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Analysen und Dokumente Band 41
Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)
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Fasse Dich kurz! Der grenzüberschreitende Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren und das Ministerium für Staatssicherheit
Herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk und Arno Polzin
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Umschlagabbildung: Hinweisgrafik in Telefonbüchern der DDR, hier dem Branchenfernsprechbuch (Ost-) Berlin, Ausgabe 1985/86, S. 318. Ein Rechteinhaber konnte trotz Recherche nicht ermittelt werden. Sofern eine Urheberschaft nachgewiesen wird, erfolgt eine angemessene Honorierung.
Mit 3 Tabellen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-1064 ISBN 978-3-647-35115-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de
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Inhalt Vorwort ...........................................................................................................9 Danksagung ............................................................................................15 Ilko-Sascha Kowalczuk Telefongeschichten Grenzüberschreitende Telefonüberwachung der Opposition durch den SED-Staat – eine Einleitung ...................................................................17 1. Telefonieren in der DDR .....................................................................22 2. Das private Telefon als öffentliches Medium: Die Überwachungspraxis des MfS ........................................................38 3. Entwicklungen der Opposition in Ost-Berlin und die Verfolgung durch das MfS 1985 bis 1989 .......................................56 Kirche im Sozialismus ......................................................................56 Opposition im SED-Staat und ihre Verfolgung durch das MfS ............................................................................................67 Auf dem Weg zur Revolution: Opposition und Staatssicherheit 1989 ......................................................................102 4. Opposition und Staatssicherheit am Telefon: Bemerkungen zu den Dokumenten ...........................................................................114 5. Zum Stellenwert der Telefonabhörmaßnahmen für SED, Justiz und MfS....................................................................................149 6. Dieser Teilnehmer ist nicht mehr erreichbar .......................................163 Andreas Schmidt, Arno Polzin Grenzüberschreitende Telefonüberwachung: Die Hauptabteilung III in den 1980er Jahren ...................................................................................173 1. Funkaufklärung ..................................................................................175 Arbeitsrichtung 1: Leitungen (Kabel) zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik .............................................175 Arbeitsrichtung 2: Richtfunk, Telefonfunk, Satellitenfunk, Glasfaserkabel .......................................................................176 Exkurs: Auswertung der Informationen und Dossierarbeit ..................................................................................177 Arbeitsrichtung 3: Informationsgewinnung innerhalb der Bundesrepublik und West-Berlins sowie aus Amateurfunkverbindungen und Speichern .....................................180
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Inhalt
Arbeitsrichtung 4: Eindringen in Computer und rechnergestützte Datenübertragungen westlicher Botschaften in Ost-Berlin und von Sicherheitsbehörden in der Bundesrepublik ..............................................................................181 Exkurs: relevante Systeme/Speicher/Arbeitsmittel ...........................181 2. Funkgegenwirkung: Aktive Maßnahmen ............................................184 Angela Schmole Abhörmaßnahmen der Abteilung 26 im Ortsnetz von Ost-Berlin ...............189 Das Abhörverfahren ................................................................................192 Abhörstützpunkte des MfS......................................................................196 Die Ortszentrale OZ 100 D ....................................................................198 CEKO – Das »centrale Kontrollsystem« ..................................................199 Wolfgang Templin Nachts ging das Telefon Erfahrungen, Einsichten und Erinnerungen eines Abgehörten.....................203 Annäherungen.........................................................................................203 Die Lauscher – »Arbeit am Feind« und »vorgangsbezogene Aufgaben« ...............................................................................................207 Ein Haufen disparater Individualisten – Porträt einer Gruppe ................220 Schritte und Sprünge – auf dem Weg zum Finale ...................................250 Editorische Vorbemerkung ..........................................................................267 Aufbau der Dokumente ..........................................................................267 Der Text .................................................................................................268 Anonymisierungen ..................................................................................269 Fußnoten in den Dokumenten ...............................................................269 Inoffizielle Mitarbeiter des MfS ...............................................................270 Überlieferung ..........................................................................................270 Dokumentenverzeichnis ..............................................................................271 Dokumente .................................................................................................283 Glossar ........................................................................................................949
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Inhalt
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Kurzbiografien .............................................................................................987 Vorbemerkung ......................................................................................987 Abkürzungen .............................................................................................1036 Personenregister.........................................................................................1044 Autorenverzeichnis ....................................................................................1059
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Jürgen Fuchs (1950–1999) Es gab viele gute Projekte, weltweit, gewiß Die will ich nicht vergessen oder runtermachen Auch das »Konzept Kommunikations-Design« Kann ich erklären Neunzehnhundertdreiundachtzig klingelte das Telefon Abends, gegen zehn Hier Böll Sie schrieben einen Brief, es gab Verhaftungen Ja, sagte ich, in Jena, auch in Dresden Was kann ich tun Fragte einer recht leise, mit freundlicher, müder Stimme Haben welche Telefon, fragte er Ja, sagte ich und gab die Nummern von zwei Familien Aus Jena und Dresden Buchstabierte die Namen: Schlutter und Schälike Ich rufe gleich an Hier Böll, muß er gesagt haben, es wurde Nachgefragt, wer? Heinrich Böll aus Köln, muß er Gesagt haben, der Schriftsteller Da verstanden sie Und stammelten irgendwelches Zeug, die Spezis Von der Abhörzentrale schnitten mit Einige Tage später Entlassungen Aus dem Gefängnis, leider Auch aus der Staatsbürgerschaft, Solschenizyn war vorher Gekommen, Katharina Blum saß noch Andere lebten nicht mehr Matthias Domaschk Lebte nicht Mehr Ein Anruf hätte ihn vielleicht gerettet. Ist das Unsinn Und Kitsch, ist das Moralshow des guten Menschen aus Köln Wenn einer sich erkundigt und Briefe liest Bücher schreibt Und frei ist, ein Künstler?
Auszug aus einem Gedicht von Jürgen Fuchs, das vollständig publiziert wurde in: Heinrich-Böll-Stiftung e.V., Bericht 1995/96, Köln 1996, S. 9
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Vorwort
Telefonüberwachung ist seit geraumer Zeit wieder ein höchst aktuellöffentliches und politisch brisantes Thema geworden. Sonderlich überraschend ist der Befund, dass Telefone abgehört, Briefe mitgelesen oder Gespräche in Privaträumen belauscht werden, allerdings nicht. Denn dies gibt es schon lange – so lange es Telefone, Briefe, geschlossene Räume gibt. Das gehört zum technischen Kerngeschäft von Spitzel- und Denunziantentum, von Geheimdiensten und Geheimpolizeien jeglicher Couleur. 1 Die relevante Frage dabei ist die nach der Verwertung solcherart gewonnener Informationen: Was passiert mit ihnen, wofür werden sie benutzt, wer verfügt über sie, welche Folgen hat das für die Betroffenen? Auch der Versuch, Massendaten zu gewinnen und zu speichern, ist längst nicht neu. Der Begriff »Massendaten« ist dabei ein nur im konkreten historischen Kontext verständlicher. Das Thema »›Massendaten‹ – gestern und heute« erfasst unterschiedliche Phänomene. Dies wird sich auch in Zukunft weiter verändern, uns vielleicht Schritt für Schritt näher an dystopische Fiktionen rücken. 2 Der rasante gesellschaftliche und technologische Wandel im digitalen Zeitalter verändert auch Dystopien und Science-Fiction-Entwürfe – und den Widerstand dagegen. Die Telefonabhöraktionen des MfS und deren Folgen waren also keine singuläre Erscheinung. Sie fanden aber in einer Zeit statt, die sich technologisch grundlegend von unserer Gegenwart unterschied. Das Ministerium für Staatssicherheit hat einen Großteil seiner Informationen nicht nur nach DDR-Recht auf ungesetzlichen Wegen gewonnen, sondern diese unter Missachtung der elementaren Menschenrechte gesammelt. Auch die Verfassung und die Gesetze der DDR schrieben offiziell fest, dass zum Beispiel das Postgeheimnis gewahrt, dass Telefone nur nach strengen Vorgaben abgehört oder private Räume nicht belauscht werden dürfen. Die Praxis sah anders aus. Vor allem mit ihren inoffiziellen Mitarbeitern und durch den Einsatz »operativer Technik« drang die Stasi in all jene Räume vor, die an sich streng geschützt waren. Sie unterhielt zum Beispiel für die Brief- und Postkontrolle oder für das Abhören von Telefonleitungen eigene Abteilungen. Von Letzterem wird in diesem Buch ausführlich berichtet, aber auch von den 1 Vgl. Wolfgang Krieger: Geschichte der Geheimdienste. Von den Pharaonen bis zur CIA. München 2009. 2 Vgl. z. B. Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft? Frankfurt/M. 2014; Glenn Greenwald: Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen. München 2014.
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Ilko-Sascha Kowalczuk/Arno Polzin
Folgen dieser Eingriffe ins Private. Ohne solchen Eingriff von wem auch immer zu relativieren oder gar zu rechtfertigen, zeigt sich hier doch, dass es – je nach politischen Verhältnissen – Unterschiede gibt, vor allem auch hinsichtlich der Auswirkungen. Der demokratische Rechtsstaat sah sich nach der Revolution von 1989/90 vor das Problem gestellt, die Unterlagen des MfS den Betroffenen ebenso wie der Forschung und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen und dabei zugleich wichtige demokratische Güter wie Datenschutz oder Menschenrechte zu wahren. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz vom 20. Dezember 1991 trug diesen Ansprüchen Rechnung. 3 Bislang gab es acht Gesetzesnovellierungen. Dem Gesetz war von Anfang an ein strikter Grundsatz immanent: Die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen mussten und sollten gewahrt bleiben. Der Rechtsstreit zwischen Altbundeskanzler Helmut Kohl und der Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit Marianne Birthler, der in den Jahren 2000 bis 2004 das Verwaltungsgericht Berlin und das Bundesverwaltungsgericht beschäftigte, hat diesen Grundsatz nicht nur bekräftigt, sondern zu einer partiellen Stärkung der Persönlichkeitsrechte von betroffenen Amtspersonen, die als absolute Personen der Zeitgeschichte gelten, geführt. Sie müssen seither auch gesetzlich verankert – zuvor war das bereits die übliche Praxis der Behördenarbeit – vor der Herausgabe von Unterlagen informiert werden und können diese unter Umständen auf dem verwaltungsgerichtlichen Weg unterbinden. Dieser Rechtsstreit hat auf der einen Seite tatsächlich die Herausgabe eines Teils der Unterlagen erschwert, zugleich aber hat die Rechtsprechung eine Praxis untermauert, die seit Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ohnehin gegeben war: Denn abgehörte und überlieferte Telefonmitschnitte, einbehaltene oder kopierte private Briefe, Protokolle von Abhörmaßnahmen in Privaträumen, in den Dokumenten enthaltene Informationen rein privaten Charakters u.a.m. sind nicht nur nicht an Dritte herausgegeben worden, sondern konnten, gerade was Telefonabhöraktionen betrifft, oftmals nicht einmal den Betroffenen zugänglich gemacht werden. Dies war so, weil sie dafür die Einwilligung der Telefonpartner benötigten, die sie wiederum oft genug nicht liefern konnten, weil sie ja nicht wissen konnten, welche Gespräche mit wem in den Stasi-Akten dokumentiert sind. Die Schwärzungspraxis der StasiUnterlagen-Behörde hat vor allem in den 1990er Jahren immer wieder zu Kritik geführt. Einerseits musste diese sich an den gesetzlichen Vorgaben orientieren, andererseits werden solche Schwärzungen von handelnden Menschen 3 Neben mehreren juristischen Kommentaren zum Gesetz siehe die Dokumentation, die die Entstehungsgeschichte des Gesetzes gut nachvollziehbar werden lässt. Vgl. Silke Schumann: Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Eine Dokumentation der öffentlichen Debatte 1990/1991. 2. Aufl., Berlin 1997.
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Vorwort
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vorgenommen, die solche Anonymisierungen mit ihrem Vorwissen und Erfahrungsschatz ausführen mussten. Dabei kamen »Blüten« heraus, die berechtigten Anlass für Kritik und Heiterkeit bildeten, etwa wenn Jesus, Gott, Honecker oder Kohl in völlig harmlosen Zusammenhängen geschwärzt wurden. Aber diese »Blüten« stellten im Rahmen von millionenfacher Herausgabe von Aktenblättern Ausnahmen dar, die freilich medial oft so dargestellt wurden, als handelte es sich um den Normalfall. Ganz anders allerdings war der Sachverhalt bei Mitschnitten von Telefongesprächen. Auch schon vor dem »Kohl-Urteil« sind diese nur selten an die Betroffenen herausgegeben worden. Im Prinzip also haben wir es hier aus guten Gründen mit einer Tabu-Quelle zu tun, von deren Existenz zwar jeder Interessierte weiß, die aber praktisch nur in Ausnahmefällen verfügbar ist. Eine systematisch-wissenschaftliche Nutzung dieser Quellenart war bisher praktisch nicht möglich. Historiker haben dieses Dilemma immer wieder beklagt. Juristisch gab es dafür kaum einen Ausweg. Auch die Wissenschaftler in der Forschungsabteilung können mit dieser Quellengruppe, obwohl sie theoretisch einen Zugang zu ihr haben, nicht systematisch arbeiten. Solche unter besonders offenkundiger Verletzung der allgemeinen Menschenrechte, der DDR-Gesetze und der bundesdeutschen Gesetze zustande gekommenen Stasi-Unterlagen unterliegen mit guten Gründen einem besonders strikten Verwendungsverbot mit wenigen Vorbehalten. Daher war es ein Glücksfall, als im Jahr 2006 der Journalist Roland Jahn und der Publizist Wolfgang Templin an uns herantraten und ein Forschungsprojekt eben zu jenen strikt verschlossenen Telefondokumenten der Stasi anregten. Ihnen als über viele Jahre von der Stasi verfolgten Personen war das Problem mit diesen Telefondokumenten lebensgeschichtlich ebenso vertraut wie uns als Forschenden, die immerzu auf Quellen stießen, die wir nicht weiter berücksichtigen durften. 2006/07 bemühten wir uns dann zunächst, ein entsprechendes Forschungsprojekt zu konzipieren, das erfolgreich umgesetzt werden könnte. Von Anfang an war klar, dass ein solches die Mitarbeit vieler Betroffener voraussetzt. Zugleich sollte es inhaltlich und zeitlich angesichts der überbordenden Quellenmenge sinnvoll fokussiert werden, um es bewältigen zu können. Letztendlich entschieden wir uns dafür, ein Projekt durchzuführen, das sich erstens auf die Endphase der SED-Diktatur 1985 bis 1989 konzentrierte, das zweitens einen überschaubaren und für uns ansprechbaren Personenkreis umfasste und das drittens regional begrenzt blieb und zugleich den grenzüberschreitenden Telefonverkehr einschloss. Das Forschungsprojekt wurde so auf die Ostberliner Opposition und den grenzüberschreitenden Telefonverkehr mit Unterstützern und politischen Weggefährten fokussiert.
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Ilko-Sascha Kowalczuk/Arno Polzin
Im Zentrum des Projektes standen folgende Fragestellungen: 1. Nach welchen Kriterien hörte das MfS (grenzüberschreitende) Telefongespräche von Oppositionellen in Ost-Berlin ab? 2. Welche Bedeutung nahmen abgehörte Telefongespräche in operativen und strategischen Überlegungen der Staatssicherheit ein? 3. Lässt sich nachverfolgen, wie abgehörte Telefongespräche in die Verfolgung von Oppositionellen einbezogen wurden bzw. welche Rolle sie dafür spielten? 4. Gibt es Belege dafür, dass die mitgeschnittenen Telefongespräche die Strategie der Stasi beeinflussten? 5. Ob und wie veränderte sich das »Telefonverhalten« der Oppositionellen? 6. Welche Unterschiede im Gebrauch des Telefons sind innerhalb der Opposition festzustellen und welche Folgen hatten diese? 7. Eignet sich diese Quelle als eine Quelle für die Geschichte der Opposition? Sind hier Veränderungen anhand des »Telefonverhaltens« nachweisbar? 8. Schließlich stand allgemein die Frage, welche Rolle solche Unterlagen für die historische Forschung beanspruchen könnten: Wo sind ihre Stärken, wo ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten zu sehen? 9. Damit hängt die Frage zusammen: Was können wir aus dem erkennen, was die Staatssicherheit aus einem Mitschnitt und einer wortgetreuen Abschrift in mehreren Verdichtungsstufen machte? 10. Schließlich war zu klären, inwiefern diese Begrenzung auf einen engen Zeitraum, eine relativ kleine Personengruppe und eine spezifische Region allgemeinere Rückschlüsse auf die Abhörpraxis, deren soziale Auswirkungen und den gesellschaftlichen Umgang in der DDR mit dieser Praxis zulässt. Als wir der Bundesbeauftragten Marianne Birthler unsere Projektidee vorstellten und um Unterstützung warben, ist uns diese sofort zugesichert worden. Anfang Januar 2008 begann Wolfgang Templin im Rahmen eines Werkvertrages mit unserem Team an der inhaltlichen Umsetzung der Idee zu arbeiten. Im April 2008 luden Wolfgang Templin und Ilko-Sascha Kowalczuk Personen zu einer Sitzung ein, auf deren Mitwirkung wir nach einer ersten Sichtung des Materials besonders angewiesen sein würden: Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Ralf Hirsch, Roland Jahn, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Gerd Poppe, Ulrike Poppe, Lutz Rathenow, Rüdiger Rosenthal, Siegbert Schefke, Reinhard Schult, Uwe Schwabe, Tom Sello, Regina Weis. Vonseiten der BStU nahmen neben Marianne Birthler und den Herausgebern auch Christian Halbrock und eine Praktikantin teil. Es ist rückblickend mehr als ärgerlich, dass wir es versäumten, diese außerordentlich interessante Debatte aufzunehmen, weil hier wesentliche Grundfragen erörtert, viele Alltagsbeispiele benannt, methodische Probleme diskutiert und viele Hinweise auf Aktionen und Dokumente gegeben worden sind. Aber für uns war am wichtigsten, dass alle Eingeladenen, unabhängig von ihrer Teilnahme an diesem Treffen, uneingeschränkt unsere Projektidee unterstützten und ihre Mitarbeit zusicherten. Wir hatten allen schriftlich und mündlich zugesagt, dass ohne ihre Zustimmung keine Zeile aus den Telefondokumenten herausgeht und dass jeder
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Vorwort
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die Möglichkeit haben würde, einen eigenen Kommentar zu einzelnen Äußerungen oder ganzen Dokumenten abzugeben, der dann auch in einer Anmerkung kenntlich gemacht werden würde. In der nachfolgenden Zeit haben wir sämtliche »Operative Vorgänge«, »Operative Personenkontrollen«, »Untersuchungsvorgänge« und Justizakten, die über die eingeladenen Personen vorhanden sind, ausgewertet und eine Sammlung von relevanten Dokumenten angelegt. Neben diesen bis zu 30 Bänden umfassenden Dutzenden Akteneinheiten haben wir zudem dezentrale Akten ausgewertet, weil wir schnell feststellten, dass sehr viele relevante Unterlagen zwar in den OV, OPK oder AU fehlen, aber in solchen dezentralen Akten überliefert sind. Insgesamt haben wir so im Laufe des Projekts Tausende Akteneinheiten durchforstet. Unser Vorhaben, das Projekt bereits zum Herbst 2009 zur Druckreife zu bringen, wie wir es noch Anfang 2008 beabsichtigten, scheiterte an der schieren Materialfülle. Hinzu kam, dass wir über die Auswertung der Unterlagen auf immer neue Personen stießen: Abgesehen von offenkundigen Informationen würden wir jeden, der in den Telefongesprächen erwähnt wurde, nur dann in dem Buch nennen können, wenn eine ausdrückliche persönliche Zustimmung vorliegt. Als Wolfgang Templin 2010 die Leitung des Warschauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung übernahm, hatten wir uns zwar auf eine Auswahl der Dokumente für die Edition verständigt, aber diese mussten nun noch abgeschrieben, kollationiert und vor allem wissenschaftlich kommentiert werden. In einem nächsten Schritt erfolgte dann die Bitte um Einverständnis bei den aktiv involvierten Personen. Wir mussten mehr als 200 Personen anfragen. Nicht jeder antwortete innerhalb der von uns veranschlagten Frist. Letztlich aber gaben fast alle ihre Zustimmung. Hier und da äußerten die Befragten nachvollziehbare Bedenken. Manche räumten wir aus, indem wir das Dokument an diesen Stellen anonymisierten, bei den meisten reichte es, den kritischen Hinweis als Anmerkung in der Edition wiederzugeben. Aber nicht alle Anonymisierungen in den Dokumenten gehen auf Einsprüche zurück: Einige haben wir selbst vorgenommen, andere, weil wir trotz intensiver Recherchen keine Adressen ermitteln konnten bzw. keine Antworten erhielten, und einige wenige haben wir trotz Einverständnis nachträglich eingefügt. Unser Buch war fast fertig, da trat im März 2011 Roland Jahn die Nachfolge von Marianne Birthler an. Da absehbar war, dass wir das Buch nicht innerhalb weniger Monate publizieren könnten, stellte sich ein völlig neues Problem: Die Fokussierung des Bandes brachte (und bringt) es zwangsläufig mit sich, dass der jetzige Bundesbeauftragte Roland Jahn als eine der maßgeblichen Personen in West-Berlin, die die Opposition in Ost-Berlin unterstützten, zentral in dieser Edition vorkommt. Zwar ist an diesem historischen Umstand, seiner Bedeutung, natürlich nichts zu ändern, aber zugleich stellte sich das Problem, dass die Öffentlichkeit diesen Band als Jahn-Hagiographie missver-
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Ilko-Sascha Kowalczuk/Arno Polzin
stehen könnte. Nach längeren Überlegungen beschlossen wir schließlich, das Editionspaket zu öffnen und nach wissenschaftlich und inhaltlich vertretbaren Wegen zu suchen, um das Buch sinnvoll so zu erweitern, dass der eventuelle Vorwurf gegenstandslos würde und wir zugleich an den Grundprinzipien der Edition festhalten könnten. Letztlich nahmen wir einige Dokumente heraus, ergänzten aber die Auswahl um weitere, sodass wir glauben, dass mit den jetzt 151 wissenschaftlich kommentierten Dokumenten eine inhaltliche Breite gegeben ist, die unseren Fragestellungen gerecht wird, das fokussierte Thema exemplarisch abdeckt und zugleich den eventuellen Vorwurf der Hagiographie, den wir als Wissenschaftler als besonders ehrenrührig empfänden, restlos entkräften kann. Unsere Anmerkungen in den Dokumenten könnten dies auch für Skeptiker belegen. Die Überarbeitung der Edition verschlang nochmals viel Zeit, zumal wir erneut über 50 Personen um Einverständnis und Mithilfe bei konkreten Fragen bitten mussten. Auch wenn es sich für manchen Leser etwas ungewöhnlich anhören mag, dass diese Edition von der Entstehungsidee bis zur Publikation acht Jahre benötigte, so ist es für wissenschaftliche Editionen dieser Art kein außergewöhnlich langer Zeitraum. Hinzu kam, dass die Herausgeber im selben Zeitraum auch andere Projekte weiterverfolgten, die sie in Form von Monografien, Sammelbänden oder längeren Aufsätzen zwischenzeitlich vorlegten. Auch dies erklärt die Entstehungszeit. Zur Struktur des Bandes: Ein einleitender Essay beschreibt einige spezifische Merkmale der edierten Quellen, den Stellenwert der Telefonabhörmaßnahmen für SED, Justiz und MfS und benennt die Fragen, die das Projekt aus wissenschaftlich-methodischer Sicht aufwirft. Außerdem wird der historische Kontext, in dem diese Quellen entstanden sind, vorgestellt und die Rolle des Telefonierens in der DDR erläutert. Zum besseren Verständnis der technischen Abläufe des Abhörens und der damit verbundenen Herausforderungen für die entsprechenden Diensteinheiten des MfS folgen zwei kurze Beiträge, die die Praxis der Telefonkontrolle sowohl innerhalb der DDR als auch grenzüberschreitend erläutern. Dabei geht es um die technische Seite des Abhörens. Dem schließt sich ein persönlicher Bericht eines in die damaligen Vorgänge Involvierten an, der die MfS-Beschreibungen mit seiner Erinnerung abgleicht, ergänzt und interpretiert. Vor dem eigentlichen Dokumententeil folgen Editorische Vorbemerkungen, die auf Besonderheiten dieser Schriftstücke hinweisen. Nach der Dokumentenedition folgt ein Anhang mit Glossar, Kurzbiografien, Abkürzungsverzeichnis und Personenregister.
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Danksagung Dieses Buch ist ohne Mittun von ganz vielen Menschen nicht denkbar. Letztlich basiert dieses Buchprojekt auf Einverständniserklärungen von etwa 200 Personen, einige mussten nur wenige Sätze, andere dutzende Dokumente komplett freigeben. Darüber hinaus haben wir zahlreiche weitere Personen konsultiert und nach Hintergrundinformationen befragt. Daher ist zuerst all jenen zu danken, die sich bereitfanden, diese Dokumente freizugeben. Das ist auch deshalb zu betonen, weil jeder, der einmal ein in freier Sprache protokolliertes Gespräch von sich selbst las, weiß, dass dies nicht immer druckreif ist und im »privaten« Raum auch nicht immer völlig vorteilhaft ausfällt. Deshalb, aber auch für die ganz unterschiedliche, manchmal ganz neue Fragen aufwerfende und intensive Erinnerungsarbeit, danken wir, stellvertretend für viele andere, in alphabetischer Folge: Karl-Heinz Baum, Marianne Birthler, Bärbel Bohley (†), Antje und Martin Böttger, Rainer Eppelmann, Werner Fischer, Lilo Fuchs, Peter Grimm, Katja Havemann, Guntolf Herzberg, Ralf Hirsch, Roland Jahn, Carlo Jordan, Freya Klier, Wilhelm Knabe, Stephan Krawczyk, Irena Kukutz, Vera Lengsfeld, Ludwig Mehlhorn (†), Ulrike Poppe, Bettina und Lutz Rathenow, Rüdiger Rosenthal, Wolfgang Rüddenklau, Siegbert Schefke, Reinhard Schult, Uwe Schwabe, Ulrich Schwarz, Wolfgang Templin, Petr Uhl, Elisabeth Weber, Regina Weis, Reinhard Weißhuhn und Birgit Voigt. Für dieses Buch hat unter allen Zeitzeugen aber Gerd Poppe ganz besonders viel geleistet. Er hat das Projekt nicht nur stets wohlwollend begleitet, hat nicht nur Ratschläge über Jahre hinweg gegeben, er hat vor allem alle Dokumente und die Anmerkungen akribisch gelesen und uns unzählige Hinweise gegeben. Gerd Poppe trägt damit zwar keine Verantwortung für dieses Buch, es wäre aber ohne sein Mittun nicht zustande gekommen, jedenfalls nicht so, wie es jetzt vorliegt. Für unsere Irrtümer trägt er natürlich keinerlei Verantwortung, aber er hat uns vor manchen weiteren mit seinen Hinweisen bewahrt. Ihm gebührt unser ganz besonderer Dank. Neben den beiden Bundesbeauftragten Marianne Birthler und Roland Jahn hat das Projekt der Abteilungsleiter von Bildung und Forschung, Helge Heidemeyer, stets unterstützt und befördert. Nicht zuletzt hat er dafür gesorgt, dass Wolfgang Templin dieses Projekt 2008 bis 2009 mit einem Werkvertrag beginnen konnte. In dieser Startphase standen uns außerdem zeitweilig studentische Praktikanten zur Verfügung, die uns bei der Sichtung des Materials halfen. Von diesen bedanken wir uns besonders bei Hendrik Kühn, der über
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Danksagung
Monate hinweg intensiv die Unterlagen bearbeitete und eine erste systematische Ordnung erstellte. Für die Abschriften der Dokumente danken wir unseren Kolleginnen Marina Donner, Cornelia Grunert, Anita Rothe, Marianne Schnaiter, Anika Puls, Brigitte Fiebelkorn, Sabrina Roloff und Ines Splettstoesser. Besonders aber möchten wir unserer Kollegin Rosemarie Müller danken, die nicht nur zahlreiche Abschriften gewohnt sehr schnell und zuverlässig vornahm, sondern auch die mühevolle Kollation der Dokumente durchführte und hierbei zum Teil von Ulrike Geliç dankenswerterweise unterstützt wurde. Für die Klärung zahlreicher inhaltlicher und methodischer Fragen, für kleinere Recherchen, die Bereitstellung von Material, ihre jahrelange geduldige Gesprächsbereitschaft und ihr selbstloses Interesse danken wir unseren Kollegen und Freunden aus unserem engeren Forschungsteam: Bernd Florath, Christian Halbrock, Gudrun Weber, Angela Schmole und Andreas Schmidt. Immer wieder half uns Jörg Laurich von der Bibliothek des BStU bei der Beschaffung von Literatur und der Recherche von Zeitungsartikeln. Dem Team um Christian Adam, insbesondere Beate Prinz und Christin Schwarz, danken wir für die gewohnt zuverlässigen Korrektur- und Satzarbeiten, sodass aus den vielen Dateien ein Buch entstehen konnte. Stellvertretend für viele Kolleginnen und Kollegen aus allen Fachabteilungen und Außenstellen, die uns auf vielfältige Weise halfen, danken wir dafür auch den Archivaren Andreas Petter und Silvia Oberhack sowie den Außenstellenleitern Wolfgang Brunner, Jörg Stoye, Konrad Felber, Rüdiger Sielaff, Uta Leichsenring, Volker Höffer, Corinna Kalkreuth, Monika Aschenbach und Regina Schild ganz herzlich. Schließlich haben wir immer wieder vielfältige Unterstützung von Uwe Schwabe vom Leipziger Bürgerarchiv erhalten. Besonders engagiert halfen uns unsere Kollegen und Freunde von der Robert-Havemann-Gesellschaft, die unsere Fragen und Wünsche jederzeit und sofort beantworteten und erfüllten, uns immer wieder mit Material versorgten, Kontakte herstellten und uns nie den Eindruck vermittelten, wir würden sie anfangen zu nerven. Dafür gebührt Olaf Weißbach, Tina Krone, Tom Sello, Frank Ebert und Irena Kukutz stellvertretend für weitere Mitarbeiter unser besonderer Dank. Ilko-Sascha Kowalczuk und Arno Polzin Berlin, den 15. Januar 2014
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Ilko-Sascha Kowalczuk
Ilko-Sascha Kowalczuk
Telefongeschichten Grenzüberschreitende Telefonüberwachung der Opposition durch den SED-Staat 1 Einleitung
»In unserem Staat dient der Fernsprecher dem sozialistischen Aufbau. Gesellschaftlicher Vorteil und Vorteil des Einzelnen decken sich. Planmäßig wird das Netz erweitert, um den Nutzen dieses Nachrichtenmittels der Produktion, der sozialistischen Landwirtschaft, dem Handel, den staatlichen Organen und dem einzelnen Bürger zukommen zu lassen. Mögen in einigen westlichen Ländern […] heute noch zahlenmäßig mehr Fernsprechanschlüsse als bei uns vorhanden sein, so ist andererseits ein Heer von Handelsvertretern, Maklern, Agenten und die ganze privatkapitalistische und staatliche Bürokratie Hauptinhaber der Fernsprechanschlüsse […]. Es wäre einer besonderen Betrachtung wert zu zeigen, mit welch weitaus höherem Nutzeffekt der Fernsprecher in unserer sozialistischen Planwirtschaft eingesetzt wird. […] Der Fernsprecher wird sich immer mehr ausbreiten. Er wird eines Tages so selbstverständlich zum Haushalt gehören wie das elektrische Licht. […] Die Anwendungsmöglichkeiten des Fernsprechers werden sich vervielfachen.« 2
Im Juni 1979 hielt Hans Magnus Enzensberger in New York einen Vortrag über ein Thema, das ihn immer wieder beschäftigte: Datenschutz, Überwachungspraxis, Lauschangriff und Ausspähung. Erst jüngst, im Spätsommer 2013, meldete er sich wieder zu Wort und kritisierte, dass »Geheimdienste« und »Großkonzerne« weltweit die Macht übernommen hätten und die Politik mehr oder weniger schweigend zuschaue; Privatheit sei zur Utopie geworden. 3 1 Für die Lektüre erster Entwürfe und Kritik, Bemerkungen und Hinweise danke ich ganz herzlich Gerd Poppe, Andreas Schmidt, Susan Arndt, Christian Halbrock, Bernd Florath, Arno Polzin sowie Roger Engelmann und Helge Heidemeyer. 2 Heinz Sternberg: … ich verbinde. Ein Buch zum Fernsprecher. Leipzig, Jena, Berlin 1961, S. 140–141. 3 Siehe etwa die Berichte nach 2 Fernsehauftritten von Enzensberger z. B: Hannah Lühmann: Enzensberger und der idiotische Kühlschrank, in: Zeit Online vom 13.9.2013; Christian Stöcker: Enzensberger bei »Beckmann«: Die NSA als entfesselte Kreatur, in: Spiegel Online vom 13.9.2013. Das alles steigerte Enzensberger noch mit einem Aufruf, in dem er »begründete«, warum man sich gegen die Digitalisierung und Online-Kultur wehren müsse und als Alternative nur eine konsequente Offline-Kultur infrage komme. Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Wehrt Euch, in: FAZ vom 1.3.2014, S. 9. Dieser »Aufruf« ähnelt kulturpessimistischen Manifesten aus früheren Jahrhunderten und weist zugleich Parallelen zur sozial intendierten »Maschinenstürmerei« infolge der Industriellen Revolution auf.
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Er führt die »totale Überwachung« als gegeben ins Feld. 4 Dass er dabei auch Stasi und KGB verharmlost, 5 sei am Rande vermerkt. Dies gelingt ihm, weil er – und nicht nur er – die konkreten Folgen von verschiedenen Arten der Überwachung unbeachtet lässt. 6 Im Juni 1979 ließ er jedenfalls sein New Yorker Publikum wissen, dass er von der DDR nichts halte, aber über sie auch nicht weiter reden mag. Ihm gehe es um die Bundesrepublik. Er schilderte einen Staat und eine Gesellschaft, die sich in einer Art vorbürgerkriegsähnlichem Zustand zu befinden schienen. Enzensberger zeichnete einige zweifellos bedrückende Erscheinungen nach, wie Meinungsfreiheit und andere hohe Güter der Demokratie konkret in Gefahr geraten seien, ging dabei allerdings mit der vom Staat betriebenen »Prävention« weitaus ungnädiger um als mit dem Linksterrorismus, der gerade seine blutige Tötungsspur zog. Enzensberger entwarf 1979 ein Gesamtbild, das selbst unter Abzug künstlerischer Freiheiten wenig mit der Realität zu tun hatte: »Es ist sicher, dass die Bevölkerung Westdeutschlands heute einem Grad von Überwachung unterliegt, der historisch präzedenzlos ist; die Gestapo konnte von technischen Mitteln dieser Reichweite nur träumen.« 7 Diese Steilvorlage ließ sich die SED nicht entgehen. Am 16. Juni 1979 verkündeten die DDR-Tageszeitungen: »Enzensberger: BRD ist ein totaler Überwachungsstaat. Die Bonner Schnüffelpraxis steht in der Welt ohne Beispiel da.« 8 Zwischen beiden Enzensberger-Aussagen liegen 34 Jahre. Politisch hat sich die Welt nach den antikommunistischen Revolutionen von 1989/91 und den terroristischen Anschlägen am 11. September 2001 erheblich verändert. Die Welt ist nicht nur von Wirtschafts- und Finanzkrisen erschüttert worden, ebenso bildeten sich neuartige supranationale Verflechtungen heraus, die die Weltstruktur neu determinieren. Kulturell aber stehen wir immer noch am Beginn eines neuen Zeitalters – die technologische Revolution könnte zum Ausgangspunkt einer digitalisierten Welt werden, die künftigen Generationen als der eigentliche Revolutionsbeginn am Übergang vom 20. zum 21. Jahr4 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Vom Terror der Reklame. Werbung war früher nur lästig. Heute dient sie der totalen Überwachung, in: Der Spiegel Nr. 32/2013 vom 5.8.2013, S. 102–103. 5 Vgl. ebenda, S. 103, wobei er die Gestapo gleich noch miteinbezieht. Er hebt zwar auf die technischen Möglichkeiten ab, aber dieser Kniff ist natürlich leicht durchschaubar, weil auch kaum jemand behaupten würde, ein Diktator aus dem 19. Jahrhundert wäre einem aus dem 12. Jahrhundert nur deswegen überlegen gewesen, weil dem aus dem 19. Jahrhundert das Töten wegen technischer Neuerungen einfacher gemacht worden sei. 6 Vgl. als ein Beispiel, in dem die Facetten der Überwachung ausgebreitet werden, Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung. Frankfurt/M. 2008 und Philipp Aumann: Control. Zwischen staatlicher Überwachung und Selbstkontrolle, in: Das Archiv. Magazin für Kommunikationsgeschichte 3/2013, S. 7–17. 7 Hans Magnus Enzensberger: Der Sonnenstaat des Doktor Herold. Hans Magnus Enzensberger über Privatsphäre, Demokratie und Polizeicomputer, in: Der Spiegel Nr. 25/1979 vom 18.6.1979, S. 68–78, hier 73. 8 ND vom 16.6.1979, S. 7. So und ähnlich auch die anderen Tageszeitungen in der DDR.
