Hausarbeit: Gegenwartsbesessenheit? Die Frage nach der Demokratie im Wirkungsfeld von Zeit und Raum. Virlio und Innis im Vergleich. Humboldt Universität zu Berlin Institut für Musik- und Medienwissenschaft PS: Kanonische Texte WS 2010/11 Dozent: Prof. Dr. Wolfgang Ernst Studentin: Geraldine Hepp Matrikel Nr.: 533659
Prüfungsleistung Geraldine Hepp Matrikelnummer: 533659 Hausarbeit zum Thema:
Gegenwartsbesessenheit? Die Frage nach Demokratie im Wirkungsfeld von Zeit und Raum Virilio und Innis im Vergleich
Hausarbeit: Gegenwartsbesessenheit? Die Frage nach Demokratie im Wirkungsfeld von Zeit und Raum. Virilio und Innis im Vergleich. Geraldine Hepp, 533659
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1. Medienbegriff, Zeit und Raum .......................................................................................................... 3 2. Biographischer Hintergrund und wissenschaftstheoretische Einordnung ........................... 5 2.1. Paul Virilio - Von der Bunker-Archäologie zur Dromologie ......................................... 5 2.1.2 Wissenschaftstheoretische Einordnung .................................................................... 6 2.2. Harold Adams Innis – vom Wirtschaftshistoriker zum Medienwissenschaftler ...... 8 2.2.1. Wissenschaftstheoretische Einordnung ......................................................................... 8 3. Zeit – Raum: Das Herrschaftsdispositiv der Medien und der ‚eigentliche’ Unfall ....... 11 3.1. Macht und Medium – Harold Innis’ historische Analyse der Kommunikationsmedien ................................................................................................................... 11 3.2. Geschwindigkeit und Macht – Virilio’s Analyse des eigentlichen Unfalls ........ 14 3.3. Demokratie im Wirkungsfeld von Zeit und Raum .......................................................... 16 4. Literaturverzeichnis ............................................................................................................................ 21
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1. Medienbegriff, Zeit und Raum Der aktuelle Mediendiskurs ist sehr breit gefächert und umfasst unterschiedliche Definitionen des Medienbegriffes. Ein weiter Begriff umfasst Raum und Zeit als Übertragungsmedien.
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Die Analyse von gesellschaftlichen Entwicklungen in
Bezugnahme auf Raum und Zeit spielt sowohl bei Harold Innis als auch bei Paul Virilio eine entscheidende Rolle für ihren jeweiligen Medienbegriff. Beide für die Entwicklung
der
Medienwissenschaften
im
20.
Jahrhundert
wichtigen
Wissenschaftler erlebten den Zweiten Weltkrieg (und in Harold Innis’ Fall auch den Ersten)
als
entscheidenden
historischen
Einschnitt,
der
Fragen
nach
Herrschaftssystemen und Fortschritt aufwarf. Ihre Analyse von Zeit und Raum bestimmenden Medien wird jeweils in ein Bedingungsgefüge von Macht und Ohnmacht, Gewinn und Unfall gestellt, das im Folgenden im Zentrum der Hausarbeit stehen soll. Was bedeuten Zeit und Raum in unserer Gesellschaft? Nach Kant setzt menschliche Wahrnehmung Raum und Zeit im Sinne eines Apriori voraus, wodurch eine Trennung
in
eine
‚reale’
nominale
Zeit-Raum
Kategorie
und
in
eine
phänomenologische Kategorie einer konkreten Zeit-Raum Wahrnehmung in einer bestimmten Gesellschaft vorgenommen wird. 2 Eine alternative –marxistisch und phänomenologische - Auffassung von Zeit und Raum, die Ian Angus in den historischen Analysen von Harold Innis verortet, begreift Zeit und Raum als durch die jeweiligen Kommunikations- und Transportmedien vermittelt und geprägt. Die Grenze dessen, was wahrnehmbar und erfahrbar ist, sowie die Art und Weise wie Raum und Zeit erfahren wird, hängen hier direkt mit den durch die Kommunikationsmittel konfigurierten sozialen Formationen zusammen.3 Medien, im Sinne Innis’ und Virilios können weder auf ihre Materialität noch auf die Inhalte, die durch sie transportiert oder getragen werden, reduziert werden. Am Beispiel von Harold Innis’ medienhistorischer Analysen wird deutlich, dass der Begriff der Medien ähnlich wie bei der Unterscheidung zwischen Technik und 1 Vgl. Stefan Weber (Hrsg), „Theorien der Medien“, UVK Konstanz 2010, sowie Lorenz Engell et al (Hrsg), „Kursbuch Medienkultur – Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard“, DVA Stuttgart 1999 2 Vgl. Ian Angus, „The Materiality of Expression: Harold Innis' Communication Theory and the Discursive Turn in the Human Sciences“, Simon Fraser University, http://cjc-online.ca/index.php/journal/article/viewArticle/1020/926, S. 9 (Zugriff 21.09.2012) 3 Ebd.
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Technologie bei Jacques Ellul4 nicht nur die Materialität (Technik) sondern vielmehr die pluralen sozialen Zusammenhänge, die Kultur und den Diskurs (Technologie) mit und durch welche diese Materialität und Inhalte verbunden und geprägt werden, meint. 5 Der ‚materiale Eigensinn’ von Medien stellt nicht nur das Wissen, das Medien vermitteln unter die Bedingungen, die sie selbst schaffen und sind, sondern bewirkt auch, dass die Medien selber als Ereignis mit kommuniziert werden, 6 inklusive der ihr oft dem kulturellen Bewusstsein entzogenen inhärenten Unfälle oder wie Innis sie nennt ‚bias’ oder Tendenzen. Ein weiterer Aspekt von (Kommunikations- und Transport) Medien im Zusammenhang mit Zeit und Raum ist die Geschwindigkeit derselben, welche durch das subjektiv wahrgenommene Verhältnis von Zeit zu der Raumdurchquerung charakterisiert wird. Das soziale Gefüge, das in dem Begriff des Mediums enthalten ist, wird von diesen Aspekten entscheidend geprägt und konfiguriert. Schon immer stehen Zeit und Raum in einem Bedingungsgefüge von Macht und Ohnmacht. Strecken, deren Überwindung eine lange, beschwerliche und durchaus gefährliche Reise bedeuten; Ländereien, die sich ausdehnen und Reichtum bedeuten und
gleichwohl
von
logistischen
Überlegungen
der
Transport-
und
Kommunikationswege zum Erhalt von Macht physisch geprägt werden; eng gedrängte Wohnräume der Arbeiter, die Obdachlosigkeit der Armen im Kontrast zu den weitläufigen Wohnanlagen der Reichen; Freizeit und Arbeit, Muße und Plackerei nicht enden wollender Schichten, das Sprichwort ‚Zeit ist Geld’ und das Unwort ‚Work-Life-Balance’ drängen sich assoziativ auf, wenn man an diese Begriffe denkt. Virilio spricht von einer Ideologie, welche die Distanz als ‚Tyrannei’ begreift,
die
aufzulösen
die
Illusion
der
Befreiung
verspricht.
‚Hyperkommunikabilität’ wird auf diesem Hintergrund als ein Zeichen von Fortschritt und Zivilisation gesehen.
