Geistesgeschichte und neue archivische Bewertungstheorien1 Beispiel eines möglichen Dialogs der Geschichtswissenschaft und des Archivwesens MIKULÁŠ ČTVRTNÍK
Intellectual history and the new archival appraisal theories Abstract: The essay presents one of the possible examples of dialogue between history and archival science. Specifically how intellectual history as a field of research in history can enrich the theoretical conceptions of archival appraisal. The article tries to set different contexts, in which we could understand documents and appraise them. Key words: archival appraisal; intellectual history; archival theory; appraisal theory.
Die Geschichtswissenschaft und das Archivwesen sind verwandte Wissenschaftszweige, obwohl, was den Zeitraum ihres Entstehens betrifft, zwischen ihnen einige Jahrhunderte liegen. Die Wechselwirkung zwischen ihnen und ihre gegenseitige Beeinflussung findet auf vielen Ebenen statt. In der Geschichtswissenschaft kam es im 20. Jahrhundert zu einer starken Beschleunigung der Entwicklung, die Historiographie verzweigte sich in viele unterschiedliche Richtungen, Schulen und Tendenzen. Auch im Archivwesen kam es im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer bedeutenden Entwicklung und in der heutigen Zeit gibt es neben der Frage von elektronischen Dokumenten, Digitalisierung usw. vor allem die Frage der Aussonderung der Dokumente, ihrer Bewertung, bei der eine dynamische Entwicklung zu vermerken ist. Die Aktualität der Frage der archivischen Bewertung (archival appraisal, tri, évaluation des documents) – so wie man sie vor allem in Deutschland, Kanada, Frankreich, in der Schweiz, den Niederlanden usw. beobachten kann – ist höchstwahrscheinlich dadurch verursacht, dass es mindestens seit dem 2. Weltkrieg zu einem enormen Anstieg der Menge von Dokumenten kam, die nicht nur durch öffentlich-rechtliche Urheber produziert werden. Mit dem Anstieg dieser Menge nimmt auch die Notwendigkeit zu, diese Menge zu reduzieren. Von dieser Stelle aus ist auch der Druck auf die Entwicklung neuer archivischer Bewertungstheorien zu verstehen. Dabei geht es vor allem um den dynamischen Bereich der archivischen Theorie und Praxis, der dringend in Kontakt mit der Geschichtswissenschaft treten muss, deren Bedürfnissen er in großem Maß dient, wobei er auf der anderen Seite wesentlich die Ergebnisse dieses Wissenschaftsbereiches mitbestimmt. Die gegenseitige Reflexion der Geschichtswissenschaft und des Archivwesens im Bereich der archivischen Bewertung, bzw. von der anderen Seite, die Bewertung der Quellen zeigt sich als sehr wichtig für ihre Entwicklung. Im vorliegenden Beitrag stelle ich eine dieser möglichen gegenseitigen Widerspiegelungen vor. Am Beispiel der Geistesgeschichte als einer der historiographischen Richtungen versuche ich zu zeigen, wie die Geschichtswissenschaft die archivische Theorie bereichern kann und auf der anderen Seite, welche neue Impulse das Archivwesen der Geschichtswissenschaft liefern kann. Die Geistesgeschichte kann durch ihre spezifische Auffassung der Geschichte, ihrer Entwicklung und ihrer einzelnen „Etappen“ („Zeiträume“) zu einer guten Inspirationsquelle für die Theorie
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Diese Studie entstand an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag im Rahmen des Forschungsvorhabens MSM 0021620827 „Die Böhmischen Länder inmitten Europas in der Vergangenheit und heute“, und zugleich ist die Studie Ergebnis des Grantprojekts, das von der Grantagentur der Karlsuniversität in Prag (GAUK), Nummer 20209, unterstützt wird.
der archivischen Bewertung im Bereich der Erweiterung von möglichen Ebenen des Zusammenhangs werden, in denen und aus denen das Dokument zu verstehen und zu erläutern ist. Das Dokument existiert nicht an und für sich, sondern seine Bedeutung und sein Sinn werden immer im Rahmen breiter Zusammenhänge, allgemeiner und sehr unterschiedlicher Kontexte geformt. Es ist auch die Voraussetzung für die gleiche Bedeutung ungleichartiger Tatsachenbereiche. Diese Voraussetzung ist für die Geistesgeschichte signifikant und kann für die archivische Bewertungstheorie einen großen Beitrag bedeuten. Nachdem die Geistesgeschichte nicht zu den historiographischen Richtungen gehört, über die sehr oft diskutiert wird, möchte ich die wesentlichen Züge dieses Gedankenstromes umreißen, um dann im folgenden Text eine der konkreten Möglichkeiten der gegenseitigen Inspiration der Geschichtswissenschaft und des Archivwesens im Bereich der Problematik der Bewertung zu zeigen.
Geistesgeschichte
Die Geistesgeschichte fing an, sich als ausgeprägte historiographische Richtung mit der Bezeichnung Geistesgeschichte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den deutschsprachigen Ländern zu profilieren.2 In der Person von Zdeněk Kalista fand sie in den tschechischen Ländern ihr Echo und zugleich den neuen Versuch, sie zu definieren.3 Auch nach dem 2. Weltkrieg ging sie nicht unter. Dazu ist aber hinzufügen, dass sie nie ihren Weg unter die vorrangigen historiographischen Richtungen fand. Zdeněk Kalista blieb, was sein Konzept der Geistesgeschichte betrifft, praktisch ohne Nachfolger, und in Deutschland in den letzten Jahrzenten widmete sich der Geistesgeschichte, als einer klar definierten historiographischen Richtung, die methodologisch eigenständig gegründet wurde, nur eine minimale Zahl von Historikern, wie z. B. Hans-Joachim Schoeps, Stephan Otto, Frank-Lothar Kroll, Kurt Kluxen, Julius H. Schoeps, Friedrich W. Kantzenbach, Eckhard Keßler, Wolfgang von Löhneysen, Luise Schorn-Schütte.4 Est ist jedoch hinzufügen, dass man ungefähr in den letzten fünfzehn Jahren der Geistesgeschichte mehr Aufmerksamkeit widmet. Das bezeugt auch die Unterstützung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des
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Im tschechischen Umfeld erschienen nicht viele Studien, die die Geistesgeschichte beschreiben würden. Ich würde zumindest auf meinen Beitrag Mikuláš Čtvrtník, Zdeněk Kalista a tradice německých Geistesgeschichte [Zdeněk Kalista und die Tradition der deutschen Geistesgeschichte] verweisen, In: Lucie Storchová, Jan Horský und Koll., Paralely, průsečíky, mimoběžky. Teorie, koncepty a pojmy v české a světové historiografii 20. století [Parallelen, Schnittpunkte, windschiefe Geraden. Theorien, Konzepte und Begriffe in der tschechischen und Welthistoriographie des 20. Jahrhunderts], Ústí nad Labem 2009, S. 155–188. 3
Es geht vor allem um Kalistas Studie Dějiny duchové [Geistesgeschichte], veröffentlicht in Cesty historikova myšlení [Wege des Nachdenkens des Historikers]. Zdeněk Kalista, Cesty historikova myšlení [Wege des Nachdenkens des Historikers], Prag 2002, S. 189–257. 4
Aus der neueren Literatur über Geistesgeschichte vgl. z. B. Frank-Lothar Kroll, Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates, Paderborn 2001. Ders. (Hrsg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996. Luise Schorn-Schütte, Ideen-, Geistes-, Kulturgeschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 541–567. Dies., Neue Geistesgeschichte, in: Joachim Eibach, Günther Lottes (Hrsgg.), Kompass der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2006, S. 270–280. Wolfgang von Löhneysen, Geistesgeschichte und was damit zusammenhängt, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47, 1995, S. 81–89.
