Geschichte im Raum. Topographische Imaginationen Neapels in der Frühen Neuzeit, in: Caravaggios Erben. Barock in Neapel, Katalog der Ausstellung, herausgegeben von Peter Foster, Elisabeth Oy-Marra, Heiko Damm, Wiesbaden 2016, S. 14-29
Herausgegeben von Peter Forster, Elisabeth O y-Marra, Heiko Damm für das Museum Wiesbaden
Beiträge von Marieke von Bernstorff, Simona Carotenuto, Sybille Ebert-Schifferer, Chris Fischer, Peter Forster,Joris van Gastel, Annette Hojer, Rebecca Krämer, Tanja Michalsky, Elisabeth O y-Marra, Salvatore Pisani, Rudolf Preimesberger und Katharina Siebenmorgen
Museum Wiesbaden
HIRMER
W IR DANKEN ALLEN LEI HGEßER N SOWIE DEN FÖRDERERN UND KOOPERATI ONS PARTNE RN Le ihgeber Ajaccio, Palais Fesch-musee des Beaux-Arts
München, Bayerische Staatsgem äldesammlungen, Alte Pinakothek
Ariccia, Palazzo Chigi in Ariccia
München, Staatliche Graphische Sammlung
Berlin, Staatliche Museen zu Berlin , Gemäldegalerie
Neapel, Chiesa di Sa nta Maria delle Grazie a Caponapoli
Berlin, Staatliche Museen zu Berlin , Kupfe rstichkabinett
Neapel, Museo di Capodimonte
Berlin, Staatliche Museen zu Berlin , Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kun st
Neapel, Museo Nazion ale di San Martina
Berlin , Freie Universität Berlin, Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts Bremen, Kun sth alle - Der Kun stverein in Bremen Budapest, Szepmüveszeti Muzeum/Museum of Fine Arts Columbus, Columbus Museum of Art, Oh io, Museum Purchase, Schumacher Fund Da rm stadt, Hess isches Land esmu seum
Neapel, Polo Museale della Campa ni a O lmütz, Archbishopric Olomouc Olmütz, Muzeum umeni Olomouc/Museum of Art Opocno, Schloss Opoeno, National Heritage Institute Opoeno/DobfiS, Leihgabe aus der Sammlung der Fürsten von Colloredo-M annsfeld Oslo, The National Museum of A rt, Architecture and Design
Dresden, Gemäld egalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden Düsseldorf, Museum Kun stpalast
Paris, Musee du Louvre Prag, Narodn i galerie v Praze
Florenz, Palazzo Pitti
Roh rau, Graf H arrach'sche Familiensammlung, Schloss Rohrau, Österreich
Florenz, Galleria degli Uffi zi
Salzburg, Residenzgalerie
Frankfurt am Main, Städel Museum
Stettin, Muzeum Narodowe w Szczecinie
Freising, Diözesanmuseum
Stuttgart, Staatsgaleri e Stuttgart
Grenoble, Musee de Grenoble
Warwickshire, Compton Verney A rt Gallery & Park
H amburg, H amburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Hannover, Niedersächsisches Landes museum Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
Wien, Gemäld egalerie der Akademie der Bildenden Kün ste in Wien Wien, ALBERTINA Wien, Kun sthistori sches Mu seum , Gemäldegalerie
Kassel, Museumsland scha ft H essen Kassel, Gemäldegalerie A lte Meister Konstanz, Wessenberg- Galerie
Wind sor, THE ROYAL COLLECTION / HM QUEEN ELIZABETH II Worms, Museum Heylshof
Kopenh agen, Statens Museum fo r Kunst Leipzig, Mu seum der Bildenden Kün ste
Leihgaben aus der Sammlung Kristin a Colloredo-Mansfeld Leihgaben aus Privatbesitz
HESSEN
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Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft des Hess ischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier sow ie der Schirmherrschaft der Botschaft der Italieni schen Republik in Berl in.
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lnstotutfür Kun~tgeschkhte
und
MUilkw1ssenschaft
hr2.kultur ~ partner
IN HALT
Vorwort 6
Alexander Klar Grußworte
8 9 10
Volker Bouffier Pietro Benassi Helmut Müller Zum Geleit
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Peter Forster/ Elisabeth O y-Marra
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Geschichte im Raum. Topographische Imaginationen Neapels in der Frühen Neuzeit Tanja Michalsky
31 Masaniello und die Rebellion zu Neapel 1647-1648. Zur Genese eines Medienereignisses Kath arina Siebenmorgen
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Caravaggi,o in Neapel. Kurze Zeit, große Wirkung Sybille Ebert-Schifferer
67
Frühe Erben. Giovanni Baglione und Giovanni Vincenzo Forli im Pio Monte delta Misericordia Rudolf Preimesberger
89
„.. . die Hölle, das sind die anderen." Domenichinos Aufenthalt in Neapel und die Ausstattung der Cappella del Tesoro Marieke vo n Bernstorff
111
„pittore di molto sapere" . Giovanni Lanfrancos neapolitanische Fresken zwischen Ordenspropaganda und künstlerischer Selbstinszenierung Elisabeth Oy-Marra
128
„Zerrümpft, schrekbar, crudel". Das Schauspiel des Körpers bei]usepe de Ribera Salvatore Pisani
145
Caravaggi,os Erben. Bildzitate und Künstlergemeinschaft als Programm Rebecca Krämer
162
Salvator Rosa - der Maler mit dem „düsteren Pinsel". Zur Rezeption seiner Werke in der Sammlung des Wiesbadener Museums Peter Forster
181
Fürst der Künstler - Künstler der Fürsten. Francesco Solimena und die Hocharistokratie Europas Annette H ojer
195
Francesco Solimena in Wiesbaden Simona Carotenuto
205
Die neapolitanische Zeichnung Chris Fischer
226
Auffruchtbarem Boden. Das neapolitanische Stillleben
J oris van Gastei 239
266
Auf dem Weg nach Neapel. Die Geschiclzte der Sammlung italienischer Kunst im Museum Wiesbaden - Ein Rückblick Peter Forster
GESCHICHTE IM RAUM Topographische Imaginationen Neapels 1n der Frühen Neuzeit
Tanja Michalsky
S
tädte gehören zu den komplexesten Systemen, die wir auf diesem Plane-
//
ten kennen. Millionen von Menschen gehen ihren täglichen Beschäftigungen nach, oft auf engem Raum. Metropolen gleichen lebenden Organismen,
die für den einzelnen Beobachter kaum anders wahrnehmbar sind als fragmentarisch und zersplittert - eine Ansammlung von Paralleluniversen, die sich zufällig in Zeit und Raum schneiden".' So beginnt Sandra Rendgen den Artikel
Die bewegliche Stadt in der Süddeutschen Zeitung vom 2. Januar 2016, in dem sie aktuelle Projekte vorstellt, die mit Hilfe von individuell erhobenen digitalen Daten eine dynamische Kartographie entwickeln. Dabei folgt sie im Laufe des Artikels der in der ,big data'-Debatte zu wenig reflektierten Hoffnung, die neuen Karten könnten Dank der breiten und nicht a priori gelenkten Datenerfassung „demokratischer" werden, da sie keinen institutionellen oder kommerziellen Auftraggeber mehr hätten. Nichtsdestotrotz beleuchten derartige zeitgenössische Einlassungen die heuristischen Probleme im Verständnis von Stadtansichten und -plänen, denn sie spiegeln die seit einigen Jahrzehnten in der kartographiehistorischen Forschung zu konstatierende Sensibilisierung für die kartographische Konstruktion von sozialem Raum. 2 Durch eben diese Diskussion hat sich der konkrete Blick auf Karten aller Zeiten verändert, die heute nicht mehr als neutrale Abbilder einer historischen Realität verstanden werden. Stadtpläne und -ansichten werden vielmehr als Aussagen über ein kulturell gewachsenes, bebautes Territorium samt seinem dazugehörigen sozialen Raum begriffen, in deren zweidimensionalem Medium ausgewählte Daten eingetragen werden, wobei sowohl die Auswahl der Daten als auch ihre visuelle Aufbereitung die Detail aus Etienne Duperac / Antoine Lafrery, Axonometrie von Neapel und Umgebung, 1566, Neapel, Museo Certosa e Museo di San Martina.
