Friedrich Nietzsches „Genius der Gattung“ in § 354 der Fröhlichen Wissenschaft
Manuel Fasko
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Inhaltsverzeichnis Einleitung .............................................................................................................................2 „Vom ‚Genius der Gattung’“ .................................................................................................3 Das „Problem des Bewusstseins“ ..................................................................................................4 Bewusstsein und Sprachentwicklung ............................................................................................7 Der „Charakter des Bewusstseins“ .............................................................................................. 10 Clarks Interpretation – der Perspektivismus als Falsifikationsthese .......................................... 13 Die „Gefahr des wachsenden Bewusstseins“ – unsere Selbstverfälschung ................................ 17
Fazit .................................................................................................................................... 19 Bibliographie ...................................................................................................................... 21
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Einleitung Werner Stegmaier nannte den § 354 aus der Fröhlichen Wissenschaft (FW) einen „der philosophisch bedeutsamsten Aphorismen in Nietzsches ganzem Werk, [der] in der jüngeren NietzscheForschung zu den meistbeachteten [gehört].“ (Stegmaier 2012: 262). Jedoch ist die Beschäftigung mit diesem Abschnitt – auch bei Stegmaier – zumeist bezogen auf Nietzsches „Theorie des Bewusstseins“1. Dabei scheint oft in den Hintergrund zu geraten, dass FW 354 die einzige publizierte Textstelle in Nietzsches Werk ist, in welcher er den Begriff „Perspektivismus“ verwendet. Jenen benutzte er, meiner Kenntnis nach, inklusive Nachlass, nur fünf Mal. Meine Seminararbeit will die in FW 354 vorgenommene Charakterisierung des Perspektivismus genauer untersuchen. Ausgangspunkt für Beschäftigung mit FW 354 ist Clarks Interpretation – im Sinne von Auffassung – des Perspektivismus als Falsifikation. Gemäss Clark setze Nietzsche den in FW 354 charakterisierten Perspektivismus mit der Behauptung (claim) gleich, dass wir nur verfälschtes Wissen über die Welt haben (können) (Clark 1990: 2, 120ff. & 149). Diese Behauptung nennt sie die Falsifikationsthese, welche „äquivalent“ sei zu Nietzsches Glaube, dass es keine Wahrheit gebe (denying of truth) (ebd.: 95). Genauer formuliert meint sie, dass Nietzsche eine „metaphysische Korrespondenztheorie der Wahrheit“ bestreite (ebd.: 40). Diese beinhaltet gemäss Clark einen „metaphysischen Realismus“. Dieser besagt, dass die Welt – deren Natur unabhängig von uns konstituiert sei – ein „Ding-an-sich“ ist (ebd.: 41). Im Weiteren wird diese Welt „Welt an sich“ genannt. Die „Welt an sich“ existiert unabhängig von uns ausserhalb unseres Geistes und hat eine von uns unabhängige Struktur. Unsere Sätze wären gemäss der Korrespondenztheorie nur dann wahr, wenn die damit ausgedrückten Sachverhalte mit der Welt – so wie sie „an sich“ ist – übereinstimmen. In der Folge wird eine derartige Übereinstimmung „adäquat“ genannt. Die ausgedrückten Sachverhalte müssen der Welt entsprechen, welche unabhängig von Menschen und ihren kognitiven Fähigkeiten existiert und strukturiert ist (ebd.: 39). Ich möchte in der Folge davon ausgehen, dass diese Redeweise – ohne dass sie noch weiter expliziert wird – verständlich ist. Es ist für die Arbeit ohnehin sekundär, ob sie dies ist. Es ist nämlich ein Ziel dieser Arbeit zu zeigen, dass Clarks Interpretation von FW 354 falsch ist. Davon ausgehend, dass die Rede einer „Welt an sich“ überhaupt sinnvoll ist, folgt ein Vorwurf Clarks an Nietzsche. Dieser meine, wir könnten die „Welt an sich“ nur verfälscht bewusst werden (ebd.: 121) und sie deshalb auch nur so wiedergeben (ebd.: 85f.). Jedoch müsse Nietzsche dafür gerade die Existenz einer „Welt an sich“ voraussetzen. Des Weiteren müsse Nietzsche wissen, wie die „Welt an sich“ sei, um zu wis Vgl. die von Stegmaier angeführten Titel in seiner FN 380 (2012: 262) oder Hales & Welshons Buch Nietzsches Perspectivism (2000), welches FW 354 vor allem im Rahmen des Kapitels Consciousness (S. 130-57) ausführlich besprechen.
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sen, dass sie verfälscht werde. Dies führe aber in ein Paradox, da Nietzsche davon ausgehe, dass die „Welt an sich“ uns nicht zugänglich sei (Clark 1990: 90f.). Zu einem ähnlichen Resultat kommt – aus anderen Gründen – James Conant fast 25 Jahre später, wenn er festhält: „[Für Nietzsche sei] objektive Realitätserkennung nicht möglich, aber dennoch gebe es eine Realität, die somit unerkannt bliebe.“ (Conant 2014: 276). Dies sei die „dritte Grundvoraussetzung von Nietzsches frühem Perspektivismus“ (ebd.), den er in WL (ebd.: 273) und FW vertrete. Conant zitiert FW 354, in dem „der Begriff der Perspektive als Metapher keine andere Rolle mehr spielen kann, als die eines notwendig und wesentlich verzerrenden Beobachtungspunkts zur Betrachtung der Welt“ (ebd.: 283f.). Unabhängig davon, was “der Begriff der Perspektive als Metapher“ genau bedeutet, lässt sich festhalten, dass auch Conants Lesart von FW 354 eine Spielart der Falsifikationsthese entwirft. Eine „Clark’sche“ Leseweise von FW 354 ist also über 25 Jahre nach ihrem Buch in der angelsächsischen Rezeption Nietzsches immer noch vorhanden. In der Folge soll erstens Clarks Interpretation widerlegt werden, in dem gezeigt wird, dass Nietzsche in FW 354 weder explizit noch implizit (Clark 1990: 117) eine Falsifikationsthese in Clarks Sinne vertritt, womit sich auch das Paradox auflöst. Darüber hinaus soll eine alternative Interpretation vorgestellt werden, die vielleicht erhellen kann, wie Clarks Interpretation – aufgrund eines Missverständnisses dessen, was gemäss Nietzsche falsifiziert wird – zustande kommt. Nietzsche vertritt nämlich eine Art „Falsifikationsthese“ des Bewusstseins. Jedoch bezieht diese sich nicht auf unser Wissen über die Welt, sondern auf das von uns selbst. Unser Bewusstsein erlaubt es uns nämlich nicht, das Individuelle an uns zu verstehen. Damit meine These verständlich wird, soll in der Folge FW 354 in drei Schritten analysiert werden. Zuerst wird geklärt, worin gemäss Nietzsche das „Problem des Bewusstseins“ besteht. Danach wird der Zusammenhang von Bewusstseins- und Sprachentwicklung verdeutlicht. Im nächsten Schritt wird gezeigt, inwiefern das Bewusstsein ein Verbindungsnetz zwischen Menschen ist. Danach wird Clarks Interpretation kritisch überprüft, bevor die Arbeit mit einer alternativen Interpretation und kurzen Ausführungen zur „Gefahr des wachsenden Bewusstseins“ (FW 354) beendet wird.
„Vom ‚Genius der Gattung’“2 Ausgangspunkt für Clarks Interpretation ist Nietzsches einzige publizierte Charakterisierung des Perspektivismus in FW 354. Dort schreibt er „die Natur des thierischen Bewusstseins bringt es mit sich, das die Welt derer wir uns bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist [...] dass Alles, was bewusst wird [...] flach, dünn, relativ-dumm wird [...] dass mit allem Be 2
Titel des FW 354.