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hundert erscheinen könnte. Die Funktion von Nachrichten- und Geheimdiensten wird sich wahrscheinlich erheblich wandeln und zugleich in Konkurrenz zu nichtstaatlichen, supranationalen Überwachungs-, Markt- und Sammlungsinstitutionen geraten. 9 Die vielbemühte »Globalisierung« erfährt in vielerlei Hinsicht eine neuartige Bestimmung, die begrifflich kaum noch Phänomene des 19. Jahrhunderts und des 21. Jahrhunderts sinnvoll vereinen kann. 10 Zugleich bleibt die alte Frage, ob die zwischenmenschliche Kommunikation nicht dennoch grundsätzlich anders charakterisiert sei: »Vielleicht bleibt noch die eine oder andere Liebesnacht geheim, aber sonst stehen alle Türen offen. Was gäbe es außer Mafiazirkeln, das nicht jedermann zugänglich wäre? Transparenz! Doch was ist aus der Kunst der Diskretion geworden, die einst die Individuen untereinander vor den gröbsten Unverschämtheiten der Selbstentblößung bewahrte? Diskretion wäre heute das zentrale Widerwort zu allem, was da läuft, sich äußert und outet. Man hat schnell vergessen, dass die bisher einzig würdige Form der ›Kommunikation‹ unter Menschen auf der Voraussetzung von Diskretion beruhte.« 11
Aber gab es diese »Diskretion« jemals? Große Zweifel lassen daran nicht nur einschlägige Veröffentlichungen aufkommen, 12 sondern auch Alltagserfahrungen, die jeder und jede macht. Oder? Die sozialen und kommunikativen Geschichten von Institutionen und Bürokratien jenseits von Idealtypen erzählen andere Geschichten, ganz zu schweigen von der Medienwelt. Die Gesellschaft erscheint so weniger als »diskrete Kommunikationsgesellschaft«, sondern als 9 Vgl. exemplarisch Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft? Frankfurt/M. 2014. 10 Die Literatur dazu ist nicht überschaubar. Siehe als problemorientierten Einstieg in das Konzept der »Globalisierung« Sebastian Conrad: Globalgeschichte. Eine Einführung. München 2013; theoretisch setzte Maßstäbe Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt/M., New York 2010; als genereller historischer Überblick hervorragend Akira Iriye (Hg.): 1945 bis heute. Die globalisierte Welt (= Geschichte der Welt, hg. von Akira Iriye, Jürgen Osterhammel; Bd. 6). München 2013; zu den Folgen von 1989 u. a. Susanne Stemmler, Valerie Smith, Bernd M. Scherer (Hg.): 1989 – Globale Geschichten. Göttingen 2009; Katharina Kucher, Gregor Thum, Sören Urbansky (Hg.): Stille Revolutionen. Die Neuformierung der Welt seit 1989. Frankfurt/M., New York 2013; zu den Folgen der Terrorangriffe siehe z. B. Bernd Greiner: 11. September. Der Tag, die Angst, die Folgen. München 2011; Tzvetan Todorov: Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen. Hamburg 2010; für die Ökonomie siehe etwa Paul Krugman: Die neue Weltwirtschaftskrise. Frankfurt/M., New York 2009; Jagdish Bhagwati: Verteidigung der Globalisierung. München 2008. Eine instruktive Zusammenführung verschiedener Faktoren bietet Fareed Zakaria: Der Aufstieg der Anderen. Das postamerikanische Zeitalter. München 2009. 11 Botho Strauß: Der Plurimi-Faktor. Anmerkungen zum Außenseiter, in: Der Spiegel Nr. 31/2013 vom 29.7.2013, S. 112. 12 Dafür Literaturangaben aufzulisten, könnte schnell ein eigenes Buch füllen, deshalb beschränke ich mich auf drei exemplarische (berühmte) Lektüreerfahrungen, die aus unterschiedlichen Jahrhunderten verdeutlichen, wie kompliziert es mit der romantischen Verklärung von »Diskretion« bestellt ist: Samuel Pepys: Die Tagebücher. 1660–1669. 9 Bde., Berlin 2010; Edmond & Jules de Goncourt: Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, 1851–1896. 11 Bde., Leipzig 2013; Fritz J. Raddatz: Tagebücher. Jahre 1982–2001. Reinbek b. Hamburg 2010.
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mannigfaltiger Tratsch- und Klatschverein, der sich in jeder Gesellschaftsecke schon seit Jahrtausenden eingenistet hat. Vielleicht ist nur die echte Freundschaft davon unberührt geblieben, wenn sie denn wirklich echt und wahr ist. 13 Dieser Einstieg soll auch verdeutlichen, dass wir für historische Erscheinungen zwar oft dieselben oder ähnliche Begriffe verwenden, aber die Begriffshülle meist so verschiedene Phänomene zu erfassen sucht, dass sich zuweilen anböte, neue Termini zu suchen, statt ein und denselben für offenkundig ganz unterschiedliche Inhalte zu verwenden. 14 Gerade die Technik- und Kulturgeschichte der menschlichen Kommunikation legt darüber ein beredtes Zeugnis ab. 15 Oberflächlich betrachtet scheint es Kontinuitäten zu geben, etwa, wenn es um die direkte mündliche Kommunikation zwischen Menschen geht, tatsächlich aber ist auch diese zeit-, kultur- und kontextabhängig und vor allem von einer erstaunlichen Wandlungsfähigkeit geprägt. Interessiert man sich für die Technikgeschichte der Kommunikation, so fallen die Veränderungen wiederum stärker ins Auge als die Kontinuitäten. Aber was für Kontinuitäten existieren tatsächlich? 16 Wenn zwei Menschen miteinander telefonieren, so scheint der Ablauf seit Jahrzehnten unverändert: 17 Zunächst mussten die Telefonteilnehmer ihre Gespräche anmelden und wurden handvermittelt. Diese »Zwischenstation« ist bereits regional begrenzt ab 1907 überflüssig geworden. Bis Anfang der 1970er Jahre entfiel sie in der Bundesrepublik dann flächendeckend, in der DDR für Gespräche innerhalb des Landes ebenfalls überwiegend im Laufe der 1970er Jahre, blieb aber bis 1989 für bestimmte Regionen und »Wählbereiche« aktuell. 18 Das »Fräulein vom Amt« wurde Geschichte. 19 Auch 13 Vgl. generell und originell Ute Frevert: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. München 2013. 14 Für die Wandlung von Begriffsinhalten maßgeblich Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Studienausgabe, 8 Bde., Stuttgart 2004. Außerdem neben anderen Bänden von ihm aufschlussreich Reinhard Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt/M. 2006. 15 Siehe als sehr unterschiedliche Beispiele Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt/M., New York 2011; Rudolf Stöber: Neue Medien. Geschichte – Von Gutenberg bis Apple und Google. Medieninnovation und Evolution. Bremen 2013; Werner Faulstich: Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts. München 2012. 16 Vgl. ausführlich Joachim R. Höflich: Die Telefonsituation als Kommunikationsrahmen. Anmerkungen zur Telefonsozialisation, in: Jürgen Bräunlein, Bernd Flessner (Hg.): Der sprechende Knochen. Perspektiven von Telefonkulturen. Würzburg 2000, S. 85–100. 17 Vgl. generell Ulrich Lange: Telefon und Gesellschaft. Eine Einführung in die Soziologie der Telefonkommunikation, in: ders., Klaus Beck (Hg.): Telefon und Gesellschaft. Bd. 1: Beiträge zu einer Soziologie der Telefonkommunikation. Berlin 1989, S. 9–44. 18 Präzise nach Orten lässt sich dies anhand der letzten DDR-Telefonbücher, die für jeden Bezirk herausgegeben worden sind, nachvollziehen. 19 Vgl. Helmut Gold, Annette Koch (Hg.): Fräulein vom Amt. München 1993 (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Postmuseum Frankfurt/M. 1993). Einen Erfahrungsbericht, der eine ganze Reihe kulturhistorisch interessanter Aspekte enthält, bietet Erika Kerler: Hallo Fräulein …
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die Wählscheibe wurde ab 1975 (im Westen) technisch bald ins Museum verbannt. Anrufbeantworter (verstärkt ab den 1980er Jahren in bundesdeutschen Privathaushalten) oder auch schnurlose Apparate (ab Mitte der 1980er Jahre in bundesdeutschen Privathaushalten) veränderten das Telefonieren, aber auch die zwischenmenschliche Kommunikation ebenso intensiv wie die Erfindung des Telefons selbst. 20 Aber erst die digitale Revolution und die flächendeckende Einführung von Mobiltelefonen (ugs. Handys), wie sie praktisch seit den 1990er Jahren zu beobachten sind, 21 trugen einerseits zur Demokratisierung der Telefonwelt 22 insofern bei, als kaum noch jemand ausgeschlossen bleibt, haben aber andererseits unsere Alltagswelt einschneidend verändert: Nicht nur die immerwährende Erreichbarkeit zählt dazu, sondern auch die verknappten schriftlichen Kommunikationsformen via SMS oder Social Media. Hinzu kam, dass das Telefonat immer stärker von einer reinen Gesprächssituation ohne Blickkontakt 23 zu einer auch visuellen Kommunikation mit wiederum (wie am Anfang der Telefongeschichte) präziser Ortungsmöglichkeit der Gesprächsteilnehmer wurde. Diese unvollständige Liste soll nur andeuten, dass Telefonieren heute und vor einigen Jahrzehnten zwar vom Wortsinn her das Gleiche meint, aber kulturhistorisch neben Parallelen auch ganz andere Implikationen beinhaltet. Und wenn es um »das« Telefon in der DDR geht, dann sind weitere Besonderheiten zu berücksichtigen, die »das« Telefonieren etwa vom dem in der Bundesrepublik zur gleichen Zeit in einigen Punkten unterschied. Darum wird es zunächst gehen.
Ein bunter Erlebnisbericht von 1947 bis 1984 über das »Fräulein vom Amt«. Grafenau 2006. Sie erzählt z. B. en passant, wie im Zeitalter der handvermittelten Telefongespräche diese nicht nur zuweilen Dreiergespräche waren, sondern wie auch die Vorgesetzten wiederum aus ganz unterschiedlichen Gründen zeitweise »mithörten«, um die Frauen, die die Gespräche vermittelten, zu überwachen. 20 Prognosen, dass es so etwas dereinst geben wird, existierten bereits im 16. Jahrhundert, konkret von Leonardo da Vinci und Francis Bacon. Siehe eindrückliche Zitate in: Lewis Mumford: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Frankfurt/M. 1986, S. 327, 469 (ursprünglich engl. 1964/66). 21 Wie Handys das soziale und Telefonverhalten veränderten, hat Sven Regener in einem seiner Romane – eher en passant, aber das Buch durchziehend – köstlich für die Mitte der 1990er Jahre dargestellt. Vgl. Sven Regener: Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt. Berlin 2013. Siehe auch den Essay von Umberto Eco: Wie man das Mobiltelefon nicht benutzt (1991), in: ders.: Wie man mit einem Lachs verreist und andere nützliche Ratschläge. München, Wien 1993, S. 169– 171. 22 Das galt im Prinzip schon für das Telefon. Vgl. Klaus Beck: Telefongeschichte als Sozialgeschichte: Die soziale und kulturelle Aneignung des Telefons im Alltag, in: Lange; Beck (Hg.): Telefon und Gesellschaft. Bd. 1, S. 65. 23 Dies hat vor allem bis in die 1920er Jahre zu Kritik bei Technikpessimisten geführt, darunter viele Größen der intellektuellen Gemeinschaft. Aber auch noch am Ende des Jahrhunderts kam Kritik auf, etwa wenn das Läuten des Telefons mit einer Totenglocke verglichen wurde. So in einem der berühmtesten philosophischen »Telefonbücher«, das 1989 in New York herauskam: Avital Ronell: Das Telefonbuch. Technik, Schizophrenie, Elektrische Rede. Berlin 2001.
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In dieser Einleitung wird sodann die Telefonüberwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit in einigen grundsätzlichen und für das Verständnis dieses Buches wichtigen Punkten erläutert. 24 Da sich, wie im Vorwort bereits ausgeführt worden ist, dieses Buch auf einen engen Zeitraum und einen überschaubaren Personenkreis konzentriert, wird dann der konkrete historische Kontext von oppositionellem und geheimpolizeilichem Handeln im notwendigen Rahmen dargestellt. Daran schließen Bemerkungen an, die zum wissenschaftlichen Kontext und Verständnis der Edition beitragen sollen. Dabei wird es auch um den Quellenwert dieser besonderen Archivalien sowie um die Sprache in den verschiedenen Stasi-Protokolltypen gehen. Unmittelbar damit hängt auch die Frage zusammen, welche Aufschlüsse für die historische Forschung diese Quellen sowohl für die Geschichte des MfS als auch für die Opposition geben können. Die Schlussbemerkungen gelten dem StasiAuflösungsprozess und dem juristischen Umgang mit der Stasi-Überwachungspraxis.
1. Telefonieren in der DDR Einleitung – Telefonieren in der DDR
Das erste umfassende Infrastrukturkonzept (»Telekom 2000«) 25 nach der Revolution 1989/90 und der Wiedervereinigung 1990, ein milliardenschweres Grunderneuerungsprogramm, galt der Modernisierung der ostdeutschen Telekommunikationsnetze. 26 Es war zugleich eine der ersten erfolgreichen, aber nur selten gewürdigten Aufbauleistungen. 1990 galt das marode Telekommunikationsnetz in der DDR als eines der zentralen Hemmnisse beim wirtschaftlichen Neubeginn in Ostdeutschland. Schon 1997 glich der Versorgungsgrad in Ostdeutschland dem gegebenen flächendeckenden in den Bundesländern westlich von Elbe und Werra. 27 Aber nicht nur das: Da das gesamte Kommu24 Zur technischen und institutionell-strukturellen Seite der Stasi-Abhörpraxis siehe die Beiträge von Angela Schmole zur Abt. 26 sowie von Andreas Schmidt/Arno Polzin zur HA III in diesem Band. 25 Ausführlich dazu Wolf Kahle: »Aufbau Ost« termingemäß abgeschlossen, in: Post- und Telekommunikationsgeschichte, Ausgabe Regionalbereich Ost, Heft 1998, S. 95–112. 26 Bundeskanzler Kohl hatte am 28.11.1989 in seinem Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der deutschen und europäischen Teilung vor dem Bundestag als 2. Punkt benannt: »Die Infrastrukturen zwischen beiden Staaten sollen sofort verbessert werden, insbesondere der Telefon- und Zugverkehr.« (Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 177. Sitzung, 28.11.1989, S. 13511). 27 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2010. Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/3000 (22.9.2010), S. 69. Siehe auch die Angaben in den Statistischen Jahrbüchern, die diese rasante Entwicklung nüchtern veranschaulichen. Vgl. Statistisches Jahrbuch 1988 für die Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Statistischen Bundesamt, Stuttgart, Mainz 1988, S. 307; Statistisches Jahrbuch 1990 für die Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Statistischen Bundesamt, Stuttgart 1990, S. 310; Statistisches Jahrbuch 1995 für die Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Statistischen Bundesamt, Stuttgart, Mainz 1995, S. 344.
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Einleitung – Telefonieren in der DDR
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nikationsversorgungsnetz neu aufgebaut werden musste, zählte es nun zu den modernsten in der Welt überhaupt und übertraf oft auch das Niveau in den älteren Bundesländern. Innerhalb von etwa fünf bis sieben Jahren ist der Osten der Bundesrepublik praktisch mit den damals modernsten Kommunikationsnetzen ausgestattet worden. 28 Diese enorme Leistung wird vor dem Hintergrund der Ausgangslage 1988/89 deutlich. 29 In der Bundesrepublik war eine flächendeckende Versorgung mit Telefonanschlüssen um 1980 erreicht worden. 30 Bis 1972 hatte der Selbstwählferndienst zudem Vermittlungsstellen für das Inland abgelöst. Das ging einher mit einer mehrfachen Modernisierung der Netze sowie Anpassungen an die jeweils modernsten Übertragungs- und Verarbeitungstechnologien. 31 In der DDR war nicht nur die Umstellung auf digitale Technik versäumt worden 32 – die gesamte Telefonübertragung erfolgte bis zuletzt auf analoger Basis –, 33 seit Ende der 1960er Jahre hatte sich am technischen Zustand praktisch nichts mehr geändert: drei Viertel der Vermittlungstechnik war 1989 älter als 30 Jahre, etwa ein Fünftel davon stammte aus der Zeit der Weimarer Republik. 34
28 Vgl. Kahle: »Aufbau Ost« termingemäß abgeschlossen. 29 Die nachfolgenden Ausführungen können nur knapp die Situation veranschaulichen. Eine Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte dieser Kommunikationsform für Nachkriegsdeutschland und speziell die DDR liegt bislang nicht vor. Siehe aber Stefan Münker, Alexander Roesler (Hg.): Telefonbuch. Beiträge zur Kulturgeschichte des Telefons. Frankfurt/M. 2000. Für die Zeit vor 1945 gibt es hingegen neben Überblickswerken und vor allem vielen technischen und technikhistorischen Abhandlungen (z. B. Frank Thomas: Telefonieren in Deutschland. Organisatorische, technische und räumliche Entwicklung eines großtechnischen Systems. Frankfurt/M., New York 1995) auch zahlreiche Spezialabhandlungen, siehe z. B. Christian Holtorf: Der erste Draht zur neuen Welt. Die Verlegung des transatlantischen Telegrafenkabels. Göttingen 2013; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 1023–1029; Rolf Oberliesen: Information, Daten und Signale. Geschichte technischer Informationsverarbeitung. Reinbek b. Hamburg 1982, S. 129–164. Eine sehr anschauliche Einführung bietet Michael Reuter: Telekommunikation. Aus der Geschichte in die Zukunft. Heidelberg 1990. Eine bis 1990 führende 200-seitige Bibliografie enthält Ulrich Lange, Klaus Beck (Hg.): Telefon und Gesellschaft. Bd. 3, Berlin 1990. 30 Dass dies aber auch nur eine statistische Annahme ist, zeigt: Horst A. Wessel: Das Telefon – ein Stück Allgegenwart, in: Münker; Roesler (Hg.): Telefonbuch, S. 25, der betont, »dass selbst Ende der 1970er Jahre das Telefon [in der Bundesrepublik] noch immer vor allem ein Dienst- und noch nicht ein Privatapparat war«. Noch 1962 verfügten in der Bundesrepublik nur 14 % über einen Anschluss (vgl. Margret Baumann: Eine kurze Geschichte des Telefonierens, in: dies., Helmut Gold (Hg.): Mensch Telefon. Aspekte telefonischer Kommunikation. Heidelberg 2000, S. 44). 31 Vgl. Walter Maschke: Telefonieren in Deutschland – Zahlen, Daten, Fakten, in: Lange; Beck (Hg.): Telefon und Gesellschaft. Bd. 1, S. 97–100. (Darin geht es nur um die Bundesrepublik.) 32 Mitte der 1980er Jahre wurde begonnen, digitale Übermittlungsstrecken per Richtfunk und Kabel zu bauen, was aber nicht richtig vorankam. 33 Die technischen Details der analogen Vermittlung sind ausführlich dargelegt in: Gert Kaszynski, Jürgen Schönhoff: Fernsprechendgeräte. 2., stark überarb. Aufl., Berlin 1991. 34 Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/2280 (8.9.1995), S. 94, 168. Etwas andere Prozentzah-
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Die offiziellen statistischen Angaben über Telefonanschlüsse in der DDR lassen sich nur schwer interpretieren. Die entsprechenden Jahrbücher weisen zum Beispiel für die 1980er Jahre die Anzahl der Anschlüsse in Wohnungen aus. Mit einem solchen Wert wird auch in der nachfolgenden Tabelle operiert. Gleichwohl ist zu beachten, dass eine Wohnung nicht automatisch von einem privaten Mieter genutzt worden sein musste. 35 Viele Betriebe, staatliche Einrichtungen und nicht zuletzt das MfS unterhielten Wohnungen nicht nur für Wohnzwecke. Diese aber waren häufig mit Telefonanschlüssen ausgestattet.36 Bei der Versorgung der Bevölkerung mit Anschlüssen kam hinzu, dass es auch hier Hierarchien gab. 37 Einen Telefonanschluss in ihrer Wohnung erhielten überwiegend hauptamtliche SED-Funktionäre und MfS-Mitarbeiter, 38 ebenso auch viele Mitarbeiter des MdI (Polizei), anderer staatlicher Einrichtungen, wichtige Funktionäre von Parteien und Massenorganisationen oder höher gestellte Mitarbeiter in der Volkswirtschaft; aber auch Ärzte und andere Berufsgruppen sind bevorzugt worden. 39 Oftmals verfügten solche Personen über zwei »private« Telefonanschlüsse: einen in der Wohnung und einen weiteren auf ihrem Wochenendgrundstück, 40 um ständig erreichbar zu sein. Eine Aufschlüsselung der Anschlussinhaber nach deren Stellung im Staat würde eine Form der materiellen Privilegierung aufzeigen, die politische Gründe (»ständige Bereitschaft«) hatte. 41 Das galt übrigens bei Telefonanschlüssen auch für len bei Wilfried Günther, Heinz Uhlig: Telekommunikation in der DDR. Die Entwicklung von 1945–1989. Bad Honnef 1992, S. 125–127. 35 Umgekehrt galt auch, dass eine privat genutzte Wohnung über einen normalen Telefonanschluss verfügen konnte, der aber tatsächlich als »nichtzivil« galt. Dies ist beispielsweise am 24.11.1989 für Stasi-Mitarbeiter aufgehoben worden: Amt für Nationale Sicherheit, Abt. N, Leiter, Information, 24.11.1989. BStU, MfS, BCD 3336, Bl. 170. 36 Es handelte sich somit um offizielle Privatanschlüsse, die tatsächlich einen dienstlichen Charakter besaßen. 37 Das war offenbar für den Ostblock nicht untypisch. Vgl. Zoltán Pap: Das Telefon als Kennziffer der gesellschaftlichen Ungleichheit, in: Ulrich Lange, Klaus Beck (Hg.): Telefon und Gesellschaft. Bd. 2. Berlin 1990, S. 215–224. 38 Hinzu kam bei wichtigen Funktionären ein Dienstanschluss in der Wohnung, der direkt der internen Telefonanlage des MfS, der SED o. a. angeschlossen war. Demzufolge war die Benutzung durch Familienmitglieder untersagt. Bei längeren Abwesenheiten ist solch ein Anschluss gesperrt worden (z. B. MfS, BdL an Werner Irmler, 15.6.1965. BStU, MfS, ZAIG 7594, Bl. 140). 39 Aus einem Dokument von 1978 geht hervor, dass die Verteilung von Telefonanschlüssen in Wohnungen in Ost-Berlin einen Schlüssel von 40 % für »gesellschaftliche Bedarfsträger« (wozu auch SED-Funktionäre und MfS-Mitarbeiter zählten) und 60 % für »private Antragsteller« aufwies (MfS, BV Berlin, Schreiben Referat Nachrichten an Abt. VI, 9.6.1978. BStU, MfS, AIM 7740/83, Bd. 1, Bl. 207). 40 Exemplarisch dafür die Telefonanschlussübersicht des Führungspersonals der Abt. 26: BStU, MfS, SdM 630, Bl. 19–21. 41 Dies zeigt auch eine »Struktur der unerledigten Fernsprechanschlüsse« von Ende 1988. Erstaunlich ist allerdings dennoch, dass eine Reihe von bevorzugten Personenkreisen bzw. Institutionen über keinen Telefonanschluss verfügten, z. B. über 6 000 Ärzte, fast 800 Bürgermeister, über 2 100 LPG, fast 500 kirchliche Einrichtungen, 14 000 Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe, sogar
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Einleitung – Telefonieren in der DDR
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einige Regimekritiker. 42 Es ist festzuhalten, dass auch Telefonanschlüsse nach politischen Kriterien vergeben worden sind. 43 Und weil nicht wenige über zwei Anschlüsse verfügten, wies die Statistik mehr Personen (Doppelerfassung) als Anschlussinhaber aus, als tatsächlich versorgt waren. Bei diesen statistischen Angaben über Telefonanschlüsse ist auch zu berücksichtigen, dass es aufgrund des Leitungsmangels eine Reihe unterschiedlicher Telefonanschlussarten gab. Neben dem klassischen Einzelanschluss gab es Zweier- oder Viereranschlüsse. 44 Bei solchen Mehrfachanschlüssen erhielten die einzelnen Teilnehmer unterschiedliche Telefonnummern, aber es konnte immer nur ein Teilnehmer angerufen werden bzw. selbst anrufen. Telefonierte ein Teilnehmer (oder legte nur seinen Hörer nicht korrekt auf die »Gabel«), so waren die anderen Anschlüsse so lange »tot«, d. h. der andere Apparat gab kein Zeichen von sich. 45 Für Anrufer wiederum ertönte ein Besetztzeichen, auch wenn die von ihm gewählte Nummer gar nicht verbunden war, sondern eine andere Nummer des Mehrfachanschlusses. Eine weitere Besonderheit stellten Zeitgemeinschaftsanschlüsse dar, von denen nur zu bestimmten Zeiten angerufen werden konnte. Es handelte sich dabei überwiegend um betriebliche und geschäftliche Anschlüsse, die zu bestimmten Uhrzeiten (z. B. 17.00 bis 6.00 Uhr) oder an bestimmten Tagen (Sonn- und Feiertage) auf private Anschlüsse umgelegt worden sind. Dies geschah zum Beispiel bei Betriebswohnungen, die unmittelbar im oder am Betrieb/Institut gelegen waren. Solche und weitere Besonderheiten und Eigentümlichkeiten ließen ein schwer durchschaubares Telefonnetz entstehen. Die damit einhergehende Unterversor-
445 Schulen, knapp 10 500 »Schwerstgeschädigte mit gesetzlichem Anspruch«, aber auch – kurioserweise – 944 ABV, 583 Förstereien, Feuerwachtürme und Feuerwehren. In 617 Aufzügen fehlten Notrufe, und sogar 113 Poststellen verfügten über kein Telefon (vgl. Günther; Uhlig: Telekommunikation in der DDR, S. 92). Mögliche Folgen einer solchen Unterversorgung waren der SED bewusst. 4 Monate nach dem Super-Gau in Tschernobyl stellten sowjetische und ostdeutsche Experten fest, dass die »derzeitig aufgebauten fernmeldetechnischen Nachrichtenverbindungen des Kernkraftwerkes [Greifswald] mit den staatlichen und Territorialorganen […] qualitativ und quantitativ weder im Normalbetrieb noch im Havariefall den Anforderungen« entsprechen (Ministerium für Kohle und Energie, Information über die Beratung mit dem Botschaftsrat der Botschaft der UdSSR in der DDR, Genossen Baranow, zu Fragen der Sicherheit in Kernkraftwerken, 27.8.1986. BStU, MfS, BV Rostock, OD KKW Greifswald 318, Bl. 35). 42 Siehe S. 115–117. 43 Die Prinzipien für kommunistische Staaten hat grundlegend herausgearbeitet Irina Lazarova: »Hier spricht Lenin«. Das Telefon in der russischen Literatur der 1920er und 30er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2010. 44 Bei Privatanschlüssen betrug deren Anteil 98 %. Vgl. Kahle: »Aufbau Ost« termingemäß abgeschlossen, S. 96. 45 Vgl. als ein Beispiel dafür Christoph Gehrmann, Katharina Müller: (Nah)Sprechen – (Fern)Sehen: Kommunikativer Alltag in der DDR. Wandel dörflicher Gemeinschaften unter dem Einfluss technischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Berlin 2006, S. 147.
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gung 46 konnte auch nicht durch öffentlich zugängliche Telefonapparate ausgeglichen werden, zumal diese – eine verbreitete Alltagserfahrung – oft kaputt, beschädigt, nicht funktionstüchtig waren. 47 Funktionierende öffentliche Fernsprechapparate wiesen ein Alltagscharakteristikum aus: Es bildeten sich ständig Warteschlangen. 48 Die öffentlichen Münzfernsprecher waren wohl der Grund dafür, dass das 20-Pfennigstück nicht aus Aluminium bestand, wie die anderen Münzen unterhalb des Fünf-Mark-Geldstückes, sondern wegen einer Messinglegierung fast doppelt so schwer wog wie die Ein- und Zwei-Mark-Münzen. Die geringen Gewichtsunterschiede der Münzen aus Aluminium trugen dazu bei, dass die Apparate diese nicht voneinander unterscheiden konnten. Auch später eingeführte modernere Münzfernsprechautomaten wiesen Mängel auf: Zwar war der Einwurf von anderen Münzen möglich, aber die Automaten funktionierten nicht nur mit DDR-Geld, sondern auch mit ähnlichen Münzen anderer Währungen, z. B. aus Polen. Öffentliche Telefonapparate wiesen weitere Besonderheiten auf. So sprach sich schnell herum, wenn ein Automat ohne Geldeinwurf funktionierte. 49 Das war so lange finanziell unerheblich, wie man innerhalb der DDR telefonierte, weil das ähnlich wie Mieten oder Energie billig war. Aber in Ost-Berlin hatten solche Münzfernsprecher einen besonderen Wert: Da Gespräche nach West-Berlin als Auslandsferngespräche galten und entsprechend teuer waren, konnte man an einem solchen, zum Vorteil des 46 Die Situation ähnelte sich im gesamten Ostblock. Vgl. Marec Bela Steffens: Das Telephon in den sozialistischen Ländern, in: Lange; Beck (Hg.): Telefon und Gesellschaft. Bd. 2, S. 199–213 (mit vielen Vergleichen und aufschlussreichen Zahlenangaben). Vielleicht aber ist dies nicht nur technischen und finanziellen Möglichkeiten geschuldet gewesen. Trotzki soll Stalin vorgeschlagen haben, ein modernes Telefonsystem aufzubauen. Stalin soll so abgelehnt haben: »Dies wird unsere ganze Arbeit zunichte machen. Man kann sich in unserer Zeit kaum ein stärkeres Werkzeug für die Konterrevolution vorstellen.« Zit. in: Lazarova: »Hier spricht Lenin«, S. 49. Während der Revolution 1917 war der Kampf um das Telegrafenamt ein zentraler Ort der Ereignisse (dazu ein Langzitat von Lenin einige Wochen vor den Ereignissen: ebenda, S. 30). 47 Über mutwillige Zerstörungen berichteten auch die SED-Zeitungen in den 40 Jahren der DDR immer wieder. Als Beispiel siehe »Automatische Erlebnisse«, in: Berliner Zeitung vom 21./22.2.1987. Der Zustand des Fernsprechnetzes war darüber hinaus häufig Gegenstand von Satiren, Kabarettbeiträgen und auch Spielfilmen, so z. B. in der Serie »Polizeiruf 110« in dem Film »Per Anhalter«, EA: DDR-Fernsehen am 27.1.1974 (diesen Hinweis verdanke ich Christian Halbrock). 48 Ein IM des MfS berichtete im September 1979, warum ein fehlendes Telefon eine enorme Arbeitsbelastung für ihn darstelle und er nicht effektiv mit dem MfS zusammenarbeiten könne: »Am 21.9.1979 verließ ich um 7.50 [Uhr] die Wohnung. Bis zur Kaufhalle hatte ich 4 Telefone versucht zu benutzen. Die Apparate bzw. Anschlüsse sind gestört. An der Kaufhalle wollten 4 Bürger an einem Apparat, der scheinbar in Ordnung war, telefonieren. Ich ging zur Jacques-Duclos-Str., Ecke Herzbergstr. Mit Rückweg benötigte ich 50 Minuten. Hiermit bitte ich den Gen., sich um die Realisierung meines Antrages auf eigenen Telefonanschluss noch einmal zu bemühen.« (BStU, MfS, BV Berlin, AIM 3036/87, Teil I, Bd. 2, Bl. 120). 49 Dem MfS entging auch nicht, dass Oppositionelle solche Münzfernsprecher benutzten, um einer eventuellen Überwachung zu entgehen. Ein Beispiel ist vermerkt in den MfS-Akten über Gerd Poppe: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 30, Bl. 320.
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Einleitung – Telefonieren in der DDR
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Nutzers nicht richtig funktionierenden Apparat lange und günstig nach WestBerlin telefonieren. Von West-Berlin nach Ost-Berlin zu telefonieren, war hingegen billig, da dies als ein Ortsgespräch abgerechnet wurde. Zum 1. April 1981 senkte die Bundespost, die noch das Telefonmonopol besaß, zudem zu bestimmten Zeiten (abends, nachts, an Wochenenden und Feiertagen) die Gebühren für Telefonate in die DDR, sodass der private Telefonverkehr schon aus finanziellen Gründen oft einer Einbahnstraße von West nach Ost glich. 50 Die nachfolgende Übersicht über die Anzahl und Verteilung privater Telefonanschlüsse und öffentlicher Fernsprecher am 31. Dezember 1988 ist von den erwähnten Unwägbarkeiten gekennzeichnet. Außerdem kamen etwa 700 000 weitere Hauptanschlüsse hinzu, die offenbar dienstlich genutzt wurden. Inwiefern dabei auch das sogenannte »Integrierte Stabsnetz der Parteiund Staatsführung der DDR und der bewaffneten Organe« (Kürzel: S 1) berücksichtigt worden ist, lässt sich nicht bestimmen. Diese Leitungen waren angemietet und gehörten offiziell der Deutschen Post, sind aber von der NVA verwaltet worden. 51 Diese Angaben verdeutlichen nur eine Tendenz und deuten quantitativ an, was noch ausgeführt werden wird: Telefonabhörmaßnahmen der Staatssicherheit betrafen potenziell nur einen Teil der Gesellschaft und auch nur einen Bruchteil der vorhandenen Telefonleitungen. 52
50 Die SED-Führung veranlasste deshalb, dass bis zu 50 % der ankommenden Gespräche nicht ins DDR-Netz eingespeist wurden, um einen Netzzusammenbruch zu verhindern, aber wohl auch um eine Kontrollmöglichkeit wenigstens potenziell aufrechtzuerhalten: BStU, MfS, HA XIX 7067. (Die Dokumente beziehen sich auf das Jahr 1981.) 51 Zu diesem und zahlreichen weiteren Sondernetzen sowie deren Besonderheiten vgl. Günther; Uhlig: Telekommunikation in der DDR, S. 169–197. 52 Siehe dazu unten, S. 50.
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Telefonanschlüsse in Wohnungen und öffentliche Anschlüsse am 31.12.1988 53 Bezirk
Einwohner
Haushalte Telefonanschlüsse
in Wohnungen (absolut)
Berlin
EinÖffentwohner liche Anpro schlüsse Wohnungsanschluss
Einwohner pro öffentlichem Anschluss
in % der Haushalte
1 284 435
496 743
250 523
50,4
5,1
5 722
224
Cottbus
884 744
329 309
44 210
13,4
20,0
2 228
397
Dresden
1 757 363
722 421
82 146
11,4
21,4
3 744
469
Erfurt
1 240 394
466 186
64 068
13,7
19,4
2 362
525
Frankfurt/O.
713 764
259 647
38 227
14,7
18,7
1 621
440
Gera
742 023
286 203
42 014
14,7
17,7
2 022
367
Halle
1 776 458
711 750
94 200
13,2
18,9
3 096
574
K.-M.-Stadt
1 859 525
798 052
96 524
12,1
19,3
3 515
529
Leipzig
1 360 923
569 782
100 099
17,6
13,6
3 208
424
Magdeburg
1 249 518
486 745
65 406
13,4
19,1
2 551
490
Neubdburg
620 467
218 681
32 148
14,7
19,3
1 964
316
Potsdam
1 123 759
423 744
51 986
12,3
21,6
2 517
446
Rostock
916 541
317 449
38 373
12,1
23,9
1 978
463
Schwerin
595 176
213 352
37 765
17,7
15,8
2 149
277
Suhl
549 442
209 868
30 279
14,4
18,1
1 242
442
16 674 632 6 509 932 1 067 968
16,4
15,6
39 919
418
gesamt
Kaum eine andere Statistik offenbart die privilegierte Stellung Ost-Berlins so eindeutig wie die Versorgung mit Telefonanschlüssen. 54 Ein wichtiger Grund dürfte darin gelegen haben, dass sich hier ein großer Teil der Angehörigen des Staats- und Machtapparates konzentrierte, die mit privaten Anschlüssen ausgestattet worden sind, um ständig erreichbar zu sein. Die einzige Ursache für diese Privilegierung indes war es nicht. In Ost-Berlin wohnten etwa 8 Prozent 53 Statistisches Jahrbuch der DDR 1989, hg. von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, 34. Jahrgang, Berlin 1989, S. 228. Die Angaben für Einwohner und Haushalte: ebenda, S. 1, 285. Ähnlich die Übersichten bei: Günther; Uhlig: Telekommunikation in der DDR, S. 87–91. 54 In Ungarn/Budapest sah es vergleichbar aus. Vgl. Pap: Das Telefon als Kennziffer der gesellschaftlichen Ungleichheit, S. 219.