Aussage bestimmen. Dass sich dabei „Zeit und Raum schneiden", ist ein ebenso faszinierendes wie kaum zu überschätzendes Problem im Umgang mit historischer Kartographie: Trotz der scheinbaren Beschränkung auf die Topographie
und d amit den Raum zu einem bestimmten Zeitpunkt bergen Stadtpläne nämlich Sedimente der Geschichte und zugleich Bezüge auf d as aktuelle Leben in d er Stadt. Besonders hervorzuheben ist dabei, d ass sie das zwar per se tun,3 dass d en historischen Produzenten allerdings die Verknüpfung von Geschichte und Topographie nicht nur bewusst, sondern gerad ezu ein Anliegen war. Ganz in diesem Sinne stellt die Interpretation von Karten eine besondere H erausforderung dar, weil wir den wenigen erhaltenen Exemplaren möglichst viele Info rmationen zur historischen Gestalt der Stadt abgewinnen wollen und weil zugleich in Rechnung zu stellen ist, d ass bei aller relativen Genauigkeit der topographischen Daten je nach Interessen und Funktion subtil Akzente gesetzt wurden. Besondere Aufmerksamkeit verdient d arüber hinaus der Umstand, d ass die Kartographen d er vergangenen J ahrhunderte selbst mit dem P roblem laborierten, zusätzlich zur nüchternen Verzeichnung von Straßen, Bauten und der landschaftlichen Umgebung möglichst auch d as soziale und belebte Gefüge wiederzugeben, das eine Stad t d am als wie heute ausmach t. Karten eignen sich l Ansicht Neapels vom Meer, sogenan nte Tavola Strozzi,
nämlich vorzüglich dazu, durch die konkret ablesbare Relationalität von Bauten
ca. 147 0, 82x 245 cm, Neapel, Certosa e Museo d i San Martino.
und Q uartieren den sozialen R aum visuell evident zu m achen.
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Ziel dieses Beitrages ist es daher nicht, anhand von Karten und Ansichten, die Entwicklung Neapels noch einmal nachzuerzählen und die historischen Medien als reine Informationsträger zu behandeln. Ziel ist es vielmehr, die mediale Produktion des städtischen Raumes selbst in den Vordergrund zu holen und schlaglichtartig an ganz unterschiedlichen Beispielen aufzuzeigen, wie die Produzenten Geschichte und Raum verschränken. 4 Ausgewählt wurden: - mit der Tavola Strozzi (Abb. 1, ca. 1470) eine gemalte Stadtansicht, die die Stadt mit ihren urbanistischen Landmarken aus der Zeit der Herrschaft des Hauses Anjou und den durch die Könige von Arag6n errichteten Fortifikationen zeigt; 5 - der von Etienne Duperac gestochene und von Antoine Lafrery gedruckte, axonometrisch mit detailliert erfassten Bauten aufbereitete Plan im Stil einer Vogelschau (Abb. 2, 1566), der die Erneuerungen und Erweiterungen der Vizekönige aus einem idealen Blickwinkel aufbereitet, 6 - zwei geradezu gegensätzliche Aufnahmen der Stadt aus dem Jahr 1582: der schematische Plan des Urbanisten Pico Gerolamo Fonticulano (Abb. 3), der die politische und topographische Organisation der Stadt thematisiert,7 und die atmosphärische, das Gelände ungewöhnlicher Weise von Nordosten darbietende Zeichnung des
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2 Etienne Duperac / Antoine Lafrery, Axonometrie von Neapel und
Jan van Stinemolen (Abb. 4), 8 - die Vogelschau von Alessandro Baratta (Abb. 5,
Umgebung, 1566, Kupferstich, 83,2
1629), die explizit unter Zuhilfenahme einer ausführlichen Inschrift versucht,
x
51,8 cm.
die Geschichte der Stadt auf den Plan zu beziehen, 9 - sowie als Ausblick der mit größtem technischen Aufwand vermessene Plan des Duca di Noja (Abb. 6, 1750-1775), der als Summe kartographischer Bemühungen die Stadt bis hin zu den Grundrissen ausgewählter Gebäude gleichsam mit dem Röntgenblick der Aufklärung erfasst. Die nach ihrem Stifter sogenannte Tavola Strozzi aus den 1470er Jahren ist das früheste Beispiel einer elaborierten Repräsentation der Stadt Neapel unter der Herrschaft der Aragonesen. Sie verbindet Geschichte und Topographie, Narration und Beschreibung dergestalt, dass das Bild von Stadtkörper und Stadtlage zum Ausdruck einer als historisch begriffenen Identität wird, die noch dazu auf die siegreiche Rückkehr der Flotte am 7.Juli 1465, fixiert wird. 10 Die Tafel zeigt die gesamte Bucht wie aufgeklappt auf der Bildfläche - ein Panorama Neapels an einem sonnigen Tag. Der Maler hat es mit einem hinter hohen Mauern liegenden, dicht bebauten, leicht ansteigenden Stadtkörper zu tun, den er perspektivisch verzerrt auf einen Standpunkt hin berechnen muss, der ein gutes Stück vor der Küste liegt.11 Der hohe, von späteren Stadthistorikern thematisierte Anspruch besteht darin, die Stadt topographisch korrekt als einen im Licht erstrahlenden wohlgestalteten Körper mit erkennbaren einzelnen Gliedern zu zeigen, sowie die außerordentliche Lage in gepflegter und gebändigter Natur zu inszenieren. 12 Zu betonen sind das recht stringent eingesetzte Licht von links, die Plastizität der Bauten, das farbliche Gesamtgefüge und die harmonische Rahmung durch Himmel- und Meeresblau.