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wusstwerden eine Fälschung [meine Hervorhebung] [...] verbunden ist.“ (FW 354). Diese Passage wirft aber mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt: Was ist die „Natur des thierischen Bewusstseins“? Was bedeutet es, dass mit dem Bewusstwerden eine Fälschung verbunden ist? Was wird bewusst? Was wird verfälscht? Ist „Bewusstwerden“ dasselbe wie Bewusstsein? etc. Antworten auf diese Fragen können aber nur mit Hilfe des ganzen Abschnitts gefunden werden. Deshalb wird dieser zuerst im Detail analysiert. Es ist also – nebst der Entkräftung von Clarks Interpretation – ein Ziel dieser Arbeit die wissenschaftliche Diskussion über einen der „philosophisch bedeutsamsten“ und „jüngst meistbeachteten“ Aphorismen Nietzsches (Stegmaier 2012: 262) weiter zu vertiefen. Aus Platzgründen werden Fragen, welche sich im Verlauf dieser Analyse stellen, explizit erwähnt. Sofern sie jedoch für meine Argumentation sekundär sind, müssen sie leider unbeantwortet bleiben.
Das „Problem des Bewusstseins“3 In FW 354 beschäftigt sich Nietzsche mit dem „Problem des Bewusstseins (richtiger: des SichBewusst-Werdens)“ und versucht eine Frage zu beantworten, welche sich aufgrund damaliger Erkenntnisse der „Physiologie und Thiergeschichte“ stelle (FW 354). Letztere hätten gezeigt, dass wir bis zum heutigen Tage ohne Bewusstsein – d.i. ohne, dass es uns bewusst wird – denken, fühlen, wollen, erinnern und sogar handeln könnten. Nietzsche geht jedoch noch einen Schritt weiter: „Wir könnten nämlich denken, fühlen wollen, uns erinnern, wir könnten ebenfalls „handeln“ in jedem Sinne des Wortes: und trotzdem brauchte das Alles nicht uns „in’s Bewusstsein zu treten“ (wie man im Bilde sagt). Das ganze Leben wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe: wie ja thatsächlich auch jetzt noch bei uns der bei weitem überwiegende Theil des Lebens sich ohne diese Spiegelung abspielt “ (FW 354)
Gemäss Nietzsche könnten wir nicht nur Denken und Handeln, ohne dass es uns bewusst wird. Wir könnten sogar unser ganzes Leben ohne Bewusstsein führen. Tatsächlich nähmen bewusstes Denken und Handeln nur eine untergeordnete Rolle in unserem (menschlichen) Leben ein. Nietzsche schreibt später im Aphorismus: „der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiss es nicht“ (ebd.). Es bleibt jedoch offen, ob wir unser Leben prinzipiell oder de facto genau gleich ohne Bewusstsein führen könnten. Ebenso ist unklar, ob es sich bei der Ausführung zur Lebensführung ohne Bewusstsein um Ergänzungen Nietzsches oder die Erkenntnisse der „Physiologie und Thiergeschichte“ handelt. Zieht Nietzsche die Konsequenz, dass das Leben ohne Bewusstsein geführt 3
FW 354.
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werden könne und behauptet, dass dies auch tatsächlich überwiegend geschehe oder gibt er damalige „wissenschaftliche Erkenntnisse“ wieder? Jedoch berühren diese Unklarheiten das für Nietzsche an dieser Stelle zentrale Problem nicht, welches er mit der Frage „Wozu überhaupt Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache überflüssig ist?“ (ebd.) auf den Punkt bringt. Wir könnten nämlich scheinbar alles tun (denken, fühlen, handeln etc.), ohne dass Bewusstsein dafür notwendig wäre. Als erste Antwort auf diese Frage formuliert Nietzsche die „vielleicht ausschweifende Vermuthung [, dass] die Feinheit und Stärke des Bewusstseins immer im Verhältniss zur Mitthleilungs-Fähigkeit eines Menschen (oder Thiers) [...] stehn, die Mitheilungs-Fähigkeit wiederum im Verhältniss zur Mittheliungs-Bedürftigkeit.“ (ebd.). Diese Vermutung ergänzt er mit der „Vermuthung [...], dass Bewusstsein überhaupt sich nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses entwickelt hat“ (ebd.). Beide „Vermuthungen“ werfen in ihrer Formulierung zu viele Fragen auf, als dass sie ohne Weiteres als Antworten dienen könnten. In der Folge soll deshalb dargelegt werden, was Nietzsche mit ihnen meinen könnte. Das „Mittheilungs-Bedürfnis“ ist für Nietzsche „das Bedürfnis, die Noth“, welche(s) über lange Zeit hinweg die Menschen dazu gezwungen habe, sich mitzuteilen und sich „gegenseitig rasch und fein zu verstehen““ (ebd.). Dabei wird das „Mittheilungs-Bedürfnis“ und mit ihm das „Bewusstsein“ für den Menschen erst im Kollektiv – „in Bezug auf Rassen und GeschlechterKetten“ relevant (ebd.). Wie Nietzsche schreibt, hätte bspw. der „einsiedlerische und raubthierhafte Mensch“ (ebd.) das Bewusstsein gar nie gebraucht und entsprechend wahrscheinlich nicht entwickelt. Der Mensch habe erst „als sociales Thier“ (ebd.) gelernt, sich seiner selbst bewusst zu werden. Bzw. der Mensch hat das Bewusstsein überhaupt entwickelt, weil er ein soziales Tier ist: Er [der Mensch] brauchte, als das gefährdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines-Gleichen er musste seine Noth auszudrücken, sich verständlich zu machen wissen – und zu Allem hatte er zuerst „Bewusstsein“ nöthig, also selbst zu „wissen“ was ihm fehlt, zu „wissen“, wie es ihm zu Muthe ist, zu „wissen“ was er denkt.“ (FW 354)
Zwei entscheidende Gedanken kommen im obigen Zitat zum Ausdruck. Erstens ist der Mensch für sein Überleben auf Kollektive angewiesen, welche ihm Hilfe und Schutz bieten. Hilfe und Schutz können ihm seine Mitmenschen aber nur geben, wenn er seine Bedürfnisse ausdrücken, d.h. mitteilen kann. Diese beiden Umstände bilden zusammen den Ursprung für sein „Mittheilungs-Bedürfnis“. Des Weiteren scheint Nietzsche sich bei dieser Beschreibung in einer Art (imaginierten) „Frühgeschichte“ zu befinden. Diese Stelle zeigt besonders deutlich, dass es sich bei FW 354 wohl um Genealogie des Bewusstseins handelt. Das heisst, obwohl die von Nietzsche vorgestellte Geschichte nur imaginiert ist, zeigt sie auf, was die Bedingungen der Möglichkeit des Bewusstseins sein sollen. Der genealogische Status von FW 354 würde interessante Fragen bezüglich seines Wahrheitsanspruchs etc. erlauben, welche aus Platzgründen hier nicht berücksichtigt werden können. 5
Der zweite wichtige Gedanke des obigen Zitats betrifft einen scheinbaren Zirkel: So habe das Individuum für die Entwicklung des Bewusstseins „ein „Wissen“ darüber gebraucht, was ihr4 fehlt, was sie „denkt“ (ebd.). Das Individuum brauchte ein „Bewusstsein“ ihrer eigenen Bedürfnisse, bevor das „Mittheilungs-Bedürfnis“ entstehen konnte. Dies wirkt aber auf den ersten Blick wie ein Zirkel, bei dem das Bewusstsein die Voraussetzung des „Mittheilungs-Bedürfnisses“ war und dieses wiederum der Grund dafür, dass sich das Bewusstsein entwickelt habe. Das Bewusstsein wäre demnach seine eigene Voraussetzung und Konsequenz. Für den Moment reicht es festfestzuhalten, dass sich dieser scheinbare Zirkel auflösen lässt. Eine mögliche Lösung lässt sich bereits aufgrund der Subtilität von Nietzsches Formulierungen erahnen. So setzt er die Begriffe, „wissen“ und „Bewusstsein“ in Anführungszeichen. Dies deutet darauf hin, dass das Bewusstsein, welches für die Entwicklung des Mitteilungsbedürfnisses Voraussetzung war, ein anderes sein könnte, als jenes, welches sich aus dem „Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses“ entwickelt hat. Zumindest wird es in der Folge so gehandhabt.5 Das Bewusstsein, welches sich aus dem „Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses“ entwickelt hatte, nennt Nietzsche wenig später in FW 354 ein „bewusstes Denken“, welches er wie folgt charakterisiert: „Der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber er weiss es nicht; das bewusst werdende Denken ist nur der kleinste Theil davon [...] denn allein dieses bewusste Denken geschieht in Worten, das heisst in Mittheilungszeichen. [...] Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins [...] gehen Hand in Hand.“ (FW 354).
