zitats, der äquivoken Logik zufolge könne Weisheit Gott nicht eher als ein Stein zugeordnet werden. Allerdings geht Duns Scotus nicht der Frage nach, was denn geschähe, würde der Stein nicht unter der Perspektive der Weisheit betrachtet, sondern bsp. unter jener seiner Schroffheit, Härte und Beständigkeit. Würde er diese ebenso als Eigenschaften Gottes ansehen, käme er vielleicht zu dem Schluss, dass es auf dieser Ebene durchaus gemeinsame Sinngehalte zwischen Gott und Steinen gibt, wobei auch hier wieder gälte, dass deren Schroffheit, Härte und Beständigkeit nur unvollkommen im Verhältnis zu Gottes Vollkommenheit wären, genauso wie dann vielleicht die äquivok gebildeten Begriffe von Tiefe, Fluidität und Unbeständigkeit be-‐ züglich der Ozeane des Planeten Erde vor dem Hintergrund von Gottes Tiefe, Fluidität und Unbeständigkeit unvollkommen wären. Dennoch besteht das Verdienst des Duns Scotus darin, dass er sich erstens von der Scho-‐ lastik und der Dominanz neuplatonischer, negativer Theologien seiner Zeitgenossen ab-‐ setzt, indem er emanative Ideen Gottes zugunsten eines univoken Gottesbegriffs ver-‐ wirft, dass er zweitens ein immanentes Verhältnis zwischen ihm und seinen Geschöpfen antizipiert, welches durch ihm nachfolgende Philosophen wie Spinoza, Nietzsche und Deleuze weiter ausformuliert werden wird und dass er dadurch drittens die Frage nach den Diesheiten stellt. Die Haecceïtas sind es schließlich, die nicht nur in der Philosophie von Gilles Deleuze eine wichtige Rolle spielen, sondern sie sind auch unab‚ding‘bar für jedes Denken der Immanenz schlechthin. Um verstehen zu können, was es mit dem ‚Dies da‘, welches Deleuze so sehr an seinem mittelalterlichen Vorgänger schätzt, auf sich hat, sollen zunächst zwei weitere Textstellen aus Die Univozität des Seienden in den Blick genommen werden: In ihnen geht es gleichzeitig um das Weiße, das da ist, wenn auf ‚diese Farbe da‘ gezeigt wird, weil alle Farben, die sind, weiß enthalten und in ihm ent-‐ halten sind und um ‚freiwillige Objekte‘, in denen sich Weiß mehr oder weniger zeigt.
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2. Das Weiße, freiwillige Objekte und die Univozität bei Johannes Duns Scotus Anhand eines Vergleichs des Verhältnisses zwischen Gott und seinen Geschöpfen mit dem Verhältnis zwischen dem Weißen (als simultaner Anwesenheit aller Farben!) und den einzelnen Nuancen des Farbspektrums veranschaulicht Duns Scotus, inwiefern die Geschöpfe Gott ebenso wenig ‚entspringen‘ wie die Farben nicht aus dem Weißen ‚her-‐ ausfließen‘. Beiderlei Bezogenheit aufeinander ist nicht, wie seine neoplatonischen Zeit-‐ genossen annehmen, emanativ, sondern immanent. Trotzdem sind Gott und das Weiße ein Allgemeines, die Geschöpfe und die Farben hingegen besondere Instanzen dieses All-‐ gemeinen, die in ihrer Unvollkommenheit allein im Hinblick auf Vollkommenheit er-‐ kannt werden. Das Allgemeine impliziert den ‚Intellekt‘, das Besondere jedoch beruht auf ‚Vorstellungsbildern‘. „Wenn ich daher das Weiße erkenne, stelle ich mir auch dieses Weiße vor, und je näher dieses Allgemeine (das erkannt wird) dem einzelnen Gegenstand kommt (den man sich vorstellt), desto näher kommt es dem Intellekt. Deshalb steht der Intellekt nicht so fest in der Farbe wie in der Weiße, denn die einzelne Instanz der Weiße steht der Weiße näher als der Farbe. [...] Da nun der Intellekt nur erkennt, wenn sich das Vorstellungsvermögen etwas Einzelnes vorstellt, das unser Intellekt unter einem allgemeinen Gehalt erkennt, deshalb fällt unser Intellekt bei der Frage, was die Wahrheit schlechthin ist, vom schlechthin Wahren zum Vorstellungsbild herab [...].“2