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Einleitung – Telefonieren in der DDR
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der Gesamtbevölkerung, 55 die aber über 23,5 Prozent aller bereitstehenden Privatanschlüsse in der DDR verfügen konnten. Etwa 50 Prozent aller Ostberliner Haushalte hatten rein statistisch einen Telefonanschluss, 56 in der DDR (ohne Ost-Berlin) lag der Mittelwert bei gerade einmal 13,6 Prozent. 57 Das entsprach dem Stand in der Bundesrepublik von 1962/63. 58 Mit diesem Ausstattungsgrad belegte die DDR den 65. Platz in der Welt. 59 Ein anderer Grund für die Privilegierung Ost-Berlins dürfte darin gelegen haben, dass sich der schleppende Wiederaufbau der Kommunikationsleitungen nach 1945 – im Gegensatz zu den Westzonen, wo schon nach fünf Jahren das fast komplett zerstörte Telefonsystem wieder die ursprüngliche Ausdehnung erreicht hatte – 60 auf Berlin konzentrierte 61 und auch die Modernisierungsprojekte in den 1950er und 1960er Jahren sich auf Ost-Berlin als »Schaltzentrale« orientierten. 62 Wie schleppend dies ablief, zeigen einige Zahlen. Existierten 1950 in der DDR (einschl. Ost-Berlin) 15 804 öffentliche Fernsprechstellen und 1959 19 392, so hat sich diese Anzahl in den nachfolgenden 30 Jahren 55 Der Anteil der Haushalte erreichte einen ähnlichen Wert. 56 In West-Berlin lag der Anteil bereits 1973 bei über drei Viertel, 1978 bei 89 % und 1983 bei 96 %. Vgl. Statistisches Jahrbuch 1987, hg. vom Statistischen Landesamt Berlin, Berlin 1988, S. 400. Die Prozentanteile für Ost-Berlin sind auch tendenziell enthalten in: Ministerrat der DDR, Beschluss 62/5/88 vom 5.5.1988: Beschluss über Maßnahmen zur weiteren Entwicklung der Fernmeldeanlagen der Deutschen Post in der Hauptstadt der DDR, Berlin. BStU, MfS, ZAIG 15000, Bl. 16. 57 Im MfS ist für 1986 errechnet worden, dass pro 100 DDR-Einwohner 8,6 Telefonanschlüsse bereitstehen, in Ost-Berlin hingegen 22 (MfS, Abt. 26, Horst Hesse, Abschlussarbeit an der JHS: Stand und Entwicklung der Fernmeldetechnik der Deutschen Post sowie die ersten sich hieraus ableitenden Anforderungen an die operativ-technischen Mittel und Methoden der Linie 26, 1.7.1986. BStU, MfS, Abt. 26 120, Bl. 10). 58 Vgl. Jürgen Bräunlein: Ästhetik des Telefonierens. Kommunikationstechnik als literarische Form. Berlin 1997, S. 51. 59 Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/2280 (8.9.1995), S. 94. Nach anderen Erhebungen kam die DDR damit auf den 44. Rang, innerhalb des Ostblocks (RGW) auf den 4.: MfS, JHS, Major Rainer Burckhard, Abt. N, Erarbeitung einer Konzeption zur Bereitstellung von legendierten Fernsprechhauptanschlüssen im Bereich der Hauptstadt der DDR sowie die politisch-operative Sicherung operativ-bedeutsamer Fernsprechteilnehmer aus dem staatlichen Nachrichtennetz. Diplomarbeit, 18.11.1987. BStU, MfS, JHS 20465, Bl. 7. 60 Vgl. Thomas: Telefonieren in Deutschland, S. 324. 61 Durch Zerstörungen und Demontagen fiel das Netz 1945 in der SBZ auf ein Niveau zurück, »das man im Deutschen Reich bereits vor der Wende zum 20. Jahrhundert überschritten hatte« (Horst A. Wessel: Das Telefon – ein Stück Allgegenwart, in: Münker, Roesler (Hg.): Telefonbuch, S. 24). Zum Ausstattungsgrad vor dem Zweiten Weltkrieg siehe die Statistik vom März 1937: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, hg. vom Statistischen Reichsamt, 56. Jahrgang, Berlin 1937, S. 198. Im Sommer 1945 waren in Berlin etwa nur 1 % (abs. 7 000) der Telefonanschlüsse, die vor dem Krieg geschaltet waren, funktionstüchtig (Vom Fernsprechverkehr, in: Berliner Zeitung vom 31.8.1945; siehe auch Berliner Telephone, in: Neue Zeit vom 16.2.1946). 62 Z. B. Der Fernsprechknoten wächst. Stippvisite im Neubau Internationales Fernamt, Dottistraße, in: Berliner Zeitung vom 29.10.1963; Schnell direkt verbunden. Internationales halbautomatisches Fernsprechamt 1964 betriebsfertig, in: ND vom 27.2.1964.
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gerade einmal verdoppelt (39 919). In der Bundesrepublik mit fast 42 Millionen Telefonanschlüssen (1988) existierten zusätzlich 163 000 öffentliche Fernsprechgeräte. 63 Bei den Hauptanschlüssen ging die Vervielfachung schneller: der Ausgangswert 1950 betrug 356 618 Anschlüsse. Mehr als eine erste Verdoppelung ergab sich bis 1967 (819 912), eine zweite in den 20 folgenden Jahren (1988: 1 761 351), der tatsächliche Bedarf wurde auf 9 bis 10 Millionen geschätzt. 64 Eine Untergliederung in Wohnungsanschlüsse ist anhand der Statistischen Jahrbücher für die Zeit vor 1968 nicht möglich. 65 Aber auch die Angaben für die 1980er Jahre belegen den verpassten Modernisierungsschub. 1980 standen allen Haushalten 757 167 Telefonanschlüsse zur Verfügung. Bis Ende 1988 kamen lediglich rund 250 000 hinzu (1 067 968). 1989 hatten sich weit mehr als eine Million Anträge für einen privaten Telefonanschluss angehäuft. 66 Im gleichen Jahr waren lediglich 53 000 neue Anschlüsse freigeschaltet worden. 67 Auch für die kommenden Jahre hatte die SED-Führung nur in diesen überschaubaren Dimensionen geplant. Nach der Wiedervereinigung sind allein
63 Statistisches Jahrbuch 1990 für die Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Statistischen Bundesamt, Stuttgart 1990, S. 310. Vgl. auch die Angaben in: Karl-Heinz Kleinau: Technologie des Fernsprechwesens. [Ost-]Berlin 1986, S. 126. (Die angegebenen Zahlen vergleichen die Anschlussdichte – private und öffentliche – mit der Bundesrepublik, Dänemark, Finnland, Großbritannien, Schweden und der Schweiz, was sehr ungewöhnlich war in einem DDR-Buch, weil der Vergleich alles andere als günstig für die DDR ausfiel.) 64 Bei der Post wird alles besser – und teurer, in: ND vom 18.5.1990. 65 Weniger als die Hälfte der Anschlüsse stand privaten Verbrauchern zur Verfügung: Lange Leitung bald passé. 10 000 neue Anschlüsse im Jahr. Wartezeiten werden verkürzt, in: Berliner Zeitung vom 10.3.1961. 66 Der Postminister gab im Dezember 1989 1,2 Mio. Anträge an: Telefonverbindungen zur BRD werden ausgebaut, in: ND vom 13.12.1989. Vgl. auch Günther; Uhlig: Telekommunikation in der DDR. 1988 ging die SED intern von 140 000 unerledigten Anträgen aus: Ministerrat der DDR, Beschluss 62/5/88 vom 5.5.1988: Beschluss über Maßnahmen zur weiteren Entwicklung der Fernmeldeanlagen der Deutschen Post in der Hauptstadt der DDR, Berlin. BStU, MfS, ZAIG 15000, Bl. 16. Zugleich ist dazu im Widerspruch betont worden, dass mit der Einrichtung von 150 000 neuen Fernsprechhauptanschlüssen »die Anzahl der nicht realisierbaren Anträge verringert werden« könnte (ebenda, Bl. 17). 67 Vgl. Gunnar Winkler (Hg.): Sozialreport ’90. Daten und Fakten zur sozialen Lage in der DDR. Berlin 1990 (Redaktionsschluss 28.2.1990), S. 156. In der Bundesrepublik kamen Ende der 1980er Jahre jährlich mehr als eine Million Anschlüsse hinzu (vgl. Statistisches Jahrbuch 1990 für die Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Statistischen Bundesamt, Stuttgart 1990, S. 310; Statistisches Jahrbuch 1988 für die Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Statistischen Bundesamt, Stuttgart, Mainz 1988, S. 307). Von den 53 000 neuen Anschlüssen 1989 sind etwa 17 000 in Ost-Berlin freigeschaltet worden, 1990 kamen in Ost-Berlin etwa 13 000 hinzu. Vgl. Statistisches Jahrbuch 1991, hg. vom Statistischen Landesamt Berlin, Berlin 1991, S. 402. Etwas andere Zahlen, bei denen aber auch Unsicherheitsfaktoren (Dienstanschlüsse vs. Privatanschlüsse) zu berücksichtigen sind, enthält: Ministerrat der DDR, Beschluss 62/5/88 vom 5.5.1988: Beschluss über Maßnahmen zur weiteren Entwicklung der Fernmeldeanlagen der Deutschen Post in der Hauptstadt der DDR, Berlin. BStU, MfS, ZAIG 15000, Bl. 11–20.
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Einleitung – Telefonieren in der DDR
1990 bis Ende 1993 etwa 2,2 Millionen neue Telefonanschlüsse zur Verfügung gestellt worden. 68 Es sei auf eine zweite Statistik verwiesen. Diese ist für die Frage interessant, in welchem quantitativen Ausmaß die Staatssicherheit den Telefonverkehr abhörte. 69 Auch hier ist unklar, welche Gespräche Eingang in diese Statistik fanden und welche (»Sondernetze«) nicht. Entwicklung des quantitativen Telefonaufkommens in der DDR 70
abgehende Ortsgespräche in Mio. abgehende Ferngespräche in Mio. davon im Selbstwählfernverkehr in %
1950 1955 1959 1960 1964 1967 1970 1975 1980 1985 1988 623 728 777 817 825 853 923 1 142 1 283 1 317 1 443
95
128
156
167
226
296
381
526
676
767
856
7,3 52,8 74,9 84,2
90,9
94,8
96,7
97,9
In der Bundesrepublik lag die Anzahl der Telefonate schon 1970 etwa zehn Mal so hoch wie in der DDR. Der Abstand steigerte sich – 1988 sind dort über 30 Milliarden Telefongespräche registriert worden. 71 Die in den 1930er Jahren eingeführten Hinweistafeln »Fasse Dich kurz« an öffentlichen Münzfernsprechern waren in der Bundesrepublik bis zum Ende der 1970er Jahre verschwunden. In der DDR fand man sie noch bis 1989, ebenso enthielten die Telefonbücher ganzseitig diese Aufforderung. In der Bundesrepublik hatte die Versorgung eine Netzdichte erreicht, die das Telefonieren für alle mit allen möglich gemacht hatte. Die 1980 eingeführte Zeittaktung bei Telefongesprächen sorgte für eine gewisse Regulierung. In der DDR hingegen blieb das Telefonnetz veraltet und wies die entsprechenden Mängel auf: häufig überlastete Netze, schlechte Akustik mit typischem Knistern, Pfeifen, Knacken, 72 68 Kahle: »Aufbau Ost« termingemäß abgeschlossen, S. 108. 69 Siehe S. 50. 70 Zusammengestellt nach den offiziellen Statistischen Jahrbüchern der DDR. 71 Statistisches Jahrbuch 1990 für die Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Statistischen Bundesamt, Stuttgart 1990, S. 310. 72 In diesem Zusammenhang sei auch darauf verwiesen, dass viele ursprünglich typische Telefongeräusche bis hin zum Rattern der Wählscheibe längst aus unserem Alltag verschwunden sind. Dazu gibt es ein Projekt in Essen, solche Geräusche für die Nachwelt zu bewahren. Vgl. Jacqueline Goebel: Die Geräusche-Retter, in: Nordbayerischer Kurier vom 25./26.1.2014, S. 57 (Magazin S. 1). Vgl. zudem das hervorragende Werk von Gerhard Paul, Ralph Schock (Hg.): Sound des Jahrhunderts.
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Unterbrechungen, nicht seltener Totalausfall der Netze oder auch stundenlanges Warten auf handvermittelte Auslandsgespräche, nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik. Lediglich die Anschlussteilnehmer in Ost-Berlin und einigen grenznahen Ortsnetzen im Bezirk Potsdam konnten direkt nach WestBerlin und in die Bundesrepublik telefonieren. Umgekehrt war es 1988 aus West-Berlin und der Bundesrepublik aufgrund zwischenstaatlicher Verträge 73 möglich, sich direkt in 1 223 von insgesamt 1 481 Ortsnetzen der DDR einzuwählen. 74 Diese Entwicklung setzte schrittweise ab Mitte der 1970er Jahre ein, als die ab den 1950er Jahren gekappten Leitungen 75 wieder reaktiviert worden sind. Zuletzt waren aus der Bundesrepublik fast alle DDR-Regionen im Selbstwählverkehr erreichbar. Bereits 1979 sind so über 20 Millionen Gespräche in die DDR geschaltet worden, davon die Hälfte von West-Berlin aus. In einer Kultur- und Alltagsgeschichte der DDR dürften das Telefon und seine spezifische Geschichte nicht unberücksichtigt bleiben. 76 Das beginnt mit dem Umstand – wie die statistischen Angaben und technischen Details nahelegen – dass das Telefon ein Gebrauchsgegenstand und Kommunikationsmittel war, das bis 1989 eher den Schilderungen und Erzählungen aus dem späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ähnelte, 77 als der rasanten Technologieentwicklung mit ihren vielfältigen kulturellen Begleiterscheinungen, die in den 1960er Jahren Fahrt aufnahm und dann vor allem ab den frühen 1990er Jahren einen geradezu revolutionären kommunikativen Weltwandel herbeiführte, dessen Ende nicht abzusehen ist. In der DDR gab es – abgesehen von allem anderen – 1989 zum Beispiel auch kaum Anrufbeantwor-
Geräusche, Töne, Stimmen, 1889 bis heute. Bonn 2013 (mit Audio-CD, aber ohne Telefongeräusche). 73 Die wichtigsten Vereinbarungen von 1970 bis 1990 auf dem Gebiet des Post- und Fernmeldewesens zwischen der Bundesrepublik und der DDR sind abgedruckt in: Dokumentation zu den innerdeutschen Beziehungen. Abmachungen und Erklärungen, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 13., erw. Aufl., Bonn 1990, S. 212–270. 74 MfS, HA XIX/4, Maßnahmen zur Unterbindung/Beeinträchtigung der Kommunikationsbeziehungen innerer und äußerer Feinde der DDR, 4.2.1988. BStU, MfS, HA XIX 7284, Bl. 142–144. 75 Das war ein komplizierter Prozess, weil nicht alle Leitungen bekannt waren und das Kappen der Leitungen bis 1970 andauerte, z. B.: BStU, MfS, Abt. 26 194. 76 Vgl. z. B. etwa Benedikt Burkhard: »Den Anschluss kriegen wir doch nie«. Telefonieren in der DDR, in: Baumann; Gold (Hg.): Mensch Telefon, S. 105–111 (mit einem persönlichen Erfahrungsbericht, S. 109–111); Stefan Pahlke: Warten auf ein Telefon, mit Permanenz und Penetranz, in: Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren. Köln, Weimar, Wien 1996, S. 166–174; Fasse Dich kurz – Telefonieren in der DDR. Dokumentarfilm (45 Minuten, EA: mdr am 27.12.2007); Joachim Kallinich, Sylvia de Pasquale (Hg.): Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR. Berlin 2002. 77 Vgl. z. B. Frank Schimmel, Barbara Mettler-Meibom: Kommunikation (fast) ohne Telefon. Soziale Netzwerke in der ehemaligen DDR, in: Barbara Mettler-Meibom, Christine Bauhardt (Hg.): Nahe Ferne – fremde Nähe. Infrastrukturen und Alltag. Berlin 1993, S. 101–110.
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ter. 78 Telefonieren blieb eine, wenn auch nicht visuelle, direkte Kommunikationsform. 79 Auch erfüllte das Telefon in der DDR keine anderen Funktionen als ein Gespräch von zwei Teilnehmern zu ermöglichen, deren Standort beiden Teilnehmern offenlag. Die wenigen Ausnahmen waren »Sonderdienste der Deutschen Post«. Man konnte sich per Telefon wecken lassen, Telegramme aufgeben und empfangen, Ärzte- und Apothekerbereitschaftsdienste automatisch abhören, aber auch Fernseh-, Theater- und Kinoprogramme erfahren, Wettervorhersagen, »Straßenzustandsberichte«, Nachrichten und Sportergebnisse, die Lottozahlen oder die Uhrzeit anhören. Etwas skurril wirkten »Urlaubswetterberichte für das Ausland«, »Informationen zur Berufsberatung« oder »Angebote des Reisebüros der DDR«. Aber insgesamt standen auch solche Dienstleistungsangebote in der Tradition der frühen Telefonentwicklung (und nicht als Vorboten der Entwicklungen, wie wir sie heute bestaunen können): In Paris konnte man bereits Ende des 19. Jahrhunderts Opernübertragungen über das Telefon abonnieren, in Budapest ist seit 1892 eine Telefonzeitung angeboten worden, die über Politik und Kultur informierte. Auch erste öffentliche Münzfernsprecher gab es bereits ab 1885 (in den USA), in Schnellzügen zwischen Hamburg und Berlin konnten betuchte Reisende seit 1926 drahtlos telefonieren, und 1929 kam das erste Bildtelefon auf den Markt. 80 In den 1930er Jahren kamen telefonische Werbekampagnen hinzu, in großen Warenhäusern begann der »Online-Handel« via Telefon und ab den 1950er Jahren gesellten sich Telefonumfragen und demoskopische Erhebungen via Telefon hinzu. »Telefonmarketing« 81 war ein zentraler Wirtschaftsfaktor in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – der sich im 21. Jahrhundert noch rasanter entwickelte, nur dass die meisten Menschen bei all ihren technischen
78 Für das Abhören von Telefonleitungen im Westen hielt das MfS in Bezug auf Rüdiger Rosenthal fest: »Von operativem Interesse ist, dass Rüdiger R. einen Anrufbeantworter besitzt, dessen Standort bisher nicht festgestellt werden konnte.« MfS, BV Berlin, Abt. XX/5, Faktenanalyse zur Person Rosenthal, Rüdiger, 4.10.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5703, Bl. 83. In Ost-Berlin verfügte seit Sommer 1989 z. B. Lutz Rathenow über einen Anrufbeantworter: MfS, Abt. 26/7, Information Lutz Rathenow, 11.7.1989. BStU, MfS, AOP 22047/91, Beifügung Bd. 1, Bl. 102. (Es handelt sich bei diesem Dokument um die Wiedergabe des Inhaltes eines abgehörten Telefongesprächs mit Jürgen Fuchs.) 79 Allgemein zu dieser Kommunikationsform mit vielen Beispielen aus Literatur, Film, Soziologie und Philosophie die gut lesbaren Darstellungen z. B. von Renate Genth, Joseph Hoppe: Telephon! Der Draht, an dem wir hängen. Berlin 1986; Sabine Zelger: »Das Pferd frisst keinen Gurkensalat«. Kulturgeschichte des Telefonierens. Wien, Köln, Weimar 1997. Zudem u. a. aufschlussreich Ulrich Lange, Klaus Beck (Hg.): Telefon und Gesellschaft. Bd. 4: Das Telefon im Spielfilm. Berlin 1991. 80 Vgl. Stefan Münker, Alexander Roesler: Vorwort, in: dies. (Hg.): Telefonbuch, S. 8–9. 81 Vgl. aus einer Vielzahl von Ratgebern Frieder Barth: Telefonieren mit Erfolg. Die Kunst des richtigen Telefonmarketing. 2., überarb. u. aktual. Aufl., München 2005.
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Kommunikationshandlungen gar nicht mehr im Sinn haben, dass sie letztlich telefonieren. 82 Die DDR-Gesellschaft war 1989 von diesen Entwicklungen am Ende des 20. Jahrhunderts weiter entfernt als von den Technologiestandards in den ersten Dezennien. Da die meisten Freunde, Familienmitglieder und Bekannte über keinen Telefonanschluss verfügten, 83 war das spontane Klingeln an der Wohnungstür alles andere als verpönt – sondern der Normalfall. 84 Da »Zeit« im Überfluss zur Verfügung stand, mehr als in hochgradig technisierten Gesellschaften, konnte diese Kultur als Alltagsgepflogenheit gelebt werden. Ein Telefon stört erst den Alltag, wenn es zu diesem als »gesellschaftliche Normalität« gehört, ein Einzelner aber aus welchen Gründen auch immer plötzlich ausgeschlossen ist, sei es weil das Netz nicht funktioniert, der Computer nicht läuft oder das Handy schlichtweg verlegt worden ist. Dann gerät auch die »Zeit« durcheinander. Ohne eine solche »Normalität« aber hatte »Zeit« einen anderen Wert, obwohl die reale Zeit sich nicht veränderte. 85 Viele Menschen in der DDR haben erst nach 1989 erleben können, in was für einer kleinen Welt sie gefangen gehalten worden sind. Eine Reise in der DDR von Ort A nach Ort B dauerte, wenn ein paar hundert Kilometer zu überwinden waren, einen halben oder ganzen Tag. Das lag nicht nur an maroden Autobahnen und Schienensträngen, an vergleichsweise langsamen Pkw oder langen Wartezeiten auf Anschlussverbindungen. Dies alles ist durch Grenzen, Grenzregime und Grenzkontrollen, die weit vor den eigentlichen Außengrenzen begannen, verschärft worden. Und das Telefon war, gerade weil es nur für eine Minderheit privat jederzeit verfügbar war, ein Medium, das zwar nicht mehr wie im 19. Jahrhundert bestaunt, wohl aber beargwöhnt wurde. Dafür gab es einen allgemeinen und einen spezifischen Grund. 82 Der Begriff »Telefon« enthält die altgriechischen Worte τῆλε tēle (fern) und φωνή phōnē (Laut, Ton, Stimme, Sprache), womit auch unsere gegenwärtigen Kommunikationsformen erfasst werden können. 83 Michail Sostschenko hat dies in den 1920er Jahren in Grotesken dargestellt. Seine Protagonisten bekommen einen Telefonanschluss, der ihnen aber wenig nützt, weil sie niemanden kennen, den sie anrufen könnten, da niemand sonst ein Telefon hat; letztlich enden die Telefonate bei öffentlichen Stellen mit der Inhaftierung. Vgl. Lazarova: »Hier spricht Lenin«, S. 53. 84 Vgl. Schimmel; Mettler-Meibom: Kommunikation (fast) ohne Telefon. 85 Zu diesem »Phänomen« klassisch Marc Bloch: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. Stuttgart 1974, S. 44–45 (1941/42; frz. Erstveröffentlichung 1949); Fernand Braudel: Geschichte als Schlüssel zur Welt. Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941. Stuttgart 2013, S. 37–44 (frz. 1997); Johan Huizinga: Geschichte und Kultur. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1954, S. 119–125 (dieser Aufsatz ursprünglich dt. 1936); Aaron J. Gurjewitsch: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. 3. Aufl., München 1986 (russ. 1972). Aus Deutschland unverzichtbar dazu ist das Werk von Reinhart Koselleck, u. a.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979. Zur gegenwärtigen Debatte siehe etwa Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin 2013 (er sieht mit guten Gründen in der »Beschleunigung« eine neue »Form des Totalitarismus«, S. 89–92).
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Der Allgemeine ist schnell erzählt. Da nur wenige privat über einen Anschluss verfügten und zudem jeder Teilnehmer an einem eindeutigen Ort vom Gesprächspartner lokalisiert werden konnte, gehörte in der DDR zum Telefonieren – das klassische literarische Thema, wenn die Telefonkultur behandelt wurde: das Warten. 86 Das bedeutete aber eine an sich erfüllbare Erwartung. Diese hat Roland Barthes, noch ganz der klassischen Telefonkultur verbunden, präzise beobachtet: »Die Erwartung ist Verzauberung: ich habe Weisung erhalten, mich nicht zu rühren. Das Warten auf einen Telefonanruf ist, ad infinitum, ohne dass man es sich einzugestehen wagte, mit kleinen Verboten belegt: ich versage es mir, das Zimmer zu verlassen, auf die Toilette zu gehen, selbst zu telefonieren (um die Leitung freizuhalten); ich leide (aus demselben Grunde) darunter, dass man mich anrufen könnte; ich gerate außer mich bei dem Gedanken, wie nahe der Zeitpunkt ist, wo ich selbst ausgehen muss und damit Gefahr laufe, den erlösenden Anruf zu verpassen, die Wiederkehr der Mutter. Alle diese Ablenkungen, die mich locken, wären somit für das Warten verlorene Augenblicke, Angst-Verunreinigungen. Denn die Erwartungsangst in ihrer reinen Form will mich in einem Sessel in Reichweite des Telefons finden, untätig.« 87
Das Telefon als Erwartungsmedium, das zugleich zur Untätigkeit verdammt, weil die Erwartung mit Warten verknüpft ist. Dieses erzeugte Unzufriedenheit, Ungeduld und Ablehnung: »Allein für die Berlin betreffenden Fernsprechangelegenheiten gehen täglich bei den Dienststellen der Deutschen Post zwischen 400 und 500 Anfragen, Anträge und Beschwerden aus der Bevölkerung ein.« 88 Beides charakterisierte auch die allgemeine Situation in der DDRGesellschaft. Barthes oder z. B. Marcel Proust haben noch eine andere Reflektion hinterlassen, die ebenfalls allgemein für die DDR-Gesellschaft galt, aber vor allem den grenzüberschreitenden Telefonverkehr im hohen Maße bestimmte. Das Telefongespräch versinnbildlicht eine Distanz: 89 »Wirkliche Gegenwart einer so nahen Stimme – bei tatsächlicher Trennung! Aber Vorwegnahme auch einer ewigen Trennung!« 90 Die allgemeine Situation durch das Telefon war aber nicht nur metaphorisch durch Distanz, Erwartung, Trennung und Warten geprägt. Weitaus typischer war die Abwesenheit eines Telefons, was zwar zu ähnlichen Erscheinungen führen kann, aber zugleich den Wunsch nach einem eigenen Anschluss befördert und so – wiederum meta86 Vgl. allg. Bettina Bannasch: Anrufungen oder Was macht das Telefon im Buch?, in: Münker; Roesler: (Hg.): Telefonbuch, S. 83–100. 87 Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt/M. 1988 (frz. 1977), S. 98– 99. 88 Ministerrat der DDR, Beschluss 62/5/88 vom 5.5.1988: Beschluss über Maßnahmen zur weiteren Entwicklung der Fernmeldeanlagen der Deutschen Post in der Hauptstadt der DDR, Berlin. BStU, MfS, ZAIG 15000, Bl. 16. 89 Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 109. 90 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 4: Die Welt der Guermantes I. 4. Aufl., Frankfurt/M. 1985 (frz. 1920/21), S. 1423.
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phorisch – die Sehnsucht nach Überwindung der Ausschlusskriterien, die den eigenen Privatanschluss verhindern. Wie stark diese Sehnsucht tatsächlich war, zeigte, wie begierig die Gesellschaft ab 1990 die neuen Anschlussleitungen nutzte und wie schnell sie zugleich nach der Freischaltung nicht mehr darüber reflektierte, noch eben ausgeschlossen gewesen zu sein. Weitaus interessanter freilich sind die spezifischen Umstände, die die Telefonkultur in der DDR prägten. Auch wenn nur eine Minderheit über einen privaten Anschluss verfügte, so gehörte das Telefon für die meisten Menschen dennoch zu einem alltäglichen Kommunikationsmittel. Öffentliche Fernsprechapparate standen auch in vielen Dörfern zur Verfügung, bei Freunden und Bekannten konnten viele den Anschluss nutzen und vor allem gehörte zu vielen beruflichen Tätigkeiten ein Dienstapparat. Egal wie oft und wo man einen Apparat zur Verfügung hatte, die ungeschriebenen Regeln 91 waren allgemein bekannt und anerkannt: »Am Telefon sagt man nichts.« Viele Menschen gingen davon aus, dass Telefongespräche generell von der Staatssicherheit mitgehört würden. Das beeinflusste unabhängig davon, ob es im eigenen Fall überhaupt zutraf, viele Menschen beim Telefonieren. Dies war aber nicht nur ein Spezifikum der Telefonkultur, sondern eine gesellschaftlich dominierende Verhaltensregel, die viele Menschen für die meisten Bereiche außerhalb der engeren Familie beherzigten. 92 Zwar haben sich die meisten Menschen im Alltag eher über die technischen Unzulänglichkeiten der Telefontechnik geärgert, viele jedoch fühlten sich unter Dauerbeobachtung, wie sie George Orwell in »1984« auf die Spitze trieb. 93 Dies im Nachhinein zu erfassen, ist methodisch nicht unproblematisch. Denn an sich stellt ein Telefongespräch den »Gegenentwurf zu der auf Dauer angelegten Literatur … [in] seiner reinsten Erscheinungsform« dar. 94 Die angebliche Vergänglichkeit wird nicht nur von der Tätigkeit von Geheimdiensten und Geheimpolizeien konterkariert, die Telefonate in unterschiedlichen Formen festhalten. Eine angenommene Dauerüberwachung, mindestens die vorausgesetzte potenzielle Omnipräsenz, bringt diese Telefonteilnehmer in eine paradoxe Situation: Sie benutzen ein Medium, dem sie zugleich im erlebten gesellschaftlichen Kontext zutiefst misstrauen (müssen). 91 Es gab natürlich auch geschriebene Regeln zum Telefonieren, aber die stehen in einer anderen Tradition. Dazu vgl. Clemens Schwender: Wie benutze ich den Fernsprecher? Die Anleitungen zum Telefonieren im Berliner Telefonbuch 1881–1996/97 (= Technical Writing. Beiträge zur Technikdokumentation in Forschung, Ausbildung und Industrie; Bd. 4) Frankfurt/M. 1997. 92 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: DDR-Alltag und das MfS, in: Stasi. Die Ausstellung zur DDRStaatssicherheit. Katalog und Aufsätze. Berlin 2011, S. 193–196. 93 Bei Orwell nehmen u. a. telescreens diese Funktion wahr, die sich nicht abstellen ließen. In einem frühen anderen Klassiker literarischer Dystopien, in Jewgenij Samjatins »Wir« (1920), kommen Telefone ebenfalls vor, die aber noch als »privat-geschützte« Kommunikationsmittel erscheinen. 94 Bannasch: Anrufungen, S. 83.
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Franz Kafka hat diese Paradoxie in der Kurzerzählung »Der Nachbar« verarbeitet. Der Ich-Erzähler sitzt in einem Büro. Die leerstehende Nebenwohnung versäumt er anzumieten. »Nun sitzt dort dieser junge Mann. Harras heißt er. Was er dort eigentlich macht, weiß ich nicht. Auf der Tür steht: ›Harras, Bureau‹. Ich habe Erkundigungen eingezogen, man hat mir mitgeteilt, es sei ein Geschäft ähnlich dem meinigen. […] Manchmal treffe ich Harras auf der Treppe, er muss es immer außerordentlich eilig haben, er huscht förmlich an mir vorüber. Genau gesehen habe ich ihn noch gar nicht, den Büroschlüssel hat er schon vorbereitet in der Hand. Im Augenblick hat er die Tür geöffnet. Wie der Schwanz einer Ratte ist er hineingeglitten …«
Die Wände sind »elend dünn. Mein Telephon ist an der Zimmerwand angebracht, die mich von meinem Nachbar trennt. […] Selbst wenn es an der entgegengesetzten Wand hinge, würde man in der Nebenwohnung alles hören. Ich habe mir abgewöhnt, den Namen der Kunden beim Telephon zu nennen. Aber es gehört natürlich nicht viel Schlauheit dazu, aus charakteristischen, aber unvermeidlichen Wendungen des Gesprächs die Namen zu erraten. – Manchmal umtanze ich, die Hörmuschel am Ohr, von Unruhe gestachelt, auf den Fußspitzen den Apparat und kann es doch nicht verhüten, dass Geheimnisse preisgegeben werden.«
Er fragt sich, was Harras macht, während er selbst telefoniert. Lauscht er, hört er zu, schöpft er ihn ab? »Vielleicht wartet er gar nicht das Ende des Gespräches ab, sondern erhebt sich nach der Gesprächsstelle, die ihn über den Fall genügend aufgeklärt hat, huscht nach seiner Gewohnheit durch die Stadt und, ehe ich die Hörmuschel aufgehängt habe, ist er vielleicht schon daran, mir entgegenzuarbeiten.« 95
Der Autor imaginiert einen Ich-Erzähler, der in Harras eine Art Alter Ego zu haben scheint. Kafka ist einmal als »der größte Theoretiker der organisierten Kommunikation des 20. Jahrhunderts« bezeichnet worden. 96 Auch in dieser Kurzerzählung bleibt jeder Ausweg offen, weil es keinen gibt. Es gibt bei Kafka keine Sinnfrage. »Die Welt der Kanzleien und Registraturen, der muffigen, verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt.« 97 Einen Sinn zu suchen, wäre ebenso destruktiv, wie jeden Sinn zu leugnen, was auch krank macht. Das Telefon steht hier für gesellschaftliche wie individuelle Verwirrung, Paranoia
95 Franz Kafka: Der Nachbar, in: ders.: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt/M. 1990, S. 300– 301. 96 John Durham Peters: Das Telefon als theologisches und erotisches Problem, in: Münker; Roesler (Hg.): Telefonbuch, S. 75. 97 Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: Walter Benjamin: Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920–1940. Leipzig 1984, S. 199.
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und »krankhafte Neugierde«. 98 Die Telefonsituation in der DDR war im übertragenen Sinne davon charakterisiert.
2. Das private Telefon als öffentliches Medium: Die Überwachungspraxis des MfS Einleitung – Überwachungspraxis des MfS
Am internationalen Tag der Menschenrechte, am 10. Dezember, präsentierte die »Initiative Frieden und Menschenrechte« 1987 in der Ostberliner Gethsemanekirche ein Papier, das ihr politisches Selbstverständnis zusammenfasste. Darin hieß es, dass »Demokratisierung« und die »Herstellung von Rechtsstaatlichkeit« die »großen Aufgabenkomplexe« für die Gesellschaft darstellen. Die Oppositionsgruppe schrieb: »Rechtsstaatlichkeit ist […] nicht zu trennen von der Existenz unabhängiger Gerichte, von der Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, von der Beendigung der Verletzung der Privatsphäre: Telefon- und Postüberwachung ohne richterlichen Beschluss, Abhören von Wohnungen, präventive Festnahmen usw.« 99
Dieses Dokument zeigt exemplarisch, dass es dem oppositionellen Personenkreis, um den es in diesem Buch geht, bewusst war, dass die Staatssicherheit ihre Telefone abhörte (MfS-Begriff: »Maßnahme A«), ihre Wohnungen verwanzt hatte (»Maßnahme B«) und ihre Post mitlas (»Maßnahme M«). 100 Als nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 Robert Havemann bei Stefan Heym anrief, wies dieser darauf hin, dass ihre Telefone wahrscheinlich abgehört würden. »Umso besser, triumphiert Havemann, auch das Telephon sei eine Öffentlichkeit.« 101 Es wird noch gezeigt werden, dass Abhörmaßnahmen enge Grenzen gesetzt waren. Potenziell konnte davon jeder Anschlussinhaber betroffen sein. In Institutionen wie dem Staatsrat, dem Ministerrat, der Volkskammer, dem ZK der SED, den SED-Bezirksleitungen, den Fachministerien (darunter auch das MfS), dem FDJ-Zentralrat, dem Fernsehturm, dem Palast der Republik, dem »Neuen Deutschland« u.v.a. waren Aufzeichnungsanlagen und »Fangeinrich98 Peters: Das Telefon, S. 76. 99 Abgedruckt in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. VII. 100 Dieses IFM-Dokument ist nur ein Beispiel unter vielen. Vgl. z. B. »… dass mein Unmut ein allgemeiner ist«. Ein offener Brief des DDR-Schriftstellers Frank-Wolf Matthies an den Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, in: Frankfurter Rundschau vom 17.1.1981; nachgedruckt in: Werner Lansburgh, Frank-Wolf Matthies: Exil – Ein Briefwechsel. Mit Essays, Gedichten und Dokumenten. Köln 1983, S. 32–36. 101 Stefan Heym: Nachruf. Frankfurt/M. 1990 (ursprünglich 1988), S. 799.