Das soeben angeführte Zitat enthält wiederum zwei wichtige Gedankengänge. Erstens sei der Mensch ein Lebewesen, das fortwährend denke. Ein kleiner Teil dieses Denkens – der „bewusste“ Teil – geschieht in Worten. Dies wirft die Frage auf, welche in dieser Arbeit nicht beantwortet werden kann, in welcher Form das nicht-bewusste Denken funktioniert. Des Weiteren stellt sich die Frage, was es bedeutet, dass das „bewusste Denken in Worten geschieht“. Was ist bspw. ein Wort für Nietzsche? Diese Frage verweist auf den zweiten wichtigen Gedanken des Zitats: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Bewusstseins und der Sprache. Um die Entwicklung des Bewusstseins und des „bewussten Denkens“ zu verstehen, lohnt sich deshalb ein Blick auf Nietzsches Ausführungen zur Sprachentwicklung.
In der Folge werden immer die weiblichen Personenbezeichnungen benutzt. Jedoch sind beide Geschlechter damit gemeint. 5 Vgl. S. 9 für die Auflösung dieses scheinbaren Zirkels. 4
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Bewusstsein und Sprachentwicklung Eine der ausführlichsten Beschäftigungen Nietzsches mit der Entwicklung der Sprache – welche mir bekannt ist – findet sich im posthum publizierten Text Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralsichen Sinne (WL). Dort beantwortet Nietzsche u.a. die Frage, was ein Wort sei, wie folgt: „Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten [...] Ein Nervenreiz zuerst übertragen [meine Hervorhebung] in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.“ (WL, 878f.).
Worte sind für Nietzsche Metaphern, wobei er „Metapher“ hier im ursprünglichen Sinne von „Übertragung“6 zu verwenden scheint. Bei der Entstehung von Worten kommt es zu zwei Übertragungen. Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung („der Nervenreiz“), welche ins uns als Bild dargestellt werde. Worte hängen also mit Erfahrungen zusammen und dienen zuerst bspw. zu deren Erinnerung (WL, 879). Dies ist zugleich der Anfang der „Bildung der Begriffe“ (ebd.): „jedes Wort wird zugleich dadurch Begriff, dass es eben nicht mehr für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose mehr oder weniger ähnliche [...] Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ (WL, 879f.)
Nietzsche illustriert diesen Vorgang am Beispiel des Wortes Blatt (WL, 880). Das Wort Blatt ist in seinem Ursprung verknüpft mit einem konkreten Erlebnis, bei welchem mir bspw. Etwas auf den Kopf gefallen ist, als ich unter einem Baum durchging (individualisiertes Urerlebnis). Ich möchte mich, aus welchen Gründen auch immer, an dieses fallende Etwas erinnern und ordne ihm dem Laut „Blatt“ zu. Nun kann es sein, dass ich in die Bäume blicke und sehe, dass es dort noch mehr gibt, was dem Etwas, dass ich „Blatt“ genannt habe, ähnlich ist. Wenn ich den Gebrauch des Lautes (des Wortes) nun darauf ausdehne, „wird das Wort sofort zum Begriff“ (ebd., 879). „Blatt“ steht dann nicht mehr für ein konkretes Etwas, sondern für eine ungeheure Masse davon. Dies geschehe zugleich mit vielen anderen Lauten, bzw. Worten bis schliesslich in einer Gemeinschaft eine Sprache entstehen kann durch „eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge [die] erfunden [wird]“ (ebd., 877). So wird – äusserst vereinfacht formuliert – aus Nervenreizen, die von konkreten Erlebnissen stammen, irgendwann eine Sprache. Die Ausführungen zum Blatt-Beispiel machen auf ein Problem aufmerksam. So expliziert Nietzsche das Verhältnis von Wort und Begriff in WL nicht weiter. Es scheint zwar klar, dass ein Begriff mehr ist als ein Wort, welches nur ein Laut oder Zeichenkette ist und meistens auf ein konkretes Erlebnis bezogen war. Begriffe wiederum können für mehrere individuelle Erlebnisse stehen. Das heisst, der Begriff ist losgelöst von der konkreten Erfahrung mit einem Etwas. Mit Worten wiederum können wir Begriffe ausdrücken. Begriffe scheinen entscheidend dafür zu sein, Aus dem griechischen metaphora bzw. metapherein (woanders hintragen)6 oder dem lateinischen translatio (vgl. HWPH: Sp. 1179f. und http://www.awb1.ch/dat/m/metapher.php, Stand 20.1.2016).
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dass unsere Sprache funktioniert Sie entstehen über Abstraktion und Simplifikation aus Worten. Unter Simplifikation versteht Nietzsche scheinbar wörtlich „Vereinfachung“. Dabei werden „Ursache und Wirkung ohne die vielen Mittelglieder [gefasst und] vieles Unähnliche ähnlich [gefunden]“ (NF-1881,11[315]). Begriffe werden mit Worten ausgedrückt, was aber ihren ontologischen Status betrifft, könnten an dieser Stelle nur unqualifizierte Spekulationen angeführt werden. Worte und Begriffe werden in der Folge durch den Begriff „sprachliche Mittel“ zusammengefasst. Es wäre nun spannend, Nietzsches Theorien der Wahrnehmung und Kognition genauer zu untersuchen. Was heisst es bspw. Nervenreize in Bilder zu übertragen, denken wir in diesem Fall teilweise oder gar ganz in Bildern? Was bedeutet es in Bildern zu denken? Die vorherigen Fragen zu beantworten, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Für die folgende Argumentation ist es wichtiger, dass der soeben beschriebene Prozess der Begriffsbildung indirekt bei der Entwicklung des Bewusstseins eine Rolle spielt. So nennt Nietzsche das „Gedächtniß [...] die Menge aller Erlebnisse alles organischen Lebens [...] Es muss einen Prozeß geben, der sich verhält wie die Begriffsbildung aus vielen Einzelfällen“ (NF-1884,26[94]). Das Zitat legt einen Zusammenhang zwischen dem „bewussten Denken in Worten“ und dem Gedächtnis – d.i. zwischen Gedanken und Erinnerungen – nahe. Aufgrund der verflochtenen Entwicklung von Bewusstsein und Sprache lässt sich weiter vermuten, dass deren Verhältnis demjenigen von Worten und Begriffen ähnelt – d.i. während ein Gedanke auf ein einzelnes Ereignis bezogen ist, sind Erinnerungen davon losgelöst. Trotzdem sind Erinnerungen (in irgendeiner Form) entscheidend dafür, dass unser Denken funktioniert. Kurzum, die Sprache spielt für die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins eine entscheidende Rolle und zeichnet unser Bewusstsein als etwas Spezielles aus – „Alles was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab [...] ein Bild in einen Begriff aufzulösen.“ (WL, 881). Die Entwicklung der Sprache ist also gekennzeichnet durch ein immer grösseres Mass an Abstraktion, welche aus konkreten Ereignissen mittels diverser Übertragungen Begriffe schafft – „[die] Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder, [ist] wenn nicht die Mutter so doch die Grossmutter eines jeden Begriffs“ (WL, 882). Aus den bisherigen Ausführungen des Abschnitts geht hervor, dass Worte und Begriffe – letztere durch Abstraktion und Simplifikationen gekennzeichnet – anthropomorph sind. Das heisst, sie „bezeichne[n] nur die Relation der Dinge zu den Menschen“ (WL, 879). So kann bspw. jede Definition „keinen einzigen Punct, der „wahr an sich“ wirklich und allgemeingültig, abgesehen vom Menschen wäre “ (ebd., 883) ausdrücken. Wir können mit der Sprache aufgrund ihres metaphorischen Ursprungs gar nichts anderes leisten. Dasselbe muss auch für die Begriffe gelten, welche im Ursprung auf Bilder (ebd., 881) und damit auf Nervenreize zurückgehen und durch das „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ und „Uebersehen des Individuellen“ gekennzeichnet sind (ebd., 880). Damit kann es bei der Sprache nicht auf den „adäquaten Ausdruck“ ankommen, d.i. darauf, dass 8