Schwerpunktprogramms „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit – Ansätze zu einer neuen Geistesgeschichte“ (1997-2003).5 Zu den imaginären Gründern der modernen (d.h. im Zeitraum der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts) Geistesgeschichte gehörten u.a. Erich Rothacker, Walter Strich, Virgil Redlich, Hans Fehr. Wir können auch einen tschechischen Vertreter, nämlich Max Dvořák nennen, der auch als Vertreter der Geistesgeschichte bezeichnet wird.6 In der Nachkriegszeit war HansJoachim Schoeps Vertreter und großer Befürworter der Geistesgeschichte, der nach dem 2. Weltkrieg an der Universität in Erlangen wirkte und wo dank seiner Initiative das Seminar für Religions- und Geistesgeschichte entstand.7 Schoeps fing an, 1948 die Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte herauszugeben, die bis heute erscheint. Letztlich wurde 1958 die Gesellschaft für Geistesgeschichte mit dem Sitz in Potsdam gegründet. Neben Schoeps und seinem Seminar an der Universität Erlangen fungierte seit 1965 das Seminar für Philosophie und Geistesgeschichte des Humanismus an der Universität München, das seit 1973 Stephan Otto, ein anderer bedeutender Vertreter der historiographischen Richtung Geistesgeschichte in Deutschland, leitete. Stephan Ottos Beitrag zur Entwicklung der Geistesgeschichte ist die Herausgabe der Reihe Die Geistesgeschichte und ihre Methoden, Quellen und Forschungen in München, wo er 1979 zugleich das eigene Werk Materialien zur Theorie der Geistesgeschichte veröffentlichte.8 Das nächste bedeutende Unternehmen im Bereich der Geistesgeschichte in der Nachkriegszeit, das von den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute durchhielt, ist die Zeitschrift Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Ursprünglich begann Paul Kluckhohn mit Erich Rothacker 1923 in Halle diese Zeitschrift herauszugeben. Es gibt zwei grundlegende Züge der Geistesgeschichte, die praktisch bei allen ihren Vertretern zu finden sind. 1. Die Geistesgeschichte, wenn wir es sehr vereinfacht zum Ausdruck bringen, konzentriert sich auf das Feststellen, Untersuchen und Charakterisieren des Zeitgeistes. Hans-Joachim Schoeps definierte es kurz so: „Die Geistesgeschichte will den Geist einer Zeit, den sog. Zeitgeist erfassen, wie er in den Manifestationen des geistigen Lebens: Philosophie, Kunst, Religion, aber auch Staat, Recht, Wirtschaft usw. zum Ausdruck kommt.“9 2. Der andere, stark überzeugende Zug der Geistesgeschichte ist die Tatsache, dass sie die Einheit im Rahmen der unterschiedlichsten Erscheinungen des entsprechenden Zeitalters, der Nation, der Kultur usw. voraussetzt. Es ist gerade der Begriff „Gesamtgeist“, „Zeitgeist“ usw., der diese Einheit zum Ausdruck bringt, eher als er sie selbst schaffen würde. Obwohl wir bei jedem einzelnen Denker sein eigenständiges Verständnis dafür unterscheiden 5
Vgl. dazu Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsgg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006. 6
Es geht vor allem um die postmortale Ausgabe der Werke von Max Dvořák bei R. Piper in München: Kunstgeschichte als Geistesgeschichte (1924); Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck (1925); Geschichte der italienischen Kunst I. (1927); Geschichte der italienischen Kunst II. (1928); Gesammelte Aufsätze zur Kunstgeschichte (1929).
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Zu Hans-Joachim Schoeps zuletzt Frank-Lothar Kroll, Geschichtswissenschaft in politischer Absicht. HansJoachim Schoeps und Preußen, Berlin 2010. 8
Stephan Otto, Materialien zur Theorie der Geistesgeschichte, München 1979. Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Ein Plädoyer für Geistesgeschichte, In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 36, 1984, S. 252–255. 9
Hans-Joachim Schoeps, Geistesgeschichte als Lehrfach, In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 8, 1956, S. 308.