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tungen« rund um die Uhr betriebsbereit. 102 Solchen systemunabhängig nicht ungewöhnlichen Anlagen in staatlichen Einrichtungen standen aber gelegentliche Abhörmaßnahmen gegenüber, die SED- und Staatsfunktionäre betrafen, die eigentlich nur in ganz seltenen Ausnahmefällen und in begründeten Spionagefällen hätten angewendet werden dürfen. 103 Selbst für Egon Krenz und Hans Modrow lassen sich im Jahr 1989 durch das MfS abgehörte Telefongespräche nachweisen. 104 Das vielleicht kurioseste entsprechende Dokument ist vom 12. Juni 1978 überliefert. Der Schriftsteller Stephan Hermlin hatte anonyme Drohanrufe erhalten. Er selbst nahm diese zwar offenbar nicht sonderlich ernst, hatte sie aber gemeldet: »Ich wollte einfach, dass ihr’s wisst. Also, ich selber mache mir deshalb keinerlei Sorgen. Das macht mir gar nichts aus.« Dies erzählte er am Telefon Erich Honecker, der ihn deshalb angerufen hatte. Dieser erklärte, dass es nicht einfach sei, solche Anrufer zu stellen, »das ist schwer, aber ich werde natürlich veranlassen, um also so einen zu erwischen«. Und Honecker erklärt seinem Freund Hermlin auch: »Aber wie dem auch sei, man muss sehen, vielleicht also hat man Methoden. Ich kenne das nicht. Ich weiß bloß, dass man diese Leute selten bekommt, weil auch auf anderen Gebieten passiert auch was. Aber ich werde trotzdem die entsprechenden Leute mal beauftragen, das mal zu prüfen. Bloß also, falls du da mal was Knacken hörst in deiner Leitung, das wird nur kurzfristig sein, musst du nicht irgendwie gleich was Schlechtes dabei denken.«
Hermlin entgegnete beflissen: »Nein, nein.« Honecker ergänzte noch: »Denn man muss ja abmessen können, von welcher Station aus angerufen wird, aus welcher Gegend.« Hermlin war völlig einverstanden: »Ja, klar, natürlich.« 105 102 MfS, HA XX, Übersicht über z. Z. vorhandene und in Betrieb befindliche Aufzeichnungsanlagen und Fangeinrichtungen zu Fernsprechanschlüssen der Objekte im Verantwortungsbereich der HA XX, 1.2.1980. BStU, MfS, HA XIX 116, Bl. 1–3. 103 Beispiele in: BStU, MfS, HA XX 18310/1. Auch z. B. Oberst Ehrenfried Stelzer, OibE, Professor und Direktor der Sektion Kriminalistik an der HUB, wurde zeitweise abgehört: BStU, MfS, HA KuSch 29001, Bl. 1–6 (die Dokumente stammen vom 7. bis 9.11.1989!). Zur Sektion Kriminalistik und Stelzer siehe Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Humboldt-Universität zu Berlin und das Ministerium für Staatssicherheit, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden. Bd. 3: Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die HumboldtUniversität zu Berlin 1945–2010. Berlin 2012, S. 437–553, spez. S. 537–541. Auch für den Herbst 1989 lässt sich nachweisen, dass das MfS Systemstützen, etwa aus dem Kultur- und Kunstbereich, abhörte, z. B.: BStU, MfS, HA XX 14693. 104 Für Modrow lassen sich einzelne abgehörte Telefongespräche von 27.2. bis 15.11.1989 durch die HA III und Abt. 26 nachweisen (BStU, MfS, HA II/6 – VSH Modrow), für Krenz im Zeitraum 7.2.1989–16.11.1989 (BStU, MfS, HA II/6 – VSH Krenz) ebenfalls durch die HA III und Abt. 26. Es handelte sich dabei nicht um die Sicherung von Regierungsleitungen, sondern um das konspirative Abhören, wie die Tagebuchnummern zeigen. Das traf wohl auch auf SchalckGolodkowski und Schabowski zu. Vgl. Nessim Ghouas: The Conditions, Means and Methods of the MfS in the GDR. An Analysis oft the Post and Telephone Controll. Göttingen 2004, S. 188. 105 MfS, HA XX/7, Informationsbericht vom 12.6.1978. BStU, MfS, HA XX 209, Bl. 5–6. (Es handelt sich um die wörtliche Wiedergabe des Telefongesprächs.)
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Dieses Dokument belegt, dass Hermlins Anschluss zum Zeitpunkt des Anrufs von Honecker bereits überwacht worden ist. Eine Verschriftlichung des Mitschnitts hätte nach Maßgabe sämtlicher Normative wegen Honeckers Gesprächsbeteiligung gar nicht erfolgen dürfen. Aber was sollte der StasiMitarbeiter tun, hatte er doch den Auftrag erhalten, Hermlin zu überwachen, und niemand konnte ahnen, wer ihn in dieser Zeit anruft. Aber das wohl Ungewöhnlichste daran war, dass Honecker persönlich den Dichter anrief, um ihm mitzuteilen, dass sein Telefon künftig abgehört werde und Hermlin wiederum sich damit einverstanden erklärte. Nicht unüblich war die zeitweilige Telefonüberwachung von MfSAngehörigen. Dafür gab es sehr verschiedene Gründe, die von konkreten Verdachtsmomenten über die Aufklärung familiärer Probleme bis zu folgenden Anlässen reichen konnten: »Erfassung der Kontakte u. Verbindungen im Freizeitbereich sowie Dokumentation von Gesprächen mit MfS-internen Inhalt«. 106 Auch IM des MfS sind häufig in der Werbungsphase, aber auch zu späteren Zeitpunkten mit Telefonabhörmaßnahmen belegt worden, um deren Zuverlässigkeit und »Ehrlichkeit« zu ergründen. 107 Ebenso sind im Zuge vieler Sicherheitsüberprüfungen 108 Telefonanschlüsse überwacht worden, um die zu überprüfenden »Kader« genauer einschätzen zu können. 109 Dabei kamen zuweilen auch Dinge ans Tageslicht, die unbeabsichtigte Folgen zeitigen konnten: »In der Sicherheitsüberprüfung im Jahr 1985 wurde durch die Maßnahme-A bekannt, dass die Ehefrau intime Beziehungen zu ihrem ehemaligen Fahrlehrer unterhält. Dem IMS war dieser Fakt nicht bekannt. Über den Fortbestand dieser Beziehungen liegen keine Informationen vor.« 110
Stefan Heym beschrieb 1988 in seiner Autobiografie, dass hochrangige StasiFunktionäre »den eignen Apparat« fürchteten, womit nicht nur der Telefonapparat gemeint war. So jedenfalls berichtete er es über Richard Stahlmann,
106 BStU, MfS, HA KuSch 305, Bl. 58. 107 Z. B. MfS, Abt. 26/1, Vorschlag zur Einleitung einer Maßnahme A, o. D. BStU, MfS, Abt. 26 324, Bl. 59. 108 Vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR. München 2013, S. 203–204; Arno Polzin: Sicherheitsüberprüfung, in: Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. 2., erw. Aufl., Berlin 2012, S. 303; Richtlinie 1/82 zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen, 17.11.1982, in: Roger Engelmann, Frank Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente des MfS (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2004, S. 397–421. 109 Im Bereich der BV Rostock z. B. entfielen 1988/89 etwa die Hälfte der Telefonüberwachungsmaßnahmen auf solche Überprüfungen: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. 26 41. Ungewöhnlich hingegen war, dass einzelne IM über einen langen Zeitraum abgehört wurden. Dies betraf z. B. KarlHeinz Schädlich (IM »Schäfer«), dessen 20-bändige überlieferte IM-Akte nahezu ausschließlich aus abgehörten Telefongesprächen von 1974 bis 1981 besteht: BStU, MfS, AIM 26100/91. 110 BStU, MfS, Abt. 26 324, Bl. 151.
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der dies noch auf dem Sterbebett bekundet hätte. 111 Stahlmann zählte zu den einflussreichsten und wichtigsten deutschen Kommunisten. Er hatte den Abwehrapparat der KPD mit aufgebaut und war seit 1923 in der Sowjetunion und fast überall dort, wo sowjetische Kommunisten Aufstände anzettelten, aktiv. Nach 1945 baute er die Sicherheitsapparate in der SBZ/DDR mit auf und wurde schließlich 1960 vom MfS pensioniert. 112 Dass seine Furcht nicht unbegründet war, zeigt ein Dokument vom Februar 1968. Es belegt, dass seine Telefongespräche mindestens drei Monate lang von seiner eigenen Stasi systematisch abgehört worden sind. 113 Neben Informationen über Stefan Heym fiel auf diese Weise eine Reihe anderer über ehemalige oder aktive hochrangige Mitarbeiter des MfS an, darunter über Markus Wolf, für den Stahlmann das Vorbild darstellte. Vermutlich ging es aber gar nicht darum, den Altkommunisten Stahlmann zu überprüfen, sondern ihn »abzusichern« und vor eventuellen »Feindangriffen« zu schützen. Auch wenn diese Beispiele aus den anweisenden und ausführenden Apparaten kommen, so deuten sie doch die Vielfalt und die unterschiedlichen Anlässe zur Telefonüberwachung an. Praktisch aus allen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen ließen sich ähnliche Vorgänge aufführen. Die Gesellschaft war sich darüber im Klaren. Der Schriftsteller György Dalos hat dies in einem Roman knapp beschrieben: »Er nahm den Telefonhörer ab, um seine Frau anzurufen. Doch nachdem er die ersten drei Ziffern gewählt hatte, legte er den Hörer wieder auf. Warum sollten diejenigen, die sich ungebeten, aber hauptberuflich in das Gespräch einschalten würden, eigentlich wissen, dass die Flucht einer Hilfskraft des Instituts für ihn eine so wichtige Angelegenheit war?« 114
Das Telefon für bestimmte Inhalte nicht zu benutzen, war eine verbreitete Gesprächshaltung. Christa Wolf schilderte in »Was bleibt« (1979/89), wie die angenommene Telefonüberwachung das Sprechen beeinflusste: »So sprachen wir immer, am wahren Text vorbei.« 115 Bei Gesprächen in der Wohnung ist zuweilen der Telefonstecker aus der Dose gezogen worden, 116 um die ange111 Vgl. Heym: Nachruf, S. 815–816. 112 Vgl. Matthias Uhl: Richard Stahlmann (1891–1974). Ein Handlanger der Weltrevolution im Geheimauftrag der SED, in: Dieter Krüger, Armin Wagner (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 84-110; Kowalczuk: Stasi konkret, passim. 113 MfS, Abt. XXI, Bericht: Wesentliches Auswertungsergebnis der Maßnahme A beim Genossen Stahlmann während der Zeit von Anfang November 1967 bis einschließlich 10.2.1968, 15.2.1968. BStU, MfS, SdM 1423, Bl. 56–58. 114 György Dalos: Der Versteckspieler. Frankfurt/M., Leipzig 1997, S. 19 (ursprünglich 1994). 115 Christa Wolf: Was bleibt. Berlin, Weimar 1990, S. 18. Pierre Bourdieu nannte so etwas »linguistischen Habitus«, ein theoretischer Ansatz, der in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Telefontexten noch anzuwenden wäre. Vgl. Pierre Bourdieu: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen. Frankfurt/M. 1993, S. 48. 116 Wolf: Was bleibt, S. 20.
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nommene Raumüberwachung zu unterbrechen. Die Effektivität wird bezweifelt, vor allem aber wird aufgrund des Sprechens »am wahren Text vorbei« vermutet, dass die Stasi zum Kern nicht vordringen könne. 117 Allerdings erkennt die Protagonistin auch, dass das Abhören von Telefongesprächen, der Lauschangriff auf die Wohnräume oder das Mitlesen der Post nur im Ensemble mit weiteren Überwachungsmaßnahmen, zum Beispiel dem Einsatz von Spitzeln, 118 zu verstehen ist, dass die Staatssicherheit auf eine solche Komplexität angewiesen ist. 119 Wenn man die zitierten Telefonverhaltensweisen von Robert Havemann in der Überlieferung Stefan Heyms 120 und wie sie von György Dalos oder Christa Wolf dargestellt worden sind als ein Spektrum der Möglichkeiten ansieht, so könnte man dies durchaus auf die Gesellschaft generell übertragen. Natürlich fehlt hier eine Reihe von Alternativen. Etwa das Telefon gegen das System selbst zu verwenden und Drohanrufe 121 zu tätigen. Das kam häufig vor, wie das Beispiel von Stephan Hermlin bereits andeutete. Die Archive von SED und MfS sind voll mit solchen (schriftlich dokumentierten) Anrufen. 122 Auch das Telefon als Kommunikationsmittel für Denunziationen zu nutzen, war keineswegs eine seltene Erscheinung. 123 Und schließlich sollte berücksichtigt werden, dass sich gewiss viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen nicht darum scherten, ob ihr Telefon nun abgehört werden könnte oder nicht und sei es nur wegen der simplen Tatsache, dass sie das Telefon für Alltagsgespräche ohne politische oder gesellschaftliche Relevanz benutzten – wahrscheinlich auch in der DDR der häufigste Telefoninhalt. Das Telefon war schließlich 117 Ebenda, S. 35–36. 118 Z. B. ebenda, S. 40–41. 119 Als eine der ersten Dokumentationen nach der Revolution 1989 machte dies folgendes Buch deutlich: Erich Loest: Die Stasi war mein Eckermann. Oder: mein Leben mit der Wanze. Göttingen, Leipzig 1991. 120 Robert Havemann ist mindestens seit 1959 systematisch telefonisch überwacht worden: BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 107. In vielen Dokumenten ist belegt, dass er sich dessen spätestens seit 1964 auch bewusst war. Zum Zeitpunkt des Beginns der Überwachung war er noch als IM aktiv. Vgl. dazu Arno Polzin: Der Wandel Robert Havemanns vom Inoffiziellen Mitarbeiter zum Dissidenten im Spiegel der MfS-Akten. Berlin 2005. 121 Ein Aspekt, der zur Geschichte des Telefonierens allgemein gehört. Literarisch hat dies z. B. anschaulich dargestellt Roberto Bolaño: Telefongespräche. Erzählungen. München 2008, S. 70–75. 122 In den ersten 4 Monaten des Jahres 1988 registrierte allein das MfS 137 Drohanrufe, wovon knapp ein Viertel der Täter überführt werden konnte. Ein Viertel aller Drohanrufe kam aus der Bundesrepublik, zumeist von ehemaligen DDR-Bürgern: BStU, MfS, HA XXII 645/2, Bl. 101, 106, 111. Dieser Aspekt ist bislang nicht systematisch erforscht worden. 123 Vgl. dazu Stefanie Golla: »Denunziation« und »Verrat« am Beispiel der MfS-Zuträgerschaft. Eine Untersuchung von Telefonanrufen beim Ministerium für Staatssicherheit. Unveröffentlichte Magisterarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin 2013; Olga Galanova: Anrufe von Bürgern beim Ministerium für Staatssicherheit. Zu kommunikativen Strukturen und situativer Realisierung der Denunziation, in: Anita Krätzner (Hg.): Hinter vorgehaltener Hand. Studien zur Historischen Denunziationsforschung. Göttingen 2014 (i. E.).
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auch in der DDR oft lebensrettend, wenn man denn einen Notruf absetzen konnte. 124 Das Telefonverhalten empirisch genau zu rekonstruieren, dürfte mit historischen Quellen kaum möglich sein. Aber es gibt zumindest eine Quelle, die einige Indizien bereitstellt. Am Abend des 25. April 1989 überraschte SFBChefredakteur (Fernsehen) Jürgen Engert die Zuschauer und Zuschauerinnen des ARD-Politmagazins »Kontraste« mit einem Beitrag über das »politische Stimmungsbild der Bevölkerung der DDR«, wie er anmoderierte. Im Auftrag von »Kontraste« hatte Infas eine Woche zuvor eine Telefonumfrage in der DDR vorgenommen. Die Demoskopen bewegten sich auf unbekanntem Terrain. »Etwa die Hälfte der befragten DDR-Bürger hat das Interview verweigert«, berichtete ein Infas-Mitarbeiter. Er fügte hinzu, dass »man sich eigentlich darüber wundern« müsse, »dass jeder 2. geantwortet« habe. Ein Sprecher erklärte, die Befragung blieb aufgrund der wenigen Telefonanschlüsse auf »Ost-Berlin, Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Halle, Magdeburg sowie auf die Bezirke Neubrandenburg, Cottbus und Erfurt« konzentriert. »Immerhin wurden 880 DDR-Bürger befragt.« 125 Es blieb in der Sendung unklar, ob diese 880 Bürger jene waren, die antworteten, oder davon nur die Hälfte bereit war, sich auf die Fragen einzulassen. Der Infas-Mitarbeiter stellte dann fest, dass die Antworten sich unabhängig von Region, Alter, Geschlecht oder sozialem Status »relativ« ähnelten. Im April 1989 verkündete »Kontraste« nun, dass 53 Prozent »aller Befragten« angaben, »sie seien mit der DDR-Politik eher zufrieden«, 18 Prozent zeigten sich unzufrieden und 29 Prozent legten sich nicht fest. Angesichts der bevorstehenden Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 hielten laut »Kontraste« 44 Prozent »die Wahlen in der gegenwärtigen Form für zeitgemäß«, 24 Prozent waren anderer Meinung und 32 Prozent hatten auch hier keine Meinung. Immerhin aber gaben 54 Prozent an, die sowjetischen Reformen könnten sie sich auch in der DDR vorstellen, für 24 Prozent war das nicht denkbar. Ganz ähnlich fielen die Werte bei der Frage aus, ob man den Weg Polens und Ungarns mit »Pressevielfalt«, »einem demokratisch gewählten Parlament und einer Opposition« auch für die DDR »wünschenswert« fände. 126 Der Infas-Experte schlussfolgerte, dass sich ein »gespaltenes Bild« ergebe, »ein ähnlich gespaltenes Bild wie wir das in Westdeutschland 124 Das ist in der internationalen Forschung bezogen auf das Telefon relativ intensiv betrachtet worden. Vgl. z. B. Jörg R. Bergmann: Alarmiertes Verstehen: Kommunikation in Feuerwehrnotrufen, in: Thomas Jung, Stefan Müller-Doohm (Hg.): »Wirklichkeit« im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt/M. 1993, S. 283–328; Marilyn R. Whalen, Don H. Zimmerman: Describing trouble: Practical epistemology in citizen calls to the police, in: Language in Society 19 (1990) 4, S. 465–492. 125 MfS, ZAIG, ARD 25.4.1989, 21.00 Uhr, Kontraste. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AKG 415, Bl. 1–2 (es handelt sich um die wörtliche Verschriftlichung der Sendung). 126 Ebenda, Bl. 3–4.
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auch haben, wenn man mit der Regierung unzufrieden ist«. 127 Er fügte aber hinzu, »dass der Meinungstrend« bezogen auf die Übertragbarkeit der Entwicklungen in der UdSSR, Polens und Ungarns zeige, »dass man sich ähnliche Veränderungen […] im eigenen Lande auch herbeiwünscht«. Das Drittel, das keine Meinung am Telefon äußerte, schlug er dem reformbereiten Gesellschaftsflügel zu. 128 Der aus Sachsen stammende Moderator Engert, der 1954 die DDR verlassen hatte, kommentierte: »Bei einer solchen Mentalität braucht Erich Honecker keine schlaflosen Nächte zu bekommen, Rebellion hat er von seinen Bürgern nicht zu gewärtigen. Aber unsere Meinungsumfrage zeigt auch, das Potential zum Verändern, der Wunsch nach Veränderung, der ist auch in der DDR vorhanden. Aber, so sind die Obersachsen nun mal, die das Gros der DDR-Bevölkerung stellen. Wagemut ist für sie in der Regel gleichbedeutend mit Dummheit. Sie warten. Geht der Zug aber ab, dann verpassen sie ihn selten.« 129
So vorausschauend sich Engerts Schlusssätze auch anhören mögen, diese demoskopische Untersuchung offenbarte ein eklatantes Unverständnis für die DDR-Verhältnisse. Den Meinungsforschern war durchaus bewusst, wie problematisch ihre Telefonumfrage war. Aber daraus zogen sie nicht die Schlussfolgerung, entweder das Sample signifikant zu erhöhen 130 oder aber die Öffentlichkeit mit ihren Ergebnissen zu verschonen. Sie erwähnten zwar, dass ein Telefonanschluss in der DDR »Luxus« 131 sei, kamen aber nicht auf die Idee, die Verteilung der Anschlüsse auf eventuelle »politisch-ideologische« Hintergründe zu untersuchen. Bei aller Kritik wiederum zeigt diese Telefonumfrage, unabhängig von den vorgetragenen Ergebnissen, wie verschieden die Menschen am Telefon sprachen: von völliger Verweigerung über am »wahren Text vorbei«, von SED-Propaganda bis hin zur eigenen Meinung, was auch SEDIdeologie sein konnte, von Schweigen bis angstfreier Rede. Die Medien in der Bundesrepublik griffen diese »Ergebnisse« auf. Auch wenn »Bild« oder »Welt« betonten, die »Hälfte schwieg« oder »Mehrheit wünscht freie Wahlen«, 132 sie
127 Ebenda, Bl. 4. 128 Ebenda, Bl. 5. 129 Ebenda. 130 Dass sich die demoskopischen Untersuchungen und Prognosen auf unbekanntem Terrain entfalteten, zeigte sich dann eindrucksvoll noch im Vorfeld der Volkskammerwahlen vom 18.3.1990. Vgl. z. B. Matthias Jung: Parteiensystem und Wahlen in der DDR. Eine Analyse der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 und der Kommunalwahlen vom 6. Mai 1990, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1990) 27, S. 3–15; Dieter Roth: Die Wahlen zur Volkskammer in der DDR. Der Versuch einer Erklärung, in: Politische Vierteljahresschrift 31 (1990) 3, S. 369–393; Wolfgang G. Gibowski: Demokratischer (Neu-)Beginn in der DDR. Dokumentation und Analyse der Wahl vom 18. März 1990, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (1990) 1, S. 5-22. 131 MfS, ZAIG, ARD 25.4.1989, 21.00 Uhr, Kontraste. BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AKG 415, Bl. 2. 132 Bild-Zeitung vom 26.4.1989; Die Welt vom 26.4.1989.
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nahmen diese »Ergebnisse« ebenso ernst wie »Kontraste«. Einige sahen klarer. Die »FAZ« brachte eine Glosse unter der Überschrift »Naiv« und schrieb: »Dieses Ergebnis einer vom Sender Freies Berlin veröffentlichten Umfrage ist wertlos. Es sagt nichts aus. Die Tatsache jedoch, dass Meinungsforscher glauben, die wirkliche politische Meinung eines DDR-Bewohners mittels eines Telefonanrufs aus dem Westen erfahren zu können, zeigt deren ganze Ahnungslosigkeit. Niemals wird ein DDRBewohner einem Fremden am Telefon seine politische Einstellung offenbaren. So hat die Hälfte der Angerufenen auch jede Antwort abgelehnt. Wer antwortete, hat das so getan, wie man das in der DDR immer tut, wenn man von Unbekannten gefragt wird: Man sagt niemals das, was man wirklich meint, sondern das, was der Frager hören will. Die meisten haben den Anrufer wohl für einen Mitarbeiter der Staatssicherheit gehalten und deshalb ihr Ja zur DDR-Führung zum Ausdruck gebracht. Die wahre Zustimmungsquote liegt mit Sicherheit wesentlich niedriger.« 133
Dieser Kommentar erfasst die Realität weitaus genauer als diese Umfrage, auch wenn das apodiktische »Niemals« wiederum an der Realität vorbeiging. Aber dem Kommentator war bewusst, dass in der DDR das Telefon nicht unvoreingenommen und selbstverständlich als Teil des Privaten angesehen wurde. Robert Havemann hatte, wie bereits erwähnt, laut Stefan Heym das Telefon sogar als Teil der unterdrückten Öffentlichkeit begrüßt. 134 Auch das ist übertrieben, weil sich – außer bei telefonischen Gesprächen und Interviews mit westlichen Medien – allein mit dem Telefon keine Öffentlichkeit herstellen ließ. Es konnte aber dafür genutzt werden, wie diese Edition zeigt, Öffentlichkeit im Ergebnis von Informationsweitergabe oder Mobilisierungsbestrebungen herzustellen. Anders als Jacques Derrida behauptet, gehen totalitär verfasste Staaten nicht daran zugrunde, dass sie das Telefonnetz nicht mehr beherrschen, weil sie dem Modernisierungsdruck nachgeben und so dem allgemeinen wissenschaftlich-technischen Entwicklungen Tribut zollen, der sie in den Untergang führe. 135 Denn seine Annahme, das Telefon verhindere »die Festlegung einer Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten«, 136 spiegelt die Realität in einer Diktatur nicht. »Das Telefon ist kein Medium der Öffentlichkeit.« 137 Aber ganz so ist es auch wiederum nicht. Denn wenn die überwiegende Mehrheit der Telefoninhaber davon ausgeht, dass ihr Anschluss abgehört wird oder abgehört werden könnte, verhalten sie sich in einem System, das ein Gespräch – so eine weitverbreitete Annahme – trotz einer ungesetzlichen Tele133 Naiv, in: FAZ vom 27.4.1989. 134 Vgl. Heym: Nachruf, S. 799. 135 Vgl. Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt/M. 1992, S. 34. 136 Ebenda. 137 Alexander Roesler: Das Telefon in der Philosophie. Sokrates, Heidegger, Derrida, in: Münker; Roesler (Hg.): Telefonbuch, S. 156.
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fonüberwachung strafrechtlich ahnden kann, so, als wäre das Telefon Teil der Öffentlichkeit, des Offenen, des Nichtprivaten. In dieser Ambivalenz lebten nicht nur die tatsächlich Abgehörten – mit ganz unterschiedlichen Kommunikationsmustern –, sondern die große Mehrheit der Gesellschaft. Insofern war gerade auch für Oppositionelle in den 1980er Jahren das Telefon ein zwar wichtiges, aber zugleich auch kein nur rein privates Medium, als sie davon ausgingen und wussten, dass sie belauscht würden. 138 Viele Jahrzehnte war das Telefon schon deshalb ein öffentliches Medium, 139 weil bis zum automatischen Selbstwählfernverkehr die handvermittelten Gespräche nur mithilfe Dritter möglich waren. 140 Da die meisten Apparate zunächst in der Öffentlichkeit standen, 141 waren die Gespräche ohnehin halböffentlich, 142 auch wenn man nur einen Gesprächspartner hören konnte (oder musste). 143 In der DDR blieb es aufgrund der analogen, veralteten und überlasteten Technik bis 1989 eine Alltagserfahrung, dass man beim Abnehmen eines Telefonhörers zuweilen fremden Gesprächen zuhören, sich auch einmischen konnte. 144 So war es nicht einmal eine ausschließlich der Staatssicherheit zugeschriebene Erfahrung, dass der im privaten Raum verfügbare Telefonanschluss
138 Das war auch in der Bundesrepublik bekannt: Experten: Stasi nistete sich in alternativer Szene ein, in: Welt am Sonntag vom 28.2.1988. (Mit der »alternativen Szene« war West-Berlin gemeint, was auf eine kenntlich gemachte Information von Roland Jahn zurückging, der dies kurz zuvor in einer Diskussionsrunde im Fernsehen erklärt hatte. In dem Artikel heißt es zudem, dass grundsätzlich alle Gespräche zwischen Oppositionellen und ihren westlichen Freunden abgehört und dann in Verhören vorgelegt würden. Auch diese Information fußte wohl auf Jahns Erfahrungen – siehe Dok. Nr. 51 im vorliegenden Band.) 139 Peters: Das Telefon, S. 64. 140 Vgl. auch Zelger: »Das Pferd frißt keinen Gurkensalat«. 141 Vgl. auch Franz Josef Görtz: Literatur und Telefon. Ein Lockruf. O. O. [Eggingen] o. J. [1994], S. 34. (Es wird Max Horkheimer zitiert, der berichtet, wie peinlich es sein kann, bei einem Bekannten einem Telefongespräch beiwohnen zu müssen, wenn dieser freundlich ohne ein Zeichen der Ungeduld telefoniert und mit eindeutigen Gesten seinem anwesenden Gast Ungeduld signalisiert. »Seine verbindliche Stimme, die du selbst oft genug auf die gleiche Weise zu hören bekamst, ist bloße Konvention: Dein Bekannter lügt am Telefon.«) 142 Vgl. Uwe Ruprecht: Intimität und Öffentlichkeit. Das Zweiergespräch wird obsolet, in: Telefonzelle. Flüchtiger Ort der Worte. Dortmund 1998, S. 17–19. 143 Mark Twain hat darüber eine kurze Satire geschrieben. Vgl. A Telephonic Conversation, in: The Complete Humorous Sketches and Tales of Mark Twain. Garden City (N.Y.) 1961, S. 478–481. In der Sowjetunion ist dies noch durch die »Kommunalwohnung«, einer Wohnung mit vielen Mietparteien, in der, wenn vorhanden, das Telefon im Flur stand, konserviert worden. Vgl. Lazarova: »Hier spricht Lenin«, S. 53–59 (mit einigen köstlichen Beispielen). 144 Andere technische Probleme werden wissenschaftlich erläutert von Kaszynski; Schönhoff: Fernsprechendgeräte (spez. Kap. 6). Dass dies ein Problem der technischen Entwicklung darstellte, ist in der Literatur vielfach gezeigt worden. Als Beispiel siehe dazu einen berühmten Einakter (»Die geliebte Stimme«) von 1933, in dem dieses technische Problem immer wieder vorkommt, obwohl es dramatisch um das Ende einer Liebe geht. Vgl. Jean Cocteau: Der Doppeladler/Die geliebte Stimme. Zwei Stücke. München 1963, S. 135–156 (z. B. S. 137, 145, 155).
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zur privaten Schutzsphäre nicht hinzuzurechnen sei. Die vermuteten oder wahrgenommenen Aktivitäten der Staatssicherheit verstärkten diese Haltung. Das Abhören von Telefongesprächen steht am Beginn der Telefonkommunikation. 145 Dieses stand aber zunächst nicht im Vordergrund geheimdienstlicher Tätigkeit. Dazu war das Netz zu weitmaschig und die angezapften Leitungen zu leicht überbrückbar. 146 Anders sah es mit dem Funkverkehr aus, der sich schon vor der vorletzten Jahrhundertwende als militärisch bedeutungsvoller erwiesen hatte und dann vor allem durch die beiden Weltkriege enorme Modernisierungsschübe erhielt, was auch die geheimdienstliche Abhörpraxis verstärkte. 147 In der Nachkriegszeit blieben Telekommunikationswege in Deutschland zunächst staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen vorbehalten. Das Abhören von privaten Telefongesprächen spielte in der SBZ/DDR schon deshalb zunächst keine größere Rolle, weil die private Versorgung mit Anschlüssen nur schleppend vorankam. Hinzu kam, dass die Kappung der Telefonleitungen, die in die Westzonen/Westsektoren und später in die Bundesrepublik/West-Berlin führten, auch der Überwachung des grenzüberschreitenden Telefonverkehrs enge Grenzen setzte und erst ab 1971 nach der Freischaltung von Leitungen (zunächst zwischen Ost- und West-Berlin) eine Rolle spielte. 148 Für die (massenhafte) Informationsgewinnung innerhalb des MfS war die Abteilung M – Postkontrolle 149 – in den 1950er und 1960er Jahren weitaus bedeutender als die Telefonkontrolle. 150 Das änderte sich auch nicht schlagartig als sich die Stasi-Spezialabteilungen (HA S, dann Abt. O und seit 1960 Abt. 26 bzw. Abt. F, dann Abt. III und dann HA III seit 1983)
145 Vgl. Baumann: Eine kurze Geschichte des Telefonierens, S. 51. 146 Neben entsprechenden Ausführungen enthält folgender Band auch Fotos, die das sehr gut veranschaulichen. Vgl. Genth; Hoppe: Telephon! Der Draht, an dem wir hängen, z. B. S. 65 oder 68. (Dieses Foto zeigt ein Netz an Leitungen inmitten einer Stadt. Solche Netze prägten jahrzehntelang die Städte, sind aber längst wieder aus dem westlichen Stadtbild verschwunden.) 147 Vgl. nur als Einstieg Phillip Knightley: Die Geschichte der Spionage im 20. Jahrhundert. Aufbau und Organisation, Erfolge und Niederlagen der großen Geheimdienste. Berlin 1990, spez. S. 151–172; Wolfgang Krieger: Geschichte der Geheimdienste. Von den Pharaonen bis zur CIA. München 2009, S. 146–183, 244–249, 278–282, 317–322; Christopher Andrew, Wassili Mitrochin: Das Schwarzbuch des KGB. Moskaus Kampf gegen den Westen. München 2001, S. 428–445. 148 Exemplarische Analysen der Abt. 26 aus den 1970er Jahren z. B.: BStU, MfS, HA XX 2901. 149 Vgl. zur Entwicklungsgeschichte Hanna Labrenz-Weiß: Abteilung M: Postkontrolle (MfSHandbuch). Hg. BStU. Berlin 2005. 150 Zur relativ überschaubaren Anzahl der Telefonabhörmaßnahmen geben MfS-Auftragsbücher aus den 1950er Jahren Auskunft, z. B.: BStU, MfS, Abt. 26 1529 (für das Jahr 1958). Im Gegensatz dazu stand die hohe Anzahl ausgewerteter Briefsendungen, z. B.: BStU, MfS, BV Leipzig, Leitung 814/1–6. Zu den realen Möglichkeiten der Stasi-Postkontrolle vgl. Kowalczuk: Stasi konkret, S. 128– 131. Konkrete Beispiele zur Verletzung des Postgeheimnisses mit den Folgen für die Betroffenen bis 1961 sind z. B. dokumentiert in: Unrecht als System. Zusammengestellt vom UfJ, hg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Teil I–IV, Bonn 1952–1962.
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profilierten. 151 Denn im Gegensatz zur Postkontrolle, die umfangreich, kontextlos und ohne begründeten Anlass erfolgen konnte, 152 waren Abhörmaßnahmen stets an konkrete Vorgänge (»vorgangsgebunden«) gekoppelt. Hier ist zudem zwischen Abhörmaßnahmen in der DDR, außerhalb der DDR und grenzüberschreitender Art zu unterscheiden. Das Abhören von Telefongesprächen in der DDR blieb schon aus technischen Gründen auf eine relativ überschaubare Anzahl beschränkt. Abhörmaßnahmen in West-Berlin und der Bundesrepublik beanspruchten quantitativ einen größeren Umfang. Dafür war seit 1983 die HA III allein zuständig, während die Abt. 26 für das Telefonabhören in der DDR verantwortlich blieb. Die HA III und die Abt. III in den BV verfügten 1989 über mehr als 3 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Die Linie 26 (Abt. 26 und Abt. 26 der BV) beschäftigte »nur« ein Drittel des Personals der Linie III. Diese Größenordnungen spiegeln auch das Arbeitsaufkommen. 153 Die HA III konzentrierte ihre Abhörmaßnahmen auf die Bundesund Landesregierungen, Parteien, Medien, Bundeswehr, Polizei und Geheimdienste, zentrale Bereiche der Industrie sowie ausgewählte gesellschaftliche Organisationen. Zumindest der Anspruch gegen das politische und ökonomische System der Bundesrepublik lässt sich als flächendeckend charakterisieren. 154 Im Kontext des vorliegenden Buches sind neben einigen Medien (z. B. die »taz«) oder Parteien (z. B. die Bundestagsfraktion der Grünen) vor allem jene Überwachungsmaßnahmen von Interesse, die die HA III im Auftrag der HA XX gegen ausgebürgerte oder ausgereiste DDR-Bürger vornahm, die über belastbare und dauerhafte politische Verbindungen zu Oppositionellen in der DDR verfügten. Der Generalbundesanwalt erklärte 1993, dass die HA III im November 1989 etwa 100 000 bundesdeutsche Fernmeldeanschlüsse unter Zielkontrolle hatte. Die Stützpunkte der HA III seien in der Lage gewesen,
151 Neben den Beiträgen von Angela Schmole zur Abt. 26 sowie von Andreas Schmidt/Arno Polzin zur HA III in diesem Band siehe auch: Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. 2., erw. Aufl., Berlin 2012; Roland Wiedmann: Die Diensteinheiten des MfS 1950–1989. Eine organisatorische Übersicht (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2012; Angela Schmole: Abteilung 26: Telefonkontrolle, Abhörmaßnahmen und Videoüberwachung (MfSHandbuch). Hg. BStU. 2., durchges. Aufl., Berlin 2009; Andreas Schmidt: Hauptabteilung III: Funkaufklärung und Funkabwehr (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2010; Ghouas: The Conditions, Means and Methods of the MfS, S. 145–204. (Es geht um die internen Anweisungen der Abt. 26.) 152 Vgl. auch Gerd Reinicke: Öffnen, Auswerten, Schließen. Die Postkontrolle des MfS im Bezirk Rostock. Schwerin 2004; Peter Hellström: Die Postkontrolle der Staatssicherheit. Aus der Sicht eines Zeitzeugen. Berlin 2010. 153 Vgl. zu Einzelheiten Schmole: Abteilung 26; Schmidt: Hauptabteilung III. 154 Vgl. Schmidt: Hauptabteilung III, S. 99–100. Ich danke Andreas Schmidt ganz herzlich für fortwährende Gespräche über die Einzelheiten der Tätigkeit der HA III. Genauso danke ich ihm dafür, dass er immer ein offenes Ohr für allgemeine Quellenprobleme hat, wenn es um MfS-Akten geht.