7
Während Marx’ materialistische und
historische Gesellschaftsanalyse die Dynamik des Kapitals in den Fokus rückt, tritt 4 Jacques Ellul, http://www.jesusradicals.com/wp-content/uploads/bluff.pdf, S. xvi 5 Vgl. Ian Angus, „The Materiality of Expression: Harold Innis' Communication Theory and the Discursive Turn in the Human Sciences“, Simon Fraser University, http://cjc-online.ca/index.php/journal/article/viewArticle/1020/926, S. 9 (Zugriff 21.09.2012) „The characteristics of a medium of communication cannot be defined through the material characteristics of the object with which it is concerned but only the manner of dealing with that object. (...) It is not only a material resource and a technology (oriented to dealing with a particular object), but also a social relation between a plurality of identities that is constructed co-extensively with this technology. A medium of communication thus incorporates both a technology and a series of related social identities (or subjectpositions).“ 6 Ebd. 7 Paul Virilio, „Fahren, fahren, fahren...“, Berlin 1978, S. 35f
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bei Innis und Virilio die Frage nach den historischen Entwicklungszusammenhängen von Mensch, Gesellschaft und Medien (insbesondere Kommunikations- und Transportsmedien) in den Vordergrund der Machtanalyse. Weiter konstituiert das in Kommunikations/Transportmedien inhärente Verhältnis von Raum und Zeit Machtgefüge sowie psychische Konfigurationen von Gesellschaften und öffnet somit den Blick auf eine nicht subjekt-zentrierte Geschichtsauffassung.8 Innis
untersucht
unterschiedliche
Transport-
und
insbesondere
Kommunikationsmittel hinblicklich ihrer Wirkung auf raum- und zeitbasierte Machtstrukturen,
die
eng
mit
der
Verwundbarkeit
und
Stärke
von
Bildungs/Wissensmonopolen verknüpft sind. Virilio’s Interesse gilt einer primär militär-technologischen
Geschichtsanalyse,
in
der
Kommunikations-
und
Transportmittel auf die Struktur ihrer Geschwindigkeit und Beschleunigung hin untersucht werden, welche die Beziehung von Raum und Zeit in sozialer und militärpolitischer Organisation prägt. Im Folgenden werden nach einer kurzen biographischen Einleitung der Autoren Aspekte der Arbeit von Virlio und Innis umrissen werden um in einem zweiten Schritt ihre jeweilige Analyse der Auswirkung der von ihnen untersuchten Medien auf Demokratie im Wirkungsfeld von Zeit und Raum zu vergleichen.
2. Biographischer Hintergrund und wissenschaftstheoretische Einordnung 2.1. Paul Virilio - Von der Bunker-Archäologie zur Dromologie „Der Krieg ist zuerst ein Voyeur. Er ist eigentlich derjenige, der besser sehen will als die anderen oder schneller...“ (Paul Virilio)9 Paul Virilio, am 04.01.1932 in Paris geboren, begründete 1977 nach einer Ausbildung zum Kunstglaser-Meister sowie eines Studiums der Architektur und Urbanistik die Wissenschaft der Dromologie, in der sich Technikgeschichte, Kriegsstrategie, Urbanistik, Ästhetik, Physik und Metaphysik überlagern. Von 1969 bis zu seiner Eremitierung 1997 war er Professor an der École Spéciale 8 „Poststrukturalistische Medientheorien“, Claus Pias in Stefan Weber (Hrsg): „Theorien der Medien“, Konstanz 2010, S. 261 sowie Innis: „Wir können wohl davon ausgehen, dass der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt.“ („Tendenzen der Kommunikation“ in: „Kreuzwege der Kommunikation – ausgewählte Texte“, Wien 1997, S. 96, Original „The Bias of Communication“ basiert auf einem an der University of Michigan gehaltenen Vortrag von 1949) 9 Georg Christoph Tholen, Joseph Hurt (Hrsg), „Gewschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk von Paul Virilios“ in: „Von Michel Serres bis Julia Kristeva“, Freiburg 1999, Reihe Litterae, Bd. 69, S. 1
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d’Architecture. Er lehrt an der European Graduate School und ist Mitbegründer des „Centre
Interdisciplinaire
de
Recherche
de
la
Paix
et
des'Etudes
Stratégiques“ (CIRPES). Seine Arbeit ist stark biographisch geprägt - 1941 entging er mit seiner Familie dem Zugriff der Gestapo dank der ‚kryptischen’ Architektur ihres Wohnhauses. Das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges als auch der Kalte Krieg sind demnach – und von ihm selbst mehrfach erwähnt10 – mit konstitutiv für seine Analysen. 2.1.2 Wissenschaftstheoretische Einordnung Paul Virilio’s „Dromologoie“ (altgr. dromos – Rennbahn und logos – Wissenschaft: „Logik des Laufs“) ist eine in Geschwindigkeit und Politik 11
begründete
transhistorische und transpolitische Forschungs- und Sichtweise zur Untersuchung gesellschaftlicher Verhältnisse unter spezieller Berücksichtigung ihrer Beziehung zur Geschwindigkeit. 12 Die Frage, wie Innovationen der Geschwindigkeit das soziale und politische Leben beeinflussen, bestimmen so die historisch ausgerichtete Perspektive.13 Claus Pias ordnet die Dromologie den poststrukturalistischen Medientheorien zu.14 Auf der Webseite der European Graduate School 15 distanziert sich Virilio als praktizierender Christ allerdings von den ‚anti-humanistischen’ Positionen seiner poststrukturalistischen Kollegen wie Foucault, Derrida, Deleuze oder Guattari. Die Gestalttheorie, sowie die Phänomenologie Husserls und Merleau-Pontys (besonders in
seiner
Abgrenzung
zum
Existenzialismus)
Referenzpunkte seiner Arbeit genannt.
werden
als
philosophische
16
Technikphilosophie, Militärgeschichte, Medientheorie und Phänomenologie der Wahrnehmung werden in einem als ‚essayistischen, fragmentarischen und beispielgesättigten’ genannten Stil zu einer Untersuchung der Struktur und 10 So z.B. auch auf seiner Webseite der European Graduate School „ As a small child in France during the Second World War, Paul Virilio was profoundly impacted by the blitzkrieg and total war; however, these early experiences shaped his understanding of the movement and speed which structures modern society.“ http://www.egs.edu/faculty/paul-virilio/biography/ (Zugriff 20.05.2011) 11 Vgl. Dromologie auf Wikipedia: Permanentlink: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Dromologie&oldid=71217983 12 „(...) Geschwindigkeit ist für die Wirklichkeit konstitutiv, denn wir alle sind Wellen. Wir sind konstituiert durch reine
Geschwindigkeiten, die bewirken, daß (sic) wir aus Fleisch oder aus Stein bestehen, aus Luft oder aus Wasser.“ Paul Virilio, „Revolutionen der Geschwindigkeit“, Merve Verlag Berlin 1993, S. 29 13 Vgl. Douglas Keller, „Virilio, War and Technology: Some Critical Reflections“, in: „Illuminations: The Critical Theory Project“, UCLA Graduate School of Education and Information Studies, http://pages.gseis.ucla.edu/faculty/kellner/Illumina%20Folder/kell29.htm (Zugriff 23.09.2012) 14 Claus Pias in: Stefan Weber (Hrsg) „Theorien der Medien“, Konstanz 2003, S. 277 15 http://www.egs.edu/faculty/paul-virilio/biography/ (Zugriff am 20.05.2011) 16 Vgl. http://www.ctheory.net/articles.aspx?id=133 Zugriff 26.09.2012
