Fritz Krafft, Buch-Rezension: Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon. Nürnberg 1962. In: Sudhoffs Archiv 48 (1964), 367 - 369.

June 13, 2017 | Author: Fritz Krafft | Category: Classical Greek Philosophy
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Krafft-Nr.009 Sudhoffs Archiv 48 (1964), 367–369 (Rezensionen):

Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon. (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft, BandX) Nürnberg: Verlag Hans Carl 1962. XVI, 496 Seiten, DM 58,–. Welcher Platz PYTHAGORAS in der Wissenschaftsgeschichte eingeräumt worden muß, ist seit der Antike umstritten. Über die Quellen bestehen so widersprechende Meinungen. daß es als hoffnungsloses Unterfangen gilt, in das Dickicht einzudringen. Seit Zeller herrschen zwei Extreme vor: entweder alles zu glauben, was in der Antike als pythagoreisch ausgegeben wurde, und davon ausgehend pythagoreische Wissenschaft zu rekonstruieren oder nur zu glauben, was vorplatonische Quellen und ARISTOTELES von PYTHAGORAS und den Pythagoreern berichten. Es fehlte allerdings nicht an Ausgleichsversuchen. Nun hat BURKERT erstmals – wie man wohl sagen muß – den erfolgreichen Versuch unternommen, alles Material aus Antike und moderner Interpretation zusammenzufassen und PYTHAGORAS und Pythagoreer von allen Seiten ihrer ‚Wirkung‘ her an Hand dieses kritisch gesichteten Materials zu betrachten. Sind auch in einzelnen Punkten seine Ergebnisse nur Bestätigung älterer Interpretationen, so gewinnen diese doch erst durch das Gesamtbild die Sicherheit, die Voraussetzung ist für eine grundlegende Änderung des allgemeinen Bildes, das bes. die Historiker der Mathematik und Astronomie von PYTHAGORAS und Pythagoreer bisher hatten. Als echt ‚pythagoreisch‘ können neben den vorplatonischen Nachrichten und denen von ARISTOTELES nur solche Berichte gelten, die zu diesen stimmen und von Platonischem unberührt sind. Denn was später daneben als ‚pythagoreisch‘ ausgegeben wird, ist – wie die ersten beiden Kapitel (‚Platonische und pythagoreische Zahlenlehre‘, ,Die älteste Pythagorastradition‘, 14–202) aufweisen – eine Verbindung von Timaiosinterpretation (später mit Hilfe von aristotelischen Gedanken und dem jeweiligen Fachwissen) und mündlich überlieferter Ideenzahlenlehre PLATONS, die sich für seine Schüler (seit SPEUSIPPOS) zu einem System zusammenschließen, „das für die Platoniker Lehre des Pythagoras ist ... während Aristoteles das gleiche System als platonisch kennzeichnet ... Die spätere Tradition – seit Theophrast – folgt den Platonikern, verdrängt die Angaben des Aristoteles weithin, freilich nicht ganz: was Aristoteles den ‚Pythagoreern‘ allgemein zuschreibt, erscheint in der doxographischen Überlieferung unter dem Namen des Philolaos“ (58). Es verbleiben als echt pythagoreisch so neben dem Philolaosbuch (222 ff.: frg. B 1–7, 9, 13, 17 werden auf Grund der Terminologie und des in ihnen zum Ausdruck kommenden Denkens als wörtliche Zitate erwiesen) eigentlich nur die Akusmata (‚Symbola‘); und in der Form der Akusmata vollzog sich die Lehre des historischen PYTHAGORAS, und in dieser Form wurde sie weitergegeben. Sie war nie fixiert, blieb stets lebendig und somit Umformungen ausgesetzt. Die in den Akusmata zum Ausdruck kommende mehr religiöse ,Weisheit‘ (Seelenwanderungslehre, Lebensführung, Schamanentum) ist keine Neuerung des PYTHAGORAS und noch lange keine Wissenschaft. Angebliche Reflexe pythagoreischer Philoso1