Auf der linken Seite sind insbesondere die Wehrbauten, ein Charakteristikum der Erweiterungen unter dem aragonesischen Königshaus, hervorgehoben. Von links nach rechts das älteste Castel dell'Ovo auf einem natürlichen Felsvorsprung, auf dem ansonsten noch unbebauten Pizzofalcone ein kleines Kastell, die mächtige, dem Hafen vorgelagerte Torre di San Vincenzo, im Hintergrund zwei kleine angevinische Klostergründungen des 14. Jahrhunderts, die Torre dell'Oro beim gerade jüngst umgebauten Castel Nuovo. Es folgen die ausladende, perspektivisch bedingt viel zu groß erscheinende, gut bevölkerte Mole und an deren Übergang zur Stadt, linkerhand sodann ein Gewirr von Mauern und Plätzen und rechterhand die mit dem Hafen verbundenen Funktionsgebäude. Gleich im Anschluss erscheint das Arsenal und je weiter man sich dem eigentlichen Stadtkörper zuwendet, ist es trotz der eingezeichneten Linien schwer, sich in dem Gedränge zu Recht zu finden. Eben deshalb fällt umso mehr auf, dass gleichsam über dem Gewimmel, über den schräg projizierten, aber bekanntermaßen im rechten Winkel zum Ufer laufenden antiken cardi fünf Kirchen herausgehoben sind. Von links nach rechts: das auffallend große franziskanische Doppelkloster Santa Chiara mit dem Nonnenkonvent als Bauriegel, San Domenico mit einer sorgsam elaborierten Apsis, die den gotischen Bau kennzeichnen soll, San Lorenzo Maggiore mit ihrem bis heute aus der Stadtsilhouette herausragenden Campanile, die Kathedrale und nicht zuletzt in rosig gehaltenem Tuff San Giovanni a Carbonara. Es handelt sich bei den genannten Bauten hauptsächlich um Kirchen, die unter dem angevinischen Königshaus entstanden sind, und im 13. und 14. Jahrhundert der Stadt ein neues Gesicht gegeben haben. 13 Von besonderem Belang für die Geschichte der Stadt sind sie nicht zuletzt deshalb, weil sich in ihnen die monumentalen Gräber des Königshauses befinden. 14 Diese Heraushebung der Bauten verfolgt das Ziel, die relevanten Glieder des historischen Stadtkörpers als schöne Teile des Ganzen zu betonen und auf diese Weise für den informierten Betrachter Geschichte im Bild ablesbar zu machen. Damit ist keine politische Interpretation angestrebt. Es wäre unsinnig anzunehmen, dass unter den Aragonesen, die vorne im Bild gerade von einem entscheidenden Sieg gegen Jean d'Anjou in den Hafen einfahren, ausgerechnet angevinische Bauten als solche hervorgehoben werden. Allerdings bekommen diese, für den gesamten Stadtkörper so wichtigen Kirchen einen herausgehobenen Platz als Krone der Stadt - hinterfangen nur noch von den sanften Linien des Hinterlandes, umrahmt von einer Girlande also, die Größe und Anmut (grandezza e vaghezza) ausmachen, wie es später bei Giulio Cesare Capaccio (1550-1634) heißt. 15 Die etablierte Annahme eines topographisch informierten Zeichners und eines Malers mit anderen Interessen und Ausbildung leitet sich aus den Ergebnissen von Röntgenaufnahmen ab, die eine vereinfachte Unterzeichnung der Gebäude sowie einiger Fluchtlinien zeigen und offenbaren, dass diverse Personen und Details in einem zweiten Schritt hinzu kamen. Dies muss nicht verwundern, spiegelt sich darin doch ein gewöhnlicher Prozess derartiger Bildprodukti-
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on. Von größerem Interesse ist, dass auch eine Reihe von Linien vernachlässigt, bzw. verändert wurden. Das gilt unter anderem für die Hügelsilhouette im linken Teil sowie für einige Dächer in der Stadt, die offensichtlich weggelassen wurden, um den Blick auf andere Gebäude nicht zu verstellen. Aufs Ganze gesehen handelt es sich um ein Amalgam von Informationen, das die einzelnen, identitätsstiftenden Wahrzeichen wie insbesondere die Kirchen und die Wehrbauten in einen farblich wie plastisch heterogenen Körper einbindet, dessen Silhouette von den gemäßigten Linien der Hügelkette sanft gerahmt wird. Nur das Querhaus von San Giovanni di Carbonara schneidet sie, Santa Chiara berührt sie kaum merklich und das Kastell schwebt gleichsam zwischen den Wolken. Dahinter verbirgt sich eine ausgeklügelte Perspektivkonstruktion mit mehreren Fluchtpunkten und einer hohen, aber nicht stringent durchgehaltenen Horizontlinie. Ihr ist es auch zu verdanken, dass die Mole im Vordergrund unverhältnism äßig groß gegeben ist und die ankommenden Schiffe sehr detailgenau in großem Bogen einlaufen können, womit das erwähnte historische Ereignis, nämlich die Einfahrt am 7.Juli 1465 nach dem Sieg Ferrantes von Aragon (1458-1494 König von Neapel) über J ohann II. d'Anjou (1425- 1470) bei Ischia und damit das Ende einer langen Besatzungs- und Kriegszeit in aller Ausführlichkeit ins Bild geholt wird. Es handelt sich hier um eine Koalition von Neapolitanern, Katalanen und auch Florentinern, die erbeutete Galeeren in den neapolitanischen Hafen zurückbringt. 16 Mehr oder weniger aufmerksam wird das Ganze von zahlreichen Staffagefiguren an Mole und Strand beobachtet, so dass die erstaunlich kleine politische Hauptfigur des Geschehens, Ferrante von Aragon mit Hofstaat in einer Loggia des Castel Nuovo, kaum ins Auge fällt, obgleich er mit einem Stab in der Hand die Flotte begrüßt. Wendet man sich diesem sehr detailreichen Geschehen zu, bemerkt man erst die m aßstäblich und kompositorisch schwer zu lösende Aufgabe, die topographische Erfassung der Stadt mit einer storia zu kombinieren. Weder ist das Ereignis das Alibi für die Vedute, noch handelt es sich trotz der überbordenden H eraldik um ein Historienbild im strengen Sinn oder gar um ein Repräsentationsbild von oder für Ferrante von Aragon. Es handelt sich vielmehr um eine visuelle Interpretation Neapels als einer alten, gewachsenen, von Adel und König ebenso wie von Körper und Lage definierten Stadt, zu der die Hügel gleichermaßen gehören wie das Meer, bei der sich die Ordnung in einer Flottenformation gespiegelt findet, während man beispielsweise keinen einzigen Platz sieht. Es ist dies ganz im Sinne von H enri Lefebvre ein Raum der Repräsentation, also die Darstellung eines sozialen Raumes, in der die vielen vorangegangenen, m ateriellen wie immateriellen Bilder der Stadt im Rahmen einer topographisch exakten Aufnahme aufgehen .17 Der Plan, der 1566 von Etienne Duperac (ca. 1520/ 35- 1604) gestochen und von Antoine Lafrery (1512-1577) gedruckt wurde (Abb. 2), entstand nach den großen urbanistischen Veränderungen durch Vizekönig Pedro Alvarez de Toledo (reg. 1532- 1552), der insbesondere für die erweiterte Befestigung der