können, was dieser „Geist“ darstellt, können wir in Bezug auf die Denker der Geistesgeschichte zusammenfassen, dass bei ihnen in der Regel die Überzeugung über die Existenz eines bestimmten „Zeitgeistes“, „Kulturgeistes“, „Gesamtgeistes“ usw. vorherrscht. Zugleich mit der Voraussetzung einer gewissen Einigkeit im Rahmen der unterschiedlichsten Erscheinungen eines Zeitalters setzen die Denker der Geistesgeschichte einen bestimmten Zusammenhang unter diesen Erscheinungen, ihre gegenseitige Verbindung voraus, wobei die eine auf die andere hinweist, diese wiederum auf eine andere usw. Die Voraussetzung der Einheit und der Verbundenheit im System der Erscheinungen eines Zeitalters ermöglicht dann den Denkern der Geistesgeschichte z. B. die Zeit oder den Zeitgeist der Gotik, Renaissance, des Barocks usw. zu erörtern. Die Denker der Geistesgeschichte sollen mittels Nachforschungen im Bereich der Verbundenheit und Einheit bei den unterschiedlichsten Erscheinungen des entsprechenden Zeitalters zum tieferen Erkennen „des Geistes des entsprechenden Zeitalters“ kommen.10 Neben diesen zwei Aspekten kann man an dieser Stelle manche der gemeinsamen Grundzüge hervorheben, die die Geistesgeschichte aufweist (sehr oft via negationis). 3. Die Geistesgeschichte ist in ihren Erörterungen nicht nur auf die menschliche Seele als das grundlegende und einzige Prinzip der Erläuterung eingeschränkt. Obwohl der Begriff des „Geistes“ unerklärt bleibt, ist es auf keinen Fall die menschliche Seele. Die Begriffe wie Zeitgeist, Volksgeist, Kulturgeist, oder einfach Gesamtgeist,11 die in den Werken von Historikern der Geistesgeschichte vorkommen, sind gerade wegen ihrer Allgemeinheit und wegen der Überschneidung über den Rahmen einer Einzelperson hinaus nicht mit der menschlichen Seele gleichzusetzen, obwohl die menschliche Seele zum Ausdruck dieses allgemeinen Geistes werden könnte. 4. Die Geistesgeschichte schließt die wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und andere Erscheinungen nicht aus. Sie versteht sie als eine bestimmte Grundlage von geistigen Erscheinungen, die man nicht ausschließen kann. 5. Obwohl die Geistesgeschichte nicht auf bewusste Prozesse eingeschränkt ist, stellt dabei das menschliche Bewusstsein einen wichtigen Punkt dar, wenn nicht überhaupt den Ausgangspunkt.12 6. Sehr oft wird die Geistesgeschichte als ein Bereich, der mit der Kulturgeschichte, der Geschichte von Ideen, der Philosophiegeschichte verwandt ist, verstanden. Zugleich wird jedoch betont, dass es sich um keinen mit ihnen identischen Bereich handelt und dass die Geistesgeschichte nicht mit ihnen zu vermengen ist.13 7. Der Begriff „Geist“ wird in der Geistesgeschichte auf keinen Fall im Hegelschen Sinn verstanden. Die Geistesgeschichte widerspricht in den meisten Fällen dem metaphysischen Verstehen des Geistes, egal ob im Sinn der Selbstbewegung des absoluten Geistes oder der Selbstentwicklung der Idee usw. Der Zeitgeist weist nach der Geistesgeschichte eher eine apersonale Struktur auf. Er ist keine „Überperson“, sondern es handelt sich eher um das Manifestieren einer Zusammenfassung von Repräsentationen, um das Einheitliche im
10
Vgl. z. B. Walter Strich, Wesen und Bedeutung der Geistesgeschichte, In: Walter Strich (Hrsg.), Die Dioskuren (Jahrbuch für Geisteswissenschaften), Bd. I., München 1922, S. 5–11. 11
Ebd.
12
Vgl. Strich, Wesen und Bedeutung der Geistesgeschichte (wie Anm. 10), S. 2.
13
Vgl. z. B. Walter Ehrlich, Geistesgeschichte, Tübingen 1952, S. 5; Hans-Joachim Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte, In: Hans-Joachim Schoeps, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Hildesheim-Zürich-New York 2000, S. 12–13.
Unterschiedlichen.14 Die Geistesgeschichte konzentriert sich oft auf das Ermitteln des Zeitgeistes, deswegen können wir nach dem 2. Weltkrieg oft dem Begriff Zeitgeistforschung begegnen, so etwa im Sinn von die Gesinnung einer Epoche.15 Es erscheinen auch Begriffe wie Epochenforschung,16 Lebensgefühl einer Generation usw. 8. Die Geistesgeschichte arbeitet mit der spezifischen Auffassung des Erkennungssubjekts. Im Prozess des geistesgeschichtlichen Erkennens setzt sie eine deutliche Aktivität des Subjekts voraus. Es geht nicht um ein Subjekt, das nur passiv das wiedergeben würde, was geschah, sondern es ist immer ein Subjekt, das aktiv „konstruiert“.17 Das aktive, „konstruierende“ Subjekt kommt nicht nur durch Zufall beim Tschechen Zdeněk Kalista zum Vorschein. 9. Die Denker der Geistesgeschichte heben hervor, dass sie sowohl die Geschichte allgemein, als auch die Geschichte der einzelnen wissenschaftlichen Bereiche auf eine spezifische Art auffassen, die sich von der üblichen Weise des Herangehens im Rahmen der einzelnen Bereiche der Geschichte der einzelnen wissenschaftlichen Bereiche unterscheidet. Sehr prägnant formulierte es Erich Rothacker in seiner Studie Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte.18 Rothacker findet zwei Typen von Historikern vor. Auf der einen Seite stehen die Problemhistoriker, auf der anderen Seite sind es die Geisteshistoriker, also diejenigen, die die Geistesgeschichte betreiben. Wenn wir z. B. eine bestimmte Entdeckung im entsprechenden wissenschaftlichen Bereich oder die Lösung eines Problems im Rahmen dieses wissenschaftlichen Bereichs in Betracht ziehen, dann fordert uns der Problemhistoriker dazu auf, dass wir uns auf die Entdeckung oder auf das Problem selbst, auf seine sachliche Bedeutung, konzentrieren. Darum soll es vor allem gehen. Alle anderen Umstände sind unwichtig und mit Hinsicht auf das Problem außenstehend. Der Geisteshistoriker würde so eine Auffassung ablehnen. Das, was der Problemhistoriker für eine äußere, unwichtige Bedingung hält, versteht der Geisteshistoriker als genauso wichtig wie den eigentlichen Inhalt der Entdeckung. Würden wir das Beispiel anwenden, das von Rothhacker erwähnt wird, dann würde der Problemhistoriker Kants neue Aufteilung der Ethik, heute würden wir sagen, systematisch, im Rahmen einer bestimmten Philosophie untersuchen, er würde sie also in den Rahmen anderer ethischer Systeme eingliedern und würde sich auf die „eigentliche“ philosophische Aussage des zuständigen ethischen Systems konzentrieren. Dagegen würde der Geisteshistoriker darüber hinaus auch die historische Relativität von Kants Ethik untersuchen. Er würde auch die Tatsachen in Betracht ziehen, die im eigentlichen Sinne des Wortes nicht philosophisch sind, wie z. B. den Einfluss des Protestantismus auf Kants Ethik oder die Reflexion der spezifisch christlichen Auffassung des Subjekts auf diese. Der Problemhistoriker versteht somit in Rothackers Aufteilung die geschichtlichen Bedingungen der gegebenen, gleich ob philosophischen oder auch chemischen, physikalischen Probleme als die, in Bezug zu ihnen, äußeren, nebensächlichen und unwichtigen. Dagegen sind für den Historiker der Geistesgeschichte die geschichtlichen 14
Vgl. Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte (wie Anm. 13), S. 27 und 33. Vgl. auch Strich, Wesen und Bedeutung der Geistesgeschichte (wie Anm. 10), S. 2. 15
Hans-Joachim Schoeps, Geistesgeschichte im Spiegel des Grossen Brockhaus, In: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 5, 1953, S. 174. Vgl. auch Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte (wie Anm. 13), S. 10 f.