phie im 5. vorchr. Jh. (256 ff.) beschränken sich auf diese ‚Weisheit‘ oder entpuppen sich als Gemeingut ionischer Physiologie, das z. T. älter als PYTHAGORAS ist, oder als spezifisches Gut einzelner Denker (PARMENIDES, ZENON usw.), das sich nicht mit Pythagoreischem verbinden läßt. Das älteste Buch pythagoreischer Philosophie ist erst gegen Ende des 5. Jhs. verfaßt, es ist das ziemlich eklektische des PHILOLAOS, das das Wissen der ionischen Physiologen und sikilischen Ärzte (dazu bes. 271ff.) zusammenfaßt und arithmologisch auswertet. Selbst das ist noch keine rationale Wissenschaft, sondern reine Spekulation mit Zahlen. „Erst in der Wissenschaft des Archytas – dessen Schüler ja EUDOXOS war – und in der philosophischen Neuinterpretation PLATONs hat der Pythagoreismus die Form gefunden, in der er seine eigentliche Wirkung entfalten konnte“ (256). Aber was an diesem „Pythagoreismus“ rationale Wissenschaft ist, wurde der pythagoreischen Lehre von außen hinzugefügt. Zur Zeit des PYTHAGORAS vollzog sich ein geistiger und sozialer Aufbruch, „alte Ordnungen (Einheit von Ritus und Mythos) zerbrachen, neue und ungeahnte Kräfte wurden entbunden ... Ergebnis des Umbruchs war eine neue, rationale Weltsicht, das entmythologisierte, begrifflich-wissenschaftliche Denken“. Männer, die zur Zeit des Umbruchs sich bemühten, auf religiöser Basis die Kluft zwischen Mensch und Gott noch einmal zu überwinden (Schamanentum), „verwandelten sich jetzt in ‚Wundermänner‘, in Ärgernis und Spott erregende ‚Scharlatane‘. Pythagoras aber scheint nach den ältesten Zeugnissen vor diesem Durchbruch des Modernen zu stehen: Spätere mußten einer solchen Gestalt mit Unverständnis, ja mit Hohn gegenüberstehen, es sei denn, daß eine überzeugende Umsetzung ins Moderne gelang – die platonische Transposition“ (141 f.). „Pythagoras war der weiseste aller Menschen, sagt die Tradition; für eine Zeit, die Wissenschaft noch nicht kannte, waren Zauberer und Schamanen die ‚Weisen‘ gewesen, und in solchen Umkreis gehört, wie die ältesten Zeugnisse in Spott und Bewunderung erkennen lassen, noch Pythagoras. (Hierher gehören auch die Akusmata.) Doch dies zu akzeptieren war wenig später unmöglich geworden; so mußte das Bild des PYTHAGORAS sich wandeln. Wenn Pythagoras ‚weise‘ war, dann ‚weise‘ im Sinne der neuen Zeit, beileibe kein Zauberer, sondern ein Wissensehaftler“ (455). So wandelt sich Seelenwanderung und schamanenhaftes Durchwandern von Himmel und Unterwelt in wissenschaftliche Astronomie, Deutung von Himmelszeichen in Berechnung der Planetenbewegung (PYTHAGORAS soll mit den späteren Epizykeln und Ekzentern gearbeitet haben!) usw. „Insbesondere mußte die Zahlenweisheit in ganz anderem Lieht erscheinen: was symbolisches Ordnen und Klassifizieren der Vielfalt der Erscheinungen war, wird im Nachherein Mathematik; denn ein nichtmathematischer Zahlenbegriff ist gar nicht mehr vorstellbar.“ IAMBLICHOS spricht dann später von der Spaltung der Pythagoreer in ‚Akusmatiker‘ und ‚Mathematiker‘ und geht damit letztlich auf ARISTOTELES zurück (183ff.); damit ist nichts anderes ausgedrückt als die Differenz zwischen echter und neuer pythagoreischer Lehre. Welche kuriosen Wege antike und moderne Pythagorasdeutung ging und geht, die zum Teil auf falscher Deutung der Quellen oder gar auf falschen Übersetzungen beruht (385 f.: aus dem Satz bei IAMBLICHOS: ¦καλgÃτο δ¥ º γgωμgτρία πρÎς Πυhαγόρου Êστορία / ‚die Geometrie wurde von Pythagoras Êστορία genannt‘ konstruierte TAN2