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Stadt im Hinterland sorgte, sowie für die Anlage der bis heute n ach ihm benan-nten Via Toledo (67 - in der Legende), die auffallend gerade am östlichen R and der Stad t von der nördlichen Porta Reale (8) bis zum Palast des Vizekönigs (48) führ t. Er darf, nicht zuletzt aufgrund seiner Verwendung in den 18 Civitates orbis terrarum von Georg Braun und Frans H ogenberg ( 1572-1618),
als der im 16. J ahrhundert am stärksten verbreitete Plan angesprochen werden . Gezeigt wird die Stadt mit ihrer Architektur in axonometrischer Umzeichnung, die es ermöglicht, Gebäude, wenngleich stereotyp und auf einen unendlichen Fluchtpunkt ausgerichtet, so doch in einer Ar t Vogelschau d arzubieten, die 19 auch die Binnen strukturen und den Baukörper berücksichtigt. Die umgeb ende Landschaft erscheint durch das stringent von rechts kommende Licht plas-
tisch, obgleich sich Verzerrungen dadurch ergeben, dass G ebäude, wie etwa die Certosa di San M artino zwar auf einer perspektivisch gegebenen Anhöhe eingezeichnet werden , aber dennoch den Maßen des zugrundeliegenden R asters verpflich tet sind.20 Die 75 eingetragenen O rte der Legende versammeln nach den H afenmolen, Stad ttoren, Kastellen , Türm en , dem Arsen al, dem Zoll und dem Sitz des Bischofs 25 ausgewählte Kirchen und H ospitäler, die fünf seggi (eine Besonderheit der neapolitanischen Gesellschaft, deren Adel sich durch die Zugehörigkeit zu Stad tquartieren konstituiert, deren Vertreter sich in Loggia-artigen Gebäuden treffen) 21 sowie n ach dem vizeköniglichen Palast die vornehmen Residenzen der H erzöge, d rei Plätze, den M arkt, fünf Straßen und sechs Brunnen. Folgt m an der Nummerierung der M onumente kann m an imaginär eine Umrundung der befestigten Stad t vornehmen, ihre Wehrhaftigkeit erkunden, ihre Institutionen kennenlernen , die wichtigsten Kirchen vor dem inneren Auge vorbeiziehen lassen - und in der Zusammensch au fällt auf, dass Paläste und auch der öffentliche R aum samt seinen die P rosperität der Stadt repräsentierenden Brunnen großes Gewicht bekommen. Bei aller Exaktheit sind die freien geordneten Flächen sowie die Gärten überbetont. Und um wenigstens ein Beispiel für die m aßgebliche Veränderung eines der H auptmonumente der Stad t zu benennen, sei darauf hingewiesen, dass der Dom „II vescovado" (17) hier, in der Mitte des 16. J ahrhunderts noch mit seiner im Mittelalter entstandenen seitlichen ,Hauptfassade' am südlichen Langhaus wiedergegeben ist und die Cappella de! Tesoro, die die Gestalt d er Kirche heute prägt, selbstverständlich noch nich t eingetragen ist (vgl. Abb. 5- 6). M an versteht die Karte besonders gut, wenn m an sie in Kenntnis eines im gleichen J ahr erschienenen Textes liest, n ämlich G iovanni Tarcagnotas Von Lage und Lob der Stadt Neapel.22 Der Autor dieser knappen Geschichte der Stadt beginnt sein Werk mit einem rhetorischen Kunstgriff, indem er eine kleine Gruppe von privilegierten Neapolitanern in einer Villa oberhalb der Stad t zusammen kommen lässt, von wo aus sie nicht nur den bestmöglichen Blick genießen, sondern auch die Vor- und Nachteile von literarischen Beschreibungen, Ansichten und R eisen diskutieren. „H abt Ihr je im Leben eine schönere Aussicht gehabt?" 23 fragt einer, „wenn m an sie in einem dieser fl andrischen Bilder
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porträtiert sähe, würde man sie dann nicht für die erlesenste Sache der Welt halten?" Dem könnte man auch heute noch zustimmen, zumal wenn man dabei an ein Werk wie Pieter Bruegels Ansicht von Neapel vom Meer denkt, das einige Jahre zuvor entstanden ist und die Stadt in einer Vogelschau mit aller erdenklichen Dramatik darstellt. 24 Ebenso schön sei es indes, erwidert ein anderer, im Detail die Paläste, die Kirchen, die seggi und darüber hinaus die Brunnen sowie die bevölkerten Straßen wahrzunehmen und zu erleben.25 Dann müsse man aber auch die Unordnung und den Lärm ertragen, wirft ein Dritter ein - und so genießen schließlich alle gemeinsam imaginär in aller Ruhe jenen Blick, den das Buch nur alludiert, den man freilich in Form des Druckes von Duperac/ Lafrery in den Händen so manches zeitgenössischen Lesers vermuten darf. Die Zusammenschau der neuzeitlichen Karten und Bilder mit den noch jungen verbalen Stadtbeschreibungen sensibilisiert für die Rhetorik eines wohlgestalteten Stadtkörpers, der aus urbanistischen Anstrengungen hervorgegangen ist. Die
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Texte gewähren dabei zugleich Einblick in die Diskrepanz von Überschau und alltäglicher Erfahrung im öffentlichen Raum. Besonders aussagekräftig für die Ambitionen von Kartographen ist die Version von Ieronimo Pico Fonticulano (1541-1596) aus der Breve descrittione di sette citta illustri d'Italia von 1582 (Abb. 3),26 also einer Publikation, die der systematischen Beschreibung von Städten gewidmet ist. Ausgerechnet ein Kartograph, der in einem anderen Werk genauestens die Werkzeuge der Triangulation und die Berechnung von Projektionen als Anleitung für angehende Kartographen zusammengestellt hat, 27 wählt zur urbanistischen Definition Neapels eine stark vereinfachte Darstellung, nämlich das Wegkreuz des antiken decumanus maximus mit der bereits erwähnten Via Toledo, die er von der korrekt projizierten Stadtmauer umfangen lässt. Dreht man den Plan um 90° kann man sich (gemäß der eingefahrenen Konventionen seit der Tavola Strozzi) besser orientieren, erkennt Palazzo, Kastelle und Stadttore, sowie neben ganz wenigen
3 Pico Gerolamo Fonticulano, Plan von Neapel aus: Breve descrit·
tione di sette citta illustri d'Jtalia, L'Aquila 1582, neu hg. u. komm. v. Maria Centofanti, L'Aquila 1996. 4 Jan van Stinemolen, Neapel, 1582, Federzeichnung, 46 x 121,7 cm, Wien, ALBERTINA.