Interessant an diesen Ausführungen ist, dass in ihnen Universalität und Singularität ins Spiel zu geraten scheinen. Der Intellekt benötigt die Vorstellungsbilder, um seinerseits aktiv zu werden. Das Allgemeine kann nur vermittels des und im Besonderen erkannt werden. Zwar ‚steht der Intellekt nicht so fest in der Farbe wie in der Weiße‘, aber ohne Farben kann er gar nicht erst anfangen, das Weiße zu erkennen. Die Farben und jede Nuance zwischen ihnen sind Variationen des Weiß: Das Verhältnis zwischen Gott und seinen Geschöpfen ist laut Duns Scotus also graduell. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Farben sind rein formale Differenzen, aber keine realen Unterschiede, da eine jede von ihnen eine singuläre Abwandlung des universalen Weißen darstellt. Ebenso wie die Farben unterschiedliche Grade von Weiß sind, sind die Wesen und alles, was ist, ver-‐ schiedene Grade Gottes. Gott drückt sich ebenso in allen seinen Geschöpfen aus und ist in ihnen enthalten wie das Weiße sich in allen Farben des Spektrums manifestiert; ge-‐ nau das meint das scotistische Denken, wenn es von Univozität spricht und annimmt, „das ein Betrachter nicht in etwas anderem als Gott stehen bleibt, sondern [...] in der Er-‐ kenntnis eines Objekts [...], das ein niedriger stehendes Erkennbares ist als Gott, insofern 2 Ebd., S. 21.
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er diese Natur an sich ist.“3 Gott zeigt sich für uns allein in seinen unvollkommenen Ge-‐ schöpfen, nie aber in seiner Vollkommenheit an sich, genau so wie sich das vollkommene Weiß nur in den unvollkommenen Farben und entlang ihres vielfältig aufgefächerten Spektrums zeigt. Warum sollte es deswegen im scotistischen Universum ‚freiwilllige Ob-‐ jekte‘ der Erkenntnis geben? Hierzu heißt es in Die Univozität des Seienden:
„Gott ist nämlich ein freiwilliges Objekt. Deshalb liegt der Grund dafür, dass er sich nicht zeigt, nicht seitens des Intellekts, sondern auf Seiten des Objekts, sofern es nämlich freiwillig ist. [...] Er selbst hat nämlich den Sinngehalt des Objekts und des Lichtes, denn die Erkenntnis, die er verursacht, ist sein Licht. Deshalb ist auch kein Licht des tätigen Intellekts erforderlich, das die Vorstellungsbilder erleuchtet, denn wenn es zwei Wirkende gibt, so wird, je vollkommener das eine ist, desto weniger von der Kraft des anderen erfordert, wie es beim Ziehen eines Schiffes klar ist. Und deswegen ist zur Schau Gottes nichts außer ihm selbst erforderlich.“4
Letztlich sind es weder das menschliche Vorstellungsvermögen noch der menschliche Intellekt – einschließlich, so sei hier behauptet, seiner unvollkommenen Ausprägungen der vollkommenen göttlichen Attribute Gerechtigkeit, Güte und Weisheit –, die zu seiner Schau beitragen, sondern etwas, das außerhalb der menschlichen Vermögen überhaupt liegt. Besonders ‚schön‘ sinnt Duns Scotus hierüber nach, wenn er den Intellekt von Kindern mit dem von Erwachsenen vergleicht. „Nehmen wir ferner an, der Intellekt eines Kindes könne in seinem Stand nur Spiele verstehen und nicht das, was der Intellekt eines Erwachsenen versteht. Deswegen bräuchte man gleichsam nicht zu sagen, das erste Objekt des Kindes und des Erwachsenen sei nicht dasselbe.“5