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Otto, Materialien zur Theorie der Geistesgeschichte (wie Anm. 8), S. 8.
17
Ebd.
18
Erich Rothacker, Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte, In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 18, 1940, S. 1–25.
Konditionen für die entsprechende Entdeckung, ein Problem usw. von innerer und wesentlicher Bedeutung. Der Geisteshistoriker verfolgt nach Rothacker in unserem Beispiel die Probleme, die sowohl mit anderen wissenschaftlichen Bereichen, als auch mit anderen Tätigkeiten im Bereich Kultur verbunden sind.19 Der Geisteshistoriker verfolgt, wie sich in den von ihm untersuchten historischen Persönlichkeiten die „Sachleistung“ und zugleich der „Zeitausdruck“ verbinden, also die Bereiche, die nach der Geistesgeschichte nicht voneinander zu trennen sind. Die Sachleistung steht nie völlig von den geschichtlichen Konditionen isoliert, auch nicht von der Persönlichkeit, die die entsprechende Sachleistung durchführte. Diese Persönlichkeit selbst ist doch immer ein Teil der geschichtlichen Konditionen, der Umstände des entsprechenden Zeitalters, aus denen sie nie aussteigen kann. Die Geistesgeschichte untersucht den Denker auf dem Hintergrund des Zeitalters. Rothacker sagt es noch anders: „1. die Problemfülle und Problemtragweite; 2. die Problemspannung und damit schließlich 3. der eigentliche Problemsinn wird aus den Lebensbezügen überhaupt erst sichtbar.“20 Die letzte Folgerung ist dann die, dass wir auch das eigentliche Sachproblem, nach Rothacker nicht rein theoretisch, also rein problemhistorisch, lösen können, ohne Rücksicht auf das Leben, auf die Umstände des Zeitalters, ohne Rücksicht auf Bedingungen, die die Problemgeschichte irrtümlich mit Hinsicht auf das entsprechende Problem nur als äußerlich und unwichtig versteht. Diese Reflexion von Geistesgeschichte kann ihre wichtige Bedeutung auch für den Bereich der archivischen Bewertung haben. So wie wir in Rothackers Sachleistung z. B. den definitiven Wortlaut einer bestimmten Verordnung, eines Gesetzes usw. sehen könnten, so wären es im Rahmen seines Begriffs Zeitausdruck z. B. Umstände, Bedingungen, die zum Entstehen einer bestimmten Verordnung, eines Gesetzes, einer Anordnung usw. führten. Wir können voraussetzen, dass diese Umstände sehr gut u.a. ihren Ausdruck in den Unterlagen im Rahmen eines Anhörungsverfahrens (zu einem entsprechenden Gesetz usw.) finden, aber auch möglicherweise im Bereich der Medien, die imstande sind, Druck auf die Gesetzgebung auszuüben. Den Zeitausdruck könnte man heute z. B. bei den Themen des Umweltschutzes beobachten oder bei Themen oder Fragen der Finanzmarktkrise, die in der Öffentlichkeit immer stärker ankommen und zweifellos auch in der Gesetzgebung ihren Ausdruck finden. 10. Die meisten Vertreter der Geistesgeschichte, egal ob an ihrem Anfang oder dann auch später, halten für den geistigen Vater der Geistesgeschichte-Strömung Wilhelm Dilthey, vor allem wegen seines Vorhabens, das geschichtliche Leben aus ihm selbst zu verstehen, u.a. auch aus dem Grund – und das ist in der Geistesgeschichte von zentraler Bedeutung –, dass es dadurch ermöglicht wird, sich den Geistesinhalt des entsprechenden Zeitalters vorzustellen, und zwar aufgrund der unterschiedlichsten Quellen.21 Dieser Standpunkt wird von den Anhängern der Geistesgeschichte allgemein vertreten. Die Geistesgeschichte geht an ihre Quellen mit der spezifischen Frage heran: Wie äußern sich in den verfolgten Quellen der Zeitgeist, die Stimmung des entsprechenden Zeitalters, der Charakter der Epoche usw. Durch diese Betonung unterscheidet sich ihr Zutritt zu den 19
So bringt Rothacker z. B. die neuzeitliche Auffassung eines Körpers in Zusammenhang, dem die Kartesianer als einziges Attribut die Räumlichkeit zusprachen. Das verbindet dann Rothacker mit der damaligen Existenz der absolutistischen Monarchien in Europa. So wie im Rahmen der neuzeitlichen absolutistischen Monarchien das Individuum nur etwas von ihnen abgeleitetes bleibt, so werden auch die Körper im Rahmen der neuzeitlichen philosophischen Vorstellungen nur zu irgendeiner Modifizierung der Räumlichkeit. Vgl. Rothacker, Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte (wie Anm. 18), S. 22–23. 20
Rothacker, Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte (wie Anm. 18), S. 24.
21
Vgl. Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte (wie Anm. 13), S. 11.
Quellen von anderen historiographischen Richtungen. Und durch diese spezifische Haltung eröffnet sie auch die Frage der archivischen Bewertung. Nicht nur, dass die Geistesgeschichte die Quelle fragt, was sie über den Zeitgeist aussagt, sondern die Quelle gewinnt an Bedeutung gerade dann, wenn sie auf eine wesentliche Art und Weise etwas über den Charakter des Zeitalters aussagt, in dem sie entstand, über die bedeutenden Tendenzen des Zeitalters usw. (sicherlich kann jedes Dokument, das von der Vergangenheit erhalten blieb, etwas über sein Zeitalter aussagen, jedoch nicht im gleichen Maß). Es ist selbstverständlich, dass das geistesgeschichtliche Herangehen an die Quellen nur eine in der großen Vielfalt von unterschiedlichen Herangehensweisen ist. Jede historiographische Richtung sucht in den Quellen a priori unterschiedliche Informationen, anders geordnete Informationen, und wählt, ordnet und bewertet diese Informationen unterschiedlich. Das Archivwesen, bzw. einer seiner theoretischen Bereiche, stellt sich die Frage der Aussonderung und Bewertung der Dokumente, somit auch die Frage der Aussonderung und Bewertung der Informationen, die in den Dokumenten enthalten sind, als sein privilegiertes Ziel.