ein Ausdruck etwas so beschreibt, wie es wirklich und unabhängig von uns ist (vgl. S. 2) – sonst „gäbe es [z.B.] nicht so viele Sprachen“ (ebd., 879). Für Nietzsche ist die Verknüpfung eines Wortes mit einem Etwas arbiträr. Auf das Bewusstsein übertragen bedeutet dies, dass unser bewusstes Denken, da es in Worten geschieht, ebenso nur die „Relationen der Dinge zu den Menschen“ (ebd.) ins Bewusstsein bringen kann. Unser Gedächtnis wiederum, das Erinnerungen ähnlich dem Prozess der Begriffsbildung formt, kann die erinnerten Dinge nur in simplifizierter Form behalten. Davon ausgehend, dass das bewusste Denken wesentlich auf unserer Erinnerungen zurückgreift – analog zum Verhältnis von Wort und Begriff in der Sprache – stellen sich beim Bewusstsein dieselben Probleme wie bei der Sprache. Unser Bewusstsein ist geprägt durch den anthropomorphen Charakter und die Simplifikation der sprachlichen Mittel. Dies ist aufgrund seines Funktionierens mit denselben wenig überraschend. Die Ausführungen zur Entwicklung der Sprache ermöglichen es, den scheinbaren Zirkel Nietzsches aus FW 354 aufzulösen. Nietzsche verwendet „Bewusstsein“ tatsächlich unterschiedlich. Das „„Bewusstsein““ – von Nietzsche selber in Anführungszeichen gesetzt – welches Voraussetzung war für das „Mittheilungs-Bedürfnis“, ist ein anderes, als jenes, welches sich unter dem „Druck“ (FW 354) desselben entwickelt hat. Das erste „Bewusstsein“ ist eben kein „bewusstes Denken in Worten“ (ebd.). Vielmehr ist es vergleichbar mit dem eines Kleinkindes, die „weiss“, wenn sie Hunger hat oder jemanden braucht, die sich um sie kümmert. Oder mit einer Hündin, die „weiss“, dass ihr Frauchen gleich zur Türe herein kommt oder traurig ist. Das funktioniert auch ohne Worte. Diese Art von „Bewusstsein“ – „des Sich-Bewusst-Werdens“ – kommt mit Sicherheit den meisten Tieren zu. Ein Tier könnte wohl kaum überleben, wenn es bspw. nicht „wüsste“, dass es Hunger hat. Es würde verhungern. Das „bewusste Denken“ – das Resultat der Mitteilungsbedürftigkeit – wiederum ist eine spezielle Form „des Sich-Bewusst-Werdens“ und etwas spezifisch Menschliches (vgl. WL, 881). Die Stellen aus FW 354 und WL ergeben ein Bild des bewussten Denkens mit sprachlichen Mitteln, welches quasi einen Exzess eines ursprünglich überlebensnotwendigen Vorgangs darstellt. Der Mensch hat die Fähigkeit des „Sich-Bewusst-Werdens“ über das Lebensnotwendige hinaus entwickelt. Dies führt dazu, dass wir uns selber immer bewusster werden – „Der Zeichenerfindende Mensch ist zugleich der immer schärfer seiner selbst bewusste Mensch“ (FW 354). Was mit non-verbalen Zeichen – „der Blick, der Druck die Gebärde“ (ebd.) – begann, sich weiter entwickelte zu Lauten als „Mittheilungszeichen“, mündete spätestens mit der „Bildung der Begriffe“ in dem bereits erwähnten „Ueberschuss dieser Kraft und Kunst der Mittheilung“ (FW 354). Man denke hierbei nur an die Literatur und Dichtung! Nun wird verständlich, weshalb Nietzsches Vermutung, dass das „Bewusstsein im Verhältnis zur „Mittheilungs-Fähigkeit“ und diese wiederum im Verhältnis zur „Mithteilungs-Bedürftigkeit“ 9
stehe nicht für das Individuum gilt. Der mit der Entwicklung der Sprache erreichte „Ueberschuss dieser Kraft und Kunst der Mittheilung“ (ebd.) – d.i. der Mitteilungsfähigkeit – ermöglicht es, dass jemand sehr mitteilungsfähig sein kann, ohne besonders mitteilungsbedürftig zu sein. Dies ist eine entscheidende Beobachtung Nietzsches. Unsere Bedürfnisse nach Nahrung, Schutz etc. blieben über die Zeit in etwa konstant, während die Sprache und damit das Bewusstsein – ursprünglich Hilfsmittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse – sich überproportional entwickelt haben. Dabei scheint die Entwicklung der Sprache (und des Bewusstseins) neue Bedürfnisse zu kreieren, wie z.B. „den Trieb zur Wahrheit“ dessen Ursprung Nietzsche in WL erklären möchte (WL, 877). Sprache (und Bewusstsein) scheinen damit eine Art Eigenleben zu bekommen, welches für den Menschen gefährlich werden kann (vgl. S. 16ff.). Mit Hilfe von WL konnte genauer verstanden werden, was Nietzsche mit dem Bewusstsein als bewusstem Denken meinen könnte – eine spezifische Art des „sich-bewusst-werdens“ mit sprachlichen Mitteln, welche durch ihren anthropomorphen Charakter gekennzeichnet sind. In der Folge konnte der scheinbare Zirkel Nietzsches mit Hilfe dieser Erkenntnisse gelöst werden. Des Weiteren wurde klar, weshalb sich Nietzsches erste Vermutung zur Bewusstseinsentwicklung auf Kollektive und nicht auf Individuen bezieht (vgl. S. 5). Damit kann nun auf die Konsequenzen dieser Bewusstseinsentwicklung eingegangen werden. Insbesondere kann geklärt werden, was es bedeutet, dass das Bewusstsein nicht zur „Individual-Existenz“ des Menschen gehört.
Der „Charakter des Bewusstseins“7 Das Bewusstsein, welches sich unter dem Druck des „Mitheilungs-Bedürfnisses“ entwickelt hat, entwickelte sich von Beginn an nur soweit, wie es „zwischen Mensch und Mensch [...] nöthig war, nützlich war“ (FW 354) im Verhältnis zu seiner „Mittheilungs-Bedürftigkeit“. Damit meint Nietzsche, dass die Fähigkeit bewusst zu denken, sich soweit entwickelte, wie es nötig war, um die Vorteile des Kollektivs – Hilfe und Schutz – überhaupt nutzen zu können. Dabei kam es – wie vorhin im Zusammenhang mit der Entwicklung der Sprache gezeigt – zum überproportionalen Ausbau der „Mittheilungs-Fähigkeit“ der Individuen. Da jedoch die „Mitteilungs-Fähigkeit“ wiederum in einem Verhältnis zum Bewusstsein steht – hier als „Sich-Bewusst-Werdens“ durch bewusstes Denken – ist auch dessen Entwicklung keineswegs abgeschlossen. Ebenso wie die Sprache entwickelt es sich beständig weiter, was dazu führt, dass sich der Mensch selbst immer „schärfer“ bewusst wird: „er thut es noch, er thut es immer mehr“ (FW 354). Was aber wird dem 7
FW 354.
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Menschen immer „schärfer“ bewusst? Es wäre nämlich ein Missverständnis zu meinen, dass ich mich als Person durch mein Bewusstsein besser verstehen würde: „Mein Gedanke ist, wie man sieht: dass das Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschaft und Heerden-Natur ist ; dass es, wie daraus folgt [Meine Hervorhebung] auch nur in Bezug auf Gemeinschafts- und Heerden-Nützlichkeit fein entwickelt ist, und dass folglich [Meine Hervorhebung] Jeder von uns, beim besten Willen sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, „sich selbst zu kennen“ doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein „Durchschnittliches“ – dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins – durch den in ihm gebietenden „Genius der Gattung“ – gleichsam majorisiert und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt.“ (FW 354).