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»gleichzeitig bis zu 5 000 Nachrichtenverbindungen aufzuzeichnen«. 155 Diese Angaben umreißen die Dimension, sind aber nicht als präzise anzusehen. 156 Die Abteilung 26 war seit 1983 nur noch für Überwachungsmaßnahmen in der DDR zuständig. 157 Bereits in der ersten Dienstanweisung war 1962 festgelegt worden, dass Abhöraufträge »nur bei besonders wichtigen OperativVorgängen zu erteilen« seien. 158 Das ist 20 Jahre später in einer neuen Dienstanweisung bekräftigt worden, 159 die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Richtlinie Nr. 1/76 über Operative Vorgänge stand. 160 Die strikte Reglementierung der Telefonabhörmaßnahmen seit 1979 161 hatte mehrere Gründe. Im MfS waren sich die Führungskräfte durchaus bewusst, dass das Abhören ohne richterliche Anordnung – was den Regelfall darstellte – einem Verfassungsbruch gleichkam und auch gegen andere gesetzliche Bestimmungen (z. B. StPO) verstieß. Da die Bearbeitung von OV aber im Regelfall den Nachweis von Handlungen mit strafrechtlicher Relevanz erbringen sollte, holte das MfS dann eine juristisch verwertbare Anordnung zur Telefonüberwachung ein, wenn die Aussicht eines bevorstehenden Gerichtsprozesses gegeben war und demzufolge offizielle Beweisstücke vorgelegt werden sollten. 1979 hatten der Generalstaatsanwalt, der Innenminister, der Leiter der Zollverwaltung sowie der Stasi-Minister eine Anweisung erlassen, die dem MfS als Untersuchungsorgan das Recht einräumte, gegenüber den Leitern der Bezirksdirektionen der Deutschen Post Überwachungsmaßnahmen des Telefonverkehrs anzuordnen. Diese Anweisung stand im Zusammenhang mit dem 3. Strafrechtsänderungsgesetz von 1979. 162 In der Strafprozessordnung war festgelegt worden, dass eine Überwachung des Fernmeldeverkehrs angeordnet werden konnte (StPO § 115, Abs. 4). Dieser formaljuristischen Regelung zur Offizialisierung von »Beweisstücken« stand die Praxis von Überwachungsmaßnahmen ohne juristische Anordnung gegenüber. Realisiert wurden solche Überwachungsmaßnahmen durch MfS-Mitarbeiter, OibE und IM, die direkt 155 Anklage des Generalbundesanwalts vom 3.5.1993, abgedruckt in: Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation. Bd. 4/1, Teilbd.: Spionage. Berlin 2004, S. 719. 156 Vgl. zu präzisen Angaben Schmidt: Hauptabteilung III, S. 99–100. 157 Die technische Realisierung von Abhöraufgaben der Abt. 26 und HA III wird hier nicht betrachtet. Dazu siehe Schmole: Abteilung 26; Schmidt: Hauptabteilung III. Außerdem sehr aufschlussreich Detlev Vreisleben: Das Telefon-Abhörsystem des MfS, in: Tele-Kurier III/2013, S. 8–14; Wolfgang Wengel: Die Abhörtätigkeit des MfS in den Fernsprech-Ortsnetzen der Deutschen Post der DDR, in: Kallinich; Pasquale (Hg.): Ein offenes Geheimnis, S. 157–167. 158 MfS, Minister, Dienstanweisung 10/62 vom 6.7.1962. BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 2176. 159 MfS, Minister, Dienstanweisung 1/84 vom 2.1.1982. BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 7745. 160 Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV), Januar 1976, abgedruckt in: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente des MfS, S. 245–298. 161 Zuvor hatte es eine solche normative Regelung überhaupt nicht gegeben. Vgl. Karl Wilhelm Fricke: Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder. Köln 1982, S. 117. 162 Die wichtigsten normativen Vorgaben dazu enthält: BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. 26 82.
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in den Posteinrichtungen arbeiteten und entsprechende Überwachungsanschlüsse in die Aufnahme- und Auswertungsstellen der Staatssicherheit schalteten. Ein zweiter Grund für die strikte Reglementierung lag in den technischen Möglichkeiten begründet. 163 Zwar versuchte das MfS, diese ständig zu verbessern und zu erweitern, aber technisch war es Ende der 1980er Jahre nur möglich, 4 000 Telefonanschlüsse in der DDR gleichzeitig zu überwachen. Auf Ost-Berlin entfielen davon 1 400 Leitungen. 164 Die BV Leipzig konnte ab 1988 360 »Kontrolleinheiten« 165 auswerten, aber aus personellen Gründen dies nur zu den beiden Messen mit Unterstützung von Mitarbeitern anderer Abteilungen realisieren. »Zwischen den Messen ist die Anlage auf Grund der vorhandenen Auswertkapazität nur mit durchschnittlich 150 Kontrolleinheiten belegt, obwohl alle Möglichkeiten einer effektiven Informationsgewinnung im durchgängigen 3-Schicht-System ausgeschöpft sind.«
Jeder Auswerter musste 15 A-Maßnahmen und eine B-Maßnahme betreuen, was kaum machbar war. Die Vorgabe bestand darin, dass ein Auswerter neben einer Raumüberwachung maximal acht Telefonabhörmaßnahmen betreuen sollte.166 Im Bezirk Magdeburg führte das MfS zwischen 1985 und Ende 1989 im Jahresdurchschnitt etwa 500 Telefonabhörmaßnahmen durch, insgesamt 2 458. 167 Prozentual betrachtet und auf das Gesamtnetz bezogen, konnte die Staatssicherheit also nur einen minimalen Bruchteil aller Leitungen gleichzeitig abhören. 168
163 MfS, Abt. 26/1, Stützpunktanalyse, 15.8.1984. BStU, MfS, Abt. 26 27, Bl. 3–45. 164 In der Literatur werden zumeist weitaus mehr Telefonanschlüsse angenommen, die gleichzeitig abgehört werden konnten. Vgl. z. B. das Standardwerk von Jens Gieseke, der für 1989 20 000 Anschlüsse allein in Ost-Berlin vermutet, die gleichzeitig abgehört werden konnten (Jens Gieseke: Die Stasi. 1945–1990. München 2011, S. 163). Wahrscheinlich basiert diese Annahme auf einer falschen Interpretation von Quellen, in denen z. B. von »20 000 Kabeladern« (was nicht 20 000 Anschlüssen entspricht) die Rede ist, aber dabei andere Parameter berücksichtigt werden müssen und das MfS selbst »ca. 1 200 A- und 150 B-Maßnahmen« pro Jahr als realisierbar angab (MfS, Abt. 26, Wolfgang Niehoff, Konzeptionelle Vorbereitung des Einsatzes eines Bürocomputers BC A 5130 zur Rationalisierung informationsverarbeitender Prozesse innerhalb des realisierenden Bereiches der Abteilung 26, 14.5.1987. BStU, MfS, Abt. 26 300, Bl. 6). 165 Die Stasi verstand darunter die »Gesamtheit der für die Realisierung einer Aufgabe benötigten und einander zugeordneten Anschalt- (Empfangs-), Übertragungs- und Speichertechnik«. MfS, Abt. 26, Entwurf eines Wörterbuches der Arbeit der Linie 26, 1987. BStU, MfS, Abt. 26 25, Bl. 84. 166 MfS, BV Leipzig, Leiter, an HA KuSch, Leiter, Antrag auf Planstellenerweiterung der Diensteinheit Abteilung 26 der BV Leipzig, 12.2.1988. BStU, MfS, HA KuSch 1459, Bl. 100. 167 Landgericht Magdeburg, Urteil vom 4.1.1993, abgedruckt in: Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation. Bd. 6, Teilbd.: MfS-Straftaten. Berlin 2006, S. 33. 168 Vgl. die Übersicht auf S. 28.
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Nicht nur die Überwachung war reglementiert, auch die Dauer des Abhörens sowie die Aufbewahrungszeit des Originalmaterials ist genau festgelegt worden. In der Regel sollten Abhörmaßnahmen nicht länger als 30 Tage dauern. Allerdings ist hier eine wichtige Ausnahme, die für den Kontext dieses Buches von zentraler Bedeutung ist, hervorzuheben: Eingeleitete OV gegen Oppositionelle und kirchliche Amtsträger, die aus staats- und rechtspolitischen Gründen nicht zu einer absehbaren juristischen Verurteilung führen würden, waren von solchen Vorgaben ausgenommen. Gegen Lutz Rathenow, Rainer Eppelmann, Gerd und Ulrike Poppe, Ralf Hirsch, Werner Fischer, Bärbel Bohley, Stephan Krawczyk, Freya Klier, Wolfgang Templin u. a. Personen, die in diesem Buch eine zentrale Rolle spielen, nahm das MfS über viele Jahre hinweg eine systematische Telefonkontrolle ohne formaljuristische Anordnung vor, die noch mit Raumabhörmaßnahmen, Briefkontrollen, IM-Einsätzen u. Ä. gekoppelt war. In einer 1985 erlassenen Dienstanweisung ist diese systematische Überwachung, die es auch zuvor gegeben hatte, im MfS normativ geregelt worden. 169 Bezogen auf die Aufgaben der HA III, Abt. 26 und Abt. M heißt es: »Nutzung aller spezifischen operativen Möglichkeiten zur Erarbeitung von Hinweisen auf Aktivitäten im Sinne politischer Untergrundtätigkeit, insbesondere auf Versuche der Inspirierung und Organisierung politischer Untergrundtätigkeit durch feindliche Stellen und Kräfte bzw. durch Nutzung von Rückverbindungen ehemaliger DDR-Bürger, auf geplante Zusammentreffen und öffentlichkeitswirksame Aktionen, vor allem unter Mitwirkung bzw. Einbeziehung von bevorrechteten Personen und Korrespondenten nichtsozialistischer Staaten und anderer politisch-operativ interessierender Staaten, von Massenmedien, Presseorganen und Verlagen dieser Staaten bzw. Westberlins.« 170
Diese Anordnung normierte nicht nur die systematische und umfassende Dauerüberwachung zum Beispiel der genannten Personen. Sie zeigt zugleich, warum deren Kontaktpartner im Westen, wie zum Beispiel Jürgen Fuchs oder Roland Jahn, ebenfalls unter Dauerkontrolle standen. Diese Dienstanweisung von 1985 reagierte nicht nur auf die wachsenden Aktivitäten der Opposition. Sie stellte zugleich in Rechnung, dass das MfS entgegen seiner eigenen Vorgaben einen OV-Typ unterhielt, der eigentlich nicht vorgesehen war. Denn die gegen die exemplarisch genannten Personen geführten OV erwiesen sich alle als nicht »abschlussfähig«. Ein OV ist gegen diesen oppositionellen Personenkreis grundsätzlich mit dem Ziel angelegt worden, den OV durch die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, durch Werbung zum IM oder durch »An-
169 Dienstanweisung 2/85 zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit, 20.2.1985, abgedruckt in: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente des MfS, S. 432–455. 170 Ebenda, S. 448–449.
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wendung von Maßnahmen der Zersetzung« abschließen zu können. 171 Das ist zwar mehrfach im Einzelfall auch bei den hier zur Rede stehenden Personen versucht worden (Zersetzungsmaßnahmen, Ermittlungsverfahren) und spielte, wie noch zu sehen sein wird, 1987/88 eine zentrale Rolle, aber letztlich blieben diese Versuche bei diesem Personenkreis überwiegend erfolglos. 172 In den meisten OV finden sich solche Pläne. Bei Werner Fischer, zum Beispiel, waren nicht nur systematische Abhörmaßnahmen (HA III, Abt. 26/B), eine völlige Reisesperre oder ständige Beobachtungen durch die HA VIII angeordnet worden. Er sollte »kriminalisiert« (§ 249 StGB »Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten«) werden bzw. es sollten zu seiner Verunsicherung in seine Wohnung eingebrochen oder Streitereien mit anderen Mietern provoziert werden. Auch die Beziehung zu Bärbel Bohley sollte beeinträchtigt werden. Perfide war das Zusammenspiel mit Ärzten der Charité. Letztlich sollte er in den Westen gedrängt werden. 173 Oft sind Zersetzungsmaßnahmen nur schwer rekonstruier- und nachweisbar. 174 Als 1986 eine Kontrollgruppe die Abteilung XX der Berliner BV überprüfte, wie diese »auf dem Gebiet der Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit« vorgehe, kam heraus, dass Abteilungsmitarbeiter Mordpläne gegen Rainer Eppelmann und seinen engen Freund Ralf Hirsch entwickelt hatten. Aus diesen Dokumenten wird ersichtlich, dass ein Teil der Zersetzungspläne absichtsvoll nicht schriftlich fixiert wurde, und zwar aus drei Gründen: Die harten Maßnahmen wollten die Vorgesetzten oft nicht bestätigen, sie sollten einfach durchgeführt werden. Der stellvertretende Chef der Abteilung XX, Manfred Bronder, sagte am 29. Oktober 1986 gegenüber den Kontrolleuren sinngemäß: »Wenn Zersetzungsmaßnahmen gelaufen sind, ist alles gut, aber wehe wenn was schief geht.« 175 Der zweite Grund bestand darin, wie der Leiter der Abteilung XX, Manfred Häbler, sagte, dass »bei Zersetzungsmaßnahmen […] oft spontan gehandelt werden« 176 müsse (was die Vorschriften eigentlich 171 Ebenda, S. 291. 172 Im Fall von Rüdiger Rosenthal glaubte das MfS, seinen Zersetzungsplan erfolgreich ausgeführt zu haben, da er Ende Januar 1987 einen Ausreiseantrag gestellt hatte und Anfang Juli 1987 nach West-Berlin ausgereist war. Dies sei so geplant gewesen, nachdem sich die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens aus politischen Gründen als unzweckmäßig erwiesen habe (MfS, BV Berlin, Abt. XX/5, Faktenanalyse zur Person Rosenthal, Rüdiger, 4.10.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5703, Bl. 78). 173 MfS, HA XX/9, Konzeption zur weiteren Bearbeitung des Fischer, Werner, 3.2.1987. BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 1, Bl. 16–21. 174 Grundlegend zu Stasi-Zersetzungsplänen und -maßnahmen Sandra Pingel-Schliemann: Zersetzen. Strategie einer Diktatur. Berlin 2002; konkret am Beispiel Wolfgang Templins dokumentiert: Stasi-Akte »Verräter«. Bürgerrechtler Templin: Dokumente einer Verfolgung (Spiegel-Spezial 1/1993). Hamburg 1993. 175 Zu Problemen der Führungs- und Leitungstätigkeit in der Abt. XX der BV Berlin, o. D. BStU, MfS, ZAIG 13748, Bl. 69. 176 Ebenda.
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nicht zuließen). Der dritte Grund besaß einen aktuellen Anlass. Am 19. Oktober 1984 hatten drei Mitarbeiter der polnischen Geheimpolizei den landesweit bekannten Priester Jerzy Popiełuszko, nachdem bereits andere Anschläge gescheitert waren, entführt, gefoltert und schließlich ertränkt. An dessen Beerdigung nahmen mehrere Hunderttausend Menschen teil; sie wurde zu einer Massendemonstration gegen den polnischen Kommunismus. Der Fahrer Popiełuszkos konnte sich bei der Entführung das Autokennzeichen der Geheimpolizisten notieren und fliehen. Daher mussten die drei Täter gefasst werden, die auch verurteilt wurden. Jeder wusste, dass sie nur Handlanger mächtiger Befehlsgeber gewesen waren. Dies ist der Hintergrund dafür, warum mindestens in der Abteilung XX der BV Berlin besonders brisantes Material fehlt. Bronder erklärte am 29. Oktober 1986 gegenüber der Kontrollgruppe: »Im Zusammenhang mit dem Fall Popeluschko […] haben wir uns Gedanken gemacht, wir würden in einem solchen Fall allein da stehen, müssten dann alles verantworten – ich habe dann entschieden, alle Aufzeichnungen/Unterlagen zu vernichten, das Zeug musste weg.« 177
Anschließend notierte der Kontrolleur einige in Betracht gezogene Mordmethoden gegen Hirsch (erfrieren, vergiften, Autounfall). In den Zersetzungsplänen gegen Eppelmann finden sich ähnliche Überlegungen. 178 In den 1980er Jahren sind pro Jahr etwa 4 000 bis 5 000 OV vom MfS bearbeitet worden. 2 000 sind im Jahresdurchschnitt beendet und etwa ebenso viele neue eröffnet worden. 179 Die meisten OV sind wegen Verdachtsmomenten eröffnet worden, die den Straftatbestand § 213 StGB (»ungesetzlicher Grenzübertritt«) und §§ 97–100 StGB (»Spionage«, »Landesverräterische Nachrichtenübermittlung«, »Landesverräterische Agententätigkeit«) nachweisen sollten. 180 Die Bearbeitung eines OV dauerte durchschnittlich weniger als zwei Jahre. Die gegen Oppositionelle wie Bohley, Eppelmann, Rathenow, Fischer, Hirsch oder Poppe geführten OV hingegen erstreckten sich fast über die gesamten 1980er Jahre, im Fall von Gerd Poppe lag der Beginn sogar bereits in den 1970er Jahren. Daher waren die Telefonüberwachungsmaßnahmen überwiegend auch gar nicht mit staatsanwaltlichen Verfügungen abgedeckt worden, 181 was den OV-Typ als Ablage für künftige Maßnahmen unterstreicht. 177 Ebenda, Bl. 70. 178 Rainer Eppelmann: Gottes doppelte Spur. Vom Staatsfeind zum Parlamentarier. Holzgerlingen 2007, S. 121. 179 Vgl. mit den Quellen Kowalczuk: Stasi konkret, S. 211. 180 Das ergibt sich z. B. aus statistischen Übersichten, die das MfS in den 1980er Jahren erstellte, z. B.: BStU, MfS, Abt. XII 8411. 181 Es gab einige zeitlich befristete Ausnahmen, u. a. bei den in diesem Buch zum Teil dokumentierten Vorgängen 1987/88, siehe dazu S. 119.
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Hervorgehoben werden muss, dass diese Telefondauerüberwachung bei Oppositionellen und kirchlichen Amtsträgern zu einer Ausnahmeerscheinung in der generellen MfS-Arbeit zählte. In früheren Jahren waren von solchen »Ausnahmen« zum Beispiel Robert Havemann, Wolfgang Harich oder Wolf Biermann betroffen. 182 Das betraf in Ost-Berlin in den 1980er Jahren nur wenige Personen, auch in West-Berlin hörte das MfS dauerhaft nur wenige Personen (im Gegensatz zu Institutionen) ab. 183 Darüber geben die OV gegen Oppositionelle Aufschluss. 184 Aber auch statistische Angaben des MfS belegen das. Die Abt. 26 führte 1985 im Auftrag der Zentrale sowie der BV Berlin insgesamt 1 530 Telefonabhörmaßnahmen 185 aus. Sie hörte dabei 576 452 Gespräche ab und schrieb zu 72 452 Gesprächen den Inhalt oder das Wortprotokoll in Dokumenten nieder. 186 Die im gesamten Jahr mitgehörten (nicht dokumentierten!) Gespräche entsprachen statistisch so etwa dem Telefonaufkommen in Ost-Berlin an einem halben Tag. 187 Von den Abhörmaßnahmen der Abt. 26 für die Zentrale und die BV Berlin bezogen sich maximal 10 Prozent auf die Opposition. 188 Auch ein Blick in die Bezirke zeigt, dass der Anteil der überwachten Telefongespräche nur einen sehr 182 Auf die Angabe von Archivsignaturen wird hier verzichtet, da es sich bei den erwähnten Personen jeweils um Dutzende (!) Bände handelt. Einen exemplarischen Überblick über das Ausmaß der Telefonüberwachung zu Havemann bietet Werner Theuer, Arno Polzin, Bernd Florath: Aktenlandschaft Havemann. Berlin 2008, S. 231–234. 183 Im Kontext dieser Edition betraf dies in West-Berlin v. a. Jürgen Fuchs (BStU, MfS, AOP 15665/89 und: HA XX 3059) und Roland Jahn (BStU, MfS, AOP 15666/89; AOP 16922/91; U 34/89). 184 Für das MfS waren im Frühjahr 1989 »auf dem Gebiet der politischen Untergrundtätigkeit« etwas mehr als 110 OV die maßgeblichen, mit denen die Opposition beobachtet, bearbeitet und verfolgt wurde. Davon waren 30 OV auf in Ost-Berlin und 3 OV auf in West-Berlin lebende Personen konzentriert, die von der HA XX bzw. der BV Berlin bearbeitet worden sind. Bis auf wenige Ausnahmen wie der ZOV »Wespen«, der sich gegen die »Frauen für den Frieden« richtete, waren die meisten auf Einzelpersonen oder Ehepaare konzentriert (o. Verf., Übersicht zu ausgewählten OV auf dem Gebiet der politischen Untergrundtätigkeit, Stand: 29.5.1989. BStU, MfS, HA XX/AKG 177, Bl. 51–61). 185 Im Regelfall dauerte eine »Maßnahme A« 30 Tage und konnte bis auf 90 Tage verlängert werden. 186 MfS, Abt. 26, Leiter, Politisch-operative Lageeinschätzung für die Jahresplanung 1986, 25.11.1985. BStU, MfS, Abt. 26 466, Bl. 27 (Anlage). 187 Hier geht es nur um eine Größenordnung: Im Jahr 1985 sind in der gesamten DDR etwa 2 Mrd. Telefongespräche geführt worden (siehe S. 31). Da in Ost-Berlin etwa ein Viertel aller Anschlüsse verfügbar war (siehe S. 28–29), könnten hier im Jahr etwa 500 Mio. Gespräche geführt worden sein. Diese Jahresangabe ins Verhältnis gesetzt mit den im gesamten Jahr von der Stasi mitgehörten Gesprächen ergibt relational etwa einen halben Tag. 188 Als häufigste Bearbeitungsgründe wurden genannt: »ungesetzlicher Grenzübertritt« in 215 Fällen, Spionage 190, Diplomaten/Korrespondenten 108, IM-Überprüfungen 106 sowie »innere Sicherheit« 157. In der zuletzt genannten Kategorie dürfte auch die Opposition in Ost-Berlin enthalten sein, weshalb deren tatsächlicher Anteil noch deutlich unter 10 % gelegen haben dürfte (MfS, Abt. 26, Leiter, Politisch-operative Lageeinschätzung für die Jahresplanung 1986, 25.11.1985. BStU, MfS, Abt. 26 466, Bl. 28).
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geringen Anteil an allen Gesprächen resp. Telefonanschlüssen erzielte. 189 Im Bezirk Rostock zum Beispiel gab es 1989 im ersten Halbjahr 410 Telefonabhörmaßnahmen, was in etwa dem Vorjahreswert von 403 entsprach. 190 Eine statistische Auswertung der A-Maßnahme der BV Erfurt zeigt neben der geringen Überwachungsdichte zudem, dass es ein deutliches Stadt-Land-Gefälle gab. Während zum Beispiel die KD Erfurt 1982 19 und 1983 14 AMaßnahmen oder die KD Weimar 18 bzw. 19 einleitete, kam die KD Apolda auf 0 bzw. 2, die KD Heiligenstadt auf 1 bzw. 0 oder die KD Bad Langensalza auf 7 bzw. 0. 191 Insgesamt, so schätzte ein Stasi-Experte 1986 ein, wären bei den Überwachungsmöglichkeiten bis zum Jahr 2000 kaum qualitative oder quantitative Veränderungen zu erzielen. 192 Es kam ein dritter Grund hinzu, der einer umfassenden Telefonüberwachung entgegenstand. Denn neben juristischen (Schein-)Hindernissen und technischen Unzulänglichkeiten kamen Fragen und Probleme der Konspiration hinzu, die das MfS unentwegt beschäftigten. Obwohl es die »Aufschaltungen« in den Dienststellen der Deutschen Post umfassend durch IM und hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter absicherte, kursierten in der Gesellschaft nicht nur viele Gerüchte über Abhörmaßnahmen, sondern immer wieder kam es durch Postmitarbeiter zur beabsichtigten oder unbeabsichtigten Offenlegung von einzelnen Überwachungsmaßnahmen. Und da bei den Aufschaltungen IM eine zentrale Rolle spielten, 193 kam es durch Dekonspiration immer wieder zu »Pannen«. Auch wenn das kein Massenphänomen darstellte, so behinderte das die Stasi-Arbeit erheblich. 194 Schließlich hing damit ein letzter Punkt zusammen, der andeutet, dass die dauerhafte Gefahr einer Abhöraktion von der Gesellschaft als solche wahrge189 Einige Zahlen bietet Schmole: Abteilung 26, S. 57. 190 MfS, BV Rostock, Abt. 26, Arbeitsergebnisse I. Halbjahr 1989, 18.7.1989. BStU, MfS, BV Rostock, Abt. 26 73, Bl. 8. (Diese Angabe enthält nicht die Abhöraktionen in Hotels, die gesondert gelistet wurden.) 191 MfS, BV Erfurt, Abt. 26, Statistische Erfassung der durchgeführten A-, B- und BHMaßnahmen in den Jahren 1982/83, 6.4.1984. BStU, MfS, BV Erfurt, Abt. 26 9, Bl. 2. (Eine BHMaßnahme war eine Raumüberwachung in einem Hotel.) 192 MfS, Abt. 26, Horst Hesse, Abschlussarbeit an der JHS: Stand und Entwicklung der Fernmeldetechnik der Deutschen Post sowie die ersten sich hieraus ableitenden Anforderungen an die operativ-technischen Mittel und Methoden der Linie 26, 1.7.1986. BStU, MfS, Abt. 26 120. Vgl. auch Schmidt: Hauptabteilung III, S. 219–220. 193 BStU, MfS, Abt. 26 115, Bl. 100–102. In einer Vernehmung schilderte ein früherer MfSAngehöriger sehr präzise, wie das »Anzapfen« von Leitungen mit der Hilfe von IM erfolgte: BStU, MfS, BV Halle, AU 728/83, Bd. I, Bl. 255–257. 194 Der Ein- und Ausbau von Abhörtechnik für die Raumüberwachung (»Maßnahme B«) ist von Dekonspiration weitaus häufiger betroffen worden. Immer wieder beobachteten Hausbewohner, dass fremde Personen Nachbarschaftswohnungen betraten und unterrichteten ihre Nachbarn dann auch davon, was, wenn diese daraufhin eine Eingabe schrieben oder eine Anzeige stellten, zu erheblichen Komplikationen für das MfS führte (z. B. ein Beispiel aus Dresden von Anfang 1989: BStU, MfS, HA IX 13396).
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nommen worden ist. Gerade bei der Bearbeitung der Opposition stellte das MfS fest, dass die meisten sich sehr genau bewusst darüber waren, dass ihre Gespräche abgehört werden konnten und sie daher auf fremde Telefone, öffentliche Telefone und andere Kommunikationswege auswichen. Der Chef der Abteilung 26 hielt daher Ende 1985 fest, dass die »operative Verwertbarkeit der beim Einsatz operativ-technischer Maßnahmen erarbeiteten Informationen« zunehmend begrenzt sei. 195 Die vorliegende Edition verdeutlicht, dass diese Einschätzung durchaus berechtigt war. Zudem zeigen die knappen Ausführungen zur MfS-Telefonüberwachungspraxis auch, dass das Abhören der betroffenen Oppositionellen von ganz besonderer Bedeutung war. Es beanspruchte im Rahmen der StasiTätigkeit gerade aufgrund der systematischen und langjährigen Praxis einen besonderen Stellenwert, weil diese »Abschöpfungspraxis« der Staatssicherheit einen spezifischen und unmittelbaren, wenn auch nicht umfassenden Informationsfluss sicherte. Für die historische Analyse aber entstand eine Quelle, die aufgrund einer besonderen Authentizität einen großen Wert besitzt. Zunächst sei aber, um die »operative Verwertbarkeit« abgehörter Telefongespräche einordnen zu können und für das bessere historische Verständnis, ein knapper Überblick über die Entwicklung der Opposition in Ost-Berlin von 1985 bis 1989 und deren Verfolgung durch SED und MfS eingefügt. Dabei konzentriert sich dieser Überblick auf jene Vorgänge und Entwicklungen, die in den edierten Dokumenten in diesem Band im Zentrum stehen. Dieser Überblick beginnt mit den evangelischen Kirchen, denen eine wichtige Rolle in diesen historischen Prozessen zugewachsen war.
3. Entwicklungen der Opposition in Ost-Berlin und die Verfolgung durch das MfS 1985 bis 1989 Einleitung – Entwicklung der Opposition
Kirche im Sozialismus Die Kirchen waren die einzigen Großinstitutionen, die eigenständig und unabhängig von der SED in der DDR agierten. Sie blieben Institutionen mit eigenständigen Rechtstraditionen – ganz unabhängig davon, wie sich einzelne Pfarrer, Gemeinden und Kirchenleitungen verhielten. Die acht evangelischen Landeskirchen wiesen unterschiedliche Grundstrukturen auf. Die Berliner 195 MfS, Abt. 26, Leiter, Politisch-operative Lageeinschätzung für die Jahresplanung 1986, 25.11.1985. BStU, MfS, Abt. 26 466, Bl. 13.
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Katholische Bischofskonferenz, in der die Bistümer, die ganz oder teilweise in der DDR lagen, vereinigt waren, strahlte in den 1980er Jahren eine größere Einheitlichkeit als die Evangelischen Kirchen aus. Die katholische Kirche enthielt sich aber meist direkten Stellungnahmen zu gesellschaftspolitischen Fragen. Freikirchen und andere Religionsgemeinschaften spielten nur eine untergeordnete Rolle. Die Katholische Kirche wies Ende der 1980er Jahre knapp eine Million Mitglieder auf. Zu den Freikirchen und anderen Religionsgemeinschaften bekannten sich etwa 245 000 Menschen. Die im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR zusammengefassten acht Landeskirchen verfügten 1986 nach eigenen Angaben über 5,1 Millionen Mitglieder in 7 385 Kirchengemeinden. 196 Bekennende Christen erlebten vielfältige Ausgrenzungserfahrungen. Dem System aktiv dienten nur wenige kirchliche Mitarbeiter und Pfarrer. Im »Neuen Deutschland« kamen immer wieder einige zu Wort. Pfarrer Cyrill Pech aus Berlin-Marzahn, CDU-Mitglied und langjähriger Stasi-IM »Posol« (sorbisch: »Der Bote«), bekundete am 5. Februar 1988 in einem Offenen Brief an Honecker, »dass die Mehrheit der Gläubigen mit Ihnen den [...] Weg weitergehen wollen. Wir wollen nicht durch Feinde der weltpolitischen und innenpolitischen Entspannung [...] gestört werden«. 197 Einige dieser »Feinde« waren an diesem 5. Februar des Landes verwiesen worden. 198 Pfarrer Karl Pietsch aus Göda bei Bautzen erklärte wortreich, warum er seit 1974 bei Kommunalwahlen kandidiere und 1989 erneut gewählt werden wolle: 199 Er möchte seinen Beitrag für »unser liebenswertes Land«, »unsere DDR« leisten. 200 Solche Bekenner gab es in fast allen Landeskirchen. Bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 sollen insgesamt 100 Pfarrer (aller Konfessionen und Religionsgemeinschaften) und über 1 000 Kirchenmitarbeiter und Gemeindekirchenräte kandidiert haben. 201 Auch in den 1980er Jahren waren Ausgrenzungserfahrungen für junge Christen an Schulen, Universitäten, in der Ausbildung typisch. Vor allem junge Männer sind in Gewissenskonflikte geraten. Zwar bestand seit 1964 die Möglichkeit, den Wehrdienst bei den waffenlosen Bausoldaten abzuleisten, aber nur weniger als ein Prozent eines Musterungsjahrganges entschied sich für 196 Vgl. Fast eine halbe Million evangelische Christen in Mecklenburg, in: Mecklenburgische Kirchenzeitung vom 31.12.1989. 197 Für ein gutes Miteinander. Brief eines Pfarrers an Erich Honecker vom 5.2.1988, in: ND vom 11.2.1988. 198 Siehe S. 76–94. 199 Siehe zu den »Wahlen« S. 105–109. 200 Als Abgeordneter engagiert für das Wohl der Gemeinde, in: ND vom 10.4.1989. (Es handelt sich um einen Vortrag von Pietsch.) 201 Christen in der Mitarbeit, in: ND vom 21.4.1989. Dieser Artikel stellte eine indirekte Antwort auf Aufrufe zum Wahlboykott der Opposition dar, aber auch auf Erklärungen von Kirchen, die die Wahlbeteiligung als freiwillig und nicht zwingend ansahen.
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den Bausoldatendienst. Insgesamt haben 12 000 bis 15 000 junge Männer als Bausoldaten gedient. Seit Beginn der 1980er Jahre stieg der Anteil der gemusterten Bausoldaten erheblich an. Neben religiösen Motiven schlug die offene Ablehnung des politischen Systems zu Buche. 202 Eine konsequente Alternative stellte die Totalverweigerung dar. Pro Geburtsjahrgang verweigerten 100 bis 150 Männer total. 203 In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre stieg die Anzahl auf rund 2 000 pro Jahrgang. Totalverweigerer – die absolute Mehrheit waren bis Mitte der 1980er Jahre Zeugen Jehovas – erhielten in der Regel zweijährige Haftstrafen. 204 Der drastische Anstieg der Totalverweigerer nach 1985 hing damit zusammen, dass seit diesem Jahr niemand mehr wegen Totalverweigerung, wenn überhaupt, länger als vier Wochen ins Gefängnis kam. Informationen für Bausoldaten und Totalverweigerer vermittelten ausschließlich die Kirchen. Obwohl der Bausoldatendienst gesetzlich geregelt war, galten Bausoldaten als »Staatsfeinde«. Das hatte zur Folge, dass berufliche Karrieren behindert wurden und bis Mitte der 1980er Jahre ein Studium an einer staatlichen Hochschule praktisch nicht möglich war. Ein nicht geringer Teil der Oppositionellen kam aus der Bausoldatenbewegung. Kirchliche Hochschulen und Ausbildungsstätten sind ebenso wenig staatlich anerkannt worden wie die Kirchlichen Akademien. Diese galten der SED lediglich als Ausbildungsorte und »Debattierklubs« innerkirchlichen Charakters. Im Gegensatz zu den Theologischen Sektionen an den Universitäten gab es drei unabhängige kirchliche Hochschulen. Das Sprachenkonvikt in OstBerlin, die Kirchlichen Hochschulen in Naumburg (Katechetisches Oberseminar) und Leipzig (Theologisches Seminar), aber auch andere kirchliche Ausbildungsstätten (z. B. Paulinum in Ost-Berlin) unterstanden keiner direkten staatlichen Kontrolle und Verfügungsgewalt. Das machte sie zu Inseln freiheitlichen Denkens, Lernens, Arbeitens, Sprechens. Einige der im Herbst 1989 hervorgetretenen Bürgerrechtler kamen von diesen Einrichtungen. Die Theologischen Sektionen – an denen Ende der 1980er Jahre mit etwas mehr als 500 Männern und Frauen ebenso viele studierten wie an den kircheneigenen Hochschulen – bildeten zwar innerhalb der Universitäten Orte eines anderen Denkens, aber sie blieben gesamtgesellschaftlich trotz einer relativ kritischen Studentenschaft und einiger kritikfähiger Dozenten eher unauffällig. Der ungewöhnlich hohe Anteil von Theologen und Kirchenmitarbeitern unter den Protagonisten der politischen Ereignisse von 1989/90 hing nicht 202 Vgl. Bernd Eisenfeld, Peter Schicketanz: Bausoldaten in der DDR. Die »Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte« in der NVA. Berlin 2011. 203 Z. B. MfS, HA IX/6, Bericht über durchgeführte Überprüfungen im Zusammenhang mit der Einberufung von Bürgern der DDR, die jeglichen Wehrdienst verweigern, 3.10.1985. BStU, MfS, HA XX/4 1533, Bl. 25–27. 204 Vgl. Hans-Hermann Dirksen: »Keine Gnade den Feinden unserer Republik«. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945–1990, 2., erw. Aufl., Berlin 2003.