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Geschichte von Geschwindigkeit und Beschleunigung herangezogen, ohne selber eine Methodologie begründen oder Medientheorie sein zu wollen. 17 Trotz der Schwierigkeiten, die sich – um mit Kittler zu sprechen - aus der dem Poststrukturalismus inhärenten Unmöglichkeit, referierbar zu sein, 18 ergeben, verortet Pias mindestens vier Thesen in Virilio’s Werk, bei denen Geschwindigkeit als das entscheidende Dispositiv von gesellschaftlicher Entwicklung als eigentlicher Motor der Geschichte identifiziert wird.19 So sieht er die von Virilio als eskalierend wahrgenommene Geschwindigkeit als historisches Apriori beschrieben, das als ein kriegerisches und zugleich auch epistemologisches Dispositiv gedacht wird. Geschwindigkeit ist somit gleichwohl grundlegend als auch prägend für strategische und wissenstheoretische Figurationen und Entwicklungen. Weiter wird insofern eine - an Heidegger anschließende – technikphilosophische These aufgestellt, als dass ‚Beschleunigung in einem Wettlauf mit sich selbst vergisst, ihr Wesen zu bedenken, das nicht die Geschwindigkeit ist’.20 Eine historische These sieht Pias darin, dass die Dromologie ‚teleologisch und apokalyptisch auf ein absolutes Ende hin argumentiert’, das in der katastrophischen Situation der Implosion des Raumes im ‚rasenden Stillstand’ beschrieben wird. Nicht zuletzt spielt nach Pias eine medienpsychologische These eine entscheidende Rolle in Virlio´s Werk, die den Auswirkungen der Substituierung menschlicher Wahrnehmungsorgane durch leistungsfähigere technische, Rechnung trägt und in einer Verwirrung von Realität und Imagination mündet. 21 Hier werden Fragen nach der Möglichkeit der IchBildung
und
menschlichen
Freiheit
innerhalb
dieses
Bedingungsgefüges
22
aufgeworfen. Ähnlich wie Walther Benjamin und Harold Innis vertritt Virilio eine Katastrophentheorie des Fortschritts, die in seinem Fall in Tholen’s Worten ‚kulturapokalyptische’ Züge annimmt. 23 John Armitage beschreibt dies als ein Hypermodernismus,
der
Modernismus
und
die
Moderne
durch
eine
17 Claus Pias in: Stefan Weber (Hrsg) „Theorien der Medien“, Konstanz 2003, S. 277 18 Ebd. S. 277 19 Vgl. Claus Pias in Stefan Weber (Hrsg): „Theorien der Medien“, Konstanz 2010, S. 259 20 Ebd. – „Rasender Stillstand“ als der Beschleunigung verborgener Kern, der nicht Geschwindigkeit ist. 21 Der Begriff der Substituierung von Virlio ist Baudrillard’s Begriff der Simulation unterschieden, vgl. ebd 22 Karlheinz Barck in „harold a. innis – kreuzwege der kommunikation. ausgewählte texte.“, Wien 1997, S. 7 23 Georg Christoph Tholen, Joseph Hurt (Hrsg), „Gewschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk von Paul Virilios“ in: „Von Michel Serres bis Julia Kristeva“, Freiburg 1999, Reihe Litterae, Bd. 69, S. 135-162
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katastrophenhafte Wahrnehmung von Technologie als Endo-Kolonisierung des menschlichen Körpers von militärisierter Technowissenschaft kritisch analysiert. 24
2.2. Harold Adams Medienwissenschaftler
Innis
–
vom
Wirtschaftshistoriker
zum
Warum schenken wir den Dingen Beachtung, die wir beachten?25 Harold Adams Innis’ (*1894 in Otterville, † in Ontario1952) Werk und Leben wurde durch sein Aufwachsen in der baptistischen kanadischen Provinz und seinen Erfahrungen als Artilleriefunker 1916 im Ersten Weltkrieg stark geprägt.26 1917 wurde er verletzt von der Front abgezogen. Laut John Watson dauerte die physische Heilung sieben Jahre, während Innis mit den psychischen Schäden (Depressionen und nervöse Erschöpfung) ein Leben lang kämpfte.27 1920 erlangte er ein PhD an der University of Chicago und wurde Professor für Politische Ökonomie an der University of Toronto und Autor zahlreicher Werke in den Bereichen Medientheorie, Kommunikationstheorie und Kanadische Wirtschaftsgeschichte. Hier begann er seine
Laufbahn
als
Wirtschaftshistoriker
und
beendete
sie
als
Medienwissenschaftler und einer der einflussreichsten kanadischen Intellektuellen.28 In beiden Fächern interessierte ihn insbesondere der Zusammenhang von den jeweiligen Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen mit dem Aufstieg und Fall von Herrschafts- und Wirtschaftsräumen.29 2.2.1. Wissenschaftstheoretische Einordnung Im Umkreis der Chicago School mit Dewey, Mead und Park, die wie Innis stark von Thorstein Veblen’s zyklischen Geschichts/Wirtschaftsmodell sowie den soziologischen Analysen Webers und Durkheims beeinflusst waren, entwickelte er 24 John Armitage, „Beyond Postmodernism? Paul Virilio’s Hypermodern Cultural Theory“ in: http://www.ctheory.net/articles.aspx?id=133 (Zugriff März 2012)
25 Diese Frage war der Titel einer Essay Frage von James Ten Broke in der McMaster University, die Innis ein Leben
lang mit sich trug. Vgl. Alexander John Watson: „Marginal Man: The Dark Vision of Harold Innis“. Toronto 2006, S. 326 26 Watson stellte fest, dass der Erste Weltkrieg Innis Nationalismus stärkte, sein Empfinden für destruktive Technologieeffekte schärfte, darunter die Kommunikationsmedien, die zum "Verkauf" des Krieges verwendet wurden und veranlasste ihn erstmals zu Zweifeln gegenüber des baptistischen Glaubens. Vgl. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Harold_Adams_Innis&oldid=85185143 (Zugriff Dez. 2014) 27 Alexander John Watson: „Marginal Man: The Dark Vision of Harold Innis“. Toronto 2006, S. 14–23. 28 Vgl. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Harold_Adams_Innis&oldid=85185143 (Zugriff Dez. 2014)
29 Niels Weber, „Weltgeschichte als Thriller“, http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/niels.werber/Publikationen/innis.htm (Zugriff 30.09.2012)
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eine Medientheorie, die von einem technologischen Apriori ausgeht und in ‚imperialen’
Begriffen
die
Funktion
der
Kommunikationsmedien
in
Kulturgeschichte bezüglich der Formen sozialer Organisation untersucht.
der
30
Die
Frage, welche epistemologische oder wissenstheoretische Bedeutung Medien haben, wird bei Innis in die Frage nach dem ‚environmental technological conditioning’ übersetzt, nach den Auswirkungen der (Kultur)Techniken, die unbemerkt bleiben, während
wir
sie
gesellschaftlich
anwenden.
31
Die
unterschiedlichen
Kommunikationsmittel stellen hierbei einen nicht unverrückbaren sondern historisch dynamischen Zusammenhang dar, der die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen konstituiert.32 Wissen und somit auch Kultur, wird in einem Maße durch den Gebrauch bestimmter Kommunikationsmedien geprägt, dass ein davon losgelöstes Subjekt gar nicht gedacht werden kann, gerade weil dieses Denken eben schon ein geprägtes ist. 33 Diese Betonung der generierenden Bedeutung der Technik- und Mediengeschichte in Bezug auf die Gesellschaft, setzt der traditionell subjekt-zentrierten
Geschichtsauffassung
eine
strukturalistische
entgegen.
34
Technologische Umbrüche sind in diesem Sinne konstitutiv für politische und kulturelle Veränderungen einer Gesellschaft. Frank Hartmann konstatiert der von Innis aufgeworfenen Frage nach einer ‚Grammatik der Medien’ daher eine größere medienphilosophische Brisanz, als es die verkürzte Wiedergabe seiner These in ihrer
augenscheinlichen
Selbstverständlichkeit
vermuten
lässt.