Nietzsche zieht im vorgehenden Zitat zwei Konsequenzen. Erstens sei unser Bewusstsein nur „im Bezug Gemeinschafts- und Heerden-Nützlichkeit fein entwickelt“. Zweitens kann jede nur das „Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen“. Jedoch ist unklar, wie diese beiden Konsequenzen zu verstehen sind. Was meint Nietzsche mit „Genius der Gattung“, „Nützlichkeit“, „Perspektive“ und dem „Nicht-Individuellen“? Diese Fragen sollen als Nächstes beantwortet werden. Die Wendung „Genius der Gattung“ stammt mit grosser Sicherheit von Schopenhauer und hat im Rahmen von dessen „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ (Stegmaier 2012: 265) grosse Bedeutung. Nietzsche verwendete den Begriff wohl ohne diese Konnotation. Aber er scheint von Schopenhauer die Verwendung des „Genius“ als „Geist“ oder „Interesse der Gattung“ zu übernehmen (ebd.: 266f.). Das „Interesse der Gattung“ scheint das zu sein, was Nietzsche mit „Nützlichkeit“ in FW 354 bezeichnet: Nützlich ist das, was „der Erhaltung der menschlichen Gattung“ (FW 1) dient. Was bedeutet es nun, dass das Bewusstsein nur in im Verhältnis zur „Gemeinschafts- und Heerdennützlichkeit fein entwickelt“ sei? Der Mensch entwickelte das Bewusstsein „nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses“ (FW 354) und in der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft suchte sie aber nur, weil sie ihren Schutz und Hilfe zum Überleben brauchte. Das Bewusstsein hat sich nur entwickelt, weil es „evolutionär nützlich“ war (Stegmaier 2012: 264). Jedoch muss das, was dem Erhalt der Gattung dient, keineswegs dem Erhalt des Individuums dienen. Erst recht muss es der Einzelnen nicht helfen, glücklich zu sein oder werden. Wie Nietzsche zu Beginn des ersten Buches der FW schreibt: „Alles [was] sonst böse genannt wird: es gehört zu der erstaunlichen Oekonomie der Arterhaltung.“ (FW 1). Nietzsche scheint anzudeuten, dass das Bewusstsein in erster Linie nicht dem Individuum, sondern der Gattung und deren Erhalt dient. Deshalb kann es – wie später gezeigt wird – zur Gefahr werden. „Genius“ im Sinne von „Interesse der Gattung“ lässt sich also mit der bisherigen Interpretation von FW 354 vereinbaren. Es wird deshalb in der Folge so verwendet – auch wenn über deren Herkunft und Bedeutung noch viel mehr geschrieben werden könnte. 11
Ähnlich Probleme bereitet der Begriff „Heerden-Perspektive“. Nietzsche hat die visuelle Metapher der Perspektive in seinem Gesamtwerk nämlich nie wirklich definiert (Welshon 2004: 103). Der Begriff war in der damaligen philosophischen Debatte im Gebrauch. Nietzsche scheint jedoch eine eigene Verwendungsweise zu haben (Stegmaier 2012: 280). So scheint ein Verständnis des Begriffs als „Blickwinkel“ oder „Betrachtungsweise“ naheliegend. Nietzsche verwendet „Perspektive“ (inklusive Plural) in FW noch viermal in den Paragraphen FW 357, 373 und 374. In FW 357 und 373 wird der Begriff zwar im Zusammenhang mit Ideologien gebraucht. In FW 357 schreibt Nietzsche von den „christlich-asketischen Moral-Perspektiven“ und in FW 373 von den „Spencer’schen Perspektiven“, welche er auf Spencers Idee der „Versöhnung von „Altruismus und Egoismus““ bezieht (FW 373). Jedoch könnte „Perspektive“ auch hier im Sinne von „Blickwinkeln auf die Welt“ oder „Betrachtungsweisen der Welt“ verstanden werden. Dies ist zumindest für diese Arbeit das Verständnis derselben. Entsprechend der soeben vorgenommenen Begriffsbestimmung ist das eingerückte Zitat auf Seite 11 ein Zwischenfazit Nietzsches. Unsere Gedanken werden aufgrund des „Charakters unseres Bewusstseins“ und dem in ihm waltenden „Genius der Gattung“ in die „Heerden-Perspektive zurück-übersetzt“. Das heisst, unser Bewusstsein ist so beschaffen, dass es in erster Linie der Arterhaltung dient. Deshalb können Gedanken, die auf unsere Individualität bezogen sind, diese nie so wiedergeben, wie wir es vielleicht meinen. Die Sprache zwingt uns, unsere individuellen Erlebnisse so zu erinnern, als ob sie Erlebnisse jedermanns wären: in Begriffen. Aber was bedeutet es, nur das „Nicht-Individuelle“ ins Bewusstsein bringen zu können? Eine mögliche Antwort auf die vorherige Frage – und damit ein Verständnis der zweiten Konsequenz – zeichnet sich in der Verknüpfung der Sprach- und Bewusstseinsentwicklung ab (vgl. S. 9). Dort wurde gezeigt, dass unser Bewusstsein und Gedächtnis mit sprachlichen Mitteln funktionieren und ebenso (wie die Sprache) einen anthropomorphen und simplifizierenden Charakter haben. Wenn die Analogie zur Sprache berechtigt ist, dann ist unser bewusstes Denken von Erinnerungen abhängig, die durch Simplifikationen gekennzeichnet sind. Diese Erinnerungen sind wie die Begriffe durch das „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ und „Uebersehen des Individuellen“ (WL, 880) gekennzeichnet. Dass Erinnerungen beim Denken über uns selbst eine wichtige Rolle spielen scheint nicht strittig. In der Regel ist die Vergangenheit oder Vorgeschichte von etwas entscheidend für sein Begreifen oder seine Beurteilung. Wenn wir uns selber verstehen wollen, können wir dies immer nur mit Hilfe dieses bewussten Denkens tun. Dies führt dazu, dass wir uns selbst jeweils nur unter nicht-individuellen Gesichtspunkten betrachten können. Für unsere Einzigartigkeit haben wir gar keine sprachlichen Mittel. Gerade Begriffe zeichnen sich durch das „Uebersehen des Individuellen“ aus. Dieses Problem erstreckt sich auf unsere Handlungen, welche „im Grunde allesamt auf eine unvergleichliche Weise, persönlich, einzig, unbe12
grenzt-individuell“ (FW 354) wären. Es gibt keine zwei Handlungen, die genau gleich sind – alleine aufgrund der personalen, örtlichen und zeitlichen Unterschiede. Es trinkt bspw. niemand Wasser, wie ich es gestern um 19.08 zu Hause getrunken habe. Nicht einmal ich könnte dieses – genau dieses – Ereignis wiederholen. Trotzdem subsumieren wir diese Handlung in der Sprache und im Gedächtnis unter dem Begriff bzw. der Erinnerung „Wasser trinken“ und referieren beim Sprechen und Denken mit den Worten „Wasser trinken“ darauf. Wann immer wir also über uns und unsere Handlungen nachdenken, erfahren wir nur etwas über uns als Menschen und nie als Individuen. Selbst der Begriff „individuell“ fasst unsere Einzigartigkeit in allgemeiner Weise zusammen. Dis bisherigen Abschnitte bilden nun die Basis, um Clarks Interpretation angemessen beurteilen zu können. Deshalb sollen hier die wichtigsten Punkte nochmals kurz rekapituliert werden. Nietzsche zeichnet in FW 354 die Entwicklung des Bewusstseins nach. Diese habe sich unter dem Zwang entwickelt, sich anderen mitteilen zu müssen (Mitteilungsbedürftigkeit). Im Falle der Menschen hat sich die Sprache zu diesem Zweck entwickelt und unser Bewusstsein ist ein bewusstes Denken in Worten. Die Sprache zeichnet sich durch ihren anthropomorphen Charakter, sowie einen Prozess der Simplifizierung und Abstraktion von individuellen Erlebnissen aus. Im Verlaufe ihrer Entwicklung macht sich die Sprache aber gewissermassen ‚selbständig’, was zu einem Überschuss der Mitteilungsfähigkeit im Bezug auf die ursprüngliche Mitteilungsbedürftigkeit führte. Die Konsequenz aus der Entwicklung des Bewusstseins – welches nur unter dem Druck der Sozialisierung entstand – ist, dass es nur das Nichts-Individuelle an den Individuen oder ihren Handlungen bewusst machen kann. Wir können uns immer nur aus der Sicht der Gattung verstehen. Als nächstes wird Clarks Interpretation in drei Schritten zurückgewiesen. Erstens in dem gezeigt wird, dass die clark’sche Version der Falsifikationsthese für Nietzsche sinnlos ist. Zweitens in dem motiviert wird, dass Clark ungenügend zwischen einem Wissen über die Welt und einem Wissen über uns unterscheidet. Drittens durch das Aufzeigen einer alternativen Interpretation, welche ohne Clarks Probleme gleich viel erklären kann.