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Kirchen auch jene kleinen, halbrunden Zeichen, die mit den seggi die bereits erwähnten wichtigsten, öffentlichen Versammlungsorte des Adels, und damit explizit politische Orte im städtischen Raum markieren. Durch diese Reduktion bietet Fonticulano gleichsam ein Diagramm, das jenseits rein urbanistischer Angaben die soziale Verfasstheit der Stadt abzubilden vermag. Um 180° gedreht kann diese Abbreviatur auch dazu dienen, jene aussergewöhnliche Zeichnung Neapels (Abb. 4) zu verstehen, die Jan Stinemolen ( 1518-1589) im gleichen Jahr ausgeführt hat. Man muss sich hier nämlich erst einmal orientieren, im Zentrum der Zeichnung das Castel Nuovo erkennen, links davon Hafenmole und Stadtzentrum, unterhalb des Kastells die quartieri spagnuoli diesseits der Via Toledo - und rechts, hoch erhoben das Castel
']m,rs_§!~,\'RBI _-...,_"""' B 11
Sant'Elmo. Zwei Eigenschaften machen diese Zeichnung besonders wertvoll, will man sich trotz aller eingangs gemachten dekonstruktivistische n Einlassungen eine Vorstellung von Neapel am Ende des 16. Jahrhunderts machen: Stinemolens Zeichnung unterstreicht viel stärker, als die anderen Ansichten es vermochten, die eklatanten Höhenunterschiede, wie man besonders gut am Pizzofalcone, dem Felsvorsprung rechts vom Castel Nuovo, sehen kann, aber auch daran, dass der Berg, auf dem sich das Castel Sant'Elmo befindet, den Blick auf das dahinter liegende Stadtgebiet verstellt. Die Stadtmauern, die im Vordergrund als wohlgestaltete deutliche Grenze inszeniert werden, bieten zugleich den Kontur für das landschaftliche Repoussoir, das die querformatige Ansicht zu beiden Seiten mit überdimensionierten Bäumen rahmt. Abweichend von den anderen Darstellungen scheint die Stadt von zahlreichen unbebauten Flächen, teils Gärten teils Brachland durchzogen. Blickt man zum Beispiel auf 1629, Kupferstich, 92 x 247,5 cm, Kupferstecher Nicolas Perry,
die Fläche unterhalb von San Domenico, so sieht man einen wenig gegliederten Hügel, wo bei Duperac (Abb. 2, Detail bei 22) klar umgrenzte Kreuzgänge und
Drucker Giovanni Orlandi.
Gärten angegeben waren. Offensichtlich legt Stinemolen weniger Wert auf die
5 Alessandro Baratta, Axonometrie von Neapel und Umgebung,
24
korrekte Wiedergabe einzelner Gebäude - Santa Chiara etwa ist mit vier Jochen viel zu kurz geraten - dennoch hebt er (darin vergleichbar der Tavola Strozzi) ihm bedeutsam erscheinende Gebäude hervor und vernachlässigt andere. Dabei kommt er an die Grenzen seiner perspektivischen Konstruktion und im Zweifelsfall scheint er sich auf probate Mittel des Zeichners zu verlassen, der Landvolumina mit Bäumen und Büschen gefälliger macht oder auch einen Monte Oliveto seinem Namen gemäß als regelrechte Anhöhe mit Olivenbaum darstellt. Noch einmal ist angesichts dieses synchronen Vergleiches mit der Version von Fonticulano zu betonen, wie stark selbst noch so dokumentarisch erscheinende Stadtansichten von Medium und Intention der ,Autoren' bestimmt sind. Alessandro Baratta bietet 1629 einen Blick auf eine bereits weit nach Nordwesten expandierte Stadt (Abb. 5), die in etwa jene historische Situation wiedergibt, die in der Wiesbadener Ausstellung im Mittelpunkt steht. Neapel war am Anfang des 17. Jahrhunderts eine der größten und bevölkerungsreichsten Städte Europas, konnte auf eine lange und wechselvolle Geschichte unter verschiedenen H errscherhäusern zurückblicken und kämpfte (so wie noch heute) mit dem Ausgleich zwischen diesem nicht nur kulturell, sondern auch architektonisch und urbanistisch präsenten Erbe und den aktuellen Bedürfnissen der Bewohner, die sich um den Hof sammelten, aber kaum Luft zum Wohnen und Leben hatten.28 Erkennbar ist in dem höchst aufgeräumt wirkenden Plan zwar nicht die soziale Problematik selbst, aber doch - gleichsam auf den ersten Blick - die Diskrepanz zwischen Alt- und Neustadt, zwischen engem Zentrum und weiten Villenanlagen, zwischen neuen Bauten und antikem Straßenraster, sowie zwischen Plätzen, Repräsentations- und Wohnbauten. Bezeichnend für das historiographische Interesse des Zeichners ist die Entscheidung, links zudem die weitere Umgebung mit den berühmten antiken Orten von Pozzuoli bis Cumae einzuzeichnen, um so die Geschichte der frühen neapolitanischen Besiedlung ins Bild zu holen. 29 Die 92
x
247,5 cm große Ansicht besteht aus sechzehn Kup-
ferstichen und ermöglicht es aufgrund der Dimensionen, tatsächlich ins Detail zu gehen, so dass neben den geradezu notorischen , weil militärisch wie ökonomisch relevanten Schiffen im Vordergrund im Stadtraum einzelne Szenen eingefügt werden können - so etwa das Tragen der herrscherlichen Sänfte beim Castel Nuovo oder das alltägliche Treiben auf dem Markt, an dessen Galgen noch ein Gerichteter hängt. Die Weite der Darstellung bringt indes auch Probleme der Projektion mit sich, dergestalt dass die Küste links nicht mehr mit einer zenitalen Darstellung in Einklang zu bringen ist, wie es noch bei Lafrery der Fall war. 30 Baratta legt die Stadt so an, dass sie von einem überdimensionierten Castel Sant' Elmo im Zenit beherrscht wird, unter dem sich Qeweils vom Betrachter aus) leicht nach rechts gewendet, die neuen Stadtteile, die bis heute sogenannten
quartieri spagnuoli erstrecken, weiter links die Villen in der Nähe der Riviera di Chiaia und ganz rechts das antike Zentrum sowie außerhalb der Mauern das berühmte aragonesische Wasserschloss Poggioreale liegen. Beschützt wird die Stadt von der Jungfrau Maria und Christus, die rechts oben mit einer Wolke die erste Dedikationstafel überdecken und die neapolitanische Gesellschaft als