35
In
Innis
36
programmatischen Aufsatz „Die Eule der Minerva“ wird in diesem Sinne die sich noch konfigurierende Medientheorie als eine Sprache mit eigener Grammatik und Syntax verstanden, die sich von einer rein mediensoziologisch inhaltsanalytischen Perspektive unterscheidet, was später mit Innis´ Schüler Marshall McLuhan´s
30 Karlheinz Barck in „harold a. innis – kreuzwege der kommunikation. ausgewählte texte.“, Wien 1997, S. 6 31 Vgl. Frank Hartmann, Archäologie der Kommunikationsmedien, Philosophische Grundlagen 2.5, http://www.netzgestalten.de/Frank.Hartmann/Innis.htm (Zugriff 26.09.2012) 32 Vgl. Frank Hartmann in: Stefan Weber (Hrsg) „Theorien der Medien“, Konstanz 2003, S. 308 f 33 Ebd. S. 309 34 Vgl. die Rezension von R. Simanowski auf IASL online zu K. Barck´s „harold a. innis – kreuzweger der kommunikation. ausgewählte texte“ auf (Zugriff: 20.05.2011): http://webcache.googleusercontent.com/search?q=cache:fTGANlLKVfYJ:www.iaslonline.lmu.de/index.php%3Fvorgang_id%3D241 5+grammatik+der+medien+innis&cd=4&hl=de&ct=clnk&gl=de&lr=lang_en%7Clang_de&client=safari&source=www.google.de 35 Vgl. Frank Hartmann in: Stefan Weber (Hrsg) „Theorien der Medien“, Konstanz 2003, S. 308 f 36 Harold A. Innis: Die Eule der Minerva, 1947, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte. Wien; New York: Springer 1997
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berühmt gewordenen Aussage ‚das Medium ist die Botschaft’ auf den Punkt gebracht werden sollte.37 Mit seinen beiden Büchern "Empire and Communications" sowie "The Bias of Communication" wird Innis als Pionier der Medienwissenschaft Nordamerikas in den 40er und 50er Jahren gesehen. Er gilt als der Begründer der kanadischen Medienwissenschaften, die mit Marshall McLuhan - trotz verspäteter Rezeption in Europa – entscheidende Einflüsse auf die Entwicklung der Disziplin hatte. Seine Herangehensweise wurde durch seine Arbeit als Wirtschaftshistoriker geprägt.38 Sein Ruf als ernstzunehmender Wirtschaftshistoriker ermöglichte eine (wenn auch manchmal auf Unverständnis stoßende39) - wissenschaftliche Rezeption seiner sehr dichten und gleichzeitig weit angelegten Medientexte.40 Eric A. Havelock formuliert dies deutlich kritisch: „Bis zu einem bestimmten Grade entzieht er sich der genauen Erforschbarkeit: Sein Schreibstil in späteren Jahren ist aphoristisch und unzusammenhängend; er gleitet zwischen den Schlussfolgerungen umher, die sein Interpret gern formulieren würde.“41 Hier findet sich eine Parallele zu Virilio und auch McLuhan, denen ebenfalls ein essayistischer, fragmentarischer, fast atemloser Schreibstil vorgeworfen wird.42 Auch wenn die Toronter Schule der Medientheorien ‚neutraler’ rezipiert wird,43 als zum
Beispiel
die
apokalyptische
Kulturkritik
Neil
Postman´s
oder
die
kulturpessimistische Kritische Theorie der Frankfurter Schule, begründet sich auch Harold Innis Analyse auf einer Katastrophentheorie des Fortschritts, die zu seiner Zeit vor allem von Walther Benjamin in Europa vertreten wurde.44 Hier zeigen sich Parallelen zwischen den Biographien von Virilio und Innis, die beide stark von den Weltkriegen – bei Innis vor allem die Erlebnisse als Soldat im Ersten, bei Virilio die 37 Karlheinz Barck in „harold a. innis – kreuzwege der kommunikation. ausgewählte texte.“, Wien 1997, S. 10 38 Vgl. die Rezension von R. Simanowski auf IASL online zu K. Barck´s „harold a. innis – kreuzweger der kommunikation. ausgewählte texte“ auf: http://webcache.googleusercontent.com/search?q=cache:fTGANlLKVfYJ:www.iaslonline.lmu.de/index.php%3Fvorgang_id%3D241 5+grammatik+der+medien+innis&cd=4&hl=de&ct=clnk&gl=de&lr=lang_en%7Clang_de&client=safari&source=www.google.de (Zugriff: 20.05.2011) 39 Vgl http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Harold_Innis&oldid=429193054 40 Vgl. Niels Werber in: „Weltgeschichte als Thriller - Über Harold Innis, den Lehrer Marshall McLuhans“, http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/niels.werber/Publikationen/innis.htm (Zugriff 23.09.2012): „McLuhan hat zu den Reduktionen seines Lehrer bemerkt, daß ‚jeder Satz eine komprimierte Monographie’ sei und jede Seite ‚eine kleine Bibliothek’ enthalte. Seine Gutenberg-Galaxis verstand McLuhan als ‚Fußnote zu Innis' Beobachtungen zum Thema der psychischen und sozialen Konsequenzen der Schrift und des Buchdrucks’.“ 41 Karlheinz Barck in: „harold a. innis – kreuzwege der kommunikation. ausgewählte texte.“, Wien 1997, S. 14 42 Claus Pias in: Stefan Weber (Hrsg) „Theorien der Medien“, Konstanz 2003, S. 277 43 Vgl. die Rezension von R. Simanowski auf IASL Online, Link s.o.
44 Karlheinz Barck in: „harold a. innis – kreuzwege der kommunikation. ausgewählte texte.“, Wien 1997, S. 7
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Kindheitserlebnisse im Zweiten – geprägt wurden. Hartmann spricht von einer ‚gewissen Melancholie’, die das Werk Innis’ durchzieht und ein Hinweis darauf ist, dass er den „(...) kulturellen Wandel mit einer gewissen konservativen Besorgnis diagnostiziert“.45 Entgegen einer rein apokalyptischen Diagnose der den von Innis analysierten
Bildungsmonopolen
inhärenten
selbstdestruktiven
Tendenzen,
formuliert er jedoch die Hoffnung, dass durch das Auftreten eines neuen Kommunikationsmittels eine neue Kultur oder ein Ausgleich zu der bestehenden, herbeizuführen seien.46
3. Zeit – Raum: Das Herrschaftsdispositiv der Medien und der ‚eigentliche’ Unfall 3.1. Macht und Medium – Harold Innis’ historische Analyse der Kommunikationsmedien
Die These, die Innis’ Medientheorie unterliegt, bezieht sich auf Wissensmonopole, die in ihrem Extrem jeweils die Bedingungen für kreatives Denken unterminieren und in Folge dessen verwundbar werden und so von einem anderen Medium, mit einer anderen ‚Tendenz’ abgelöst werden.47 Diese ‚Tendenz’ oder ‚bias’ ist den Medien inhärent und strukturiert Gesellschaften hinsichtlich ihrer Verwundbarkeit oder Stabilität in Bezug auf Raum und Zeit. Zivilisationen wurden von unterschiedlichen Kommunikationsmedien dominiert und geprägt, so wie Ton, Papyrus, Pergament und Papier (zunächst aus Stoff und dann aus Holz).48 Am Beispiel Ägyptens und Babylons wird deutlich dass es hierbei nicht um den eigentlichen Inhalt noch nur der Materialität des Mediums geht sondern auch um das spezifische soziale Bedingungsgefüge das diesem Medium zugeeignet wird und/oder mit ihm verbunden ist. So war in Ägypten Wasser als ‚Inhalt’ Thema von Überflutungen und der damit verbundenen Notwendigkeit, Kalender einzurichten um die Flutungen genau vorhersagen zu können – ein zeitliches Medium also. In Babylon ging es um ein räumliches Problem – es gab genug Wasser, aber nicht am richtigen Ort. Hier ging es also darum, Bewässerungswege herzustellen, die das 45 Frank Hartmann, „Vom Transport zur Transformation. Harold A. Innis und die Medientheorie der Zivilisation“, http://www.medienphilosophie.net/texte/innis.pdf (Zugriff 26.09.2012) 46 Frank Hartmann, „Vom Transport zur Transformation. Harold A. Innis und die Medientheorie der Zivilisation“, http://www.medienphilosophie.net/texte/innis.pdf (Zugriff 26.09.2012) 47 Harold Innis in: „Tendenzen der Kommunikation in: „kreuzwege der kommunikation – ausgewählte Texte“, S. 96 48 Harold Innis, „The press: A neglected factor in the economic history of the twentieth century“, London 1949, S. 5
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Wasser Distanzen überbrücken ließ – ein räumliches Medium.49 Die Materialität der Medien wird also als eine Institution sozialer Beziehungen und Art und Weise der Organisation und nicht nur als eine Repräsentation von Ereignissen analysiert.50 Dadurch werden die Eigenheiten einer Kultur als Ausdruck der den Medien eigenen Tendenzen konzipiert.51 Raum- oder Zeitdominierende Medien müssen, so Innis, in einem Gleichgewicht stehen, um das Bestehen einer Zivilisation oder Gesellschaft zu sichern. In „Empire and Communications“ beschreibt Innis zentrifugale und zentripetale soziale Kräfte, die durch die Materialität (und der damit verbundenen sozialen Bedingungsgefüge) der jeweiligen dominierenden Medien Gesellschaften eher integriert oder unabhängig peripher lokalisiert.52 Raum und Zeit beschreiben hier die Gemeinschaftsgestaltende und -erhaltende Kraft von Kommunikations- und Transportmedien. Zeitorientierte Medien sind jene, dessen Materialität große Zeitspannen
überdauern
können
–
Ton,
und
insbesondere
Stein