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nur mit der Autonomie dieser Ausbildungsstätten, die ein bürgerschaftliches Engagement beförderten, und dem moralischen Ansehen der Kirchen zusammen. Nicht wenige junge Männer und Frauen absolvierten wegen der innenpolitischen Zustände und/oder wegen erlittener Ausgrenzungserfahrungen theologische und kirchliche Ausbildungen. Die Kirchen boten zudem einen begrenzten Arbeitsmarkt für jene, die mit dem Staat in Konflikt gerieten. Sie konnten hier ein Auskommen finden und waren so vor juristischer Sanktionierung wegen eines fehlenden Arbeitsrechtsverhältnisses sicher. Die Kirchen verfügten über eigene Verlage, theologische Fachzeitschriften und Kirchenzeitungen, die in den über 100 konfessionellen Buchhandlungen angeboten wurden. Auch wenn diese Publikationen staatlichen Zensurmaßnahmen unterlagen, so herrschte in ihnen ein anderer Ton, der gehört und diskutiert wurde. Vorsichtig konnten hier Themen aufgegriffen werden, die in der sonst gleichgeschalteten Presselandschaft nicht vorkamen. Ab Februar 1988 ging die SED-Zensur schärfer gegen die Kirchenzeitungen vor. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche hatte sich seit November 1987 nachhaltig verschlechtert. 205 Allein zwischen 28. Februar und 11. Dezember 1988 sind fast 50 Zensurmaßnahmen nachweisbar, die in 27 Fällen dazu führten, dass eine von sechs evangelischen Kirchenzeitungen oder eines von vier Amtsblättern nicht erscheinen durfte. 206 In den anderen Fällen kam es zu Verzögerungen in der Auslieferung, weil staatlich bemängelte Texte korrigiert werden mussten. Die Gründe für die Zensureingriffe waren sehr verschieden. Auf der einen Seite wurden Texte über Debatten auf Synoden, bei denen Synodale gesellschaftspolitische Probleme ansprachen, zensiert. Auf der anderen Seite sind einzelne Texte nicht geduldet worden, in denen die Autoren Umweltverschmutzung, Folgen des Uranbergbaus, Ausländerfeindlichkeit, die Ausreiseproblematik, das Volksbildungssystem, Alltagsprobleme, Gorbatschows Glasnostpolitik oder Neofaschismus in der DDR thematisierten. Und es fielen alle Beiträge dem Zensurstift zum Opfer, in denen die Arbeit der staatlichen Zensoren kritisiert wurde. Dagegen ist im Oktober 1988 in Ost-Berlin öffentlich protestiert worden (Dok. 98) 207. In scharfer Form ermahnte der Staat vor allem Konsistorialpräsident Stolpe, in seinem Amtsbereich alles zu tun, um öffentliche Proteste zu verhindern. 208
205 Siehe dazu S. 80–95, 154–156. 206 Zur Praxis zuvor siehe u. a.: Siegfried Bräuer, Clemens Vollnhals (Hg.): »In der DDR gibt es keine Zensur.« Die Evangelische Verlagsanstalt und die Praxis der Druckgenehmigung 1954–1989. Leipzig 1995. 207 Nachfolgend werden immer wieder Hinweise auf die abgedruckten Dokumente gegeben. Diese bieten nur eine exemplarische Orientierung für die Edition. 208 Z. B. Staatssekretär für Kirchenfragen, Information, 19.10.1988. BStU, MfS, HA XX/4 31, Bl. 3. In den Überlieferungen der SED gibt es dazu zahlreiche Aktenbände, z. B. BArch DY 30/9049.
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Auf der einen Seite gab es Pfarrer, Diakone, Theologiestudenten und andere kirchliche Mitarbeiter, die gegen staatliche Maßnahmen protestierten, die ihre Kirche als Teil der Gesellschaft verstanden und gesellschaftliche Probleme als Kirchenprobleme begriffen. Sie waren nicht selten Teil der politischen Opposition. Auf der anderen Seite agierten Kirchenmitarbeiter vorsichtig, abwägend, vor allem darauf bedacht, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche nicht zu belasten. Die Kirche erwies sich als Institution mit ganz unterschiedlichen Auffassungen und Handlungsmustern. Nach dem Mauerbau bildete sich eine neue große Gruppe unangepasster Jugendlicher 209 heraus, die sich an westlichen Jugendkulturen orientierte und vom SED-Staat abgelehnt und verfolgt wurde. Einzelne Pfarrer und Diakone begannen mit »Gottesdienst einmal anders« oder »Jazz-Gottesdienst«, die Kirchenräume für diese Jugendlichen zu öffnen. Vorreiter dieser »Offenen Arbeit« waren die Pfarrer Claus-Jürgen Wizisla in Leipzig, Theo Lehmann in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und Walter Schilling in Rudolstadt. Schilling formulierte: »Von Jesus reden, heißt von Politik zu reden.« 210 Seit 1971 ist für diese nonkonforme Jugendarbeit die Bezeichnung »Offene Arbeit« verwendet worden. Sie war charakterisiert zum einen vom Verzicht auf Missionstätigkeit, zum anderen von basisdemokratischen Entscheidungsprozessen, Kulturangeboten, die unangepassten und verbotenen Künstlern Raum boten, oder Beratungs- und Trainingsangeboten, wie sich junge Leute bei Festnahmen, in Haft oder bei Anwerbungsversuchen durch das MfS verhalten sollten. Ende der 1970er Jahre existierten in allen Regionen Gruppen der Offenen Arbeit. Nicht nur der Staat, auch Glieder der Kirchen schauten kritisch auf die Offene Arbeit. Die unkonventionelle Jugendarbeit und die noch unkonventionelleren Jugendlichen störten nicht wenige Pfarrer, Kirchenmitarbeiter und Gemeindekirchenräte. Das führte bis 1989 häufig zu Konflikten und Auseinandersetzungen (Dok. 23). Die Offene Arbeit erwies sich als ein erfolgreiches Sozialisierungs-, Politisierungs- und auch Re-Christianisierungskonzept, das Zehntausende Jugendliche erreichte, einband und in vielen Fällen zu politischen Akteuren werden ließ. Auch die Friedensarbeit der Kirchen gehört in diesen Kontext. Seit 1980 führten die evangelischen Kirchen in ganz Deutschland im November Friedensdekaden durch. Diese riefen die Kirchen vor dem Hintergrund weltweiten Rüstungswahns, der »Bedrohung der Schöpfung« und der grenzüberschreitenden 209 Vgl. Elke Stadelmann-Wenz: Widerständiges Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR. Vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-Ära. Paderborn, München, Wien 2009; Marc-Dietrich Ohse: Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961–1974). Berlin 2003; Michael Rauhut: Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972. Politik und Alltag. Berlin 1993. Solche Gruppen gab es auch vor 1961, die noch rigider verfolgt worden sind. 210 Zit. in: Thomas Auerbach: Offene (Jugend-)Arbeit (OA) der Evangelischen Kirche, in: Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Berlin, München 2000, S. 269.
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Friedensbewegung ins Leben. In der DDR bildete sich damit eine unabhängige Friedensbewegung heraus. Als Symbol der Bewegung diente das biblische Motiv »Schwerter zu Pflugscharen«. Die erste Friedensdekade 1980 stand unter diesem Motto, vorgeschlagen hatte es der sächsische Landesjugendpfarrer Harald Bretschneider. Als Symbol wählte er eine Skulptur, die seit 1959 als sowjetisches Geschenk vor dem UNO-Hauptquartier in New York steht und in der DDR im offiziellen Jugendweihebuch seit Ende der 1970er Jahre abgebildet war. Es schien als Symbol unangreifbar und transportierte zugleich eine christliche Botschaft. Der SED-Staat war an seiner empfindlichsten Stelle getroffen worden. Denn mit dieser Bewegung, symbolisiert durch einen Aufnäher mit dem oben beschriebenem Motto, bestritten Kirchen und vor allem die Jugendlichen dem Staat seinen Alleinvertretungsanspruch auf »Friedenspolitik« und »Friedensgewährung«. Zwar waren die äußere Friedenspolitik und die Abrüstungsforderungen Politikfelder, auf denen SED-Führung und Kirchenleitungen wenige Kontroversen austrugen, aber dies war keine gleichberechtigte Partnerschaft. Obwohl das kirchliche Symbol offiziell nie verboten wurde, gerieten ab Anfang 1982 viele junge Menschen wegen des Tragens dieses Aufnähers ins Visier von SED, Polizei und MfS. An den Schulen kam es zu Tausenden Auseinandersetzungen. Aus Protest haben viele an ihren Jacken einen weißen Kreis getragen oder ein Loch in der Größe des Aufnähers geschnitten. Die SED beharrte auf ihrem Monopol in der Friedenspolitik und duldete öffentlich nur eigene Symbole. Inhaltlich lehnte sie die mit dem kirchlichen Symbol verbundene pazifistische Grundhaltung ab: ihr Frieden musste bewaffnet bleiben und Proteste gegen sowjetische Atomwaffen, die dieses Symbol implizierte, kamen einem Sakrileg gleich. Die Bewegung wandte sich auch gegen die Militarisierung der DDR-Gesellschaft und trat für einen »Sozialen Friedensdienst« als Ersatz für den Wehrdienst ein. Alles Punkte, die die SED als staatsfeindlich qualifizierte. Obwohl die Kirchen prinzipiell hinter den Trägern standen und sich nach Disziplinierungsmaßnahmen solidarisch zeigten, trat auch hier wieder eine ambivalente Haltung hervor. Die Bischöfe Forck oder Rathke trugen demonstrativ selbst einen solchen Aufnäher. Forck verlangte von der SED, sie solle sich im »Neuen Deutschland« für die Disziplinierungen und Verfolgungen entschuldigen. Verteidigungsminister Hoffmann erklärte anlässlich der Verabschiedung eines neuen Verteidigungsgesetzes im März 1982 vor der Volkskammer: »Noch braucht der Sozialismus, braucht der Frieden unsere Pflugschare und unsere Schwerter!« 211 Viele Kirchenleute knickten nun ein. Manfred Stolpe erklärte am 18. April 1982 im Namen der BerlinBrandenburgischen Kirchenleitung, es handele sich um ein rechtliches Pro211 Zit. in: Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. 2. Aufl., Berlin 1998, S. 401.
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blem. Staat und Kirche schienen von den gleichen Problemen geplagt, glaubt man Stolpe: »Die Rechtsordnung muss sich im Konflikt bewähren! Das Problem ist uns auch innerkirchlich leidig bekannt!« Es existiere weder ein Verbot des Aufnähers noch war die Herstellung gesetzwidrig, so Stolpe. Er verwies darauf, dass das Tragen der Aufnäher in den Schulen durch den Direktor verboten werden könne: »Das ist auf der Grundlage des Weisungsrechtes der Direktoren rechtlich möglich. Das entspricht alter Tradition des sog. Hausrechts.« Diese juristische Argumentation kam einer politischen Komplizenschaft gleich. Stolpe ging noch einen Schritt weiter und beschwor, eine weitere Gefahr käme aus dem Westen. Denn westliche Medien missdeuteten das Symbol als »Abzeichen einer DDR-Oppositionspartei«. 212 Damit war die Bewegung als kirchliche Friedensbewegung praktisch kaltgestellt. Die Bundessynode erklärte im September 1982 zum Aufnäher noch: »Wir verzichten aber darauf um des Friedens willen.« 213 Das klingt nicht nur zynisch. Eine Reihe leitender Kirchenmänner hatte sich bereits distanziert, neben Bischof Forck hielten vor allem Gemeindepfarrer wie Christoph Stier (1984 Nachfolger im Bischofsamt von Heinrich Rathke), Eppelmann, Schilling, Meckel u. a. am Abzeichen und an der Bewegung fest. Am 24. September 1983 initiierte Friedrich Schorlemmer auf dem Wittenberger Kirchentag eine spektakuläre Aktion, die ein bundesdeutsches Kamerateam filmte. Kunstschmied Stefan Nau formte unter den Blicken von 2 000 Menschen im Lutherhof in einer 90-minütigen Arbeit aus einem Schwert eine Pflugschar. Er geriet anschließend unter erheblichen staatlichen Druck und reiste später aus. 214 Im Sommer 1982 war deutlich geworden, dass oppositionelles Arbeiten unter den Dächern der Kirchen immer auch Kritik aus den Kirchen nach sich zog. Dieses Spannungsverhältnis blieb bis zum Herbst 1989 bestehen. 215 Zwar beförderten die Kirchen die Initiativen für den Sozialen Friedensdienst, aber die Kirchenleitungen scheuten den Vorwurf, oppositionelle Aktivitäten zu unterstützen. Die Synode der Evangelischen Kirchenprovinz formulierte im Juni 1985 in Erfurt stellvertretend, sie wolle weiterhin »kritische Solidarität« zur SED-Friedenspolitik üben, aber sich keinesfalls in »destruktive Opposition« drängen lassen. 216 Die Kirchen standen vor dem Problem, nicht als politisch gelten zu wollen, zugleich aber in eine politische Rolle und Funktion
212 Manfred Stolpe: Zur Rechtslage um die Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen«, 18.4.1982. BStU, MfS, HA XX/AKG 827, Bl. 108–109. (Es handelt sich um eine Antwort während der Aussprache nach dem Bericht der Kirchenleitung auf der 8. Synode Berlin-Brandenburgs.) 213 Zit. in: Neubert: Geschichte der Opposition, S. 403. 214 Vgl. Rainer Eckert, Kornelia Lobmeier: Schwerter zu Pflugscharen. Geschichte eines Symbols. Bonn 2007. 215 Davon zeugen auch viele abgedruckte Dokumente in diesem Buch. 216 Chronik 14. bis 16. Juni 1985, in: KiS 11 (1985) 4, S. 182.
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geraten zu sein. Ihre bloße Existenz war in der SED-Diktatur ein politisches Faktum. Nicht anzulasten ist der Kirche, dass sie diese zugefallene politische Rolle nicht in Gänze annahm. Zu hinterfragen ist aber, ob sie die Erwartungen des Parteistaates und die Ansprüche der Opposition nicht gleichermaßen ihren Entscheidungen zugrunde legte und dabei oft im Zweifelsfall für die staatlichen Bedürfnisse eintrat. Weil sie das wiederum nicht durchgängig tat, waren beide Seiten – Staat wie Opposition – mit der Moderatorenrolle der Kirchen unzufrieden. In ihren eigenen Worten hieß dies: »Die Kirche ist für alle, aber nicht für alles da.« 217 Der Ostberliner Kirchentag führte dieses Paradoxon 1987 anschaulich vor. Seit Mitte der 1980er Jahre rissen die Spannungen zwischen Kirchenleitungen, Gemeinden und Basisgruppen nicht mehr ab. Rainer Eppelmanns Bluesmessen wurden ebenso behindert wie die Offene Arbeit. 218 Im Sommer 1986 kündigte Generalsuperintendent Krusche an, die seit 1982 jährlich durchgeführte Friedenswerkstatt würde 1987 nicht stattfinden. Er wolle den kirchlichen Charakter der Friedenswerkstätten prüfen und diese künftig wieder allein von Kirchenmitgliedern organisieren lassen. Die Kommunikation zwischen Kirchenleitungen und Gruppen war erheblich gestört, auch wenn hier wie in vielen anderen kirchlichen Feldern die Konfliktlage nie einheitlich ausfiel (Dok. 19). Gerade weil die evangelischen Kirchen demokratische Grundstrukturen aufwiesen, standen spannungsreiche Auseinandersetzungen stets neben unkomplizierter Zusammenarbeit. Die Berliner Kirchenleitung aber fürchtete, dass die Kirche zum Hort der Opposition werde. Krusche forderte eine »Denkpause«. 219 Nach dem angekündigten Verbot der Friedenswerkstatt sammelten sich Pfarrer, Diakone und vor allem Vertreter der Offenen Arbeit, aus Öko-, Friedens-, Frauen- und Dritte-Welt-Gruppen, aber auch der Kirche eher Fernstehende und bereiteten einen »Kirchentag von Unten« vor. Dieser sollte im 217 Der Ausspruch wird ursprünglich Bischof Werner Leich 1983 zugeschrieben (vgl. z. B. Vortrag von Christoph Kähler abrufbar unter: http://www.gesellschaft-zeitgeschichte.de/geschichte/ friedensgebete/kerzen-und-gebete/). Der Satz war allgemein bekannt, aber er lässt sich quellenmäßig nicht auf den Ursprung hin verifizieren. In zahlreichen Dokumenten wird diese Tendenz bestätigt. Vgl. z. B. Werner Leich: Antworten auf Anfragen zum Bericht der KKL, Potsdam, 16.–20.9.1983, in: epd-Dokumentation Nr. 43/83, S. 56–57; Günter Krusche: Antwort der Kirchenleitung an die Synode zu den Themen »Kirche und Gruppe« und »Frieden«, Potsdam, 6.–11.4.1984, in: ebenda Nr. 21/84, S. 12–13; Günter Krusche: Gemeinden in der DDR sind beunruhigt. Wie soll die Kirche sich zu den Gruppen stellen?, in: ebenda Nr. 52/88, S. 70–72; Vorlage der AG Menschenrechte für die 207. Sitzung des Vorstands der KKL am 24.2.1988. BStU, MfS, HA XX/4 1202, Bl. 2–5. 218 Vgl. Dirk Moldt: Zwischen Hass und Hoffnung. Die Blues-Messen 1979–1986. Berlin 2008. 219 Günter Krusche: Offener Brief an die Friedenskreise und Friedensgruppen in Berlin, 29.9.1986, in: KiS 12 (1986) 6, S. 238–239. Der Begriff taucht auch im dazugehörigen Beschluss der EkiBB vom 11.7.1986 auf (ebenda).
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Rahmen des Ostberliner Kirchentages im Juni 1987 abgehalten werden. Ausgerechnet im Jahr 1987 – dem Jubeljahr zum 750. Gründungstag der Stadt. 220 Das war für viele Kritiker ein Beleg für die vermutete Komplizenschaft eines Teils der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung mit der SED-Führung. Nach 1990 ließen die Verhandlungsunterlagen von Kirchen, SED, Staat und MfS rekonstruieren, dass die Kirchenleitung in ihren Zugeständnissen sehr weit ging, aber auch trotz anderslautender Bekundungen gegen staatliche Auflagen verstieß. 221 Der Kirchentag sollte störungsfrei verlaufen. Die Vorbereitungen erfolgten zunächst planmäßig. Lediglich die Aktivisten der »Kirche von Unten« gaben nicht nach (Dok. 23). Ihren Ausschluss vom Kirchentag nahmen sie nicht hin. Sie drohten, eine oder mehrere Kirchen zu besetzen. Schließlich gab die Kirchenleitung einen Tag vor Eröffnung des Kirchentages – in Absprache mit dem Staat – nach und stellte Gemeinderäume zur Verfügung. An drei Tagen kamen etwa 6 000 Menschen zum Kirchentag von Unten. Nach dem Kirchentag bildeten sich Strukturen der »Kirche von Unten« heraus. Die KvU griff den SED-Staat an, kritisierte aber auch die Kirchenleitungen scharf. 222 Die seit 1969 im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR zusammengeschlossenen acht Landeskirchen der DDR beschritten nicht nur aufgrund verschiedener Traditionen unterschiedliche Wege, auch in sich blieben sie pluralistisch ausgerichtet. Gerade weil einige evangelische Kirchenstrukturen basisdemokratische Elemente enthielten, waren Konflikte zwischen den Hierarchieebenen vorprogrammiert. Auch das führte zu dem Umstand, dass weder die Landeskirchen noch der Bund in den 1970er und 1980er Jahren zu einer klaren Ortsbestimmung in der DDR-Gesellschaft gelangten. Das erklärt, warum die Formel »Kirche im Sozialismus« viele Interpretationen zuließ. Die berühmteste Formulierung stammte von der Bundessynode 1971: »Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern Kirche im Sozialismus sein.« »Kirche im Sozialismus« konnte heißen, zur staatsloyalen, zur Kirche für den Sozialismus werden zu wollen und so Staat, Gesellschaft und Ordnung anzuerkennen, wie sie waren. Der Gegenpol behauptete, die Formel bezeichnete lediglich die gegenwärtige Realität, nämlich als Kirche in der Gegenwart, im Sozialismus, auf sozialistischem Territorium präsent sein und sich behaupten zu müssen. Die Verfechter dieser Formel unterließen es zu erklären, was sie unter »Sozialismus« verstanden: das existierende System oder einen anzustre-
220 Vgl. Krijn Thijs: Drei Geschichten, eine Stadt. Die Berliner Stadtjubiläen von 1937 und 1987. Köln, Weimar, Wien 2008. 221 Exemplarisch sind z. B. Dokumente über dazu geführte Gespräche zwischen dem Staat und der Kirchenleitung überliefert in: BStU, MfS, HA XX/4 3302. 222 Vgl. Wunder gibt es immer wieder. Fragmente zur Geschichte der Offenen Arbeit Berlin und der Kirche von Unten. Berlin 1997.
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benden Idealzustand? Heino Falckes Formulierung mit Blick auf den »Prager Frühling« vom »verbesserlichen Sozialismus« half nicht weiter. 223 Bischof Albrecht Schönherrs Treffen mit Honecker am 6. März 1978 markierte ein symbolisches Stillhalteabkommen. Die evangelischen Kirchen sollten Konfrontationen mit dem Staat vermeiden und der SED-Staat diese dafür innerkirchlich gewähren lassen und deren Autonomie achten. Dieser Kompromiss bildete eine Ursache für innerkirchliche Spannungen, weil längst nicht alle bereit waren, diesen mitzutragen. Zeitgenössisch gab es viele Kritiker dieser Formel. Bischof Fränkel etwa meinte: »Sie ist bewusst Kirche im Sozialismus, aber nicht unter ihm und nicht in seinem Geiste.« 224 SED-treue Theologen wie Hanfried Müller (IM des MfS) forderten demgegenüber eine »Kirche für den Sozialismus«. Konnte eine Mehrheit Fränkels Interpretation teilen, so vertrat nur eine zahlenmäßig kleine, aber DDR-öffentlich präsente Gruppe die Position von Müller. Für die Mehrheit war Dietrich Bonhoeffers berühmte Formulierung von 1944 »Kirche für andere« 225 in den Debatten präsent. Viele Theologen beriefen sich darauf, aber meist nicht in der widerstandsethischen, sondern einer verkürzten antifaschistischen Dimension. Gerade in den 1980er Jahren, als die Kirchen immer wieder »Denkpausen« herbeiredeten, hätten sie ebenso gut mit Bonhoeffers »Kirche für andere« und mit seinem ebenso berühmten Diktum, die Kirche habe zum Schaden ihrer selbst und der Gesellschaft nach 1933 »nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft [...], als wäre sie ein Selbstzweck«, 226 argumentieren können: Kirchen in der DDR kann es nicht nur um ihre Selbstbehauptung, sondern auch um die Selbstbehauptung der gesamten Gesellschaft gegenüber dem Staat, die Verteidigung zivilgesellschaftlicher und den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen gehen. Denn auch die Kirchen standen letztlich als Bittsteller und nicht auf rechtlich einklagbarem Grund vor dem Staat, was die theoretische Bedrohung der Kirchenexistenz stets einschloss. Zu oft hatten sich die Kirchen darauf eingelassen, Recht mit Gerechtigkeit zu verwechseln. 227 223 Heino Falcke: Christus befreit – darum Kirche für andere. Hauptvortrag bei der Synode des Kirchenbundes in Dresden 1972, in: ders.: Mit Gott Schritt halten. Reden und Aufsätze eines Theologen in der DDR aus zwanzig Jahren. Berlin 1986, S. 24. 224 Zit. in: Richard Schröder: Der Versuch einer eigenständigen Standortbestimmung der Evangelischen Kirchen in der DDR am Beispiel der »Kirche im Sozialismus«, in: Materialien der EnqueteKommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. VI/2, S. 1196. 225 Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge. 16. Aufl., Gütersloh 1997, S. 206. 226 Ders.: Entwurf für eine Arbeit (1944), in: ders.: Gedanken zum Taufgang von D. W. R. [Bethge], Mai 1944, in: ebenda, S. 156. 227 1933 schrieb Bonhoeffer: »Der Staat, der die christliche Verkündigung gefährdet, verneint sich selbst. Das bedeutet eine dreifache Möglichkeit kirchlichen Handelns dem Staat gegenüber: erstens [...] die an den Staat gerichtete Frage nach dem legitim staatlichen Charakter seines Handelns, d. h. die Verantwortlichmachung des Staates. Zweitens der Dienst an den Opfern des Staatshandelns.
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In den späten 1980er Jahren ist die Formel »Kirche im Sozialismus« immer seltener verwendet worden. Pfarrer Schorlemmer sprach im September 1987 von »den Trümmern des Konzepts der ›Kirche im Sozialismus‹«. Die Wahrheiten müssten auf den Tisch und nicht »taktischem Kalkül« geopfert werden, sonst seien die Kirchen »nicht mehr bei den Menschen«. 228 Ein Jahr später zeigten sich mehrere Kirchenleitungsmitglieder überzeugt, vieles gleiche einem »Pulverfass« (Martin-Michael Passauer) und es käme »in nächster Zeit zu einem riesigen Knall« (Johannes Hempel). Manfred Stolpe konstatierte, Absprachen und Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirchen funktionieren nicht mehr. Christoph Demke mahnte, die Kirchen müssten gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernehmen, obwohl er sich selbst lieber von der Opposition trennen und Kirche Kirche sein lassen würde. Ein auf einem IM-Bericht basierendes MfS-Dokument vermerkt zu diesen Debatten: »Streng vertraulich wurde bekannt, dass Propst Furian/Berlin [...] in einem internen Kreis während einer Beratungspause [...] äußerte, dass er nicht verstehe, warum man hier in der Konferenz nicht deutlich sagen könne, dass diese Gesellschaftsordnung Sozialismus abzulösen ist. Der eigentliche kirchliche Auftrag bestehe darin, den Sozialismus abzuschaffen.« 229
Richard Schröder, Dozent am Sprachenkonvikt, publizierte 1988 eine Absage an die Formel »Kirche im Sozialismus«. Das Konzept sei vieldeutig und lege nahe, die Kirchen würden den SED-Sozialismus in Theorie und Praxis teilen. »Weniger irreführend wäre die Bezeichnung ›Kirche in der DDR‹. Sie würde als den Ort der Kirche ein Land [...], einen Staat und seine Bürger benennen, die aufgrund ihrer besonderen Geschichte faktisch aneinander verwiesen sind, obwohl sie in dieser Geschichte in sehr verschiedenen Verhältnissen stehen.« 230
Rudi Mittig, stellvertretender Stasi-Minister, bezeichnete das Anfang 1989 als Aufforderung »an die Kirche, sich als Gegner des Sozialismus eindeutig zu bekennen und an die Spitze einer Opposition zu stellen«. 231 In einem zweiten Beitrag ging Schröder noch weiter. Er forderte den Staat zum Rückzug aus all jenen Bereichen auf, die ihn nichts angingen. Die Gesellschaft müsse selbstor[...] Die dritte Möglichkeit besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen. [...] Die Kirche kann sich ihr Handeln an ihren Gliedern nicht vom Staate vorschreiben lassen.« Ders.: Die Kirche vor der Judenfrage (1933), in: ders.: Berlin 1932-1933. Werke, Bd. 12. Gütersloh 1997, S. 353, 355. 228 Friedrich Schorlemmer: Vor den Trümmern zerbrochener Träume (1987), in: ders.: Träume und Alpträume. Einmischungen 1982–1990. München 1993, S. 42. 229 MfS, HA XX, Information über eine Sondersitzung der KKL am 3.12.1988 in Berlin, 8.12.1988. BStU, MfS, HA XX/AKG 5619, Bl. 43. Propst Furian bestätigte gegenüber dem Autor am 9.7.2008, dass die Sache im Kern richtig wiedergeben wurde. 230 Richard Schröder: Was kann »Kirche im Sozialismus« sinnvoll heißen? Diskussionsbeitrag zur Standortbestimmung der Christen in der DDR, in: KiS 14 (1988) 4, S. 137. 231 MfS, Rudi Mittig, 11.1.1989. BStU, MfS, SED-KL 4994, Bl. 3.
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ganisiert, selbstverwaltet ihre Freiheit ausleben können. Unabdingbar dafür sei ein nachvollziehbares Rechtssystem. »Organisierte Bedürfnisbefriedigung macht dagegen (zumeist unzufriedene) Knechte. Wer mündig sein will, darf sich die Plage verlässlicher Lebensführung [...] nicht ersparen. Ein Staat von Hedonisten braucht eine Geheimpolizei.« 232 Am 5. März 1989 sprach sich der thüringische Landesbischof Werner Leich, seit 1986 Vorsitzender der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen, gegen die weitere Verwendung der Formel »Kirche im Sozialismus« aus. Es sei nie inhaltlich eindeutig erklärt worden, was »Sozialismus« und was »Kirche« bedeute. 233 Die Formel war kurz vor der Revolution ad acta gelegt worden.
Opposition im SED-Staat und ihre Verfolgung durch das MfS Die Geschichte der Opposition in den 1980er Jahren ist eng mit den evangelischen Kirchen verbunden. Dafür waren drei Gründe ausschlaggebend: Erstens arbeiteten in den Kirchen in allen Regionen zahlreiche Pfarrer, Diakone und andere Mitarbeiter, die sich der vom Staat ausgegrenzten, unterdrückten, verfolgten Menschen annahmen und es als ihre christliche Pflicht auffassten, sie zu unterstützen und ihnen ein »Dach« zu bieten. Zweitens kam hinzu, dass einige Pfarrer und Theologen selbst Teil der Opposition waren. Das macht es zuweilen schwer, zwischen Opposition und Kirche zu unterscheiden. Die Anfänge der neuen Oppositionsbewegung liegen drittens in der Herausbildung einer unabhängigen Friedensbewegung seit Ende der 1970er Jahre. Diese Bewegung war fast vollständig mit den evangelischen Kirchen verbunden. Daneben gab es nur relativ wenige kirchenferne Gruppen (»Frauen für den Frieden«/1982, »Jenaer Friedensgemeinschaft«/1983, »Wolfspelz«/Dresden 1981/82). Diese haben sich für inneren und äußeren Frieden, Umweltschutz und allgemeine Menschenrechte eingesetzt. Das Hauptthema bis 1984 war aber die Nachrüstung in Ost und West. Hier ergaben sich blockübergreifende Kontakte, die für die grenzüberschreitende Kommunikation auch nach 1984 ein sehr wichtiger Ausgangspunkt blieben. In den Kirchen arbeiteten Dutzende Friedenskreise, die zur unabhängigen Friedensbewegung zählten. Um die Arbeit zu koordinieren, Erfahrungen auszutauschen, Kommunikationsstrukturen zu etablieren, belastbare Informationswege aufzubauen, tagte seit 1982/83 auf Initiative des Magdeburger Pfarrers Hans-Jochen Tschiche das Netzwerk 232 Richard Schröder: Was kann DDR-Bürger verbinden? Gefährdungen und Möglichkeiten einer »DDR-Identität«, in: KiS 14 (1988) 5, S. 178. 233 Vgl. Chronik: 5.3.1989, in: KiS 15 (1989) 2, S. 79. Der Text ist in einer Zusammenfassung, die offenbar von der Kirche selbst stammt, überliefert: Zur Formel »Kirche im Sozialismus«. BStU, MfS, HA XX/4 1202, Bl. 69–71.
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»Konkret für den Frieden«. 1985 folgte eine institutionelle Erweiterung: um die Arbeit zwischen den Jahrestagungen zu koordinieren und die Seminare vorzubereiten, wählte die Versammlung einen »Fortsetzungsausschuss«, der aus Regionalvertretern bestand. »Konkret für den Frieden« wurde allmählich zum oppositionellen Netzwerk. Zugleich aber blieb es eine kirchliche Einrichtung. Es erfasste 1989 etwa 200 Gruppen. Die unabhängige Friedensbewegung erreichte 1983/84 ihren Zenit. Die meisten Gruppen blieben bestehen, orientierten sich aber um oder erweiterten ihre Themenfelder. Neben Friedensfragen sind Fragen des Umweltschutzes, die Gleichberechtigung der Geschlechter oder das globale Nord-Süd-Gefälle in den Mittelpunkt gestellt worden. 1985 rückten Debatten über Menschenrechtsfragen ins Zentrum (Dok. 2). In Ost-Berlin kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, nachdem ein geplantes Menschenrechtsseminar von der Kirchenleitung unterbunden worden war. 234 Dies nahmen Oppositionelle wie Wolfgang Templin, Peter Grimm, Gerd Poppe, Ralf Hirsch, Reinhard Weißhuhn, Ulrike Poppe, Werner Fischer oder Bärbel Bohley Ende 1985 zum Anlass, die »Initiative Frieden und Menschenrechte« zu gründen. Diese orientierte ihre Strukturen an der tschechischen »Charta 77«. In der DDR war die IFM in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine der bekanntesten Oppositionsgruppen und die wichtigste Gruppe, die sich von vornherein als kirchenunabhängig definierte. 235 Ihre Betonung menschenrechtlicher Fragen, ihre ausformulierte Einsicht, wer im Inneren keinen Frieden garantiere, könne dies auch nach Außen nicht, ihre starke west- und osteuropäische Ausrichtung und Vernetzung sowie ihre Öffentlichkeitsarbeit mittels eigener Schriften (z. B. periodisch »Grenzfall«) und Offener Briefe, westlicher Medien sowie demonstrativer Proteste machte sie landesweit und international bekannt. Als Gegenentwurf und zeitgleich dazu bildete sich die Ostberliner Gruppe »Gegenstimmen« um Thomas Klein, Vera Wollenberger (Lengsfeld), Silvia Müller und Reinhard Schult. 236 Die Protagonisten kamen aus verschiedenen Gruppen, in denen sie auch weiterarbeiteten. Die »Gegenstimmen« positionierte sich anders
234 Vorbereitungsgruppe für das Menschenrechtsseminar, Stellungnahme, 16.11.1985 (unterzeichnet von Peter Grimm, Ralf Hirsch, Wolfgang Templin und Benn Roolf). BStU, MfS, BV Berlin, KD Köpenick 9746, Bd. 1, Bl. 37–38. 235 Vgl. Wolfgang Templin, Reinhard Weißhuhn: Initiative Frieden und Menschenrechte. Die erste unabhängige DDR-Oppositionsgruppe, in: Helmut Müller-Enbergs, Marianne Schulz, Jan Wielgohs (Hg.): Von der Illegalität ins Parlament. Werdegang und Konzepte der neuen Bürgerbewegungen. Berlin 1992, S. 148–165; dies.: Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SEDHerrschaft. (Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDRWirklichkeit in den 80er Jahren, Bd. 3). Opladen 1999, S. 171–211. 236 Erklärung zur Vorbereitung eines Seminars »Frieden und Menschenrechte«. BStU, MfS, BV Berlin, KD Köpenick 9746, Bd. 2, Bl. 10–12.