25
eine zutiefst christliche kennzeichnen. Diese Färbung der Darstellung findet ihr Gegenstück in der ausführlichen Legende, die neben historischen Daten insbesondere Kirchen und religiöse Institutionen verzeichnet. 31 Pfarreien, Ordenskonvente nach Geschlechtern getrennt (1-167) werden gefolgt von Konservatorien (168-182), Hospitälern und nicht zuzuweisenden Kirchen (183-236) samt den mit Großbuchstaben angegebenen Gefängnissen, die offensichtlich von großer Relevanz für die Sicherheit der Stadt waren. Doch darunter folgt über die ganze Breite der Karte, eingeteilt in kleine gerahmte Kästchen, unter expliziter Bezugnahme auf Antonio Giovanni Summontes Geschichte des Königreiches Neapel eine kurze Zusammenfassung der lokalen Geschichte, die von der mythischen Gründung durch die Nymphe Parthenope bis zu den Vizekönigen reicht. 32 Die Auswahl der historischen Angaben entspricht in etwa dem, was bis heute als relevante Chronologie gilt (wobei typischerweise das frühe und hohe Mittelalter gänzlich ausgeblendet werden), aber der Text würde eine genauere Lektüre verdienen. Er benennt nämlich die sichtbaren antiken Reste, die teils in andere Bauten integriert worden sind. Er unternimmt einige Anstrengungen, die Veränderungen einzelner Orte im Laufe der Jahrhunderte zu beschreiben - und nicht zuletzt bezieht er die wenigen Daten zur Geschichte tatsächlich auf die Gestalt der Stadt und reiht nicht nur Herrschernamen auf. So benennt er einen antiken Frauenkopf, der auch vom Volk noch immer „Capo di Napoli" genannt werde. Er bildet ihn eigens ab und führt aus, dass es besonders wichtig sei, auf dieses weitverbreitete Bewusstsein für die eigene Geschichte im Volk zu achten. 33 Hier ist nicht der Ort, um das Verhältnis von Kartographie und Geschichtsschreibung aufzuarbeiten. Allerdings wäre Barattas Ansicht samt Legende ein lohnendes Objekt, um zu analysieren, mit welchen zeichnerischen und kartographischen Mitteln die palimpsestartige Struktur einer Stadt samt ihrer sozialen und performativen Realität ins Bild gebracht wird. Den Höhepunkt der neuzeitlichen Kartographie Neapels schließlich bildet der Plan, den Giovanni Carafa, Herzog von Noja, 1750 begann und der nach seinem Tod, fortgeführt von Giovanni Pignatelli, 1775 erstmals gedruckt wurde (Abb.
6). 3 '~
Die Dimensionen sind noch einmal deutlich erweitert worden,
so dass erheblich mehr Umland aufgemessen und verzeichnet sowie zahlreiche weitere Informationen und Veduten hinzugefügt werden konnten. Das eigentliche Stadtgebiet ist auf lediglich drei von 35 Blättern enthalten und zeigt nun erstmals genau die enorme Verdichtung des urbanen Raumes, der in vorangegangenen Versionen zwar benannt, aber nicht so deutlich abgebildet worden war. 35 Die Arbeit an der Karte leitete Carafa mit der Publikation eines langen Briefes ein, in dem er die Notwendigkeit des Unternehmens damit erklärte, dass man den gegenwärtigen Zustand der Stadt nur ermessen könne, wenn man seine historischen, politischen und ökonomischen Faktoren bedenke. 36 Ganz im Sinne der Aufklärung sollten diese Daten letztlich zu einer Verbesserung des städtischen Lebens führen, die nach Carafa durch die Einrichtung von Museen, Hotels und Krankenhäusern, genauso wie mit neuen Straßen, Abwasserkanälen und Überwachungsstrukturen zu erreichen wären und die im Geiste der bourbo-
26
6 Duca di Noja (Details), Karte von Neapel, 1750- 1775, Neapel, Biblioteca Nazionale di Napoli.
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nischen Erneuerungen seit 1734 stünden. 37 Mit diesem Programm trat er an Karl III. (1 735-1 759 König von Neapel und Sizilien) heran und erwirkte eine erste Finanzierung. Nach langen Reisen u.a. in Zentren der m odernen Landvermessun g wurde die Arbeit erst in den l 760er Jahren tatsächlich aufgenommen, und eine weitere Finanzierung durch die neapolitanische Stad tregierung führte zu
Straßen ein Angesicht. Der Plan des 18. Jahrhunderts ist in gewisser Hinsicht viel gen auer und, wie schon an den Zahlen abzulesen, mit viel mehr Information gespeist, die sich auch in den detaillierten Plänen der Kirchen ablesen lässt. San Lorenzo (245 ) wird korrekt mit einem gotischen Umgangschor gegeben und der
einer leichten Akzentverschie bung in der Ausführung des Plans. Während anfangs die urbanistischen Strukturen und die Erfolge
Dom wird numerisch in mehrere Einheiten unterteilt, so dass die Cappella de! Tesoro (258) zwar einen eigenen Eintrag, aber auf dem Plan selbst kaum noch Prägnanz erhält. Beide System e
der Bourbonen im Mittelpunkt stehen sollten, legte der Stadtadel besonderen Wert auf die Sichtbarkeit der eigenen Familien sam t
stoßen mit der Wiedergabe des R aumes m edienbedingt an ihre G renzen, beiden ist Geschichte nicht nur durch die verzeichneten
H eraldik, wie sie sich dann im Stammbaum niedergeschlage n haben. Auch die seit dem 16. J ahrhundert verzeichneten seggi, die
Bauten selbst, sondern weit mehr durch die internen und externen Verweise eingeschrieben . Der lebendige Organismus Stadt und seine historische Wahrnehmung ist in diesen Bildern nicht
das politische Leben der Stadt bestimmten , wurden nun wieder explizit mit den alteingesessene n Familien verbunden. Technisch
zu finden , dafür aber die historische Wissensproduk tion zur Topo-
ist die Kar te des H erzogs von Noj a vergleichbar mit dem NolliPlan Roms von 1748 und damit ganz auf dem Stand ihrer Zeit. 38
graphie selbst, die die Stadt als Produkt und Ausgangspunkt von Geschichte fasst.