und
53
interessanterweise auch Oralität. Raumorientierte Medien sind dementsprechend leichter und einfacher über weite Distanzen hinweg transportierbar, insbesondere Papyrus, Papier, Radio und – weit nach Innis’ Zeit - digitale Kommunikation. So zeigt Innis, wie der Übergang von Stein auf Papyrus beispielsweise eine Leichtigkeit des Denkens zur Folge hatte (oder dieser Rechnung trug),54 während Ton oder Stein basierte Medien eine Gesellschaftsstruktur favorisierte, die den Fortbestand religiöser und monarchischer Machtstrukturen unterstützte.55 Für Innis ist Oralität ebenso ein Medium wie Schriftlichkeit56 – was seinen Medienbegriff von solchen unterscheidet, die Medien nur als externalisierte Träger der Kommunikation definieren und rückt somit den Fokus auf die Konsequenzen in Denk- und Wissensstrukturen die mit einem bestimmten Medium oder Medienkomplex zusammenhängen und durch ihn entstehen. Schriftlichkeit bewirkt unterschiedliche 49 Harold Innis, „Empire and communications“, Toronto & Buffalo 1972, Kapitel 2 und 3 50 Ian Angus macht hieran deutlich, dass Medien nach Innis nicht nur an ihrer Schwere/Leichtigkeit gemessen wirken sondern als ein Komplex sozialer Relationen wirken. Er vergleicht dies mit Husserl’s Unterscheidung zwischen Leib und Körper, wobei er die Materialität der Medien als Leib und nicht als bloßen ‚toten’ Körper erkennt. Vgl. Ian Angus, „The Materiality of Expression: Harold Innis' Communication Theory and the Discursive Turn in the Human Sciences“ in: Canadian Journal of Communication, Vol 23, No 1, 1998 http://www.cjc-online.ca/index.php/journal/article/%20view/1020/926 (Zugriff Januar 2015) 51 Ian Angus, „The Materiality of Expression: Harold Innis' Communication Theory and the Discursive Turn in the Human Sciences“ in: Canadian Journal of Communication, Vol 23, No 1, 1998 http://www.cjconline.ca/index.php/journal/article/%20view/1020/926 (Zugriff Januar 2015) 52 Vgl. Harold Innis, „Empire and communications“, Toronto & Buffalo 1972 53 Für Innis ist Oralität ein Kulturerbe Griechenlands im Kontrast zu den Schrift anbetenden Kulturen des Orients. Oralität ist seiner Meinung nach ein Schlüssel der die Tendenzen unserer stark raumorientierten Medien ausgleichen könne. Harold Innis in: „Tendenzen der Kommunikation in: „kreuzwege der kommunikation – ausgewählte Texte“, Wien 1997, S. 102 54 Karlheinz Barck in „harold a. innis – kreuzwege der kommunikation. ausgewählte texte.“, Wien 1997, S 57 55 56
Ebd., S. 64 Harold Innis, „Bias of communication“, Michigan 1949, S. 75
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Denk57- und Machstrukturen je nachdem, auf was für ein Alphabet sie aufbaut und ob sie auf Pergament, Papyrus, Stein oder Papier zu Tragen kommt. Pergament, z.B., ermöglichte ein kodiertes Lesen im Gegensatz zu dem linearen Lesen auf einer Papyrus Rolle, was in Verbindung gebracht wird mit Verhaltens Kodizes und einer neuen Form der Rechtsprechung.58 Weiter zeigt Innis, wie die Ausbreitung des Papiers aus China den Ausbau von Handel und Gewerbe in Italien und Nordeuropa beschleunigte,
59
während die Monopolstellung, welche die Bibel und das
Lateinische in der Kirche innegehabt hatte, durch die Druckerpresse zerstört wurde (Pergament: Zeitorientiertes Medium da lange haltbar und schwerer, Papier: Raumorientiertes Medium da leichter und in Kombination mit Druck, leichter zu vervielfältigen).60 Aufstieg und Verfall bestimmter kultureller Eigenheiten haben hier direkt mit ihrer Fähigkeit, Wissen in Zeit und Raum zu verteilen, zu tun.61 In Innis Analyse 62 wird deutlich, dass raumorientierte Medien Administration und Handel favorisieren, während zeitorientierte Medien Permanenz und Dauer ermöglichen. Zeitorientierte Medien ziehen Dezentralisation nach sich, da sie nicht so dazu geeignet sind, räumliche Distanzen zu beherrschen. Hieraus entstehen stark hierarchisierte Formen von Institutionen deren Strukturen sich über lange Zeit hinaus erhalten. Raumorientierte Medien hingegen favorisieren Zentralisation – eine Beobachtung die später noch interessant werden wird im Vergleich mit Virilio’s Analysen – aber dafür Regierungssysteme die weniger hierarchisch gegliedert sind.63 Dezentralisation meint hier lose oder erschwerte Koordination über eine bestimmte räumliche Distanz hinweg, die mehrere Machtzentren zur Folge hat, welche die Tendenz haben, stark hierarchisch gegliedert zu sein. Zentralisation meint Koordination die über weite Distanzen hinweg einfach möglich ist. Weniger Hierarchie bedeutet, dass sich administrative Machstrukturen überlappen und nicht eine Befehlsmacht die gesamte Struktur erfasst.64
Ebd., S. 75 Ebd., S. 81 59 Harold Innis, „Bias of Communication“, Michigan 1949, S. 83 60 Ebd., S. 87 61 Harold Innis in: „Tendenzen der Kommunikation in: „kreuzwege der kommunikation – ausgewählte Texte“, S. 95 62 Ebd., S. 96ff 63 Harold Innis, „Empire and communications“, Toronto & Buffalo 1972, S. 7 57 58
64 Vgl. Ian Angus, „The Materiality of Expression: Harold Innis' Communication Theory and the Discursive Turn in the Human Sciences“ in: Canadian Journal of Communication, Vol 23, No 1, 1998 http://www.cjconline.ca/index.php/journal/article/%20view/1020/926 (Zugriff Januar 2015)
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3.2. Geschwindigkeit und Macht – Virilio’s Analyse des eigentlichen Unfalls Virilio´s Blick auf Geschichte und gesellschaftliche Entwicklung analysiert wie Innis das soziale Wirkungsgefüge von Transport- und Kommunikationsmedien. Während Innis ökonomische Prinzipien auf seine Analysen anwandte, analysiert Virilio auf dem Hintergrund militärischer Prinzipien 65 – was jedoch nicht im Gegensatz zu den von Innis fokussierten Wissens- und Bildungsmonopolen steht, die im Endeffekt auch Stärke und Verwundbarkeit von Gesellschaften beschreiben. Virilio identifiziert eine Eigenlogik der Geschwindigkeit und Beschleunigung in den Transport- und Kommunikationsmedien. Tholen sieht Virilio’s Kernthese in dem Immobilismus als Telos und eigentlichen ‚Wesenskern’ der Geschwindigkeit begründet:66 „(...) im Zentrum der Geschwindigkeit ruht die Trägheit. Eine neue Geschwindigkeit ist stets mit einer neuen Trägheit verbunden.“
67
Dieser
Trägheitspol, der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen, enthält das eigentliche ‚Diktat der Beschleunigung’.
68
Warten wird so zu einer Erscheinung der
Geschwindigkeit – der ‚rasende Stillstand’ beschreibt die Schwere des Körpers der immer mehr technischer Prothese bedarf um bewegt zu werden, aber auch ganz mondäne Erfahrungen wie das Warten in Flughäfen und die verdeckte Vernichtung von
Zukunft
und
Vergangenheit
durch
eine
immer
größer
werdende
Gegenwartsbesessenheit der Simultaneität und Augenblicklichkeit der Jetztzeit.69 Virilio sieht dies in Kontrast zu der Langsamkeit des Gefühls, des Taktes, des körperlichen Kontaktes. Der Kontakt zwischen Orten des Körpers wird so unerträglich in einer Welt der Jetzt-Kommunikation.
70
Die Genese dieser
Entwicklung sieht Virilio als eine anthropologische Fortschreibung. Wir sind schon ‚immer unterwegs’, seitdem wir von unseren Müttern in der Schwangerschaft ‚ausgetragen’ wurden.
71
Ähnlich wie McLuhan werden hier Medien als
Weiterentwicklung und Auslagerung menschlicher Funktionen und Aktivitäten 65 Bob Hanke, „McLuhan, Virilio and electric speed in the age of digital reproduction“, unpublished manuscript, York University, Toronto 2003, S. 126 66 Georg Christoph Tholen, Joseph Hurt (Hrsg), „Gewschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk von Paul Virilios“ in: „Von Michel Serres bis Julia Kristeva“, Freiburg 1999, Reihe Litterae, Bd. 69, S. 135-162 67 Paul Virilio, Marianne Karbe, (Übers.), „Revolutionen der Geschwindigkeit“, Berlin 1993, S. 30 68 Georg Christoph Tholen, Joseph Hurt (Hrsg), „Gewschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk von Paul Virilios“ in: „Von Michel Serres bis Julia Kristeva“, Freiburg 1999, Reihe Litterae, Bd. 69, S. 135-162 69 Paul Virilio, „Fahren, fahren, fahren...“, Berlin 1978, S. 31, 37 70 Ebd., S. 35 71 Georg Christoph Tholen, Joseph Hurt (Hrsg), „Gewschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk von
Paul Virilios“ in: „Von Michel Serres bis Julia Kristeva“, Freiburg 1999, Reihe Litterae, Bd. 69, S. 135-162 und Paul Virilio, „Fahren, fahren, fahren...“, Berlin 1978
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verstanden.