Clarks Interpretation – der Perspektivismus als Falsifikationsthese „Diess ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus [sic], wie ich ihn verstehe: die Natur des thierischen Bewusstseins bringt es mit sich, das die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, — dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Heerden-Merkzeichen wird, dass mit allem Be-
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wusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung [meine Hervorhebung], Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist.“ (FW 354).
Auf den ersten Blick scheint Nietzsche an der zuletzt zitierten Passage eindeutig zu sein: Unser Bewusstsein sei aufgrund seiner Beschaffenheit ein Verfälscher und Korrumpteur (Clark 1990: 120). Clark meint, der von Nietzsche charakterisierte Perspektivismus sei nichts anderes als die These, dass unser Wissen die Welt verfälsche (ebd.: 149) – d.i. nicht die „Welt-an-sich“ darstelle. Entsprechend müsse dieses Zitat als Ablehnung der „metaphysischen Korrespondenztheorie“ gelesen werden (vgl. S. 2). Jedoch brächte die Stelle – wenn sie eine Paraphrase der Falsifikationsthese wäre (ebd.: 117) – entsprechend die Probleme derselben mit sich. Unser Bewusstsein verfälsche nämlich nur, weil es auf sprachliche Mittel (und diese wiederum auf Sinneseindrücke) angewiesen sei (ebd.: 120f.). Mit Hilfe dieser sprachlichen Mittel könnten wir die „Welt-an-sich“ nicht adäquat – d.i. so wie sie unabhängig von uns wäre (vgl. S. 2) – beschreiben. Aufgrund des anthropomorphen und simplifizierenden Charakters dieser Mittel könnten wir die „Welt-an-sich“ nur verfälscht wiedergeben (ebd.: 85). Es stellt sich damit Clarks Ansicht nach in FW 354 für Nietzsche genau dasselbe Problem, wie in WL. Er könne nur sinnvoll von Verfälschung sprechen, wenn es erstens eine „Welt-an-sich“ gäbe, die verfälscht werden könne. Zweitens müsse Nietzsche diese auch kennen, damit er wissen könne, dass sie verfälscht werde. Jedoch ist die „Welt-an-sich“ uns Menschen nicht zugänglich (ebd.: 85f). Kurzum, die zu Beginn des Abschnitts zitierte Stelle sei gemäss Clark nur verständlich, wenn Nietzsche eine „Welt-an-sich“ voraussetze und diese kennen würde (ebd.: 92 & 149). Ansonsten könne er unser Wissen nicht derart abwerten (ebd.: 149). Nietzsche scheint sich also selber zu widersprechen, in dem er vorrausetzen muss – eine „Welt-an sich“ und deren Kenntnis – was er eigentlich ablehnen will. Doch: Liegt Clark mit ihrer Interpretation richtig? Die Parallelen zwischen den Entwicklungen von Sprache und Bewusstsein – vor allem die zwischen Worten und Begriffen sowie (bewussten) Gedanken und Erinnerungen – legen nahe, dass sich ähnliche Probleme für Clarks Leseweise ergeben wie bei WL.8 Wie sich bereits bei der Entstehung der Worte und Begriffe gezeigt hat, könnten wir mit der Sprache die Welt – so wie sie unabhängig von uns wäre – gar nicht beschreiben, da wir unsere Erfahrungen durch sie simplifizieren und das „[N]icht-gleiche gleichsetzen“ (WL, 880). Alles, was durch sprachliche Mittel ausgedrückt werden kann, ist unsere anthropomorphe Auffassung und Wahrnehmung der Welt, wobei wir diese durch ein Prozess des Vergessen (WL, 881) mit der Zeit für objektiv halten – „Sein [das des Menschen] Verfahren ist: den Mensch als Maas an alle Dinge zu halten [...] er vergisst die originalen Anschauungsmetaphern und nimmt sie als die Dinge selbst (WL, 883). Durch dieses Vergessen des anthropomorphen (und simplifizierenden) Charakters der Sprache kommen Vgl. für eine ausführlichere Darstellung dieser problematischen Leseweise von WL Joshua Andresens „Truth and Illusion Beyond Falsification“.
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wir erst auf die Idee, wir könnten die Welt adäquat beschreiben. Da unser Bewusstsein als bewusstes Denken mit sprachlichen Mitteln funktioniert, liegt es nahe, diese Analyse von WL auf FW zu übertragen. Tatsächlich findet diese Übertragung sich in der FW mit Bezug auf die Wissenschaft wieder: „Ebenso steht es mit jenem Glauben [...] an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Werthbegriffen ihr äquivalent und Maass haben soll, an eine „Welt der Wahrheit“, der man mit Hilfe unserer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte.“ (FW 373). Aufgrund der Entwicklung unserer Sprache und Bewusstseins und deren anthropomorphen Charakters sowie der zentralen Rolle der Simplifizierung scheint es, als ob weder unsere Sprache, noch unser Wissen oder unser bewusstes Denken die Welt so wiedergeben könnten, wie sie wirklich (unabhängig von uns) ist. Jedoch ist die Simplifizierung per se noch keine Falsifizierung. Zu dieser wird sie erst, wenn wir glauben, es gäbe eine Beschreibung der Welt, welche nicht simplifizieren müsste oder nicht anthropomorph wäre (Nehamas 1985: 56). So schreibt Nietzsche zum „Gegensatz von „Ding an Sich“ und Erscheinung [...] wir „erkennen“ bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die „Wahrheit““ (FW 354). Da Nietzsche „Wahrheit“ in Anführungszeichen setzt ist davon auszugehen, dass hier auf eine allgemeine Vorstellung derselben Bezug nimmt. Aufgrund der Verbindungen zu WL – und der dortigen reductio ad absurdum der Korrespondenztheorie der Wahrheit (vgl. Andresen 2010: 255, 265 & 275) – liegt es nahe, „Wahrheit“ hier ebenso im Sinne der Korrespondenztheorie zu verstehen. Wir haben eine anthropomorphe Auffassung der Welt. Entsprechend können wir sie (nur) anthropomorph beschreiben. Wir können nicht einmal wissen, ob es noch andere Auffassungen und Beschreibungen gibt. Diesen Punkt macht Nietzsche in FW 374 explizit – „Wir können nicht um unsere Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektiven geben könnte.“ (FW 374). Doch die Unterscheidung zwischen „Ding an sich“9 und „Erscheinung“ beinhaltet die Ideen einer „Welt-an-sich“ und der Möglichkeit einer adäquaten Beschreibung der Welt. Entsprechend ist diese Unterscheidung nicht falsch, sondern sinnlos. Sie übersteigt unsere (kognitiven) Möglichkeiten. Damit wird die Falsifikationsthese sinnlos. Es gibt keine uns zugänglichen Alternativen. Wir haben keinen Zugang zu Etwas, das verfälscht werden könnte. Selbst wenn wir eine alternative Sprache oder Beschreibung der Welt schaffen könnten – bspw. ohne Simplifizierungen – wären sie immer noch anthropomorph und Ausdruck unserer anthropomorphen Auffassung der Welt. Dass wir aber eine anthropomorphe Auffassung der Welt haben, liegt aufgrund der Entwicklung der Sprache und des Bewusstseins nahe. Es Es bleibt in FW 354 – wie auch in WL – offen in welchem Sinn Nietzsche den Begriff genau verwendet. Braucht er ihn wie Kant oder wie Schopenhauer oder wie Nietzsche denkt, dass Schopenhauer ihn verwendet oder hat er eine ganz eigene Auslegung?