Das Bild der Metropole Neapel trägt ab er trotz aller aufklärerischen Bemühungen des Kartographen den Stempel einer rückwärtsgewandten Aristokratie. Die sechs hier kurz vorgestellten Bilder Neapels aus drei J ahrhunderten zeigen - wie nicht anders zu erwarten - eine rapide gewachsene Stadt in einer seit der Antike gepriesenen schönen Lage. Die politischen Umstände und das soziale Gefüge, also die Präsenz verschiedener Königshäuser samt ihrer repräsentativen Bauten, sowie die Markierung einer adligen Gesellschaft durch die seggi sind in ihnen niedergelegt, auch wenn sie sich erst dem aufmerksam en Betrachter und dem Leser der Legenden regelrecht zeigen. Geschichte und R aum schneiden sich dabei nicht nur aufgrund der Bedingungen des Mediums, sondern weil die Produzenten der Bilder dieses Verhältnis thematisieren - sei es durch die Ereignishaftigk eit der D arstellung, sei es durch die Reduktion auf eine städteb auliche Ordnung oder auch nur durch das H erausheben einzelner Monumente und Landmarken, deren identitätsstiften de Bedeutung so perpetuiert wird. Vergleicht m an sträflich kurz und abschließend die Ausschnitte aus dem Bereich des Domes in den Plänen von Baratta und Duca di Noja (Abb. 5- 6) miteinander, wird die Macht von Ansicht, Aufs icht und Legende schlaglichtartig deutlich. Bei Baratta überragt die relativ neue Cappella de! Tesoro das Gebäude, auf der gleichen Straße sehen wir von links nach rechts den großen seggio di Montagna (6), die Reste des Dioskurentemp els, direkt gegenüber San Lorenzo (80) und fas t am rechten Rand auch noch den seggio di Capuana, der hier gleichsam Teil des Domareals wird. Die Axonometrie ermöglicht Details der Fassaden und gibt den
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1 Zit. n. http:f/ www.sueddeutsche .de/kultur/ stad tpl aene-d ie-beweglichestad t-12802374 [letzter Zugriff 2.1.2016]. 2 Vgl. dazu Dünne/Günzel 2006; Michalsky 20 15, S. 15-38, mi t weiter führender Literatu r. 3 Vgl. Michalsky 2014, S. 321-339. 4 Die Darstellung baut in Bezug auf d ie hi storischen Daten auf den g rundlegenden urbanistischen und kartographiegeschi ch tlichen Forschungen von Cesare de Sela sowie den Studi en des Centro interdipartimentale di Ricerca sull 'lconografi a della Citta Europea (http://www.iconog rafiacittaeuropea.un ina.it/ ) auf: De Seta
1969; De Seta 1973; De Seta 1981; De Seta 1988; Ausst.-Kat. Neapel 1990; De Sela 1991; De Seta/ Buccaro 2006.
5 82 x 245 cm, Neapel, Museo di San M artino , vgl. ausführlich De Seta 1991 , S. 11 -22; sowie De Seta 1994, S. 363-367 mit der Zuschreibung der Tafel an Francesco Rosselli, der auch den sog. „Kettenplan" von Floren z angefertigt hat. Zuletzt mit ausführlichen Literaturangaben Kat.-N r. 1 in: De Seta/ Buccaro 2006, S. 113. Ich beziehe mich v.a. auf Pane 2009.
19 Ich schließe mi ch Giulio Pane an, der schon 1970 dafür plädierte, d ann von Karten oder Plänen zu sprechen, wenn sie auf Daten basieren, die in einer Triangulation erhoben worden, unabhängig davon, welche Form der Axonometrie verwendet wurde, vgl. Pane 1970, S. 118- 119. 20 Mauro 1992, S. 22. 21 Vgl. dazu zu letzt Lenzo 20M, mit Hinweisen zu weiterführe nder Literatur. Eine kurze Darstellung bietet Marino 2011 , S. 13- 16.
6 Kupfe rstich, Neapel, 83,2 x 51,8 cm, vgl. Mauro 1992.
22 Vgl. Tarcagnota 1566.
7 Siehe Pico Fonticulano 1582/ 1996 mit weiterer Literatur. Vgl. zur Genauigkeit der in der Karte verarbeiteten Daten Stroffolino 2006, hier S. 40; vgl. dazu ausführlicher Mi chalsky 2008, S. 267-288. Bereits M44 entstand eine Beschreibung Neapels, die auf die Hauptstraßen und die seggi abhebt: „La ditta citade se parte in cinque parti e cinque sedie [...] Je qua! Sedie sonno lozie lavorate e ornate, dove se reduce tuti i zentilhuomini delle ditte contrade [... ]",vgl. Foucard 1877, S.
23 ,Yedeste mai per vita vostra la piu bella prospettiva di questa? Se si vedesse ritratta in uno di questo quadri di Fiandra, chi non direbbe, ehe questa fosse la piu delicata cosa de! mondo?" Zit. n. Tarcagnota 1566, fol. 2v.
725-757, bes. S. 732. 8 Federzeichnung, 46 x 121,7 cm, Wi en, Graphisch e Samm lung Albertina, vgl. Furnari 1990, S. 45-56; Pinto 2006, S. 367-372. 9 Kupferstich, 92 x 247,5 cm. Kupferstecher Nicolas Perry, Drucker Giovanni Orlandi. Eine hoch aufgelöste digitale Version bietet die Bibliotheque Nationale: http://gallica.bnf.fr/ ark:/ 12148/ btv 1b52504785x.r=alessandro+baratta.la ngEN; vgl. Pane 1970- 1973, (Teil 1) S. 118-159 und (Teil 2) S. 45-70; De Sela 1980, S. 46-60; zu den verschiedenen Editionen siehe Bellucci/Valerio 2007, hier von Ermanno Bellucci die Kat.-Nr. 33 zur 1. Edition von 1627 (mit ausführli chen Überlegungen zum ,Autor' der Karte), Kat.-Nr. 36 zur Ed ition von 1629, Kat.-Nr.76 zur Edition von 1670. Vgl.auch die jüngste Publikation von Aniello Langella: La pianta della citta di Napoli 1628 [sie!] di Alessandro Baratta. Vesuvioweb 2015, abzurufen in einzelnen pdf-Dateien http://www.vesuvioweb.com/ it/ wp-content/ uploads/ 4-Aniello-Langell a-La-pianta-della-citt%C3%AO-di-Napoli-di-Alessandro-Baratta-1628-vesuvioweb-2015-parte-quarta-e-quinta.pdf [letzter Zugriff 5.2.2016]. 10 Vgl. Pane 2009, der sich weder für einen Auftraggeber noch für einen bekannten Künstler entscheidet, sondern einen der in der Kunstgeschichte so beliebten anonymen „Meister der ,Tavola Strozzi'" einführt. Die topographi schen Aufnahmen seien von einem Ortskundigen angefertigt und dann jedoch in Florenz mitsamt architektonischem Ornament in die Malerei übertragen worden. Auch der eingeführte Titel der Ansicht hat bei ihm nur noch einen forschungsgesch ichtlichen Hintergrund. Man hatte die Tafel zuvor mit dem Dokument der Schenkung einer Bettrückwand des Florentiners Filippo Strozzi an Ferrante von Aragon in Verbindung gebracht. Nach Pane handelt es sich bei dem dort erwähnten Stück jedoch um eine lntarsienarbeit, für die unsere Tafel lediglich Pate gestanden haben soll. 11 Vgl. Pane 2009, S. 81-87. 12 Vgl. die weitschweifigen Einlassungen zu Körper und Lage der Stadt bei Giulio Cesare Capaccio (Capaccio 1634/ 1993). Zur Dialogform des Texts vgl. Marino 2011 , S. 50. 13 Vgl. Bruzelius 2004. 14 Selbst in dem knappen Tex t von Braun/ Hagenberg 1572 werden einige d er Gräber erwähnt, siehe Braun/ Hagenberg 1572- 1618/ 1965, Tafel I,47: „inter haec praecipua sunt, templum D. Clarae, vom virgineo, mirabile opus, ab Agnete Regina Hispaniae, Roberti Regis coniuge factum. Sepulchra in eo multa conspiciuntur eximia, Regum Reginarumque, & Regiorum liberorum , ex illustri Dyrrachiana domo , Carolique, qui d. Lodovici Regis Franciae frater fuit progenie". Zu den G räbern vgl. Michalsky 2000. 15 „E gia vi trattaro del sito, ehe suol esser Ja ghirlanda e la gloria delle cita, ehe da quello prendono grandezza e vaghezza", Capaccio 1634/ 1993, S. 93lff. 16 Vgl. Pane 2009, S. 123- 130.