Archivische Bewertung, Kontexte und „der Geistesarchivar“
Die Bewertungstheorie ist einer der Bereiche der Archivtheorie, die sich in der allgemeinsten Ebene als Ziel setzt, wie man den Wert des Dokuments feststellen kann, also wie man festlegen kann, ob das entsprechende Dokument eine künftige Archivalie ist und erhalten werden soll, oder nicht. Auf den anderen Ebenen befasst sich die Archivtheorie damit, welchen unterschiedlichen Wert das Dokument erreichen kann, also es geht nicht nur um die Dichotomie wertvoll – wertlos. Ich versuche, im nächsten Teil in gewissem Maß einige Ausgangspunkte systematisch zu behandeln, die die archivischen Bewertungstheorien nutzen, und zwar vom Standpunkt verschiedener Perspektiven aus, von denen sie das Dokument ansehen, das bewertet werden soll. Oder, anders gesagt, ich gehe von der Unterscheidung der Zusammenhänge (Kontexte) oder der Ebenen der Zusammenhänge (Kontexte) aus, in denen die ausgewählten Theorien der archivischen Bewertung das Dokument folgen. Dabei füge ich noch eine „neue“ Ebene dazu, die explizit nicht in Betracht gezogen wird, mit der aber Archivare implizit arbeiten. Es geht um die Ebene, die zugleich einen der grundlegenden Pfeiler der Geistesgeschichte darstellt. Die Geistesgeschichte kann hier zu einer Ausarbeitung dieser Ebene beitragen. Es ist noch zu erwähnen, dass es sich in gewissem Maß um eine künstliche Unterscheidung handelt. In der Praxis kann es vorkommen, dass der Archivar nicht nur einen der angeführten Kontexte in Betracht zieht, sondern mehrere Kontexte überlegt, d.h. er ändert die Perspektiven. Zugleich ist aber auch zu erwähnen, dass hier Dokumente reflektiert werden, die ihre Herkunft vor allem in den öffentlich-rechtlichen Institutionen haben. Dabei kann man den Unterschied bei den Kontextebenen sowohl auf das Dokument selbst anwenden, als auch auf Organisationen, Behörden usw., die diese Dokumente erzeugen. Man kann sowohl das Dokument als auch die zuständige aktenbildende Stelle beobachten und sie anhand verschiedener und unterschiedlicher Zusammenhänge verstehen, in denen sie sich befinden. 1. Kontext der Organisation (der Behörde, der Institution). Es handelt sich um die ideelle niedrigste kontextuelle Ebene. Der Wert des Dokuments wird hier nur im Hinblick auf die Organisation (aktenbildende Stelle) festgelegt, die das Dokument schuf. Die Stelle des Dokuments im Rahmen der Tätigkeit, Funktion der Organisation wird verfolgt; welche Rolle
das Dokument im Rahmen der Tätigkeiten, Funktionen der Organisation spielt. In gewissem Sinne würde diesem Kontext die klassische Formulierung des Provenienzprinzips entsprechen. Obwohl sich das traditionell definierte Provenienzprinzip vor allem auf die Frage der Anordnung des Archivs konzentrierte, kann man trotzdem die Richtung seines Blicks auch auf die Frage der archivischen Bewertung anwenden. Das Provenienzprinzip betonte vor allem, dass die Struktur der archivierten Dokumente der Struktur des Amtes entsprechen soll, von dem die Archivalien stammen. Oder, mit anderen Worten, die Struktur des Bestandes soll sich nach der Struktur der Behörde (bzw. nach der Struktur ihres Archivs) richten, von dem die Archivalien stammen. 2. Kontext der verwandten Organisationen, Behörden (der über- und untergeordneten, sowie gleichgestellten) oder ihrer Teile (konkret z. B. im Kontext der Staatsverwaltung). Es handelt sich, man könnte sagen, um eine höhere Ebene des Kontextes. Die betrachtete Institution, die aktenbildende Stelle, soll hier in Hinsicht auf andere mit ihr verwandte Organisationen, Behörden, Institutionen betrachtet werden. Dabei kann es sich um die Staatsverwaltung handeln, aber auch, wenn es sich z. B. um eine Bank handelt, kann sich dieser Zusammenhang auf das gesamte Finanzsystem beziehen. Auf diesen Zusammenhang konzentriert sich heutzutage u.a. auch die viel diskutierte Methode der vertikalen und horizontalen Bewertung in Deutschland.22 Im Rahmen dieser Methode vergleicht man die Aufgaben und Funktionen der betrachteten Behörden in ihrer vertikalen (über- und untergeordneten Kompetenzen) und horizontalen Anordnung (Aufteilung der Kompetenzen unter den Ämtern der gleichen Ebene, ihre Zusammenarbeit usw.). Durch die Ermittlung von Aufgaben, Tätigkeiten und Kompetenzen der entsprechenden Behörde im Zusammenhang der Kompetenzen, Tätigkeiten, Aktivitäten, der Zusammenarbeit mit den anderen Behörden (ihr über- und unterordneten oder gleichgestellten), kommt dann der Archivar durch diese Methode zur Feststellung der aussagekräftigsten Dokumente, der Dokumente mit dem größten Aussagewert. 3. Der (gesamt-) gesellschaftliche Kontext. Es geht um einen noch breiteren oder größeren Kontext als es der Zusammenhang der verwandten Organisationen wäre. Es ist eine sehr breitgefächerte Ebene des Zusammenhangs. Aber auch für sie kann man die äquivalente archivische Bewertungstheorie finden. In der letzten Zeit ist dies vor allem die Macroappraisal-Theorie („Makrobewertungs-Theorie“), die von Terry Cook in Kanada Ende der 80-er und Anfang der 90-er Jahre entwickelt wurde.23 Die von Cook aufgestellte Macroappraisal-Theorie wendet sich vom Verfolgen und der Bewertung des sachlichen Inhalts des eigenen Dokuments ab, in die Richtung, dass es zuerst notwendig ist, die
22
Vgl. z. B. Jürgen Treffeisen, Archivübergreifende Überlieferungsbildung in Deutschland. Die vertikale und horizontale Bewertung. Zugänglich auf: http://www.forum-bewertung.de/beitraege/1022.pdf (Alle Hinweise auf Web-Seiten sind nach dem Stand zum 10.3.2011 zitiert). Udo Schäfer, Vertikale und horizontale Bewertung der Unterlagen der Wasserwirtschaftsvervaltung in Baden-Württemberg. Zugänglich auf: http://www.landesarchivbw.de/sixcms/media.php/25/bewertung_wasserwirtschaft.pdf. Vgl. auch Robert Kretzschmar (Hrsg.), Methoden und Ergebnisse archivübergreifender Bewertung, Frankfurt a. M. 2002. Vgl. auch andere Beiträge auf der Internetseite „Forum Bewertung“, die der archivischen Bewertung gewidmet ist. Zugänglich auf: http://www.forum-bewertung.de/. Konkrete Anwendungsmethoden der vertikalen und horizontalen Bewertung in Baden-Württemberg sind zugänglich auf: http://www.landesarchiv-bw.de/web/46805. Gründlich ist diese Methode z. B. bei der Polizei ausgearbeitet, vgl. http://www.landesarchivbw.de/sixcms/media.php/120/47158/bewertung_polizeimodell_glak.pdf. 23
Mehr im Detail zur Macroappraisal-Theorie vgl. Mikuláš Čtvrtník, Teorie „macroappraisal“ v pojetí Terryho Cooka a otázka archivního hodnocení [ „Macroappraisal-Theorie in der Ausfassung von Terry Cook und die Frage der archivischen Bewertung], In: Archivní časopis 59, 2009, Nr. 4, S. 314–336.