Diese von Duns Scotus aufgeworfene Problematik wird später Deleuze übernehmen und mit dem Erbe Spinozas und Nietzsches in einen Zusammenhang bringen: „Ein und die-‐ selbe Stimme für all das Viele, das tausend Wege kennt, ein und derselbe Ozean für alle Tropfen, ein einziges Gebrüll des Seins für alle Seienden.“6 Diese eine Stimme, dieser eine Ozean, dieses eine Gebrüll und jene Vielen, jene tausend Wege, jene Tropfen sowie jene Seienden sind es, deren einander immanente Beziehung für Deleuze die Haecceïtas ausmachen. Sowohl das Kind als auch der Erwachsene rufen ‚Dies da‘. Obwohl ihr Intel-‐ lekt dasselbe Objekt der Erkenntnis jeweils anders erkennt, zeigt sich ihnen doch ein und dieselbe Diesheit, und auf äquivoke Weise sprechen sie im scotistischen Sinne gleicher-‐ maßen von Gott und in ihm. 3 Ebd., S. 41. 4 Ebd., S. 29 5 Ebd., S. 31 6 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München: Fink, 1992, S. 377.
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3. Die Haecceïtas in der Immanenzphilosophie von Gilles Deleuze Bereits in Differenz und Wiederholung von 1968 verschreibt sich Deleuze nicht nur dem Denken von Spinoza, sondern ebenso dem von Duns Scotus, mit dem er die Philosophie der Univozität beginnen lässt: „Das Sein ist univok. Es gab immer nur eine Ontologie, die des Duns Scotus, die dem Sein eine einzige Stimme verleiht. [...] Eine einzige Stimme erzeugt das Gebrüll des Seins.“7 Laut Deleuze drückt sich das univoke Sein durch seine „individuierenden Differenzen“8 hindurch in ein und derselben Bedeutung aus und ist für alle seine „innerlichen Modalitäten“9 ein und dasselbe, obwohl die Modalitäten ihr-‐ erseits unterschiedlich sind: „Es ist für alle ‚gleich‘, sie selbst aber sind nicht gleich.“10 Deleuze greift sogar explizit die Beschreibung der Weiße von Duns Scotus auf und be-‐ tont, dass sich Weiß zwar auf verschiedene Intensitäten (das Farbspektrum) bezieht, da-‐ bei jedoch immer dasselbe Weiß bleibt.11 Demnach emanieren – wie im Scotismus – die einzelnen Farben und jede noch so kleine Nuance zwischen ihnen ebenso wenig aus dem Weiß heraus wie die einzelnen Wesen aus dem Sein heraus emanieren. Vielmehr sind sie ihm immanent: „Und nicht wir sind es, die univok in einem Sein sind, das es selbst nicht ist; vielmehr bleiben wir, bleibt unsere Individualität äquivok in einem Sein, für ein univokes Sein.“12 Deleuzes frühe Beschäftigung mit Duns Scotus findet neben Differenz und Wiederholung in Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie – dem zweiten Teil seiner Thèse d'Etat – statt, die ebenfalls 1968 erschienen ist. Hier postuliert er, dass Spinoza die zuallererst von Duns Scotus entwickelte Idee der Univozität des Seins aufgegriffen und weiterentwickelt habe. Spinozas eine Substanz, die sich in den Attributen Denken und Ausdehnung ausdrückt und in unendlich vielen Modi ausgedrückt ist, die zwar formal differenziert sind (distinctio formalis), aber real einander gleich bleiben (Deus sive