24 Das Bild von Pieter Bruegel (um 1525/ 30- 1569) befind et sich in Rom in der Galleria Doria Pamphilij (ca. 1558, Öl auf Holz, 42 x 71 cm). Vgl. dazu Michalsky 2008, S. 270 f. 25 „Bellissima ce rto, ma non minore giocondita si sente, quando dentro Ja citta istessa si veggono in particolare i bei palagi, le ornate chiese, i magnifici seggi, le fresche fontane, & Je strade da tanta cavalleria & da cosi honorato popolo frequentate." Zit. n. Tarcagnota 1566, fol. 3. 26 Vgl. Anm. 7. 27 Das Werk wurde postum von seinem Bruder herausgegeben: Geometria di leronimo Pico Fonticulano dell'Aquila, L'Aquil a 1597. 28 Vgl. D'Agostino 1988, S. 95-97; Galasso 1998, S. 21, gibt an, die Bevö lkerung sei im 17.Jh. auf ca. 400.000 Einwohner angewachsen. 29 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Pane 1970- 1973, zur Funktion des antiken Erbes ebd., (Te il 1) S. 119. 30 Vgl. zur Perspektivkonstruktion Valerio 1993, S. 62; Woodward 2007, S. 958f. 31 Vgl. den gesamten Text bei Pane 1970-1973, (Teil 1) S. 146- 151; zum Lob der Religiösität siehe ebd. S. 124. 32 Giovanni Antonio Summonte, Historia delta citta e regno di Napoli, Neapel 160 1. 33 „In pronta di tutto cio ne abbiamo tre bellissime antich ita. La prima e quell'antico busto di marmo, ehe sta eretto presso Ja Chiesa di S. Eligio, al cantone della strada, ehe va verso li Coirari, il quale sino ad oggi di vien detto d a! volgo, il Capo di apoli , ehe non e poca fede Ja traditione de! popolo di cosa cosi cognita. Questo capo e di Donna co n le treccie avvolte alla greca come dipinto si usa trovandosi anche oggidi in molte mon ete l'imp. di cossifaita Donna per rovescio il Dio Hebone Di. dei Neapolitani come scrive Macrobio, e il Capaccio il quale sia dipinto nell 'Orione di ap. a seggio di porto. L'altra Antichita e un quadro d i marmo, dentro Ja sudetta Chiesa di S. Giovan Maggiore, ch'e posto dentro Ja cappella de! Santissimo Crocifisso co me si vede designato ove chi aramente so scuopre essere reliquia del Sepolcro di Partenope". 34 Vgl. Marin 2010, S. 387-407, bes. S. 388-390, zu Giovanni Carafa (1715 - 1768) siehe den Eintrag in: Dizionario Biografico d egli Italiani, Bd. 19, hg. v. Ugo Baldini, 1976: http://www.treccani.it/ enciclopedia/ giovanni-carafa_ res-fl 6f39 l a-87e9lldc-8e9d-0016357eee5 l _(Dizion ario-Biografico) [letzter Zugriff 10.02.20 16]. Vgl. die Karte der Biblioteca Nazionale di Napoli: http://digitale.bnnonline.it/ index. php?it/ 149/ ricerca-contenuti-digitalijshow/ 85/ [letzter Zugriff 10.02.2016]. 35 Der Maßstab beträgt 1 : 3.808. 36 Der Brief erschien ged ruckt 1750 und erhielt 1770 eine zweite Edition, vgl. die moderne Abschrift von Fernando Loffredo bei http://www.memofonte.it/ home/ files/ pdf/ CARAFA_CARLETTI.pdf [letzter Zugriff 10.02.2016]. 37 Vgl. Marin 2010, S. 391. 38 Vgl. di e digitale Aufbereitung http://nolli.uoregon.edu/ gazetteerKey.htm [l etzter Zugriff 10.02.2016].
17 Lefebvre 2004, S. 36- 39. 18 Braun/ Hagenberg 1572-1618/1965, Bd. l , Tafel 47.
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LITE RATURVER ZEI CHN IS
Abita / Adolfini / Varriale 1992 Angela Abita, Gennaro Adolfini, Ugo Varrialc (Hg.), ß attistcllo piuorc di storia. Restauro di un affresco, Neapel
1902. Acanfora 1994 Elisa Acanfora, A lessandro Rosi, Flore nz 199•1. Albcrti 1550 Leandro Alberti, Descrittione d i tutta ltalia, Bologna 1550.
Au kt.-Kat. Neapel 1928 Catalogo di quadri antichi e modern i, mobili, porcellane. tappe ti e sopra mobili provenienti da ricca raccolla di Sicilia e da una aristocratica famiglia napoletana, Aukt.-KaL Neapel , Galleria Canessa, 1928. Neapel 1928. Aurigemma 1994 Maria Giulia Aurigemma, „Dei Cavalier Bag lio ne", in: Storia dell'rutc, 80 (199< ). S. 23-53.
s. 3-6.
Aurnhammer / S
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Report "Geschichte im Raum. Topographische Imaginationen Neapels in der Frühen Neuzeit, in: Caravaggios Erben. Barock in Neapel, Katalog der Ausstellung, herausgegeben von Peter Foster, Elisabeth Oy-Marra, Heiko Damm, Wiesbaden 2016, S. 14-29 "