Funktionen, Aktivitäten, Programme usw. der zuständigen Organisation, Institution zu bewerten, und zwar in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang.24 4. Kontext des Zeitalters in seiner Gesamtheit. Die archivische Bewertungstheorie, die direkt aus der Bewertung von Dokumenten im Rahmen des weiten Zusammenhangs des Zeitalters ausgehen würde, in dem das Dokument entstand und das auf eine bestimmte Art im Dokument auch dargestellt wird, existiert nicht. Es ist jedoch sicher, dass in der konkreten Praxis der archivischen Bewertung sich der Archivar oft der Frage zuwendet, ob das Dokument in guter Weise über das Zeitalter seines Entstehens aussagt, ob es wichtige Tendenzen des Zeitalters darstellt usw. Jürgen Treffeisen weist z. B. darauf hin, dass es bei der archivischen Bewertung wichtig ist, in Betracht zu ziehen, über welche Justizfälle in den Medien berichtet wurde. Medien haben nach Treffeisen „Gespür“ für den „Zeitgeist“.25 Das Zeitalter stellt einen noch breiteren Gesichtspunkt als den gesellschaftlichen Kontext dar. Erlauben wir uns, an dieser Stelle ein gedankliches Experiment durchzuführen. Der Begriff des Zeitalters weist auf die hier verfolgte historiographische Richtung der Geistesgeschichte hin, deren Pfeiler gerade die Untersuchung des Zeitalters, bzw. des Zeitgeistes ist.26 Die Geistesgeschichte versucht, die einzelnen Erscheinungen zu verstehen und dabei vom Verstehen des Zeitgeistes, des Charakters des Zeitalters, der grundlegenden Tendenzen des Zeitalters auszugehen. Die Quelle gewinnt hier ihren spezifischen Sinn je nach dem, wie sie über „ihr“ Zeitalter aussagt, über seine spezifischen Charakterzüge usw. Eine äquivalente archivische Bewertungstheorie, bzw. eine derartige archivische Theorie, die den zuletzt erwähnten Kontext des Zeitalters in Betracht ziehen würde, die das Dokument aufgrund des Zeitalters, in dem das Dokument entstand, aufgrund der bedeutenden Charakterzüge des Zeitalters seines Entstehens bewerten, beurteilen, erläutern würde, existiert bislang nicht. Das Dokument hat an und für sich nicht viel Sinn. Seine Bedeutung, sein Wesen – wenn wir vom Kontext des Zeitalters ausgehen – wird nicht nur nach ihm selbst bestimmt. Eines der konstitutiven Elemente ist die Tatsache, welche Rolle das Dokument in seiner Zeit hatte, wie das Dokument „sein“ Zeitalter darstellte. Rothacker drückte dies im Rahmen der Geistesgeschichte mit dem Begriff Zeitausdruck aus, Kalista sprach über die Umgebung des Zeitalters oder über die Geistesumgebung, in die die Geistesgeschichte die verfolgte Einzelerscheinung, die entsprechende Vorstellung des Menschen usw., einsetzt.27 Die eventuelle „geistesgeschichtliche“ Theorie der archivischen Bewertung könnte so eine noch höhere, gemeint ist eine mehr allgemeine Ebene der archivischen Bewertung darstellen, als es z. B. die Ebene der Makro-Bewertung war. Man könnte sie „zeitalterliche Bewertung“ nennen (im Sinne der Bewertung vom Standpunkt des Zeitalters, Zeitgeistes, der bedeutenden Charakterzüge des entsprechenden Zeitalters). Als eine der Problemstellen kann die schwierige Abgrenzung des Begriffs Zeitalter, bzw. Zeitgeist erscheinen. Es ist unmöglich genau zu definieren, was das Zeitalter und sein Geist sein sollen und das eröffnet den Raum für die Intuition des Archivars. Vor so einer Intuition braucht man nicht viel Angst zu haben. Sie ist nichts Neues in der Praxis bei der archivischen 24
Terry Cook, Building an Archives. Appraisal Theory for Architectural Records, In: American Archivist 59, 1996, Spring, S. 139. 25 Treffeisen, Archivübergreifende Überlieferungsbildung in Deutschland (wie Anm. 22), S. 16. Diese Prämisse fand ihre konkrete Anwendung in der Praxis des Landesarchivs Baden-Württemberg im Rahmen der Anwendung der Methode der vertikalen und horizontalen Bewertung (nicht nur) im Bereich der Justiz. Zugänglich auf: http://www.landesarchiv-bw.de/web/46738. 26
Siehe die bereits angeführten Punkte Nr. 1, 7, 9.
27
Kalista, Cesty historikova myšlení (wie Anm. 3), S. 198.