7 Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 58. Auf diese Textstelle bezieht sich auch Alain Badiou, Deleuze – Das Geschrei des Seins, Berlin/Zürich: diaphanes, 2003. Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 59. 9 Ebd., ebd. 10 Ebd., ebd. 11 Ebd., ebd. Vgl. hierzu die tiefsinnigen Ausführungen zur Skizze „Weiße Wand-‐Schwarzes Loch“ in Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin: Merve, 1992, darin v.a. das Plateau „Das Jahr Null – Die Erschaffung des Gesichts“. 12 Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 63. 8
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Natura13), führt er auf den für seine Zeit radikal neuen Gottesbegriff der scotistischen Denkweise zurück. „Was aber tut man, wenn die göttlichen Namen, so wie sie Anwendung auf Gott finden und so wie sie in den Geschöpfen impliziert sind, d.h. in allen tatsächlichen Verwendungen, denselben Sinn haben, so daß ihre Unterscheidung sich nicht mehr auf die geschaffenen Dinge gründen kann, sondern in dem von ihnen bezeichneten Gott begründet werden muß? Im Mittelalter hat bekanntlich Duns Scotus dieses Problem gestellt und ihm eine wohlüberlegte Lösung gegeben. Das Unternehmen einer positiven Theologie hat er zweifellos am weitesten getrieben.“14
Obwohl die ‚Attribute‘ Gottes bei Duns Scotus noch Propria wie Gerechtigkeit, Güte und Weisheit sind, die auf seine innere Vollkommenheit verweisen und nicht wie bei Spinoza unendlich viele, von denen der Mensch nur zwei, nämlich Denken und Ausdehnung, kennt, versteht er Deleuze zufolge nichtsdestotrotz schon, dass Gott auch ohne seine Propria erfasst werden kann15, eben als ‚freiwilliges Objekt‘ innerhalb der Haecceïtas, denen er immanent ist. Bereits bei Duns Scotus, so lässt sich etwas pointiert form-‐ ulieren, bewohnt Gott, wenn auch nur implizit und noch nicht explizit wie im ‚Pan-‐ theismus‘, den er ablehnt, die Steine und das Salz der Erde. In diesem Kontext bemerkt Deleuze zu dessen Weiße: „[D]ie Weiße, sagt er, hat veränderliche Intensitäten; diese verbinden sich nicht mit der Weiße wie eine Sache mit der anderen, wie eine Figur sich mit der Mauer verbindet, auf die man sie malt; die In-‐ tensitätsgrade sind innerliche Bestimmungen, innerliche Modi der Weiße, die univok dieselbe bleibt, unter welcher Modalität man sie auch betrachten mag.“16
In Tausend Plateaus (1980) wird Deleuze gemeinsam mit seinem Freund und Wegge-‐ fährten Félix Guattari ein gutes Jahrzehnt später erneut auf das scotistische Problem der Haecceïtas eingehen. ‚Dieses da‘ meint den beiden zufolge ebenso wenig ein Ding im Sinne eines unter einen Begriff gebrachten, ‚begriffenen‘ Objekts wie es ein ‚begrei-‐ fendes‘ Subjekt voraussetzt. Diesheiten bestehen nicht aus voneinander getrennten Sub-‐ jekten und Objekten, sondern bezeichnen Individuationsmodi auf der Ebene der ihnen gemeinsamen Substanz einander immanenter Wesen. Gerade der Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen konstatieren Deleuze und Guattari das Vermögen, im-‐ mer wieder neu und anders ‚Dieses da‘ sagen zu können. 13 An anderer Stelle spricht Deleuze vom „große[n] theoretischen Leitsatz des Spinozismus", nämlich „dass es nur eine einzige Substanz gibt, die unendlich viele Attribute hat, Deus sive Natura und alle ‚Kreaturen‘ sind nur Modi dieser Attribute oder Modifikationen dieser Substanz.“ Gilles Deleuze, Spinoza – Praktische Philosophie, Berlin: Merve, 1988, S. 27. 14 Ders., Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München: Fink, 1993, S. 57. 15 Vgl. ebd., S. 61. 16 Ebd., S. 174.