Die
Beschleunigungen
der
Fortbewegungs-
und
Kommunikationsmedien werden bei Virilio in ihrer Entwicklung dem Menschen immer
weiter
entfernt
diagnostiziert.
Tholen
beschreibt
dies
als
‚Anthropomorphismus’ Virilio’s Medienanalyse. So wird jede niedrigere Stufe der Mobilität ‚menschengerechter’ im Vergleich zur nächsten Stufe – der Mensch ist also eigentlich der immobile und verschreibt sich einer ‚uneigentlichen’ artifiziellen Mobilität. 72 Historisch interpretiert Virilio diese Präferenz als Erkenntnis der Vorteile des beschleunigten Transports und Kommunikation für die Jagd und in kriegerischen Auseinandersetzungen.
73
Millar und Schwarz beschreiben die
Kontrolle von Geschwindigkeit als eine der vielleicht wichtigsten Formen zeitgenössischer Macht.74 Es ist die Angst vor Tod welche die ‚Tyrannei’ von Raum und Zeit seit spätestens dem 19. Jahrhunderts als bedrohlich erscheinen lässt.75 Das ideologische Narrativ von Entwicklung als eine Überwindung der Raum und Zeit Bedrohung ist jedoch schon immer Teil von sich immer weiter beschleunigenden Technologien der Kommunikation, Transport und insbesondere Waffen. Ein Fokus, der zum Fetisch der Kriegsintelligenz wird und letztendlich sich „(...) des anthropologisch grundierten Motivs der Geschwindigkeit ihrerseits zu entledigen (...)“ anschickt76- sprich, die menschliche Langsamkeit als Hindernis zu beseitigen sucht, was wiederum einen neuen ‚eigentlichen’ Unfall in sich birgt. Dieser ‚eigentliche’ Unfall ist ein jedem Medium eigenes Risiko des Versagens und der Zerstörung, dessen Analyse Virilio als überlebenswichtig ansieht, insbesondere wenn es um immer größere Ausmaße seines Wirkungsbereiches geht wie im Falle des nuklearen Unfalles zum Beispiel oder das Versagens der menschlichen Entscheidungsfähigkeit angesichts einer inhumanen Geschwindigkeit z.B. an der Börse. Die Kenntnis des eigentlichen Unfalles setzt er als notwendig voraus, um vorbeugend gegen sein Eintreten zu wirken. Virilio spricht von einem ‚Kontinent der Geschwindigkeit’ – einem brutalen Einbruch eines ‚Nicht-Ortes’ in die Geschichte, der sich aus dieser immer weiter 72 Georg Christoph Tholen, Joseph Hurt (Hrsg), „Gewschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk von Paul Virilios“ in: „Von Michel Serres bis Julia Kristeva“, Freiburg 1999, Reihe Litterae, Bd. 69, S. 135-162 73 Paul Virilio, „Fahren, fahren, fahren...“, Berlin 1978, S. 36 74 Millar und Schwarz (1998:17) zitiert in: Bob Hanke, „McLuhan, Virilio and electric speed in the age of digital reproduction“, unpublished manuscript, York University, Toronto 2003, S.124 75 Paul Virilio, „Fahren, fahren, fahren...“, Berlin 1978, S. 44 76 Georg Christoph Tholen, Joseph Hurt (Hrsg), „Gewschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk von Paul Virilios“ in: „Von Michel Serres bis Julia Kristeva“, Freiburg 1999, Reihe Litterae, Bd. 69, S. 135-162
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beschleunigenden Beschleunigung ergibt. 77 Diese zunächst phänomenologische Beobachtung des Verschwindens der Einzelheiten der Welt im ‚Flimmern der Geschwindigkeit’ der Kommunikations- und Transportmedien führt zu einer epistemologischen Position des Subjekts, die keinen Anhaltspunkt außer sich selbst mehr kennt.78 Der Boden der Erfahrung löst sich auf in eine vermittelte Relativität, die
zu
Merkmalen
einer
Gesellschaft
führt,
welche
die
Mittel
(der
79
Kommunikation/Übertragung) für das Ziel hält. Als Beispiel dafür führt Virilio die Entwicklung der Atomkraft an, welche die Distanz zwischen den Basisenergien, die für die Herstellung oder den Einsatz von Waffen benötigt werden und der eigentlichen Waffe selbst, auflöst. In der Atomkraft sind Mittel- und Zweckrelation aufgehoben. Hypergeschwindigkeit führt zu einer ‚Hypergewalt’ der strukturellen ‚Gewalt der Geraden’.80 McLuhan und Virilio sehen beide in der ‚Informations Bombe’ des digitalen Zeitalters der Echtzeitübertragung die zu einer immer fortwährenden Jetztzeit wird, eine parallele zu Radioaktivität und der Atombombe. Die totale, unbewusste und unsichtbare Penetration der menschlichen Natur durch die technologischen Welt als auch die Vernichtung des Raumes und die erhöhte Kontrolle der ‚real-time’ Umwelt menschlicher Beziehungen und Aktivitäten bringt uns, so Virilio, an den Rand eines zeitlichen Unfalls – einer Mutation des Konzepts von Zeit an sich.81
3.3. Demokratie im Wirkungsfeld von Zeit und Raum Gesellschaften existieren immer in Raum und Zeit. Innis untersucht ihren historischgeographischen Einfluss und Effizienz entsprechend der Medienkomplexe, durch welche sie sich artikulieren. So auch Virilio, dessen analytischer Blick der Relation von Zeit und Raum gilt – der Dauer oder Geschwindigkeit also – und wie sich dies auf den Mensch und seine soziale und politische Organisation auswirkt. Virilio als auch Innis äußern jeweils Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen der Medien ihrer Zeit auf demokratische Gesellschaftsformen. Während der ‚bias’ bei Innis nicht dem ‚eigentlichen Unfall’ Virilio’s gleichgesetzt werden kann, sind diese 77 Paul Virilio, „Fahren, fahren, fahren...“, Berlin 1978, S. 26 78 Ebd. 79 Paul Virilio, „Fahren, fahren, fahren...“, Berlin 1978, S. 26ff 80 Paul Virilio, „Fahren, fahren, fahren...“, Berlin 1978, S. 35 81 Bob Hanke, „McLuhan, Virilio and electric speed in the age of digital reproduction“, unpublished manuscript, York University, Toronto 2003, S.124
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jedoch im Zusammenhang zu sehen: Innis Analyse seiner Zeit zeigt auf, wie verwundbar unser auf Raum ausgedehntes ‚Weltsystem’ in Bezug auf Zeit im Sinne von Dauer ist, indem Kontinuität erschwert und eine Berücksichtigung der Zukunft verloren geht – eine Folge von Medien also, die mehr der Gegenwart Rechnung tragen.82 Papier und Radio – die zu seiner Zeit aktuellen Kommunikationsmedien sind beide leicht verteilbare Medien – und die mit ihnen verbundenen sozialen Bedingungsgefüge hatten Raum auf bis dahin unerhörte Weise erschlossen. Das in diesem Kontext entstandene System war allerdings sehr verwundbar und sensibel in Bezug
auf
periodische
Erschütterungen
und
Störungen,
83
wie
z.B.