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scheint implausibel, dass diese beiden Produkte unseres Überlebensinstinkts mehr leisten könnten. Für diese Erkenntnisse braucht es weder eine „Welt an sich“ noch die Kenntnis derselben. Es scheint angesichts des fünften Buches der FW und den Verbindungen von FW 354 und WL implausibel, dass Nietzsche die These vertritt, dass unser Wissen die Welt in irgendeiner Form verfälsche. Clark liegt mit ihrer Analyse falsch, da die Simplifikation keine Falsifikation ist. Wenn „Fälschung“ sich also auf unser Wissen über die Welt beziehen würde, wäre Nietzsche nicht inkonsistent, sondern maximal „hyperbolisch“ (Andresen 2010: 270 & FN 41), in dem er sich hier unpräzise und (vielleicht aus rhetorischen Gründen) übertrieben ausdrückt. Jedoch glaube ich nicht, dass er sich mit „Fälschung“ überhaupt auf unser Wissen über die Welt beziehen will. Nietzsche setzt den Perspektivismus also nicht mit der Falsifikationsthese gleich. Jedoch schreibt er von „Fälschung“. Die Frage ist nur, in welchem Sinn. Eine erste Schwierigkeit für eine Antwort besteht darin, dass Nietzsche auf mindestens dreierlei aufmerksam machen will. Erstens schreibt er , über die „Welt, derer wir bewusst werden können“, zweitens über „Alles, was bewusst wird“ und drittens darüber, was mit „allem Bewusstwerden verbunden ist“. Dies führt zu einem Grundproblem in Clarks Analyse. Sie scheint für ihre Interpretation diese drei Punkte nicht auseinander zu halten. Dabei deutet sich in Nietzsches Formulierungen bereits an, dass es ihm eher ums Bewusstsein als um Wissen geht. Clark scheint aber „die Welt, die uns bewusst werden kann“ und „Alles, was uns bewusst wird“ gleichzusetzen – „When Nietzsche then [in FW 354] concludes that consciousness involves corruption and „falsification,“ the most natural interpretation is that consciounsness falsifies precisely sense impressions“ (Clark 1990: 120f.). Wann immer sie von Falsifikation spricht, bezieht sie es auf die Welt und unsere Auffassung davon. Dies ist aber problematisch, da uns bspw. unsere Handlungen bewusst werden können und sich die Frage stellt, inwiefern diese etwas sind, wovon wir etwas wissen können? Die Gleichsetzung bedürfte entsprechend weiterer Ausführungen zu Nietzsches Wissensbegriff und seinem Perspektivismus. Entgegen dieser Gleichsetzung haben bspw. Rex und Welshon dafür argumentiert, Bewusstsein und Wissen nicht nur als Aspekte eines, sondern als eigene Perspektivismen zu verstehen (2000: 185-189). Der zur Verfügung stehende Platz reicht nicht aus, um die Frage der Gleichsetzung abschliessend zu beantworten, was aber klar ist: In FW 354 sind Bewusstsein und Wissen eng miteinander verknüpft infolge der engen Verbindung von Sprache und Bewusstsein. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, dass uns einerseits die Welt und andererseits wir uns selbst (mit unseren Handlungen) bewusst werden können. Diese Unterscheidung scheint mir aufgrund des Textes naheliegender zu sein, wie deren Gleichsetzung. Entsprechend könnte sich „Fälschung“ (FW 354) – da es bei „allem Bewusstwerden“ steht – auf beides beziehen. Clarks Interpretation wäre nun nur für ersteres plausibel gewesen. Doch wie gezeigt wurde, vertritt Nietzsche 16
keine Falsifikationsthese in Clarks Sinne. Es soll nun abschliessend motiviert werden, dass er sich mit „Fälschung“ stattdessen auf das Wissen über uns selbst bezieht.
Die „Gefahr des wachsenden Bewusstseins“10 – unsere Selbstverfälschung Nietzsche schreibt kurz vor der Charakterisierung des Perspektivismus, dass wir uns selbst nicht verstehen oder kennen können (FW 354), da das Bewusstsein nur im Bezug auf die „HeerdenNützlichkeit“– d.i. die Arterhaltung – entwickelt sei. Dadurch könne es nur das „NichtIndividuelle an uns zum Vorschein bringen“ (ebd.). Dabei seien unsere „Handlungen im Grunde allesamt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig [...] es ist kein Zweifel, aber sobald wir sie in’s Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr“ (ebd.). Das heisst, für Nietzsche werden unsere Handlungen, sobald sie uns bewusst werden – d.i. wir darüber nachdenken oder sie uns ins Gedächtnis rufen – verfälscht, weil nicht mehr alles, was sie ausmacht – z.B. ihre Einzigartigkeit – nicht mehr erfasst werden kann. Hingegen kann mit der Sprache – die so sein muss, um funktionieren zu können – dieser Aspekt der Einzigartigkeit gar nicht erfasst werden. Nietzsche macht in diesem Zusammenhang einen Unterschied zwischen Schein und Sein, den er im Falle unseres Wissens über die Welt genau nicht machen will. Offenbar ist er der Ansicht, dass wir genug über uns selbst wissen, um so urteilen zu können. Damit wäre die Simplifikation, welche beim Bewusst-Werden von uns selbst stattfindet, eine Falsifikation, weil es Alternativen geben würde, bei denen das Individuelle zum Vorschein kommt. Wenn Nietzsche also von „Fälschung“ schreibt, meint er es – bezogen auf unser Wissen über uns selbst – nicht hyperbolisch. Dieses verfälscht uns selbst tatsächlich. Jedoch enthält FW 354 keinen Anhaltspunkt, wie eine Alternative zu dieser Verfälschung aussehen könnte, weshalb diese Frage offen gelassen werden soll. Stattdessen soll in der Folge abschliessend das Ende von FW 354 betrachtet werden, um meine Interpretation – dass „Fälschung“ sich auf unser Wissen über uns selbst bezieht – weiter zu plausibilisieren. Es soll nämlich gezeigt werden, dass die „Gefahr des wachsenden Bewusstseins“ (FW 354) sich auf die Beziehung zu uns selbst und nicht auf die zur Welt bezieht. Zuletzt ist das wachsende Bewusstsein eine Gefahr; und wer unter den bewusstesten Europäern lebt, weiss sogar, dass es eine Krankheit ist. Es ist, wie man erräth, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängen geblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von „Ding an sich“ und Erscheinung: denn wir „erkennen“ bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die „Wahrheit“: wir „wissen“ (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, nützlich sein
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FW 354.