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„Eine Jahreszeit, ein Winter, ein Sommer, eine Stunde oder ein Datum haben eine vollkommene Individualität, der es an nichts fehlt, auch wenn sie nicht mit der eines Dinges oder eines Subjekts zu verwechseln ist. Sie sind in dem Sinne Diesheiten, daß in ihnen alles ein Verhältnis von Bewegung und Ruhe zwischen Molekülen oder Teilchen ist, ein Vermögen zu affizieren und affiziert zu werden. [...] Märchen müssen Diesheiten enthalten, die nicht nur schlichte Ersatzbildungen sind, sondern konkrete Individuationen, die für sich selber stehen und eine Metamorphose von Dingen und Subjekten verlangen. Unter den Zivilisationsformen weist der Orient viel mehr Individuationen durch Haecceïtas als durch Subjektivität und Substantialität auf [...].“17
Im Anschluss an eine längere Reihe von Beispielen v.a. aus dem Bereich der Literatur (das japanische Haiku, Charlotte Brontë, Federico García Lorca, T. E. Lawrence, William Faulkner, Michel Tournier, Virginia Woolf, Gustave Flaubert und Marcel Proust, aber auch Pierre Boulez bzgl. der Musik) schlagen Deleuze und Guattari vor, die Haecceïtas „als ein regelrechtes Gefüge in seiner individuierten Gesamtheit“18 zu denken, denn „Kli-‐ ma, Wind, Jahreszeit oder Stunde haben kein anderes Wesen als Dinge, Tiere oder Per-‐ sonen, die sie bevölkern, die ihnen folgen, in ihnen schlafen oder aufwachen.“19 „Wir alle sind fünf Uhr Nachmittags oder eine andere Stunde und eher noch zwei Stunden gleichzeitig, die beste und die schlechteste, Mittag-‐Mitternacht, aber auf variable Weise verteilt. [...] Diesheit, Nebel-‐ schwaden, gnadenloses Licht. Eine Diesheit hat weder Anfang noch Ende, weder Ursprung noch Ziel. Sie ist immer in der Mitte. Sie besteht nicht aus Punkten, sondern nur aus Linien.“20
Laut Deleuze und Guattari lassen sich die Komponenten einer literarischen Haecceïtas in der Formel Unbestimmter Artikel+Eigenname+Verb im Infinitiv21 und um das scotistische Konzept des univoken Seins herum versammeln, denn „das Verb ‚Sein‘ ist das einzige, das keinen Infinitiv hat, oder vielmehr, dessen Infinitiv nur ein leerer unbestimmter Ausdruck ist, der abstrakt benutzt wird, um alle definierten Modi und Zeiten zu be-‐ zeichnen.“22 – Abschließend soll deshalb im Hinblick hierauf demonstriert werden, in-‐ wiefern die Überlegungen Gilles Deleuzes sowie dessen gemeinsam mit Félix Guattari unternommene Untersuchungen zum ‚Dies da‘ im Verständnis Gottes von Johannes Duns Scotus verankert sind. Gott oder Deus sive Natura: In beiden Fällen geht es um ‚frei-‐ willige Objekte‘, die nicht nur einfach in der Haecceïtas erscheinen, sondern von denen jene auch konstituiert wird, weil es in ihr weder definitiv konturierte Subjekte noch 17 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 354 f. 18 Ebd., S. 357. 19 Ebd., ebd. 20 Ebd., S. 358. 21 Vgl. ebd., ebd. 22 Ebd., ebd. Vor dem Hintergrund der von Duns Scotus in die Philosophie eingeführten Problematik des univoken Seins und der Haecceïtas beschäftigt sich Deleuze in anderen seiner Werke ausführlicher mit Literatur. Vgl. hierzu exemplarisch ders., Kritik und Klinik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000 sowie ders., Unterhandlungen 1972-‐1990, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1993 und ders./Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980.