die
Weltwirtschaftskrise 1929. Virilio’s Blick gilt einem Seiteneffekt der von Innis analysierten raumbasierten Medien – ihre Geschwindigkeit, die schlussendlich die menschliche Geschwindigkeit überschreitet und demokratische Entscheidungen erschwert oder unmöglich macht (oder den Schein erweckt demokratischer zu sein, da mehr Menschen mehr und schneller erfahren und sich äußern können). Die Schwere zeitbasierter Medien im Sinne von Innis ist in Virilio’s Analysen als Reaktion auf diese Geschwindigkeit wiederzufinden: Der Bunker welcher der Geschwindigkeit der Waffen entsprechen und trotzen muss, der Körper der immer immobiler und schwerer wird angesichts augenblicklicher und allgegenwärtiger, raumschrumpfender Kommunikation: Die Welt kann nunmehr virtuell erfahren werden – wobei sie als Erfahrungsfeld im Sinne körperlichen Erlebens und Verhandelns verschwindet:84 „Wir leben heute also nicht, wie es Marshall McLuhan noch hoffte, in einem globalen Dorf, sondern an einem Trägheitspol, gegenwärtige Welt in jedem einzelnen ihrer Bewohner erstarren lässt.“
der die 85
Innis’
Plädoyer für die Zeit – analog zu dem Plädoyer Virilio’s zur Entschleunigung –ist darauf ausgerichtet, den Raum wieder zu strecken und einen Ausgleich zu Gegenwarts- und raumbasierten Herrschaftsstrukturen zu ermöglichen.86 Schnellere Kommunikation – und in zunehmendem Maße auch schnellerer Transport – ermöglichen eine räumliche Weitsichtigkeit der ‚Echt-Zeit Übertragung’. Die
82 Harold Innis: „Ein Plädoyer für die Zeit“ in: „The Bias of Communication“, Michigan 1949, S. 139 83 Ian Angus, „The Materiality of Expression: Harold Innis' Communication Theory and the Discursive Turn in the Human Sciences“ in: Canadian Journal of Communication, Vol 23, No 1, 1998 http://www.cjconline.ca/index.php/journal/article/%20view/1020/926 (Zugriff Januar 2015) 84 Paul Virilio, Michael Jakob (Hrsg.): „Aussichten des Denkens“, München 1994, S. 121 85 Paul Virilio, Marianne Karbe, (Übers.), „Revolutionen der Geschwindigkeit“, Berlin 1991, S. 60
86 Harold Innis: „Ein Plädoyer für die Zeit“ in: „The Bias of Communication“, Michigan 1949, S. 139ff
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zeitliche ‚Kurzsichtigkeit der Echtzeit’87 jedoch beeinflusst politische Prozesse und Gewaltenteilungs -Vorgänge, die ausgehandelt werden müssen und einem Zeitkontinuum bedürfen. Virilio sieht hier eine der Hauptgefahren – wie soll die Zeit
18
Geraldine Hepp 6/14/15 8:20 AM Comment [1]: Ort und Zeit fehlt in Referenz
dafür vorhanden sein, wenn sie sich in ihrer Gegenwartsbezogenheit uns immer weiter entzieht? Er bezeichnet das Ende der Politik mit dem Begriff des Transpolitischen: „Mit dem Transpolitischen beginnt das Politische zu verschwinden und seine letzte Lebenssphäre sich zu verflüchtigen: die Dauer. Demokratie und Diskussion, die Grundlagen des Politischen brauchen Zeit. Die Dauer gehört zum Wesen des Menschen."
88
Der technische Fundamentalismus, der zu dieser
Allgegenwärtigkeit führt, ist in diesem Sinne nicht demokratisch sondern autokratisch ausgerichtet:89 „Die erste Sorge des Autokraten richtet sich darauf, ein allgegenwärtiges, allmächtiges Zentrum zu bilden. Um Autokrat zu werden, bedarf es jedoch der absoluten Macht, und die wird über Höchstgeschwindigkeit erreicht.“90 Virilio’s Vergleich zwischen autokratischen und ‚allwissenden, allsehenden’ göttlichen Strukturen wird von Innis vorweggegriffen: „Das Verschwinden der Zeitmonopole ermöglichte dem Staat eine rasche Ausweitung seiner Kontrolle und ließ neue Religionen entstehen, wie am Faschismus, am Kommunismus und an unserer Lebensart deutlich wird.“91 Die Herrschaftsform eines Medienkomplexes, der es ermöglicht, allgegenwärtig zu sein und alles gleichzeitig sofort zu sehen, sieht Virilio der Demokratie unverträglich: „(...) lassen sich Ubiquität und Simultaneität demokratisieren? Demokratie heißt Teilung der Macht; Allgegenwart aber ist ein Attribut des Göttlichen. (...) Das Göttliche läßt sich nicht demokratisieren.“92 Innis konnte die Möglichkeiten digitaler Kommunikation und des Internet nicht vorauserahnen – aber seine Analyse ist vom Ansatz her übertragbar auf die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Innis Diagnose, dass Oralität und Schriftlichkeit einen Ausgleich zu den Tendenzen seiner Zeit dienen könnten, werden jedoch unterschiedlich bewertet und sind möglicherweise auch noch nicht wirklich verstanden worden (was bedeutet Oralität in unserer Zeit? Die Oralität des Fernsehens und der digitalen Kommunikation sind der griechischen 87 Paul Virilio, Bernd Wilczek (Übers.), „Krieg und Fernsehen“, München 1993, S. 90 88 Paul Virilio, „Der Reine Krieg", Berlin 1984, S. 32 Vgl. auch http://www.jcpohl.de/medien/virilio.html 23.09.2012) 89 Paul Virilio, Marianne Karbe, (Übers.), „Revolutionen der Geschwindigkeit“, Berlin 1993, S. 70 90 Ebd., S. 30 – 91 Harold Innis: „Ein Plädoyer für die Zeit“ in: „The Bias of Communication“, Michigan 1949, S. 143 92 Ebd., S. 32
(Zugriff
Geraldine Hepp 6/14/15 8:12 AM Comment [2]: Innis sagt, es braucht Zeit orientierte Medien fuer das – internet nicht unbedingt zeit stabil aber schnell.
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Oralität die Innis meint, nicht gleichzusetzen) 93 . Hartman sieht die kulturelle Blindheit, die Innis beschreibt hier auf sein eigenes Werk bezogen und stellt fest, dass Innis die elektrischen Medien nicht mehr mit seiner eigenen Herangehensweise richtig interpretieren konnte.94 Hier kann Virilio’s Analyse insbesondere des Internets einen weiterführenden Ansatz bieten. Virilio sieht in der Nodalisierung des Internets eine der Demokratie gefährlichere Geometrie der Macht als die offensichtlichere autokratische Geometrie des Zentralismus.95 Dies steht der Analyse andere Theoretiker entgegen, die in den Möglichkeiten des Internets ein inhärent demokratisches Medium sehen.
96
Allerdings muss hier die Physikalität, die versteckten Auswirkungen und die Möglichkeiten des Internets im Gegensatz zu seiner ‚demokratischen’ Nutzung beispielsweise im ‚arabischen Frühling’ in Betracht gezogen werden. Was sind die Möglichkeiten der demokratischen Nutzung wenn ein Land bestimmte Aspekte des Netzes
einfach
kontrollieren
kann,
wie
China?