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mag: und selbst, was hier „Nützlichkeit“ genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehen [meine Hervorhebung].“ (FW 354)
Im zitieren Schlussteil von FW 354 problematisiert Nietzsche das „wachsende Bewusstsein“ und bezeichnet es als „Gefahr“ und „Krankheit“. Dabei besteht diese Gefahr oder Krankheit nicht darin, dass wir die Welt mit unserer Sprache nur verfälscht wiedergeben könnten, wie das vorhin verwendete Zitat zu „Ding an sich“ und „Erscheinung“ bereits nahelegte (vgl. S 15). Die Gefahr oder Krankheit besteht meines Erachtens darin: Das Bewusstsein führt auf der einen Seite dazu, dass wir unsere (anthropomorphe) Auffassung der Welt immer weiter verfeinern und besser verstehen. Auf der anderen Seite führt es dazu, dass wir uns selbst als Individuen immer weniger verstehen. Mit der fortschreitenden Entwicklung des Bewusstseins ist ein fortschreitendes „Sichbewusst-werdens der Vernunft“ (FW 354) verbunden. Entsprechend können wir immer vernünftiger werden und „unser Handeln unter die Herrschaft der Abstractionen“ (WL, 881) stellen. Vernünftiger heisst hierbei nicht, dass die Vernunft sich entwickeln muss, dazu schreibt Nietzsche nämlich nichts. Vielmehr bedeutet es, dass der Mensch sich seiner Vernunft immer bewusster wird. Dabei verstehen wir uns durch unser Bewusstsein als einzigartige Individuen immer schlechter, da wir mit dem Vernünftiger-Werden nur das „Nicht-Individuelle“ an uns bewusst machen können. Damit scheinen wir aber uns selbst zu verlieren. Darin besteht für Nietzsche die Gefahr. Die vorherige Darstellung der Gefahr scheint mir dabei eine Gegenüberstellung aus WL aufzunehmen – der vernünftige und der intuitive Mensch (WL, 889). Davon ausgehend, dass der vernünftige Mensch derjenige ist, der sich immer bewusster wird, wäre der intuitive Mensch sein Gegenstück: Ein Mensch der handelt, denkt und fühlt ohne sich dieses beständig ins Bewusstsein zu rufen. Da jeder Mensch handeln und denken kann ohne sich dessen bewusst zu werden, kann jeder Mensch eher vernünftig oder intuitiv sein. Intuition und Vernunft scheinen damit beide wesentliche Bestandteile des Menschen zu sein. Die Gefahr die Nietzsche dann Ende FW 354 anspricht, bestände dann zusätzlich darin, dass es infolge des wachsenden Bewusstseins immer schwieriger wird intuitiv und unvernünftig zu sein. Der vernünftige Mensch wird auf Kosten des intuitiven Menschen immer stärker, bis der intuitive Mensch eines Tages ganz verschwindet. Doch dies könnte unser Untergang sein, denn was wären wir noch, wenn wir die Hälfte unseres „Wesens“ verloren haben? Das „Problem des Bewusstseins“ ist also, dass wir uns selber nur „nicht-Individuell“ – d.i. verfälscht – wahrnehmen können. Wir können uns selber nur im Lichte der „Nützlichkeit“ – d.i. der arterhaltenden Folgen – verstehen und richten unser Leben danach aus. Dies kann, wie angedeutet wurde, problematische Folgen haben. Mehr noch, „vielleicht [ist es] gerade jene verhängnisvollste Dummheit, an der wir einst zu Grund gehen.“ (FW 354). 18
Fazit Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war Clarks Interpretation, dass Nietzsche in FW 354 den dort charakterisierten Perspektivismus mit einer Falsifikationsthese – unser Wissen verfälscht die Welt – gleichsetzt. Ziel war es, diese Interpretation zu widerlegen und eine Alternative anzubieten. Zu diesem Zweck wurde der gesamte Abschnitt FW 354 genau analysiert. Als erstes wurde nachvollzogen, was das sog. „Problem des Bewusstseins“ (des „Sich-BewusstWerdens“) ist. Der Ausgangspunkt von FW 354 waren nämlich neuere Erkenntnisse der „Physiologie und Thiergeschichte“. Diese hätten gezeigt, dass wir unser Leben prinzipiell ohne Bewusstsein führen könnten. Wenn wir aber das Bewusstsein für unser Denken und Handeln nicht brauchen stellt sich die Frage, wozu das Bewusstsein überhaupt noch da ist? Nietzsche präsentierte als Antwort auf diese Frage zwei „Vermuthungen“ (FW 354). Erstens sei das Bewusstsein einer Gattung je entwickelter desto grösser deren „Mittheilungsfähigkeit“ ist. Diese sei wiederum je ausgeprägter desto grösser deren „Mittheilungsbedürfnis“ ist. Zweitens habe sich das Bewusstsein nur aufgrund des Mitteilungsbedürfnisses entwickelt. Das Bewusstsein entwickelte sich aus einem (evolutionären) Zwang heraus. Beim Menschen – der als „gefährdetstes Thier“ besonders hilfsund schutzbedürftig war – führte es über die Zeit zu einem Überschuss der „Mittheilungsfähigkeit“ (ebd.). Das Resultat dieser Entwicklung ist das Bewusstsein als bewusstes Denken, welches in Worten geschieht. Im nächsten Schritt wurde geklärt, was das bewusste Denken in Worten sein könnte. Dafür wurde die enge Verknüpfung der Entwicklungen von Sprache und Bewusstsein untersucht. Es wurde dabei mit Hilfe von WL gezeigt, wie Worte und Begriffe – kurz, sprachliche Mittel – entstanden. Des Weiteren wurde gezeigt, dass die sprachlichen Mittel allesamt anthropomorph sind. Zusätzlich zeigt sich, dass die Simplifikation – das „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ aufgrund von Ähnlichkeit – bei der Entstehung der Begriffe eine entscheidende Rolle spielte. Dies liess sich in der Folge auf die Entwicklung des Bewusstseins übertragen, wobei (bewusste) Gedanken und Erinnerungen dort die Analogate waren. Es zeigte sich, dass das Bewusstsein als bewusstes Denken eine spezifische Art des „Sich-Bewusst-Werdens“ mit Hilfe sprachlicher Mittel ist. Damit ist es ebenso durch Anthropomorphismus und Simplifikation gekennzeichnet (ebd.). Als nächstes wurden die Konsequenzen aus Nietzsches Vermutungen untersucht, welche die Beschaffenheit des Bewusstseins aufzeigten. Die erste Konsequenz war, dass das Bewusstsein aufgrund seines Ursprungs im „Mittheilungsbedürfnis“ sich nur für die „Heerden-Nützlichkeit“ entwickelt hatte – wobei das „Nützliche“ hier das „Arterhaltende“ ist. Da das Bewusstsein sich vor allem zur Erhaltung der Gattung entwickelte und die Simplifikation eine wichtige Rolle in seiner Entwicklung spielte, können wir niemals das Individuelle an uns bewusst machen. Wenn 19
wir über uns selbst nachdenken etc., macht uns dies immer nur das „Durchschnittliche“ an uns bewusst. Wir können uns selbst also immer nur aus der Sicht der Gattung verstehen. Dies steht in einem Spannungsverhältnis dazu, dass jede von uns und ihre Handlungen „unbegrenztindividuell“ ist (ebd.). Im nächsten Schritt wurde Clarks These – Nietzsche vertrete eine Falsifikationsthese – mit Hilfe der bis anhin gewonnen Erkenntnisse betrachtet. Dabei wurde sie in drei Schritten zurückgewiesen. Zuerst wurde gezeigt, dass die Falsifikationsthese für Nietzsche sinnlos ist. Die Sprache und das Bewusstsein sind zwar anthropomorph und simplifizieren, jedoch gibt es dazu keine Alternative. So kann nicht sinnvoll gesagt werden, dass die Welt dadurch verfälscht würde. Des Weiteren wurde motiviert, dass Clark die entscheidende Stelle für ihre These ungenau gelesen hatte. In der Folge hat sie das Wissen über die Welt nicht genügend vom Wissen über uns selbst unterschieden. Nietzsche schreibt zwar von „Fälschung“. Jedoch bezieht sich dieses nur auf Letzteres. Abschliessend wurde meine Interpretation der „Fälschungs-Stelle“ weiter motiviert, in dem gezeigt wurde, warum das „wachsende Bewusstsein eine Gefahr“ ist (ebd.). Mit Hilfe des in WL gemachten Unterschieds zwischen dem vernünftigen und intuitiven Menschen wurde angedeutet, dass die Gefahr in einer Selbstverfälschung bestehen könnte. Das heisst, dass wir uns durch das wachsende Bewusstsein zwar immer besser bewusst werden. Dabei verlieren wir uns aber als Individuen, weil immer nur das „Nicht-Individuelle“ (ebd.) an uns bewusst werden kann – während der vernünftige Mensch (bzw. der vernünftige Teil desselben) wächst, verkümmert der intuitive. Wir verstehen uns im Lichte der „Nützlichkeit“ und richten unser Leben danach aus. Dabei ist diese Nützlichkeit vielleicht selbst nur eine Einbildung – oder wie Nietzsche es treffend ein halbes Jahr nach Erscheinen der FW formulierte: “Alles, was uns bewußt wird , ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisirt, ausgelegt – der wirkliche Vorgang der inneren „Wahrnehmung“, die Causalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, wie die zwischen Subjekt und Objekt, uns absolut verborgen — und vielleicht eine reine Einbildung.” NF-1887,11[113]
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