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als die IFM marxistisch. 237 Sie organisierte ebenfalls öffentliche Aktionen und gab Untergrundschriften heraus, aber sie verzichtete bis 1988 auf die offensive Bekanntmachung ihrer Arbeit in westlichen Medien. Die Gründungsgeschichte beider Gruppen hing eng zusammen und war von gegenseitiger Abgrenzung geprägt. Konnte man den Aufruf »Tschernobyl wirkt überall« vom 5. Juni 1986 weitgehend gemeinsam tragen, da sich zur gleichen Zeit eine Reihe oppositioneller Aktivitäten gegen die Atomkraft entfaltete (Dok. 14), so zeigten sich die unterschiedlichen politischen Auffassungen 1986 anlässlich einer Eingabe an den SED-Parteitag. Am 2. April, initiiert von der IFM, richteten 21 Männer und Frauen aus Ost-Berlin und anderen Orten einen Offenen Brief an die SED-Spitze. 238 Das lange Papier lieferte eine Totalkritik des SED-Staates. Es endete mit dem Satz: »Wir erwarten deshalb, dass in diesem Land ein konstruktiver Dialog beginnt.« 239 Die »Gegenstimmen« monierten, die IFM sei dem Westen gegenüber zu unkritisch und lasse offen, wie künftig die Macht verteilt sein solle. Es kam zu zwei Diskussionsrunden zwischen beiden Gruppen (Dok. 7). Gerd Poppe verteidigte die Eingabe, betonte die Notwendigkeit von politischer Pluralisierung als Vorbedingung demokratischer Gesellschaften und kritisierte das »altlinke« Konzept seiner Kontrahenten. Die »Gegenstimmen« beharrten darauf, dass Pluralismuskonzepte ohne Berücksichtigung konkreter gesellschaftlicher Machtverteilung lediglich Ideologie darstellten. Es war keine Debatte zwischen »Linken« und »Rechten« oder zwischen Christen und Marxisten, sondern zwischen Oppositionellen, die auf Systemüberwindung setzten und solchen, die das SED-Machtmonopol abbauen oder abschaffen wollten, aber auf eine Reformierung des Sozialismus hofften. Dieser Grundkonflikt blieb bestehen (Dok. 25). Auch für die Umwelt- und Ökokreise bedeutete 1986 eine Zäsur. Im April trat erstmals der Friedens- und Umweltkreis der Zionsgemeinde in Ost-Berlin an die Öffentlichkeit und lud zu einer Veranstaltung anlässlich der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl ein. Die Initiatoren bereiteten die Gründung einer »Umweltbibliothek« vor, die im September 1986 für den Besucherverkehr öffnete. 240 Damit griffen sie den Gedanken auf, die Oppositionsgruppen zu
237 Vgl. Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007. 238 Darunter waren auch 4 IM des MfS, die, um die Konspiration zu wahren, sich dem nicht entzogen. 239 Offene Eingabe an die SED vom 2.4.1986, abgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 189– 200. Das Original, übergeben am 3.4.1986 um 11.50 Uhr, liegt im Bestand »Büro Krenz«: BArch DY 30, IV 2/2039/312. 240 Ein Bericht über die offizielle Gründungsveranstaltung liegt vor von IM »Maria Weise«: Information zur Eröffnungsveranstaltung der »Umwelt-Bibliothek« des Friedens- und Umweltkreises Zion am 2.9.1986. BStU, MfS, BV Berlin, AIM 170/91, Teil II, Bd. 2, Bl. 50–53. Es handelt sich um
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vernetzen und einen ständigen Informationsaustausch zu gewährleisten. Pfarrer Hans Simon stellte ab April 1986 Räume im Gemeindehaus in Berlin-Mitte zur Verfügung. Von den Initiatoren der »Umweltbibliothek« – Wolfgang Rüddenklau, Christian Halbrock und sechs weitere Personen, allesamt seit Längerem in der oppositionellen Szene aktiv – wählte die Gemeinde im November 1986 Halbrock in den Gemeindekirchenrat, 241 was die Kommunikation zwischen Gemeinde und »Umweltbibliothek« erleichterte. Die »Umweltbibliothek« war einer der zentralen Anlaufpunkte für Oppositionelle aus der gesamten DDR (Dok. 43). 242 Viele Veranstaltungen und Debatten fanden hier statt. Es war eine neue Form der Institutionalisierung. Die monatlich erscheinende Zeitschrift »Die Umwelt-Bibliothek«, später »Umweltblätter«, zählte neben dem »Grenzfall« zu den bekanntesten SamisdatProdukten der Opposition. Die »Umweltbibliothek« war aber nicht nur ein DDR-weites Zentrum für oppositionelle Aktivitäten und Informationsaustausch, sie inspirierte Gruppen in 17 Städten, ebenfalls eine Umweltbibliothek aufzubauen. Zu diesen neuen Formen gehörte auch, dass es im Januar 1988 zu einer Abspaltung kam und Aktivisten um Carlo Jordan das »Grün-ökologische Netzwerk Arche« gründeten, das ebenfalls eine Untergrundzeitschrift herausgab, zudem mehrere Regionalstellen und eine intensive internationale Vernetzung betrieb. 243 Zur Abspaltung war es aus politischen Gründen gekommen. Die »Arche«-Befürworter standen den radikal basisdemokratischen bis hin zu anarchistischen Konzepten der »Umweltbibliothek« eher skeptisch gegenüber. Diese wiederum warf den »Arche«-Leuten ein bürgerliches Politikverständnis vor. Beides war übertrieben, ebenso der »Unvereinbarkeitsbeschluss« der »Umweltbibliothek« vom Mai 1988, nach dem man nur in einer der beiden Gruppen Mitglied sein konnte (Dok. 93). Die unabhängige Friedensbewegung verfügte stets über Kontakte nach Ostund Westeuropa. Seit 1983 sind diese anlässlich der END-Konferenz in WestBerlin, als einige Teilnehmer nach Ost-Berlin zu Oppositionellen fuhren, intensiviert worden. Als Scharniere wirkten dabei Personen wie Jürgen Fuchs, Roland Jahn oder Peter Rösch, die als ehemalige DDR-Bürger das Vertrauen der Oppositionellen im Osten genossen und von West-Berlin aus Kontakte herstellten und vermittelten. Vor allem die Beziehungen in die Bundesrepublik Renate Helms, eine auf »ideologisch-politischer Grundlage« 1983 angeworbene Mitarbeiterin für Kirchenfragen beim Rat des Stadtbezirks Berlin-Mitte (BStU, MfS, BV Berlin, AIM 170/91, Teil I). 241 MfS, BV Berlin, KD Prenzlauer Berg, Eröffnungsbericht zum OV »Bibliothek«, 4.3.1987. BStU, MfS, HA XX 11057, Bl. 137. 242 Vgl. Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. DDR-Opposition 1986–1989. Berlin 1992; Christian Halbrock: Störfaktor Jugend: Die Anfänge der unabhängigen Umweltbewegung in der DDR, in: Carlo Jordan, Hans Michael Kloth (Hg.): Arche Nova. Opposition in der DDR. Das »Grün-ökologische Netzwerk Arche« 1988–90. Berlin 1995, S. 13–32. 243 Vgl. Jordan; Kloth (Hg.): Arche Nova.
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waren von großer Bedeutung. Grünen-Politiker um Petra Kelly, Gert Bastian, Lukas Beckmann, Ulrich Fischer, Elisabeth Weber, Heinz Suhr, Wilhelm Knabe, Marie-Luise Lindemann oder Birgit Voigt waren an Kontakten zur Opposition in der DDR interessiert und unterstützten diese tatkräftig (Dok. 2, 81–82, 87–88). Am 31. Oktober 1983 trafen sich Kelly, Bastian, Beckmann u. a. mit Honecker im Staatsratsgebäude. Zustande gekommen war die Begegnung, nachdem am 12. Mai 1983 mehrere Grüne um Kelly und Beckmann auf dem Alexanderplatz mit einem Spruchband »Schwerter zu Pflugscharen« demonstriert hatten. In der Partei »Die Grünen« entbrannte deswegen ein Streit über den Umgang mit der DDR. 244 Der Flügel um Kelly, der sich offensiv und eindeutig mit den unabhängigen Gruppen in der DDR solidarisierte und diese unterstützte, war in der Minderheit. Der Kelly-Flügel schrieb einen Brief an Honecker und bat um ein Gespräch, das dieser ihnen gewährte. Die SED benötigte die Grünen als Verbündete für ihre Friedenspolitik. Petra Kelly trug bei diesem Gespräch ein T-Shirt mit dem Symbol der DDR-Friedensbewegung »Schwerter zu Pflugscharen«. Anschließend fuhren die Grünen in die Samariterkirche zu Rainer Eppelmann, wo sie sich mit Oppositionellen trafen. Am nächsten Tag fanden noch drei Gespräche bei Gerd und Ulrike Poppe, Bärbel Bohley und Vera Wollenberger statt. Kelly durfte anschließend etwa ein Jahr lang nicht mehr in die DDR einreisen – viele ostdeutsche Oppositionelle durften dagegen weder ins west- noch ins osteuropäische Ausland fahren (Dok. 2, 15–16, 18). 245 Die Kontakte zur Opposition blieben bestehen. Einige Oppositionelle dachten mit Kelly u. a. darüber nach, eine »SektionDDR« der Grünen zu gründen. 246 Es kam allein mit dem Kreis um Petra Kelly bis 1989 zu etwa 25 bis 30 Treffen in Ost-Berlin, die fast immer in den Wohnungen von Bärbel Bohley, bei Antje und Martin Böttger, bei Gerd und Ulrike Poppe oder bei Mitgliedern des »Pankower Friedenskreises« stattfanden. Das MfS zählte zwischen 1. Januar 1986 und Ende Februar 1987 einschließlich des Kelly-Kreises »40 bedeutsame Zusammenkünfte von Führungskräften der Grünen« bzw. der Alternativen Liste mit »Exponenten politischer Unter-
244 Vgl. Regina Wick: Die Mauer muss weg – Die DDR soll bleiben. Die Deutschlandpolitik der Grünen von 1979 bis 1990. Stuttgart 2012. 245 MfS, HA IX/2, Vermerk, 4.10.1985. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 8, Bl. 123–126. (In dem Vermerk geht es um die Zurückweisung von Bohley, Hirsch u. a. an der DDR-ČSSR-Grenze und deren Protest im MdI dagegen. Hier werden prinzipielle Überlegungen des Staates deutlich und außerdem auch, dass Bohley anschließend sofort Jahn und Kelly telefonisch verständigte.) 246 MfS, HA IX/2, Rechtliche Stellungnahme, 8.12.1984. BStU, MfS, HA XX 12488, Bl. 32–35.
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grundtätigkeit« (Dok. 6). 247 Die umfangreichen Verbindungen von Rainer Eppelmann in den Westen sind gesondert zu erwähnen (Dok. 11). Auch wenn es vereinzelte Kontakte zu anderen Parteien gab (Dok. 26, 28– 29), die wichtigsten und kontinuierlichsten existierten zu den Grünen. Die bundesdeutschen Gesprächspartner mussten, selbst als Bundestagsabgeordnete, bereit sein, (kalkulierbare) Gefahren (Einreiseverbote) für sich in Kauf zu nehmen. Diese erhöhten sich, wenn sie Drucktechnik, Kameras, Bücher und Zeitschriften in den Osten schmuggelten. Voraussetzung war zudem, die oppositionellen Gruppen überhaupt als politische Gesprächspartner zu akzeptieren. Und das taten vor allem einige Grüne. Nur ganz wenige SPD- und CDUPolitiker suchten zudem sehr selten Oppositionelle in der DDR auf. Hier wurde offenbar kalkuliert, dass sie ihre Gesprächsbeziehungen zu Staat und Partei nicht gefährden wollten. 248 Anders als die Beziehungen zu westlichen Gesprächspartnern (Dok. 26, 28– 29) waren die Verbindungen zu Gleichgesinnten im Ostblock unumstritten. Zur »Charta 77« existierten ebenso Verbindungen 249 (Dok. 8, 85–86) wie nach Polen (Dok. 17, 21), Ungarn (Dok. 27) oder in verschiedene Regionen der Sowjetunion (Dok. 21, 31, 45). 250 Das hing mit ähnlichen Erfahrungen und Lebensbedingungen zusammen. Einzelne Oppositionelle leisteten politische Transferleistungen, indem sie Materialien und Dokumente aus diesen Ländern ins Deutsche übersetzten, weitergaben und im Samisdat publizierten. 251 Am 12. Oktober 1987 kam es in Ostberliner Privatwohnungen zu zwei denkwürdigen Treffen mit westlichen Politikern, einer Gruppe von CDU/CSU-
247 [MfS, HA XX], Aktuelle Tendenzen zum subversiven Vorgehen des Gegners und feindlichnegativer Kräfte im Innern gegen die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung [Februar/März 1987]. BStU, MfS, HA XX/AKG 7037, Bl. 32. 248 Vgl. Reinhard Weißhuhn: Der Einfluss der bundesdeutschen Parteien auf die Entwicklung widerständigen Verhaltens in der DDR der achtziger Jahre. Parteien in der Bundesrepublik aus der Sicht der Opposition in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. VII/2, S. 1853–1949; Wilhelm Knabe: Westparteien und DDR-Opposition. Der Einfluss der westdeutschen Parteien in den achtziger Jahren auf unabhängige politische Bestrebungen in der ehemaligen DDR, in: ebenda, S. 1110–1202. 249 Siehe z. B. auch MfS, HA XX, Information über Aktivitäten von Exponenten des politischen Untergrundes der DDR mit dem Ziel einer verstärkten Zusammenarbeit mit oppositionellen Kräften der »Charta 77« der ČSSR. BStU, MfS, HA XX/9 1500, Bl. 646–675 (mit einer Liste einer »DDRKontaktgruppe« zur »Charta 77« und den Kontaktpartnern der »Charta 77«, Bl. 652–654). Die Zusammenarbeit der Stasi mit der ČSSR-Geheimpolizei war sehr mannigfaltig und funktionierte im Gegensatz zu anderen Ostblockstaaten besser. Z. B: BStU, MfS, HA XX 16929. 250 Vgl. Gerd Poppe: Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, in: Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR, S. 349–377. 251 Vgl. exemplarisch: Stephan Bickhardt (Hg.): In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn. Leipzig 2012.
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Bundestagsabgeordneten 252 sowie einer hochrangigen Gruppe von USAPolitikern, 253 die Informationen für die Wiener KSZE-Nachfolgekonferenz in Europa sammelten (Dok. 26, 28–29, 47). 254 An den Gesprächen nahmen Mitglieder der IFM und der Samaritergemeinde von Rainer Eppelmann teil. Erstmals sprachen Oppositionelle mit westlichen Regierungsvertretern. Die Gruppe aus den USA hatte sich zuvor mit ranghohen SED-Funktionären wie Außenminister Oskar Fischer, Staatssekretär Klaus Gysi und Politbüromitglied Hermann Axen ausgetauscht. Den Kontakt zu den CDU/CSU-Politikern stellte Eppelmann her, als er am 12. September 1987 bei einem Privatbesuch in der Bundesrepublik u. a. am Kanzlerfest in Bonn teilnehmen konnte. 255 In den Gesprächen ging es um die Menschenrechtssituation, um Deutschlandund Europapolitik. Die DDR-Teilnehmer scheuten sich nicht, auch Kritik an gesellschaftlichen Zuständen im Westen zu äußern. Es sind unterschiedliche 252 Die Teilnehmer an diesem Treffen in der Wohnung Ralf Hirschs enthält: MfS, Information über ein Treffen von Vertretern der sog. unabhängigen Friedensbewegung in der DDR mit Bundestagsabgeordneten der CDU am 12.10.1987. BStU, MfS, HA XX 20565, Bl. 126–127. Ausführlich: MfS, Information über ein Treffen feindlich-negativer Kräfte mit Bundestagsabgeordneten und weiteren Funktionären der CDU/CSU in der Hauptstadt der DDR, 16.10.1987. BStU, MfS, HA XX/AKG 1511, Bl. 333–344. 253 Das Treffen fand am frühen Abend in der Wohnung von Reiner Dietrich (IMB »Cindy«) statt. Daran nahmen Oppositionelle wie Eppelmann, Böttger, G. Poppe, Bickhardt, Hirsch, aber auch IM wie Dietrich und Nagorski sowie 9 Mitglieder der USA-Delegation teil. Von diesem Gespräch gibt es einen unvollständigen verschriftlichten Mitschnitt. Es ist nicht ersichtlich, ob ein IM das Gespräch mitschnitt (was wegen der technischen Probleme unwahrscheinlich ist) oder es sich um eine BMaßnahme handelte: MfS, HA XX/4 an BV Berlin, Abt. XX/4, Mitteilung über ein Treffen am 12.10.1987 von Vertretern der sog. Unabhängigen Friedensbewegung in der DDR mit amerikanischen Kongressabgeordneten, 28.10.1987. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 11393, Bl. 33–41. Nagorski (IMB »Christian«) berichtete anschließend: ebenda, Bl. 49–51. Demnach waren von der USSeite 2 Kongressabgeordnete, 2 Senatoren, der Botschafter, ein Attaché und 3 Botschaftsmitarbeiter beteiligt. Einige Namen (überwiegend nicht korrekt geschrieben) finden sich in: MfS, HA XX/2, Ergänzung zum Sachstandsbericht vom 18.9.1987 OV »Zirkel«, 11.7.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 24, Bl. 425. Ausführlich über deren DDR-Besuch: MfS, Information zum ersten Tag des Aufenthaltes einer Abordnung der KSZE-Kommission des USA-Kongresses am 11.10.1987 in der DDR. BStU, MfS, HA XX/AKG 1511, Bl. 329–323 (u. a. über Treffen mit Friedrich Schorlemmer); MfS, Information über Zusammenkünfte von Mitgliedern einer offiziellen Delegation des USAKongresses während ihres Aufenthaltes in der DDR mit kirchlichen Amtsträgern, dem Schriftsteller Rolf Schneider sowie mit hinlänglich bekannten feindlich-negativen Personen aus der Hauptstadt der DDR, Berlin, 16.10.1987. Ebenda, Bl. 344–352. 254 Die Ergebnisse des Besuchs der USA-Politiker gingen ein in die Jahresberichte: Country Reports on Human Rights Practices for 1987. 101st Congress, Washington, February 1988, und Country Reports on Human Rights Practices for 1988. 101st Congress, Washington, February 1989. In einer internen Ausarbeitung für die Politbüromitglieder sind die gegen die DDR erhobenen Vorwürfe zurückgewiesen worden: ZK der SED, Egon Krenz an Erich Honecker, Hausmitteilung, 25.2.1988. BArch DY 30/2116, Bl. 9; Fakten zu den Entstellungen, die im »Menschenrechtsbericht 1987« des US-State Department über die DDR enthalten sind. Ebenda, Bl. 10–26. 255 Das MfS war darüber sehr genau informiert, wie ein HV A-Dokument belegt: MfS, HV A, Abt. VII, Leiter, Leiterinformation über Pläne und Aktivitäten gegnerischer Kreise zur Schaffung einer inneren Opposition in der DDR, 13.10.1987. BStU, MfS, BV Dresden, AKG 9530, Bl. 19–20.
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Demokratisierungsvorstellungen bezogen auf den Ostblock und die DDR thematisiert worden. Im Prinzip fand ein normales politisches Gespräch zwischen politischen Akteuren statt. Die DDR-Teilnehmer begingen mit diesen Treffen einen »Tabubruch«, der die inneren Grenzen der Opposition aufzeigte. Linke Oppositionelle des »Friedenskreises Friedrichsfelde«, der »Gegenstimmen«, Mitglieder der »Umweltbibliothek« und der KvU distanzierten sich in mehreren Erklärungen scharf von solchen Gesprächen mit westlichen Politikern, die nicht als »Linke« galten. 256 Mit CDU/CSU-Politikern dürfe man nicht reden, sie hätten den NATO-Nachrüstungsbeschlüssen zugestimmt, betrieben eine menschenverachtende Asylpolitik und unterstützen Diktaturen in Chile und Südafrika. Gerd Poppe antwortete im »Grenzfall« und verteidigte solche Gespräche: Keinem könne und dürfe vorgeschrieben werden, wer mit wem wo worüber rede. Wer Freiheit wolle, müsse sich auch freiheitlich verhalten. Abschreckung und Abgrenzung anzuprangern, könne nur ehrlich gemeint sein, wenn dies für alle gelte, auch für Gespräche mit Politikern, deren politische Überzeugungen man nicht teile. 257 Rainer Eppelmann gab der »taz« am 14. Oktober 1987 ein Interview, in dem er wie Poppe die Unterschiede zu den Gesprächspartnern betonte und seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass diesem Gespräch weitere folgen mögen. »Der Spiegel« schrieb am 19. Oktober 1987, die unabhängigen Gruppen in der DDR haben mit diesen beiden Besuchen »internationale Anerkennung« erlangt. Innerhalb von zwei Jahren hatte die Opposition bis zum Herbst 1987 ein neues Profil erhalten. Dazu hatte beigetragen, dass sich verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen politischen Ansätzen gebildet hatten. In der Abgrenzung voneinander lag die Notwendigkeit begründet, die eigenen Zielvorstellungen stärker zu benennen. Daneben kam der Aufbau von Kommunikations- und Informationsstrukturen hinzu. Hier sind die zahlreichen neuen Periodika im Samisdat zu nennen: »Grenzfall« (seit 1986), »Umweltblätter« (1986), »Friedrichsfelder Feuermelder« (1987) oder »radix-blätter« (1986). 258 Sie erwiesen sich auch für die Kommunikation in den Gruppen und zwischen den Gruppen als befördernd und öffnend. Als sich Roland Jahn im April 1985 kurze Zeit illegal in Jena und OstBerlin aufhielt, 259 kam es auch zu einem Treffen mit Oppositionellen. Jahn erinnert sich: 256 Umweltblätter vom 1.11.1987, S. 9–12. 257 Gerd Poppe: Dialog oder Abgrenzung? (1987), nachgedruckt in: Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit, S. 163–169. 258 Vgl. Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. 259 BStU, MfS, HA XX/9 1500, Bl. 794–799. Bei einem Transitflug via Berlin-Schönefeld konnte er unerkannt nach Ost-Berlin einreisen. Vgl. Gerald Praschl: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011, S. 98–100.
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»Einerseits war es ernüchternd. Ich begriff erstmals richtig, wie kaputt, klein, grau und dreckig diese DDR war, und meine restlichen Freunde in Jena redeten nur über das Thema Ausreise. Zum anderen aber traf ich in Ost-Berlin Martin Böttger, Gerd und Ulrike Poppe, Rainer Eppelmann, Ralf Hirsch, Rüdiger Rosenthal, Reinhard Schult und andere, alles Leute aus der DDR-Opposition, die weiterhin in der DDR bleiben und diese verändern wollten. Ganz konkret wurde mir auf diesem Treffen deutlich, wie wichtig die Unterstützung ihrer Arbeit von West-Berlin aus ist, und dass ich geduldig sein muss. Mit Ausnahme von Reinhard Schult, der mich am liebsten erst einmal in der DDR versteckt hätte, forderten mich alle anderen deutlich auf, ich solle zurück nach West-Berlin gehen und meine Arbeit, die Unterstützung der DDR-Opposition, von dort aus fortführen.« 260
Jahn avancierte neben Jürgen Fuchs zum wichtigsten Unterstützer der Opposition in der DDR. 261 Sie schmuggelten Drucktechnik und vieles andere ins Land, stellten seit 1985 den Reader »dialog« mit Artikeln aus der westlichen Presse für die DDR-Opposition zusammen und bauten eine Art Nachrichtenagentur auf, mit der sie bundesdeutsche Tageszeitungen, Wochenjournale, Rundfunk- und Fernsehanstalten belieferten. In der »taz« erschien regelmäßig die »Ostberlin-Seite« mit Berichten, die ostdeutsche Oppositionelle zum Teil selbst schrieben. ARD und ZDF strahlten immer wieder Beiträge aus der DDR aus, die Oppositionelle mit eingeschmuggelter Aufnahmetechnik gefilmt hatten. Schließlich hat Jahn entscheidend dazu beigetragen, dass seit dem 31. August 1987 regelmäßig alle vier Wochen auf dem Westberliner Sender »Radio 100« die Sendung »Radio Glasnost – außer Kontrolle« eine Stunde mit Originalbeiträgen aus der Opposition lief (Dok. 24, 29, 49–50, 62), worüber Mielke sofort die SED-Führung informierte. 262 Eine Pilotsendung war bereits am 22. Juli 1987 über den Sender gegangen, die letzte lief am 27. November 1989. Es gab von Oktober bis Dezember 1986 bereits einen Vorgänger: der »Schwarze Kanal«. Er wurde komplett in der DDR von einem Kreis um Reinhard Schult und Stephan Krawczyk produziert, anschließend nach WestBerlin geschmuggelt und dort von einem Piratensender in der Nähe der Mauer in Kreuzberg ausgestrahlt. 263 Da der Sender illegal ausstrahlte, war ihm auch die Westberliner Polizei auf den Fersen. Das Risiko einer Entdeckung, die 260 »Wir tun einfach so, als gäbe es Pressefreiheit«. Interview mit Roland Jahn von Ilko-Sascha Kowalczuk am 8. März 2001 in Berlin, in: Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit, S. 144. 261 Davon zeugen auch viele Dokumente in dieser Edition. 262 MfS-Minister Erich Mielke an SED-Politbüro, Information, 24.9.1987. BStU, MfS, Schwanitz 464, Bl. 480–483. (Die Anlage enthält eine genaue Übersicht, wo in der DDR »Glasnost« empfangen werden konnte.) 263 Die Sendung vom 31.10.1986 ist als Wortprotokoll überliefert: BStU, MfS, HA XXII 16877, Bl. 21–27. Im MfS ist vermutet worden, dass der Sprecher identisch gewesen sei mit dem des illegalen Senders »Roter Stachel« aus den Jahren 1983/84 (ebenda, Bl. 5). Zum Sender siehe Peter Grimm: Der andere Schwarze Kanal. Oppositionelles Radio in der DDR, in: Horch und Guck 19 (2010) 69, S. 14–15.
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erfolgreichen technischen Stasi-Störversuche und die geringe Reichweite veranlassten Schult und Krawczyk, ihr Projekt zu beenden. »Radio Glasnost« zählte hingegen zu den erfolgreichsten Unternehmungen, die Öffentlichkeit über oppositionelle Aktivitäten und innenpolitische Vorgänge in der DDR zu informieren. Dass er erfolgreich war, verriet unbeabsichtigt ein Kommentar im »Neuen Deutschland«: »Dieser Sender nennt sich bekanntlich ›Glasnost‹«. 264 Doch immer wieder störten sich einige Oppositionelle daran, dass sie keine redaktionellen Eingriffsmöglichkeiten besaßen, weshalb es zu Konflikten mit Jahn kam. 265 SED und MfS hatten diesen oppositionellen Entwicklungen nicht tatenlos zugeschaut. Sehr genau hatten sie registriert, dass die Opposition begonnen hatte, neue Strukturen zu entwickeln, eigene Öffentlichkeitsarbeit betrieb und die IFM intensiv über westliche Medien Erklärungen verbreitete, mit westlichen Politikern sprach und sich auf eine vielfältige Unterstützung westlicher Freunde stützen konnte. Nicht minder intensiv beobachtete sie deren Kontakte nach Ostmitteleuropa, die sie als ebenso gefährlich einstufte. 266 Die OV gegen die Oppositionellen in der IFM, der »Umweltbibliothek« oder den »Gegenstimmen« wuchsen materialreich an. Gegen die wichtigsten Protagonisten führte das MfS solche OV, die alle mit dem zielgerichteten Einsatz von IM verbunden waren, aber auch »Zuführungen«, permanente Post- und Telefonkontrolle, Raumüberwachungs- und Zersetzungsmaßnahmen umfassten. SED und MfS sahen, dass sich seit 1985 eine neuartige Opposition herausgebildet hatte. Sie gingen von dem Grundsatz aus, dass die »inneren Feinde« 264 Dichtung und Wahrheit, in: ND vom 2.2.1988, S. 2 265 Auch das belegen mehrere Dokumente in diesem Buch. Siehe auch Information der HA XX/AKG für den Leiter der HA XX, Generalmajor Kienberg, 16.10.1987. BStU, MfS, HA XX 20565, Bl. 149–150. Solche Informationen gewann das MfS aus IM-Berichten, aber auch über A- und B-Maßnahmen. Als Beispiel für eine Raumüberwachung: MfS, Abt. 26/6, Information B, Ralf Hirsch, 29.12.1987. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 11379, Bl. 275–276. Als sich Rüdiger Rosenthal im September 1987 halblegal in Ost-Berlin aufhielt, kam es wegen der Medienpolitik von ihm und Roland Jahn offenbar zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Ralf Hirsch, die Quelle hier scheint aber ein IM gewesen zu sein: MfS, HA XX/5, Information, 16.9.1987. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 11393, Bl. 62–63. 266 Im März 1987 schrieb ein leitender MfS-Offizier der Abt. XX der BV Berlin, u. a. zuständig für die Bekämpfung des »politischen Untergrunds«, ein umfangreiches Strategiepapier, wie die Opposition aus seiner Sicht wirksam bekämpft werden sollte. Er schlug u. a. vor, Oppositionelle in den Westen reisen zu lassen, weil sie dort in den wenigen Tagen ihres Aufenthaltes kaum etwas bewirken würden. Er ging zutreffend davon aus, dass die meisten Oppositionellen zurückkehren würden. Aber trotz dieser »eventuell gewährten« Westreisen sollte die allgemeine Reisesperre für Oppositionelle nach Osteuropa »beibehalten werden, da im Fall eines Zusammenschlusses solcher Kräfte mehrerer sozialistischer Länder [dies] ein qualitativ höheres Niveau des Feindangriffes darstellen« würde (MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, Major Hasse, Erste Überlegungen zu Prämissen, konzeptionellen Vorstellungen und Problemen eines langfristig angelegten Vorgehens zur Bekämpfung und generellen Zurückdrängung der politischen Untergrundtätigkeit (PUT) unter Missbrauch kirchlicher Möglichkeiten, 10.3.1987 (Computerausdruck). BStU, MfS, ZAIG 13748, Bl. 86).
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von »außen« gesteuert und bezahlt würden. Die Bekämpfung »innerer und äußerer Feinde« gehörte in der Sicht der Kommunisten zusammen. Es ging zugleich darum, jegliche oppositionelle Tätigkeit »vorbeugend zu verhindern, aufzudecken und zu bekämpfen« 267. Minister Mielke befahl erneut Anfang 1986, dass die Bildung einer »inneren Opposition« konsequent zu verhindern sei. Dabei sei »politischen Mitteln [...] der Vorrang einzuräumen«. Die Herausbildung von Menschenrechtsgruppen und neuer »Führungskräfte« sei »konsequent zu verhindern«, sie dürften sich nicht zu Gesprächspartnern des Staates entwickeln. 268 Einerseits konzedierte die Stasi, politische Mittel seien strafrechtlichen Mitteln vorzuziehen. Damit reagierte sie auf die Öffentlichkeit, welche die Opposition herstellte und die es zugleich der SED erschwerte, die strafrechtliche Relevanz oppositioneller Handlungen nachweisbar und für die internationale Öffentlichkeit überzeugend zu behaupten. Politische Mittel waren zum Beispiel die verstärkte Anwendung von Ordnungsstrafen, es ging aber auch um geheimpolizeiliche Methoden, die sich nur schwer als solche nachweisen ließen. Insgesamt ging das MfS davon aus, die Bildung einer Opposition verhindern bzw. dort, wo Gruppen bestanden, diese zerschlagen und auflösen zu können. Im Arbeitsplan für 1987 kam noch ein neuer Punkt hinzu: »Alle zur Verbreitung gelangenden, von feindlich-negativen Zusammenschlüssen herausgegebenen vervielfältigten Materialien, einschließlich literarisch-grafischer ›Samisdat‹Erzeugnisse, sind unverzüglich [...] nach rechtlichen Gesichtspunkten einzuschätzen und ordnungsrechtliche und andere Maßnahmen zur Verhinderung ihrer weiteren Herstellung oder Verbreitung zu prüfen bzw. einzuleiten.« 269
Am 20. August 1987 legte die Hauptabteilung XX neue Vorschläge vor. Dieses Dokument belegt, dass die ab November 1987 einsetzenden MfS-Aktionen keineswegs spontan und unüberlegt erfolgten. Es handelt sich um ein Strategiepapier, wie die Opposition in ihrer Entfaltung behindert werden sollte. Neben dem weiteren Einsatz von IM, »operativer Technik« und Zersetzungsmaßnahmen sollten »gesellschaftliche Kräfte« bei Veranstaltungen in kirchlichen Räumen zum Einsatz gelangen. Die politisch-operative Arbeit würde allerdings, so das MfS, erschwert durch tabuisierte Gesellschaftsprobleme, Tendenzen der Schönfärberei in der Öffentlichkeit und mangelnde Meinungsfreiheit. Vor dem Hintergrund von Gorbatschows Politik müsse sich etwas 267 MfS, Minister, Dienstanweisung 2/85 zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit, 20.2.1985, in: Engelmann; Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente des MfS, S. 436. 268 MfS, Minister, Zentrale Planvorgabe für 1986 und den Zeitraum bis 1990. BStU, MfS, BdL 6019, S. 111–112 (ohne Paginierung). 269 MfS, HA XX, Arbeitsplan der HA XX für das Jahr 1987, 2.2.1987. BStU, MfS, HA XX 4296, S. 5 (ohne Paginierung).
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ändern. 270 Das MfS schlug vor, dass die SED-Bezirkspresse sowie die »Junge Welt« und der »Sonntag« bislang verschwiegene oder zu einseitig behandelte Themen aufgreifen solle, und es sollte eine Zeitschrift gegründet werden, die »eine direkte ideologische Auseinandersetzung mit feindlich-negativen ideologischen Konzeptionen und deren Trägern in der DDR« führt. In ihr sollten nicht nur gesellschaftliche Probleme kontrovers diskutiert werden, sondern auch MfS-Informationen einfließen sowie Nachdrucke von westlichen Beiträgen und aus dem Samisdat erfolgen. Zwar ist es dazu nie gekommen, 271 aber dieser Vorschlag verdeutlicht, dass es innerhalb der SED und des MfS Kräfte gab, die einschätzten, dass mit einer bloßen Repressionspolitik der Opposition nicht beizukommen sei. Das Projekt sollte der Sogwirkung der oppositionellen Öffentlichkeitsarbeit entgegenwirken. Das MfS beobachtete, dass die Ideen der Opposition via Westmedien bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden fielen (Dok. 3). Der zentrale »sachliche Schwerpunkt«, so die Strategen im August 1987, bilde die Bekämpfung der »periodisch erscheinenden Untergrundzeitschriften« wie »Grenzfall« oder »Umweltblätter« und anderer öffentlichkeitswirksamer Tätigkeiten. Da strafprozessuale Möglichkeiten nur begrenzt ausgeschöpft werden, müsse vor allem mit Ordnungsstrafverfahren gearbeitet werden. Das MfS erhoffte mit dieser Zermürbungstaktik, Ermüdungserscheinungen und finanzielle Probleme in der Opposition zu befördern. Schließlich entwickelten die MfS-Offiziere präzise Vorschläge zu den »feindlich-negativen Führungskräften«: »Diese hartnäckigen Feinde, die mit hoher Intensität und Fanatismus wirken, zu isolieren bzw. einzuschränken, muss deshalb in den Mittelpunkt der Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit gestellt werden.« Weil der »Nachweis der feindlichen Steuerung politischer Untergrundtätigkeit durch Kräfte aus dem Operationsgebiet [...] nach wie vor als ein Schlüsselproblem« zu begreifen sei, war es kein Zufall, dass Roland Jahn an erster Stelle der wichtigsten Feinde stand. Bei ihm sollte endlich der Nachweis erbracht werden, dass er von westlichen Geheimdiensten gesteuert sei. Wolfgang Templin sollte diskreditiert werden mit der »zielstrebigen glaubhaften Verbreitung von Indizien für eine Zusammenarbeit mit dem MfS«. Gerd und Ulrike Poppe sollten durch Zermürbung zur ständigen Ausreise gebracht werden, für Bärbel Bohley kam ein längerfristiger Arbeitsaufent270 Im August 1988 erklärte der Chef der BV Berlin: »Mit einigen oppositionell eingestellten Personen werden wir auch lernen müssen, zu leben. In bestimmter Hinsicht ist angemessen eine größere Toleranzbreite in unserer Arbeit erforderlich.« (Ansprache des Leiters der BV Berlin, August 1988. BStU, MfS, BV Berlin, AKG 4298, Bd. 3, Bl. 215). Dass er damit aber nicht die existierende Opposition meinte, verdeutlichte er anschließend (ebenda, Bl. 216–217). 271 Im Sommer 1989 erarbeitete die ZAIG ein Manuskript (69 S.) mit dem Titel: »Sie denken und handeln wie Feinde. Zum gegenwärtigen Erscheinungsbild der politischen Untergrundtätigkeit in der DDR. Informationsmaterial für die Öffentlichkeit«. Darin sind oppositionelle und kirchliche Aktivitäten, Reaktionen der Westmedien sowie Samisdatprodukte als »feindlich« gebrandmarkt worden. Zur Publikation kam es nicht mehr: BStU, MfS, HA XX 1910, Bl. 112–193.
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halt im Westen in Betracht. Martin Böttger sollte stärker in die Kirchenarbeit eingebunden werden. Werner Fischer wiederum sollte bestärkt werden, eine eigene Untergrundzeitschrift herauszugeben, um diese dann mit geheimpolizeilichen Mitteln »zu einem Fiasko zu führen«. Für Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch erdachten sich die Stasi-Offiziere den Plan, sie stärker an CDUKreise und »noch rechter stehende politische Kräfte in der BRD« zu führen, um sie von linken Kräften der DDR-Opposition zu isolieren. Lutz Rathenow wollte man gleich ins bundesdeutsche rechtsextreme Milieu einbinden, um ihn in der DDR zu kompromittieren. Bei Peter Grimm und Peter Rölle wollten die MfS-Offiziere »Pannen« bei der »inhaltlichen Gestaltung, Herstellung und Verteilung des ›Grenzfalls‹« inszenieren, um deren »Unfähigkeit hinsichtlich einer journalistischen wie auch konspirativen Arbeit nachdrücklich« zu beweisen. 272 Stephan Krawczyk und Freya Klier, die beide Berufsverbot hatten, sollten mit offiziellen Arbeitsangeboten bedacht und so unglaubwürdig gemacht werden. Eine ähnliche Strategie war für Katja Havemann vorgesehen. Sie sollte »bei Reiseanträgen und anderen privaten Vorhaben« eine Sonderbehandlung erfahren, »die sie von ihrem Umgangskreis abhebt und langfristig als Ausgangspunkt für Zersetzungsmaßnahmen genutzt werden kann«. 273 Vor diesem Hintergrund entwickelten MfS-Offiziere den Plan, Oppositionelle beim Druck des »Grenzfalls« in kirchlichen Gemeinderäumen »auf frischer Tat zu ertappen« und festzunehmen. Minister Mielke ordnete im Oktober 1987 an, die Herstellung »antisozialistischer Pamphlete« sei »vorbeugend zu unterbinden«. 274 Die IFM sollte liquidiert werden. In die Pläne war die SEDFührung, namentlich Honecker, Krenz und Schabowski, eingeweiht. 275 Der »Grenzfall« ist an verschiedenen Orten, meist in Privatwohnungen, hergestellt worden, aber auch in den Räumen der Zionsgemeinde, wo die »Umweltbibliothek« ihren Sitz hatte. Ursprünglich war vom MfS noch im Oktober und Anfang November 1987 geplant, IFM-Mitglieder bei der Herstellung des »Grenzfalls« in einer Privatwohnung »auf frischer Tat zu ertappen« 272 Zunächst aber sorgten auch MfS-Offiziere für Papiernachschub für die Herstellung des nächsten »Grenzfalls«. Der auf Peter Grimm angesetzte IMB »Andy« (Harry Schultze) erhielt am 15.9.1987 10 Papierpakete im Wert von 51,50 Mark (Quittung vom 15.9.1987 nebst Erklärung: BStU, MfS, BV Berlin, AIM 8461/91, Teil III, Bd. 1, Bl. 24–25). 273 MfS, HA XX, Vorschläge zur weiteren politischen, ideologischen und operativen Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit, 20.8.1987. BStU, MfS, HA XX/AKG 7037, Bl. 17–25. 274 MfS, Minister, Zentrale Planvorgabe für 1988, 23.10.1987. BStU, MfS, BdL 8699, S. 61 (keine Paginierung). 275 Das geht aus einem handschriftlichen Verteiler auf einem Dokument hervor, in dem die Pläne knapp umrissen wurden: MfS, Information über fortgesetzte Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte in der DDR zur Herstellung und Verbreitung nichtgenehmigter Schriften, 22.10.1987. BStU, MfS, ZAIG 3610, Bl. 1–5. Der Leiter der Abt. XX der BV Berlin sagte dies zudem am 11.5.1988 auf einer Dienstbesprechung beim Leiter der BV: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 4670, Bl. 45. Einige Unterlagen dazu von Honecker, Krenz und Schabowski sind überliefert im Bestand »Büro Krenz«: BArch DY 30, IV 2/2039/312.