97
Was,
wenn
die
98
Speicherlagerhallen und die Tiefseeglasfaserkabel angegriffen werden? Was, wenn Billionen von Menschen das Internet tatsächlich hauptsächlich als Facebook kennen (wie es der Fall ist in Kenia, wo eine der größten Telekommunikationsfirmen Airtel für seine Handy Kunden Zugang zu Facebook umsonst anbietet99) und politische Aktion mit ‚Gefällt Mir’ klicken suspendiert wird? Was, wenn der Zugriff auf Daten und
Systeme
weltumspannend
möglich
wird
während
demokratische
Meinungsbildung zwar technisch möglich aber praktisch nicht mehr vollziehbar wird weil
es
zu
viel
und
zu
schnelle
Informationsflüsse
gibt
und
die
Gegenwartsbesessenheit politische Meinungsbildung untergräbt? Wenn die Internet Giganten fusionieren würden – was dann?100 Diese Fragen werden in dieser Arbeit 93 Harold Innis in: „Tendenzen der Kommunikation in: „kreuzwege der kommunikation – ausgewählte Texte“, Wien 1997, S. 102 94 Frank Hartmann: „Vom Transport zur Transformation - Harold A. Innis und die Medientheorie der Zivilisation“ http://www.medienphilosophie.net/texte/innis.pdf (Zugriff 20. Dezember 2014 - Jahreszahl des Textes war nicht ersichtlich) 95 Paul Virilio, Marianne Karbe, (Übers.), „Revolutionen der Geschwindigkeit“, Berlin 1993, S. 34 96 Douglas Kellner in: Rainer Winter (Hrsg), „Medienkultur, Kritik und Demokratie – der Douglas Kellner Reader“, Halem, Köln 2005, S. 323f 97 Die erste Ansatzstelle der "Great Firewall" sind dabei die Knotenpunkte im Meer vor der Küste Chinas. Da der gesamte Datenstrom in das Land und aus dem Land durch diese Glasfaserkabel geleitet wird, bilden sie natürlich den optimalen Punkt für eine Kontrolle. Jedes Datenpaket, das die Knotenpunkte passiert, wird kopiert und an Spezialrechner gesandt. Diese so genannten Netzwerkschnüffler überprüfen die Daten und leiten bei einem Fund entsprechende Schritte ein. Vgl. http://www.deutschervpn.de/internetzensur-in-china.html (Zugriff Juni 2015) 98 Vgl. http://www.telegraph.co.uk/technology/google/9616793/Google-offers-secret-glimpse-into-where-the-internet-lives.html (Zugriff Juni 2015) 99 Vgl. http://www.techweez.com/2014/11/28/facebook-and-safaricom-clash-over-free-facebook/ (Zugriff Januar 2015) 100 Vgl. http://answerguy.com/2012/01/25/google-facebook-privacy-ends-permanently/ (Zugriff Juni 2015)
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nicht erörtert werden, zeigen aber auf, dass die Bedenken Virilio’s und Innis’ interessante Ansatzpunkte für eine solche Analyse bieten. Der eingangs erwähnte Einwand, dass Virilio einer dem Kalten Krieg verhafteten apokalyptischen Kulturkritik verhaftet sei, wird von ihm selbst abgewiesen: „Wir haben gelernt, mit bestimmten Naturkatastrophen fertigzuwerden, wir haben Möglichkeiten geschaffen, uns gegen das Aktuelle zur Wehr zu setzen, doch wir haben keinerlei Möglichkeiten, uns gegen eine virtuelle Welt zur Wehr zu setzen. Gerade deshalb interessieren mich Unfälle, der Unfall geschieht definitionsgemäß überraschend, er ist gebunden an eine virtuelle Geschwindigkeit, an die des unsichtbaren Ereignisses, das plötzlich eintreten und eine Katastrophe auslösen wird.“ 101 Die Analyse eines Mediums hinsichtlich seines nur durch es möglichen Unfalles wird notwendig, um Gegenmaßnahmen entwickeln zu können. Dies transzendiert die Frage nach dem Umgang und der kommunikativen Inhalte eines Mediums und schließt an Innis und Luhan´s Perspektive an, dass das Medium die Botschaft sei, die es zu verstehen gilt. Auch Innis begreift den Ausbruch des 2. Weltkrieges und den Koreakrieg 1950 „(...) als induzierte Katastrophen der Zivilisation (...)“, für die es historisch ergründbare Erklärungen und somit auch Alternativlösungen geben müsse.102 In einer Zeit in welcher der sogenannte Westen nicht wirklich überzeugende Visionen sondern eher Ratlosigkeit produziert wenn es um Bewegungen geht die sehr wohl mit starker Vision operieren (wie z.B. ISIS), wird Innis’ Plädoyer wieder aktuell: ‚Ohne Vision kommen die Menschen um’.103 Und ohne Zeit, so Innis und Virilio, keine Zeit für die Entwicklung von demokratisch getragenen Visionen. Beide plädieren für eine Stärkung von Medien, die sie als diesem Trend entgegengesetzt wahrnehmen: Oralität und eine Kultur der Schriftlichkeit. Für Innis als auch Virilio sind unabhängige Universitäten als Zentren für kritisches Denken für das Überleben der westlichen Kultur unabdingbar104
- eine Einsicht, die der aktuellen Logik der
Berufsorientierten Studiengänge, die mehr an den gegenwärtigen Bedürfnissen des Marktes ausgerichtet sind, entgegengesetzt ist. Ihre Analysen – insbesondere Virilio’s fortwährende weitläufige Arbeit – bieten allerdings nicht einfache Lösungen zu den Problemen die sie identifizieren, an, sondern fokussieren vielmehr die Identifizierung der möglichen Konsequenzen, Schwachstellen und Unfälle. Eine 101 Paul Virilio, Marianne Karbe, (Übers.), „Revolutionen der Geschwindigkeit“, Berlin 1993, S. 29 102102 Karlheinz Barck in „harold a. innis – kreuzwege der kommunikation. ausgewählte texte.“, Wien 1997, S. 5 103 Harold Innis: „Ein Plädoyer für die Zeit“ in: „The Bias of Communication“, Michigan 1949, S. 139ff 104 Vgl. Harold Innis: „Ein Plädoyer für die Zeit“ in: „The Bias of Communication“, Michigan 1949, S. 139ff
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fortführende Forschungsfrage könnte sich potentiellen technologischen oder gesellschaftlichen Umbrüchen und deren Raum-Zeit Verhältnis widmen, die im Sinne Innis und Virilio’s politische und kulturelle Veränderungen unserer Gesellschaft
konstituieren
und
eine
Alternative
zu
den
Gegenwartsbesessener- und fokussierter Medien bieten könnten.
Schattenseiten
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4. Literaturverzeichnis Alexander John Watson, „Marginal Man: The Dark Vision of Harold Innis“, Toronto 2006 Alexander John Watson in: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Harold_Adams_Innis&oldid=85185143 (Zugriff Dez. 2014) Bob Hanke, „McLuhan, Virilio and electric speed in the age of digital reproduction“, unpublished manuscript, York University, Toronto 2003 Claus Pias in Stefan Weber (Hrsg), „Poststrukturalistische Medientheorien“ in: „Theorien der Medien“, Konstanz 2010 Claus Pias in: Stefan Weber (Hrsg), „Theorien der Medien“, Konstanz 2003 Douglas Keller, „Virilio, War and Technology: Some Critical Reflections“, in: „Illuminations: The Critical Theory Project“, UCLA Graduate School of Education and Information Studies http://pages.gseis.ucla.edu/faculty/kellner/Illumina%20Folder/kell29.htm (Zugriff 23.09.2012) Douglas Kellner in: Rainer Winter (Hrsg), „Medienkultur, Kritik und Demokratie – der Douglas Kellner Reader“, Halem, Köln 2005 Dromologie auf Wikipedia Permanentlink: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Dromologie&oldid=71217983 Frank Hartmann in: Stefan Weber (Hrsg), „Theorien der Medien“, Konstanz 2003 Frank Hartmann, „Vom Transport zur Transformation. Harold A. Innis und die Medientheorie der Zivilisation“ http://www.medienphilosophie.net/texte/innis.pdf (Zugriff 26.09.2012) Frank Hartmann, „Archäologie der Kommunikationsmedien, Philosophische Grundlagen 2.5“, http://www.netzgestalten.de/Frank.Hartmann/Innis.htm (Zugriff 26.09.2012) Georg Christoph Tholen, Joseph Hurt (Hrsg), „Gewschwindigkeit als Dispositiv. Zum Horizont der Dromologie im Werk von Paul Virilios“ in: „Von Michel Serres bis Julia Kristeva“, Freiburg 1999, Reihe Litterae, Bd. 69 Harold A. Innis, „Die Eule der Minerva“, 1947, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), „Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte“ Wien, New York, 1997 Harold Innis, „Bias of communication“, Michigan 1949 Harold Innis, „Empire and communications“, Toronto & Buffalo 1972 Harold Innis, „The press: A neglected factor in the economic history of the twentieth century“, London 1949 Harold Innis, „Ein Plädoyer für die Zeit“ in: „The Bias of Communication“, Michigan 1949 Harold Innis, „Tendenzen der Kommunikation“ in: „Kreuzwege der Kommunikation – ausgewählte Texte“, Wien 1997, http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/niels.werber/Publikationen/innis.htm (Zugriff 23.09.2012): http://www.egs.edu/faculty/paul-virilio/biography/ (Zugriff am 20.05.2011) http://www.ctheory.net/articles.aspx?id=133 Zugriff 26.09.2012
Hausarbeit: Gegenwartsbesessenheit? Die Frage nach Demokratie im Wirkungsfeld von Zeit und Raum. Virilio und Innis im Vergleich. Geraldine Hepp, 533659
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