Bewertung. Hermann Meinert als einer der archivischen Theoretiker betonte direkt den intuitiven, schöpferischen Zug der Tätigkeit eines Archivars bei der archivischen Bewertung, womit sich der Archivar der Tätigkeit eines Künstlers nähert.28 Auf der anderen Seite wäre es wohl möglich, bestimmte Kriterien festzulegen, um den Zeitgeist zu „messen“. Eine der Möglichkeiten wäre das bereits angeführte Beispiel der Medien, wie es in den Überlegungen von Jürgen Treffeisen vorkommt. Würden wir die Medien als fähig anerkennen, die zeittypischen Tendenzen in der Gesellschaft usw. festzuhalten, wäre es dann kein großes Problem, andere Vorgehensweisen auszuarbeiten, um diese Reflexion der Medien zu reflektieren und diese dann auch in die archivische Bewertung einwirken zu lassen. Ein Archivar, der sich auf den Weg der geistesgeschichtlichen Beurteilung begeben würde, könnte (analog zum Geisteshistoriker) „Geistesarchivar“ genannt werden. Im Rahmen der archivischen Bewertung würde er dann von der Frage ausgehen, ob und wie das betrachtete Dokument über das Zeitalter aussagt, in dem es entstand. Diese Vorgehensweise könnte sich dann letztlich nicht nur auf die Bewertung von Dokumenten oder Aktengruppen beziehen, sondern auch auf die Bewertung der aktenbildenden Stellen (Behörden usw.) selbst. Diese würde man dann nicht nur im Kontext der Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft (die sie beeinflussen und durch die sie beeinflusst werden), sondern zugleich im Zusammenhang mit ihrem Zeitalter, als Teil dieses Zeitalters (durch das Zeitalter beeinflusst und bezeichnet und das Zeitalter beeinflussend und bezeichnend) verstehen. Der „Geistesarchivar“ würde dann den Wert der zuständigen abgebenden Stelle u.a. auch dadurch bestimmen, ob diese für ihr Zeitalter auf irgendeine Weise typisch, bzw. signifikant ist. Auch dieses Kriterium würde dann den Wert der zu bewertenden Dokumente mitbestimmen. Natürlich wäre es nicht möglich, diese Vorgehensweise auf alle Behörden und alle Dokumente, bzw. Aktengruppen anzuwenden. Behörden, Organisationen, die unter die Archivbetreuung fallen, sind normalerweise genau bestimmt. Auch die Aktengruppen, die zu künftigen Archivalien bestimmt werden, sind genau abgegrenzt. Das geistesgeschichtliche Herangehen würde vor allem solche Aktengruppen betreffen, die gewöhnlich mit dem Zeichen „B“ (bewerten) markiert werden und für die es dann gilt, dass es an dem die Bewertung durchführenden Archivar liegt, ob er das Dokument als Archivalie bestimmt oder nicht. Die neue Vorgehensweise könnte u.a. auch im Bestimmen, Abgrenzen, Strukturieren der ausgewählten Aktengruppen ihren Ausdruck finden. Die zentrale Frage des Geistesarchivars – ob das Dokument auf eine bedeutende Art über sein Zeitalter aussagt – könnte man auch noch in eine andere Ebene versetzen. Die archivische Bewertung selbst sagt nämlich darüber aus, was das entsprechende Zeitalter für wichtig und erhaltenswürdig hält. Das Zeitalter spiegelt sich nicht nur in den eigenen Dokumenten wider, sondern auch im Akt ihrer Bewertung und Aussonderung selbst. Diese Widerspiegelung findet u.a. auch in der Ausrichtung des Archivars ihren Ausdruck, der die Bewertung für die Zukunft trifft. Intuitiv versetzt sich nämlich der Archivar in die Zukunft und stellt sich die Frage, was von den Materialien der heutigen Zeit wird für die künftigen Generationen von Bedeutung sein. Auch dieses Versetzen des Archivars in die Zukunft sagt etwas über die Gegenwart des Archivars selbst aus, über sein eigenes Zeitalter, die Prioritäten, Grundeinstellungen usw. An dieser Stelle würde sich dann Raum für die Geistesgeschichte eröffnen, die dann den Charakter des zu studierenden Zeitalters untersuchen könnte, und zwar nicht nur aufgrund der Inhalte von Dokumenten – der Archivalien, die aus dem untersuchten Zeitalter erhalten blieben, sondern könnte zugleich auch das Faktum in Betracht ziehen, warum gerade diese Dokumente/Archivalien erhalten blieben. Warum wurde die Auswahl gerade so getroffen. Am Ende könnte man zur Feststellung gelangen, dass die Zukunft die 28
Hermann Meinert, Von archivarischer Kunst und Verantwortung, In: Der Archivar 9, 1956, H. 4, S. 284–285.
Vergangenheit u.a. auch aufgrund dessen kennen lernen wird, was die vergangene Zeit über „ihre“ Zukunft dachte. Das Faktum, dass der Archivar die Dokumente bewertet und auswählt und bei manchen über ihre unwiederherstellbare Vernichtung entscheidet, berechtigt uns zugleich zu einer anderen Feststellung: Die Zukunft wird gezwungen sein, die Vergangenheit u.a. auch daran kennen zu lernen, was die entsprechende vergangene Zeit über „ihre“ Zukunft dachte. Aus dieser Sicht wäre es vom praktischen Gesichtspunkt aus sicherlich nützlich, wenn der Archivar, der die Bewertung vornimmt, jedes Mal versuchen würde, die Standpunkte wiederzugeben, nach denen er „seine“ Dokumente bewertete, was er bei der Bewertung gewichtete, warum er gerade dieses Dokument als Archivalie bestimmte. Diese Reflexion oder eher Selbstreflexion könnte er dann den Unterlagen zu den Materialen beifügen, die er für das Archiv auswählte. Die zukünftige Zeit hätte dann wenigstens die grundlegende Vorstellung über die Kriterien, die die Vergangenheit für die archivische Bewertung anwendete, was die Vergangenheit wichtig für die Zukunft hielt und außerdem könnte sie danach versuchen, die vergangene Zeit zu verstehen. Die Erweiterung von Ebenen der Kontexte, in denen ein Dokument zu betrachten ist, bringt zugleich die Frage mit sich, ob die Mannigfaltigkeit der Kontextebenen nicht zugleich auch die mögliche Definition dessen erweitert, was oder wer der „Urheber“ der Dokumente ist oder sein könnte. Nach der traditionellen Definition des Provenienzprinzips sind die Urheber im Grunde die entsprechende Behörde, Organisation usw. die das entsprechende Dokument herstellten (ad Kontext Nr. 1). Falls ich aber aufhöre, das zuständige Dokument nur von der Perspektive der Zuständigkeit zu einer bestimmten Behörde und ihrer bestimmten Zuordnung in der Behördenstruktur zu betrachten und wenn ich aufhöre, das Dokument als Produkt dieses oder jenes Amts zu verstehen, dann tritt die Frage hervor, ob nur dieses Amt der Urheber des entsprechenden Dokuments ist. Wäre es nicht möglich für Urheber oder zumindest für einen „Co-Urheber“, gerade diese anderen Kontextebenen zu erhalten, in denen das Dokument und aus denen das Dokument zu betrachten ist? Im Vorfeld kann man das Dokument als Produkt der entsprechenden Behörde, der Organisation usw. verstehen. Im Weiteren stellt sich heraus, dass nicht die Behörde als solche das Dokument schuf, sondern dass es ihr Angestellter war. Es zeigt sich, dass die Behörde (bzw. ihr Angestellter) beim Herstellen des Dokuments mit anderen verwandten Behörden zusammenarbeitete (ad Kontext Nr. 2). Es ist auch klar, dass das Dokument nicht in irgendeinem Vakuum entstand, sondern dass es von einer bestimmten politischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder allgemein gesellschaftlichen Situation untermauert war (ad Kontext Nr. 3). Nicht zuletzt mag es auch die Atmosphäre des Zeitalters sein, die das Entstehen des Dokuments beeinflussen konnte (ad Kontext Nr.4). Es wäre sicherlich möglich, viele andere Elemente festzustellen, die an der Entstehung des Dokuments beteiligt waren.