NERY ein altes pythagoreisches Lehrbuch der Geometrie mit dem Titel Überlieferung des Pythagoras, dessen Existenz noch heute [VAN DER WAERDEN, Erw. Wiss. 191] als erwiesen giIt), zeigt BURKERT in den Kapiteln 4 bis 6 auf (Astronomie. Musiktheorie. Mathematik). Was sich als pythagoreisch aufweisen läßt, ist in jedem Fall Umdeutung älteren Gutes; so haben gerade die jüngsten Forschungen zur babylonischen Mathematik gezeigt, daß der sog. ‚Satz des Pythagoras‘, auf den sich schon von der Schule her für jeden von uns das Bild einer ‚Pythagoreischen Mathematik‘ gründet, in der pythagoreischen Form nichts als eine zahlenmystisch-„spekulative Ausdeutung einer babylonischen Rechenformel“ ist (400); von einem Beweis durch PYTHAGORAS sprechen nicht einmal die späteren Neupythagoreer; das blieb der modernen Mathematikgeschichte vorbehalten. Ähnliches gilt von anderen Rekonstruktionen pythagoreischer Wissenschaft. – Vorurteile, immer wieder mitgeschleppte Mißdeutungen, die für die Mathematik oft auf der Anwendung des modernen algebraischen Formelsystems beruhen, lassen das Pythagorasbild sich immer weiter aufbauschen. BURKERT hätte nicht genug auf die Batteuxsche Warnung aus dem 18. Jh. hinweisen können, daß den Denkern zumal der Frühzeit „weder die Prinzipien ihrer Konsequenzen noch die Konsequenzen ihrer Prinzipien“ zugeschrieben werden dürfen (383); logische Folge aus moderner Sicht darf nie mit historischer Abfolge gleichgesetzt werden (281), das sollten doch die vielen Ab- und Irrwege aus späterer Zeit, für die uns die Quellen vorliegen, deutlich genug zeigen. Noch ein zweiter Punkt muß beachtet werden, worauf BURKERT nur einmal in einer Anmerkung kurz hinweist (419106: „jede mathematikhistorische Darstellung modernisiert“): Soweit antike Nachrichten nicht wörtliche Zitate enthalten, sind sie – nicht nur in der Mathematik – in der Terminologie, Deduktion und Begründung modernisiert, sozusagen der eigenen Zeit verständlich gemacht. Was das bedeutet, sieht man am besten, wenn man eine moderne Mathematikgeschichte mit den Originaltexten vergleicht; denn da ist der Abstand noch größer! So dürfen gerade die Wissenschaftshistoriker BURKERT dankbar sein für die kritische Aufarbeitung des ungeheuren Materials; und man weiß nicht, was man mehr an dieser Habilitationsschrift bewundern soll, die kritische Sichtung der in fast deprimierender Fülle ausgebreiteten Primär- und Sekundärliteratur, die umfangreiche Indices erschließen helfen, oder das alle Bereiche der klassischen Philologie ausschöpfende Bild der Kultur und Wissenschaft, soweit sie bisher als pythagoreisch beeinflußt galten. Wir werden alle umlernen müssen. wenn sich auch herausstellen wird, daß in manchen Punkten leichte Korrekturen des Weges der Wissenschaftsgeschichte vor PLATON anzubringen sind. Fritz Krafft, Hamburg

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