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vollends bestimmte Gegenstände gibt. Wie Gott im Scotismus weist Deleuzes Haecceïtas keine bereits gegebene Form auf. Noch einmal: Unbestimmter Artikel+Eigenname+Verb im Infinitiv23. Sie ist insofern unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten, als dass es in ihr ebenso zu einer Versinnlichung der Ideen wie zur Erhebung des Sinnlichen zu den Ideen kommt. Duns Scotus und Deleuze haben einen gemeinsamen Gegner, den Platonismus, in dem das Reich der Erscheinungen vom Reich Gottes bzw. der deleuzi-‐ anischen ‚Probleme‘ getrennt ist. Beide zielen auf einen gewissen Anti-‐Platonismus ab, den bereits der Scotismus beim Namen genannt hat: „Wenn aber das Gute, das so abstra-‐ hiert wird und in dem Gott gesehen wird, ein anderer Begriff als das unvollkommene Gute ist, wird das schlechthin Gute nicht eher unter Wegnahme dieses oder jenes Guten gesehen, als unter Entfernung von Erde und Stein Gott gesehen wird.“24 4. Schlussbemerkungen: Gott ist alles, was ist Indem Duns Scotus zufolge die Geschöpfe nicht dem Schöpfer ‚ent‘springen oder aus ihm herausfließen, sondern in ihm enthalten sind und nicht auf analoge Weise auf Gott ver-‐ weisen, sondern ihn äquivok bezeichnen, öffnet er die Türen für spätere Generationen von Philosophen wie Spinoza, Nietzsche und Deleuze, die im Denken der Immanenz noch sehr viel weiter gehen werden als er. Trotzdem ist ihm die Prophezeiung zu verdanken, dass sich das Sein in allen seinen Wesen gleichenteils aussagt. Gott ist alles, was ist! Obwohl er dies im Scotismus noch auf hierarchisierte Weise ist und obwohl hier dem Intellekt gegenüber den Vorstellungsbildern eine Priorität eingeräumt wird, betont Duns Scotus, dass ersterer auf letztere stets angewiesen bleibt, wenn er zur Erkenntnis gelangen will. Insofern nimmt er auch solche Umbrüche vorweg, die sich dann mit Immanuel Kants ‚kopernikanischer Wende‘ gegen Ende des 18. Jahrhunderts abzeichnen und die – unter ästhetischen Gesichtspunkten – Deleuze beschäftigen werden.25 Des-‐ wegen ist Duns Scotus auch heute noch ‚einer von uns‘, sowohl in Fragen der Theologie in sehr turbulenten Zeiten als auch in Fragen einer ‚ästhetischen‘ Haecceïtas. 23 Vgl. Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 358. 24 Johannes Duns Scotus, Die Univozität des Seienden, S. 19 ff. 25 Vgl. hierzu Gilles Deleuze, Die Idee der Genese in Kants Ästhetik, in: ders., „Die einsame Insel – Texte und Gespräche 1953–1974“, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.
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Literaturliste Alain Badiou, Deleuze – Das Geschrei des Seins, Berlin/Zürich: diaphanes, 2003. Gilles Deleuze, Die Idee der Genese in Kants Ästhetik, in: ders., „Die einsame Insel – Texte und Gespräche 1953–1974“, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. Ders., Die Immanenz: ein Leben, in: ders., „Schizophrenie und Gesellschaft – Texte und Gespräche 1975-‐1995“, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005. Ders., Differenz und Wiederholung, München: Fink, 1992. Ders., Kritik und Klinik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000. Ders., Spinoza – Praktische Philosophie, Berlin: Merve, 1988. Ders., Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München: Fink, 1993. Ders., Unterhandlungen 1972-‐1990, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1993. Ders./Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin: Merve, 1992. Johannes Duns Scotus, Die Univozität des Seienden – Texte zur Metaphysik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002. Peter Hallward, Out of this World – Deleuze and the Philosophy of Creation, London/New York: Verso, 2006.
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