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Es besteht sicherlich die Frage, wie die Bewertungsmethoden und Vorgehensweisen bei den so definierten Ausgangspunkten konkret aussehen würden. Zweck dieses Artikels war eher eine allgemeine Überlegung als die Ausarbeitung von konkreten Vorgehensweisen, was letztlich für eine sebstständige Studie (und nicht nur für eine) reichen würde. Es ist auch die Überlegung wert, in welche Richtung sich die möglichen Versuche zur Anwendung der theoretischen Ausgangspunkte in der Praxis begeben könnten. Die jüngsten Tendenzen (nicht nur) im tschechischen Archivwesen, wie sie ihren Ausdruck z. B. im neuen
tschechischen Archivgesetz von 2009 finden (Nr. 190/2009), im Nationalstandard für Records Management Systeme (Národní standard pro elektronické systémy spisové služby) und in der ganzen Diskussion, die zu dieser Problematik stattfindet und die die Bewertung und Ordnung der aufzubewahrenden Dokumente betrifft, betonen prinzipiell die Aktenordnung im Rahmen der hierarchischen Struktur des Aktenplans. Einer der Wege, den die praktische Anwendung der theoretischen Konzepte bei der archivischen Bewertung einschlagen könnte, könnten gerade die Aktenpläne, ihre Gestaltung und Zusammenstellung sein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass zukünftig die Aktenpläne noch wichtiger und so vermutlich zum zentralen Faktor der künftigen Ordnung (aber auch Bewertungl!) der Archivalien werden. Es wird nicht an den Kräften der eingeschränkten Zahl von Archivaren liegen, die ständig wachsende Zahl der Dokumente zu ordnen, ein in guter Qualität zusammengestellter Aktenplan wird anstatt der ordnenden Archivare den Raum in den Archiven füllen. Für die Theorie der archivischen Bewertung wäre es dann sehr effektiv, wenn sie ihre Kräfte auf die Aktenpläne und auf die Schaffung ihrer Struktur richten würden. Einer der polemischen Bereiche der vorliegenden Studie ist auch die Frage, ob man in der angeführten Form die Geschichtswissenschaft und die archivische Theorie (ebenso wie die Praxis) aneinander binden soll. Trotzdem kann man sagen, dass das Sich-Bewusst-Werden, dass es viele mögliche Perspektiven bei der archivischen Bewertung gibt, eine Bereicherung bedeuten kann, und zwar sowohl für das Archivwesen selbst, als auch für die Geschichtswissenschaft.29 Die Geistesgeschichte könnte für die archivische Bewertungstheorie eine Bereicherung in der Ausweitung des Zusammenhangsfeldes auf den zeitlichen Kontext darstellen. Zugleich könnte die Geistesgeschichte in die Problematik der archivischen Bewertung die Frage einer möglichen Korrelation oder einer Wechselbeziehung der sonst unterschiedlichen Erscheinungen in der Gesellschaft und in einem bestimmten Geschichtsabschnitt mit einbringen. Die Geistesgeschichte gehört zu den historiographischen Richtungen, die auf die Tatsache aufmerksam machen, dass die entsprechende Einzelerscheinung, das zuständige Ereignis, das Faktum, aber auch das Dokument nie vereinzelt stehen, sondern, dass ihre Bedeutung immer durch ihre Umgebung, ihren Zusammenhang (gleich ob durch den Zusammenhang des Zeitalters oder den sozialen, kulturellen, politischen usw. Kontext) mitbestimmt wird, der, wenn man es konsequent überlegt, so einen „Co-Urheber“ des zuständigen Dokuments darstellt. Auf der anderen Seite kann man wieder behaupten, dass die tiefere Reflexion der Tatsache, dass es eine Vielzahl von Arten der Herangehensweisen an die zu bewertenden Dokumente gibt, dass die unterschiedlichen Perspektiven ihrer Bewertung mitbestimmen, womit später die Geschichtswissenschaft und mit ihr auch die Geistesgeschichte arbeiten werden, und zwar als Quellenmaterial: auch die Tatsache, wie es geordnet wird, bedeutet eine Bereicherung der Geschichtswissenschaft, bzw. der Geistesgeschichte. Dabei handelt es sich darum, dass es wichtig ist, sich dessen bewusst zu werden, dass die Quellen „nicht vom Himmel gefallen sind“, dass dahinter eine gewisse Auswahl und Bewertung steht, dass selbst auch die archivische Bewertung auf ihre eigene Art über den Zeitgeist der Auswahl und Bewertung aussagt, aber auch über weitere unterschiedliche Zusammenhänge, auf die sich andere historiographische Richtungen konzentrieren.
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Es ist darauf hinzuweisen, dass man bei vielen Aktengruppen von einer gewissen „Perspektivität“ der Dokumente nicht sprechen kann. An Besprechungen von Führungskräften, an Organisationsordnungen, an Schemen und zahlreichen anderen Aktengruppen kann man natürlich nicht als Archivalien zweifeln.
Resumé Spirit history and the new archival appraisal theories The author tries to demonstrate, how intellectual history (Geistesgeschichte) can enrich and help to develop theoretical approaches within archival appraisal as one field of archival theory and practice. In this respect the paper concentrates primarily on the question of possible contexts in which we can understand and thus also appraise the document. In addition to context of the organisation of creator, to context of related organisations and to social context it is also the large context of age in which and from which it is conceivable to understand and appraise the document. In this domain intellectual history could be helpful to archival science because of concentrating on research what is the spirit of the age (in German Zeitgeist, in Czech duch doby), how it is manifested, how we can determine it. It is also the idea of spirit which begins to appear in the discussions concerning archival appraisal. The conception of the spirit appears i.a. in the debates concerning the model of the “vertical and horizontal appraisal” currently developed in Germany. Last but not least the article asks in which course archival appraisal should aim. It is presumable that the records schedules and their structure will obtain more and more importance. This (hierarchic) structure determines not only how the documents (also electronic documents) will be appraised but also in which order they will be preserved. Translated by Mikuláš Čtvrtník and Simona Filová.
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Report "Geistesgeschichte und neue archivische Bewertungstheorien 1 Beispiel eines möglichen Dialogs der Geschichtswissenschaft und des Archivwesens "