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und zugleich Ermittlungsverfahren gegen Gerd Poppe, Ralf Hirsch u. a. einzuleiten. 276 Unmittelbar vor der Durchsuchung der Gemeinderäume waren staatliche Vertreter in der Zionsgemeinde und stellten die »missbräuchliche Nutzung« der Gemeinde fest, was hochrangige Kirchenvertreter durch zweideutige Kommentare untermauerten und damit auch Pfarrer Simon der faktischen »Mittäterschaft« beschuldigten. 277 Wolfgang Rüddenklau von der »Umweltbibliothek« ist am 17. November 1987 von staatlichen Vertretern darauf hingewiesen worden, dass Inhalte der »Umweltblätter« strafrechtlich relevant seien. 278 In der Nacht vom 24. zum 25. November durchsuchte ein etwa 20-köpfiges MfS-Kommando nebst Staatsanwalt Ludwig Gläßner von der Generalstaatsanwaltschaft die »Umweltbibliothek« (Dok. 43). Aufgrund einer Panne geriet das Unternehmen zu einem Desaster. Als der Überfall erfolgte, druckten Rüddenklau und Mitstreiter nicht den »Grenzfall«, sondern die »Umweltblätter«, die als innerkirchliche Druckschrift firmierten. Peter Grimm hatte mit Rüddenklau am Nachmittag des 24. November verabredet, die »Grenzfall«Redaktion würde nicht an dem Druck teilnehmen und »demonstrativ« woanders sein. Rüddenklau wiederum druckte zunächst die »Umweltblätter«, weil zu viele Menschen anwesend waren, darunter ein 14-Jähriger, und nur ganz wenige wissen sollten, wo die aktuelle Ausgabe vom »Grenzfall« gedruckt wurde. Der IM, der die MfS-Aktion mit eingefädelt hatte, Reiner Dietrich (IM »Cindy«), konnte seinen Führungsoffizier nicht mehr warnen. »Cindy« war mit den »Grenzfall«-Redakteuren Peter Grimm, Peter Rölle und Ralf Hirsch zusammen und fand keinen Weg, dem MfS Bescheid zu geben, ohne sich zu dekonspirieren. 279 In den MfS-Unterlagen findet sich auch eine Quelle, 276 MfS, HA XX, Vorschlag zur Durchführung offensiver Maßnahmen für die Unterbindung der Herstellung der feindlich-negativen Publikation »Grenzfall«, 16.10.1987. BStU, MfS, HA XX/4 3684, Bl. 1–5; ein zweites nachfolgendes Dokument präzisierte das: ebenda, Bl. 6–9. Hinzu kam später noch vor der Zion-Aktion: MfS, HA IX/2, Vorschlag zur Durchführung rechtlicher Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Herstellung des sogenannten Informationsblattes »Grenzfall«, 20.11.1987. BStU, MfS, HA XX/AKG 1511, Bl. 433–435. 277 BStU, MfS, HA XX/4 3684, Bl. 11, 15–17, 24. 278 MfS, HA III, Information, 20.11.1987. BStU, MfS, HA XX/4 31, Bl. 86–87. (Es handelt sich um die Zusammenfassung eines Telefongesprächs von Roland Jahn mit Wolfgang Rüddenklau u. a. von einem kirchlichen Anschluss aus. Der genaue Anschluss lässt sich nicht ermitteln, da zur angegebenen Kirche eine falsche Adresse aufgeführt ist, unter der sich eine andere Gemeinde befand.) 279 Vgl. Peter Grimm: Erfolgloses Drehbuch. Die Aktion »Falle« und ihr Scheitern. Ein Zeitzeugenbericht, in: Horch und Guck 16 (2007) 2, Heft 58, S. 56–57. Die genauen Bewegungsabläufe von Ralf Hirsch und Peter Grimm, aber auch von anderen, sind vom 19.–27.11.1987 von der Stasi durch Observierung dokumentiert worden: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. VIII 625, Bl. 490–551. Diese enthalten allerdings auch Widersprüche und Verwechslungen, legen aber auch die Frage nahe, warum »Cindy« die Stasi nicht doch benachrichtigen konnte. Denn die in den MfS-Beobachtungsberichten geschilderten Abläufe hätten demnach Raum und Zeit für eine solche Benachrichtigung durch Dietrich geboten. Aber da diese, wie erwähnt, nicht fehlerfrei sind, erscheint es müßig angesichts der Tatsachen darüber zu spekulieren.
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die behauptet, diese »Falle« hätten die Oppositionellen dem MfS bewusst gestellt, um einen Stasi-Spitzel zu überführen und die UB bekannt zu machen. Das berichtete IM »Wilma«, eine DDR-Journalistin, die auf einen akkreditierten Korrespondenten angesetzt worden war, der dies unmittelbar aus den UBKreisen erfahren haben wollte. 280 Das war durchaus glaubhaft, weil dieser Korrespondent über exzellente Beziehungen zu Oppositionskreisen verfügte. 281 Im MfS spielte diese Information keine Rolle, weil es die Verantwortlichen für die Aktion besser wussten. Stasi-intern firmierte die Aktion unter dem Codewort »Falle« (Dok. 34). 282 Die Geheimpolizisten glaubten, eine Falle gestellt zu haben: Wenn in der »Umweltbibliothek« der »Grenzfall« gedruckt werde, könnten beide Gruppierungen auf einen Streich erledigt werden. Der »Grenzfall« und die IFM, weil sie kirchenunabhängige Staatsfeinde waren, und die »Umweltblätter« und die »Umweltbibliothek«, weil sie in der Zionsgemeinde staatsfeindliche Aktivitäten entfalteten. Das MfS beschlagnahmte umfangreiche Materialien und Technik, darunter sechs Vervielfältigungsgeräte, wovon vier älter als 40 Jahre waren, 283 aber nicht die Tasche mit der Druckerschwärzepumpe der »Grenzfall«-Redaktion, sodass das MfS nicht einmal beweisen konnte, dass die »Grenzfall«-Druckmaschine überhaupt betriebsbereit gewesen wäre. Neben Wolfgang Rüddenklau und Bert Schlegel nahm das MfS fünf weitere Personen fest, die bis auf die beiden Genannten bis zum Abend wieder freikamen. Rüddenklau und Schlegel blieben drei Tage länger in Haft. 284 Noch bei der nächtlichen Festnahme konnten die Mitarbeiter der »Umweltbibliothek« dem herbeigeeilten Pfarrer der Gemeinde, Hans Simon, zurufen, er solle Bärbel Bohley verständigen. Sie und Werner Fischer begannen, die anderen zu informieren. Ralf Hirsch verständigte Roland Jahn in West-Berlin. Und noch in der Nacht begannen die Nachrichtenticker im Westen heiß zu laufen. Am Morgen tagte die erste Krisenrunde in den Atelierräumen von Bohley (Dok. 35). Anschließend verbreiteten die 280 MfS, BV Berlin, Abt. II, Operativinformation, 3.12.1987. BStU, MfS, BV Berlin, AIM 5055/91, Teil II, Bd. 1, Bl.118–119. (Die Information ging auch an die zuständige Abt. XX der BV Berlin.) 281 Da es trotz jahrelanger Bemühungen mir nicht möglich war, zu diesem Korrespondenten einen Kontakt herzustellen, konnte ich diese Information und ihr Zustandekommen nicht überprüfen. 282 MfS, HA XX, Tagesinformationen zur Aktion »Falle«, 25.11.1987–31.12.1987. BStU, MfS, HA XX/4 3683, Bl. 1–170. (Die Tagesinformation war jeweils für den stellv. Minister Schwanitz, die Führungskräfte der HA XX und der BV Berlin in 6–10 Exemplaren erstellt worden.) 283 MfS, HA IX/2, Aufstellung über die in der »Öko-Bibliothek« beschlagnahmten Vervielfältigungsgeräte und Schreibmaschinen, 28.11.1987. BStU, MfS, HA XX 12488, Bl. 257. 284 MfS, Minister, an Leiter der Diensteinheiten, Telegramm, 28.11.1987. BStU, MfS, HA XX/4 3684, Bl. 78. Das Ermittlungsverfahren wurde erst am 31.8.1988 eingestellt: BStU, MfS, AU 14127/89; ebenda, AU 245/90. Gegen Wolfgang Rüddenklau war im Mai 1988 ein neuer (der bereits dritte) OV eröffnet worden: BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8697/91. Gegen seinen in der Bundesrepublik lebenden Bruder gab es einen weiteren OV, in dem auch Wolfgang Rüddenklau umfassend bearbeitet worden ist: BStU, MfS, AOP 2165/91.
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wichtigsten Ostberliner Oppositionsgruppen eine gemeinsame Erklärung, mit der sie gegen den Überfall protestierten, die sofortige Freilassung aller Festgenommenen, die vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der »Umweltbibliothek« sowie »die Einstellung jeglicher Repressionen gegen politisch Engagierte« forderten. Das MfS hatte geglaubt, dass die Streitereien zwischen den Gruppen Solidarisierungseffekte verhindern. Auch hier irrte es sich. Die Erklärung unterzeichneten die UB, die KvU, die IFM, der »Friedenskreis Friedrichsfelde«, die »Frauen für den Frieden«, die »Gegenstimmen«, der AKSK sowie »Glieder der Zionsgemeinde« und schrieben: »Wir sehen in dieser Aktion [...] einen Angriff auf alle Gruppen [...]«. 285 In den folgenden Tagen herrschte auf allen Seiten Hektik. Das MfS nahm mehrere Personen von der IFM sowie Vera Wollenberger vorübergehend fest und stellte Bärbel Bohley, Ulrike Poppe und Regina Templin unter Hausarrest. Rund um die Zionskirche zogen Polizei und MfS auf und nahmen Personenkontrollen vor. Generalsuperintendent Krusche gab mehrere Erklärungen ab (Dok. 41). Er behauptete, hinter ihrem Rücken würden in der Kirche staatsfeindliche Schriften hergestellt und der Staat hätte »modernste westliche Kleinoffsetmaschinen« beschlagnahmt, über die die »Umweltbibliothek« gar nicht verfügte. Gegen 22.30 Uhr zog die erste Mahnwache vor der Zionskirche auf. Die zehn Leute wurden sofort festgenommen und weggefahren. Eine halbe Stunde später stand die nächste Mahnwache, die, nunmehr auf den Stufen der Kirche und unter den Augen westlicher Fernsehteams, nicht verhaftet werden konnte. Abends wurde ein Mahnwachenbüro eingerichtet, dessen wichtigste Aufgabe in der Sammlung und Weitergabe von Informationen bestand (Dok. 52). Dieses »Kontakttelefon« blieb bis zum 14. Januar 1988 in Betrieb (Dok. 46). Ab 26. November gingen die ersten Solidaritätserklärungen aus dem In- und Ausland ein. Nicht nur in Ost-Berlin sind Infoandachten in mehreren Kirchen durchgeführt worden. Die Schlüsselfiguren im Westen zur Herstellung von Öffentlichkeit in diesen Tagen waren Roland Jahn und der seit Juli 1987 in West-Berlin lebende Bürgerrechtler Rüdiger Rosenthal. 286 Mehrere Punkte lassen sich festhalten, die für die Folgezeit von Bedeutung werden sollten. Der Protest blieb nicht regional begrenzt, sondern erreichte weite Teile der DDR und wies internationale Dimensionen auf. Es kam zu Solidarisierungsaktionen, die den überregionalen Vernetzungsgedanken der Oppositionsgruppen verstärkten. Zudem sind neue Formen wie Mahnwachen und Kontakttelefon als öffentlichkeitswirksam erprobt worden (Dok. 42). Auch für die Skeptiker war deutlich geworden, dass ein unverkrampfter Um285 Abgedruckt in: Dokumenta Zion. Sonderausgabe der »Mit-Welt-Blätter« (Umweltblätter). Berlin 1987 (Samisdat). 286 MfS, BV Berlin, Abt. XX/5, Faktenanalyse zur Person Rosenthal, Rüdiger, 4.10.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5703, Bl. 76–118.
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gang mit westlichen Medien nützlich sei, um etwas zu bewirken (Dok. 39). Die rasche Freilassung der Inhaftierten war der internationalen Berichterstattung, die einen schweren Imageschaden für die SED bedeutete (Dok. 37–38, 40), zu verdanken. Diese SED-Stasi-Aktion bewirkte eine politische Profilierung der Opposition. Die knappen staatlichen Stellungnahmen verdeutlichten, wie wenig die SED gewillt war, einen inneren Dialog zu üben. Das SED/SPDPapier vom August 1987 (Dok. 24, 38, 40) und der Olof-Palme-Marsch vom September (Dok. 43, 54) erzeugten bei manchen Systemkritikern Hoffnungen auf einen inneren Wandel, die letztlich an den Mauern der Realität zerbrachen. Für den SED-Staat sprang Schriftsteller Hermann Kant in die Bresche, der am 26. November 1987 in der »Tagesschau« erklärte, wer sich in der DDR für die Umwelt einsetze, brauche nicht in Katakomben zu gehen (Dok. 43). Er verteidigte so den Überfall, die Festnahmen und verbannte Kirchen und Opposition in den Untergrund. Schließlich konnten sich die Kirchen nach dem staatlichen Überfall auf eine ihrer Gemeinden nicht mehr allein mit ihrer Moderatorenrolle zwischen Staat und Gruppen begnügen. Es kam zu einem innerkirchlichen Differenzierungsprozess. Nach dieser Aktion mehrten sich in allen Landeskirchen Stimmen, die »diese Typen« aus kirchlichen Räumen verbannt sehen wollten. »Die Kirchen in der DDR sind ›Kirchen im Sozialismus‹, nicht gegen ihn,« glaubte die Berlin-Brandenburgische Kirchenleitung beteuern zu müssen, um auch noch zu erklären, beim »Grenzfall« handele es sich um »staatsfeindliches« Material und die westlichen Medien hätten eine »wüste Hetzkampagne« gegen die DDR entfacht. 287 Das waren Argumente, die der SED in die Hände spielten. Der Stasi-Überfall bewirkte aber auch, dass viele Kirchenleute sich offener als bislang mit den Gruppen solidarisierten. Es bedurfte keiner großen Verrenkungen im SED- und MfS-Apparat, um die »Aktion Falle« als Fehlschlag einzuschätzen. Bis heute liegt nicht restlos offen, wie es zu den konkreten Handlungsabläufen und Befehlslagen kam. Nachweisbar ist aber, dass die MfS-Leitungsebene einschließlich Mielke und Mittig grünes Licht gaben und zuvor Honeckers Zustimmung bekamen. Es wundert daher nicht, dass sie sich mit dieser Niederlage nicht zufrieden geben wollten. Im September 1987 war es zu einer für die SED besorgniserregenden Allianz gekommen. Die von Ausreiseantragstellern in Ost-Berlin gegründete »AG Staatsbürgerschaftsrecht der DDR« 288 hatte in Regina und Wolfgang Templin zwei prominente Unterstützer und Mitstreiter gefunden. Die Templins vertei287 Pressemitteilung vom 4.12.1987. BStU, MfS, ZAIG 5592, Bl. 5–6. 288 Vgl. Günter Jeschonnek: Ausreise – das Dilemma des ersten deutschen Arbeiter-und-BauernStaates?, in: Ferdinand Kroh (Hg.): »Freiheit ist immer Freiheit …« Die Andersdenkenden in der DDR. Frankfurt/M., Berlin 1988, S. 234–270.
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digten das Menschenrecht auf Freizügigkeit. Die meisten Gruppen standen Ausreisewilligen distanziert und zum Teil ablehnend gegenüber. Politisch wollte man mit ihnen nicht in einen Topf geworfen werden, weil sie selbst sich bewusst entschieden hatten, in der DDR das Land verändern zu wollen. Sie begegneten den Antragstellern mit Vorbehalten, weil sie befürchteten, dass die oppositionellen politischen Ziele hinter dem massiv vorgetragenen Ausreisewillen verschwinden könnten. Bei einigen kam die Vermutung hinzu, diese Ausreiseantragsteller wollten nur aus materiellen Gründen die DDR verlassen. Auch wenn dies ein hinreichender Grund ist, seinen Wohnort zu verlegen, so stimmte nicht einmal diese Annahme. Gegen viele der in der AG aktiven Personen ermittelte das MfS schon seit Längerem, gegen nicht wenige liefen geheimpolizeiliche Ermittlungen bevor sie einen Ausreiseantrag gestellt hatten. 289 Am 10. Dezember 1987, dem internationalen Tag der Menschenrechte, übergab die »AG Staatsbürgerschaftsrecht der DDR« mehreren staatlichen Institutionen eine Erklärung, mit der sie eine rechtlich abgesicherte und einklagbare Freizügigkeit forderte. 290 Am Abend fand in der Gethsemanekirche eine Veranstaltung aus Anlass des Menschenrechtstages statt, an der neben der AG mehrere Oppositionsgruppen und 400 Personen teilnahmen. Die »Initiative Frieden und Menschenrechte« verteilte die bereits erwähnte Erklärung zu ihrem politischen Selbstverständnis. 291 Mehrere IFM-Mitglieder konnten bei der Veranstaltung in der Gethsemanekirche nicht anwesend sein, weil sie am Morgen des 10. Dezember festgenommen und erst einen Tag später wieder freigelassen worden waren (Dok. 44). So vereitelte das MfS auch ihr Vorhaben – in Polen, Ungarn und der ČSSR liefen ähnliche Aktionen –, dem offiziellen »DDR-Komitee für Menschenrechte« eine Erklärung mit politischen und rechtlichen Forderungen zu übergeben. 292 Bei der Freilassung sagte ein MfSOffizier zu IFM-Mitgliedern erstmals ganz offen, sie könnten ab sofort »zu ihren Freunden« ausreisen, sie müssten es nur bekunden. 293 Das MfS entwickelte vor Weihnachten 1987 eine weitere »Konzeption zur forcierten Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit«. 294 Sie korrespondiert mit dem zitierten Papier vom 20. August 1987. Die Pressearbeit solle verstärkt und insbesondere die in der »Jungen Welt« begonnene offensive Auseinander289 Vgl. jetzt prinzipiell dazu die Studie von Renate Hürtgen: Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben. Eine Studie über Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz. Göttingen 2014. 290 Abgedruckt in: Kroh (Hg.): »Freiheit ist immer Freiheit …«, S. 266–270. 291 Siehe S. 38. 292 Grenzfall 11–12/87, nachgedruckt in: Hirsch; Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte. Grenzfall, S. 143–144; Werner Fischer. Aktion gegen »Frieden und Menschenrechte«, in: Umweltblätter 19/1987, nachgedruckt bei: Rüddenklau: Störenfried, S. 160–161. 293 Das haben dem Verf. u. a. Werner Fischer, Wolfgang Templin und Gerd Poppe bestätigt. 294 MfS, [HA XX], Konzeption zur forcierten Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit, o. D. [Mitte Dezember 1987]. BStU, MfS, HA XX/AKG 7037, Bl. 1–10.
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setzung (Diffamierung) mit der Opposition fortgeführt werden. Das ZK der SED müsse alle Bezirksleitungen eingehend auf der Grundlage von MfSAusarbeitungen informieren. Über den »Grenzfall« sei ein juristisches Gutachten einzuholen. Am 15. Januar 1988 legten drei Professoren der HumboldtUniversität zu Berlin – Horst Luther, Günter Röder und Anni Seidl – ein Gutachten zum »Grenzfall« vor, mit dem sie im Auftrag der Geheimpolizei beweisen wollten, dass der »Grenzfall« ein Fall für die Justiz sei. Sie »bewiesen« das für die »Umweltblätter« gleich mit. 295 Das MfS nahm dies zum Anlass, auch andere Samisdat-Erzeugnisse per Gutachten als staatsfeindlich einzuordnen. Roland Jahn sollte öffentlich als westlicher Auftraggeber hingestellt werden (Dok. 77). Gesellschaftliche Einrichtungen und Verbände sollten in die Verleumdungskampagne einbezogen und der staatliche Druck auf die Kirchenleitungen erhöht werden, um diese weiter von den Gruppen zu lösen. Von »positiven« Kirchenleuten sollten distanzierende Stellungnahmen eingeholt werden – entsprechende Briefe von Pfarrer Cyrill Pech und Pfarrer Walter Unger im »Neuen Deutschland« gehörten zu dieser Strategie. 296 Anträge auf Übersiedlung von Oppositionellen würden kurzfristig realisiert. Eine Ausbürgerung von DDR-Staatsangehörigen, »die sich nicht im Ausland aufhalten«, gegen deren Willen aber sei nicht möglich, weil es dafür keine rechtliche Grundlage gebe und es »internationalen Gepflogenheiten« widerspreche. Zügig seien strafprozessuale Maßnahmen gegen Rüddenklau, Hirsch, Grimm, Rölle, Bohley, Fischer, Böttger, Mißlitz, Schult und Kulisch sowie die Ehepaare Templin und Poppe zu prüfen. Die SED-Organisationseinheiten seien darauf vorzubereiten, weil solche Maßnahmen »Solidarisierungseffekte« auch bei Personenkreisen befördern könnten, »die bisher nicht in diese Feindaktivitäten einbezogen sind«. 297 Dann folgte ein Zeitplan: Bis 10. Januar 1988 sollte die »1. Etappe« der Übersiedlungen beendet sein, bis zum 15. Januar sollte die strafrechtliche Beweislage gegen die »Führungskräfte« erbracht und die »inspirierende Rolle« von Jahn (»Telefonfahndung«) sowie die geheimdienstlichen Verbindungen von Jahn, Hirsch, Templin und Bohley erwiesen und dann bis zum 19. Januar 1988 die »2. Etappe« der Übersiedlungen abgeschlossen sein. Für den Nachweis dieser »inspirierenden Rolle« und »geheimdienstlichen Verbindungen« wollte das MfS auf die Ergebnisse der Telefonüberwachung zurückgreifen. Am 20. Januar 1988 sollte das MfS dann eine Pressekonferenz durchführen, auf der eine Dokumentation der Ereignisse seit Herbst 1987 295 Das Gutachten ist abgedruckt in: DA 26 (1993) 5, S. 624–632. Es lag auch der SEDFührung vor: BArch DY 30/9049, Bl. 12–32. 296 Für ein gutes Miteinander. Brief eines Pfarrers (Cyrill Pech) an Erich Honecker vom 5.2.1988, in: ND vom 11.2.1988; Brief eines Pastors (Walter Unger) an Erich Honecker, in: ND vom 7./8.5.1988. 297 MfS, [HA XX], Konzeption zur forcierten Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit, o. D. [Mitte Dezember 1987]. BStU, MfS, HA XX/AKG 7037, Bl. 6–7.
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vorgestellt und ein in die IFM eingeschleuster IM 298 über die Machenschaften der Staatsfeinde von innen berichten sollte. Anschließend würden die Prozesse und Ordnungsstrafverfahren gegen die in der DDR verbliebenen Personen beginnen. Das MfS konnte Mitte Dezember 1987 nicht ahnen, dass am 9. Januar 1988 die AG Staatsbürgerschaftsrecht den Beschluss fasste, an dem alljährlich von der SED-Führung inszenierten Massenaufmarsch aus Anlass der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit eigenen Transparenten teilzunehmen (Dok. 54). Diese offizielle Demonstration fand 1988 am 17. Januar statt. Es war geplant, 16 Transparente mit Luxemburg-Zitaten zu beschreiben, um dem Staat keine rechtliche Handhabe für Maßnahmen zu geben. Die meisten Oppositionellen hielten sich zurück und distanzierten sich von dem Vorhaben. Die Gruppen stellten es ihren Mitgliedern frei, daran teilzunehmen, als Gruppe aber sollte keine präsent sein. Wolfgang und Regina Templin machten sich im Vorfeld für die Aktion stark (Dok. 57). Da das Vorhaben letztlich nicht unerkannt blieb, beschäftigten sich seit dem 13. Januar auch SED-Chef Honecker, Krenz als zuständiges Politbüromitglied für die Sicherheitsdienste und Schabowski als SED-Bezirkschef von Ost-Berlin mit den anstehenden Protesten. Am 15. Januar erstellte das MfS eine Namensliste von Personen, die vorbeugend zugeführt oder dann festgenommen werden sollten, wenn sie am 17. Januar ihre Wohnung verließen. Die ersten Festnahmen erfolgten am 16. Januar. Auch Wolfgang Templin sollte zugeführt werden, aber ihm gelang die Flucht zurück in die Wohnung, in der er zunächst unbehelligt blieb (Dok. 55). Vom 13. bis 16. Januar sind 118 Personen, darunter 93 aus Ost-Berlin, belehrt worden, nicht an der Demonstration teilzunehmen. 299 19 weitere Personen durften kurzfristig ausreisen. Am 17. Januar nahm das MfS insgesamt 105 Personen fest, davon 70 am Rande der Demonstration am Frankfurter Tor. Die meisten Zugeführten wollten ausreisen. 35 Personen verhaftete die Stasi vorbeugend, darunter Andreas Kalk, Bert Schlegel und Till Böttcher von der »Umweltbibliothek« sowie Vera Wollenberger und Frank-Herbert Mißlitz von der KvU/»Gegenstimmen«. Der prominenteste Verhaftete war der Liedermacher Stephan Krawczyk, der ein Transparent »Gegen Berufsverbote in der DDR« mit sich führte (Dok. 56). Bundesdeutsche Medien berichteten breit und ausführlich darüber (Dok. 60),
298 Es wurde nicht erwähnt, um wen es sich dabei handeln sollte. 299 Einige sind auch ohne formelle »Belehrung« gewarnt worden. Gerd Poppe z. B. teilte am 15.1.1988 telefonisch Regina Templin (BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 25, Bl. 296) und Bärbel Bohley mit, sein Vorgesetzter im Diakonischen Werk habe ihm gesagt, er solle am Sonntag die Wohnung nicht verlassen. Er kommentierte dies in den Worten der Stasi-Auswerter so: »Sein Chef hat das wahrscheinlich im Namen der Staatssicherheit gemacht.« (MfS, Abt. 26/6, Information A, Bärbel Bohley, 15.1.1988. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 3521, Bl. 1).
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auch wenn sie in ihrer Berichterstattung direkt vor Ort massiv behindert wurden. Im MfS firmierte die Aktion zur Verhinderung dieser Gegendemonstration unter dem Namen »Störenfried«. Unter diesem Codewort finden sich in den MfS-Akten viele Tausende Dokumente. Für jeden Tag bis Anfang Dezember 1989 existiert ein Bericht über die Opposition in der DDR. Hinzu kamen jede Woche und jeden Monat bis Anfang Dezember 1989 zusammenfassende Berichte. Neben der »Störenfried-Linie« gab es noch andere systematisch erstellte Tages-, Zehn-Tages- und Monatsberichte zu oppositionellen und anderen als feindlich eingestuften Aktivitäten. Dass die Aktion »Störenfried« nicht mehr abgeschlossen werden konnte, symbolisiert den Zusammenhang zwischen den Ereignissen im November 1987 und Januar/Februar 1988 einerseits und dem Herbst 1989 andererseits. Am 18. Januar fand in der Zionsgemeinde eine erste Informationsveranstaltung zu den Ereignissen statt (Dok. 58). Das Kontakttelefon wurde reaktiviert (Dok. 66). Zunächst diente der Privatanschluss von Bärbel Bohley dazu, einige Tage später räumte die Generalsuperintendentur diese Verbindung in ihren Räumen ein, was bis 8. Februar funktionierte. Am 18./19. Januar bildete sich eine Koordinierungsgruppe, in der Vertreter verschiedener Oppositionsgruppen mitarbeiteten. Die Aufgabe bestand darin, die Solidaritätsaktionen zu koordinieren und die Informations- und Fürbittandachten in Ost-Berlin vorzubereiten. In anderen Regionen kam es ab 20. Januar zu Solidarisierungsaktionen, zuerst in Leipziger Kirchen (Dok. 61). Aber die Veranstaltungen erhielten zunächst nur geringen Zulauf. Am Abend des 22. Januar 1988 strahlten die bundesdeutschen Fernsehsender – Ralf Hirsch war bei der Herstellung und Übermittlung an den ARD-Korrespondenten Hans-Jürgen Börner behilflich – eine Videobotschaft von Freya Klier aus. Sie erklärte, wer ihr Mann Stephan Krawczyk sei, dass er seit 1985 Berufsverbot habe und sich nach einer wahren sozialistischen Gesellschaft sehne. Sie forderte die DDR-Regierung auf, Krawczyk freizulassen. Und sie appellierte an bundesdeutsche Künstler, bis zu dessen Freilassung nicht in der DDR aufzutreten. 300 SED und MfS befürchteten, Klier wolle eine Solidarisierungsbewegung entfachen wie es sie 1976 nach Biermanns Ausbürgerung in Ost und West gegeben hatte. 301 Nicht wenige Oppositionelle fanden ihren Appell übertrieben. Bundesdeutsche Künstler forderten in einem Offenen Brief an Honecker die sofortige Freilassung aller Inhaftierten und die Aufhebung des Berufsverbots für Krawczyk. 302 Auch
300 FR vom 26.1.1988, nachgedruckt in: epd-Dokumentation 9/1988, S. 53. 301 BV Berlin, Abt. XX, Auskunftsbericht Freya Klier, 24.1.1988. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 3341/88, Bd. 1, Bl. 165. 302 Offener Brief, in: taz vom 25.1.1988.
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Biermann, Kunze, Fuchs, Loest und viele weitere aus der DDR emigrierte Künstler publizierten eine Erklärung: »Ja, es ist Krieg.« 303 Was genau in den Tagen nach dem 17. Januar in den Büros der SED- und MfS-Strategen vor sich ging, lässt sich nicht präzise rekonstruieren. Die Archive geben für einige Fragen nichts her, die Beteiligten aufseiten des Staates schweigen. Die Ereignisse nach dem 25. Januar zeigten aber, dass man weiterhin gewillt war, die Pläne vom August und Dezember 1987 umzusetzen. Denn an diesem Montagmorgen verhafteten MfS-Festnahmegruppen Freya Klier, Bärbel Bohley, Werner Fischer, Ralf Hirsch sowie Regina und Wolfgang Templin (Dok. 63). 304 Gegen sie waren Ermittlungsverfahren eingeleitet worden – ebenso gegen Roland Jahn. Die wichtigste Quelle für die angestrebten Gerichtsverfahren bildeten nunmehr juristisch angeordnete Telefonüberwachungsmaßnahmen, die sich auch auf Lutz Rathenow, Gerd Poppe u. a. erstreckten (Dok. 48–49, 54–56, 58, 60, 64–65, 69–72). Nachdem die Verhaftung dieser sechs wegen landesverräterischer Beziehungen – es drohten Gefängnisstrafen bis zu 12 Jahren (§§ 99, 100, 219 StGB) – bekannt wurde, erhob sich ein Proteststurm im In- und Ausland (Dok. 96). Die SED hatte diese Aktion angeschoben, um »einer Entwicklung wie sie Anfang der 80er Jahre in der Volksrepublik Polen typisch war«, 305 zuvorzukommen (Dok. 59). Nun aber schien die Situation zu eskalieren. Nicht nur in Kirchen gab es Veranstaltungen, im gesamten Land sind Protest- und Solidaritätslosungen an öffentliche Gebäude und Plätze geschrieben worden, Hunderte Eingaben gingen binnen weniger Tage bei SED und staatlichen Stellen ein. Es gab tagelang kaum ein anderes politisches Gesprächsthema im Land. Zwischen 1. Februar und 20. März wurden 380 Ermittlungsverfahren wegen solcher Proteste eröffnet. In dieser Zeit sind auch 120 Verfahren abgeschlossen worden, die Hälfte endete mit Haftstrafen bis zu zwei Jahren. Monatelang kamen wöchentlich 60 neue Verfahren und wöchentlich auch jeweils 60 neue Urteile hinzu. 306 Hunderte Antragsteller erhielten überstürzt die Ausreise. Der Bundestag debattierte darüber, 307 aus fast allen west- und osteuropäischen Staaten sowie aus Nordamerika protestierten Politiker, Intellektuelle und Bürgerrechtler. Noch mehr Protestschreiben stammten aus der DDR selbst. Die Absender galten fortan als feindlich-verdächtige Personen, deren Zahl so
303 Ja, es ist Krieg, in: taz vom 26.1.1988. 304 Die gesamten Ereignisse sind hervorragend dokumentiert worden von Peter Grimm, Reinhard Weißhuhn, Gerd Poppe: Fußnote 3. Berlin Juli 1988 (Samisdat). 305 BStU, MfS, HA IX 10822, Bl. 95. 306 Ebenda, Bl. 116r. 307 Vgl. Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 57. Sitzung, 3. Februar 1988, S. 3952–3963; zuvor auch bereits über die »Zionsaffäre«: Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 48. Sitzung, 9. Dezember 1987, S. 3309–3319.
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groß war, dass sie vom MfS nicht mehr alle »operativ bearbeitet« werden konnten. Am 28. Januar 1988 verurteilte ein Ostberliner Gericht Vera Wollenberger zu sechs Monaten Gefängnis, am 1. Februar erhielten die drei Mitarbeiter der »Umweltbibliothek« die gleiche Strafe. Alle vier waren am 17. Januar verhaftet worden. Einen Tag später kam die Nachricht, Klier und Krawczyk seien in die Bundesrepublik ausgereist, ebenso Bert Schlegel, einer der drei von der »Umweltbibliothek« (Dok. 68). Noch einen Tag später erklärten Klier und Krawczyk, sie seien weder freiwillig ins Gefängnis gegangen noch freiwillig in die Bundesrepublik und forderten ihre Rückkehr in die DDR (Dok. 69). 308 Die Öffentlichkeit und die Opposition waren gleichermaßen irritiert. Rechtsanwalt Wolfgang Schnur sagte am 4. Februar abends in der Gethsemanekirche vor etwa 2 500 Menschen, Klier und Krawczyk hätten sich nach ihrer Ausreise »mies« verhalten. Es sei verabredet gewesen, vorerst keine öffentlichen Erklärungen abzugeben und die beiden sollten nur mit ihm telefonieren. 309 Als die beiden sich dann aber wiedersahen und über die Ereignisse sprachen, dämmerte ihnen, dass sie von Schnur getäuscht worden waren. 310 Erst im Frühjahr 1990 stellte sich heraus, dass sie Recht hatten und Schnur IM des MfS war. Wie wichtig er war, zeigt eine Notiz seines Führungsoffiziers vom 8. Februar 1988: »Mehrere Aufgaben wurden von der Leitung des MfS gestellt, sie wurden vom IM gelöst und fanden die Anerkennung des Gen. Minister […].« 311 Die Irritationen steigerten sich noch, als am 5. Februar Ralf Hirsch mit einem Ausreiseantrag in die Bundesrepublik gezwungen wurde, die Templins mit ihren Kindern für zwei Jahre in die Bundesrepublik 312 und Bohley und Fischer für ein halbes Jahr nach England gingen (Dok. 70). 313 Am 8. Februar folgte ihnen Vera Wollenberger für ein Jahr ebenfalls nach England mit zwei Kindern, der älteste Sohn (16 Jahre) blieb in der DDR (Dok. 73). 314 Die Protestbewegung in Ost-Berlin erlahmte nun. Die IFM beschloss, bis zur Rückkehr von Bohley und Fischer weniger öffentlich in Erscheinung zu 308 Vgl. auch Freya Klier: Aktion »Störenfried«. Die Januar-Ereignisse von 1988 im Spiegel der Staatssicherheit, in: Hans Joachim Schädlich (Hg.): Aktenkundig. Berlin 1992, S. 91–153. 309 HA XX/2, Bericht zum Treff mit IM »Martin« vom 4.2.1988, 5.2.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 25, Bl. 430. 310 Vgl. Klier: Aktion »Störenfried«. Das hat allerdings nicht sofort die ganze Glaubwürdigkeit Schnurs bei allen erschüttert: Brief vom 18.2.1988 an Wolfgang Schnur. BStU, MfS, HA XX/4 3628, Bl. 17–18. 311 MfS, HA XX/4, Treffbericht, 8.2.1988. BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Bd. 12, Bl. 151. (Aus diesem Dokument geht hervor, dass sich Schnur vom 28.1. bis 8.2.1988 11-mal mit seinen Führungsoffizieren traf.) 312 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Templin in diesem Band. 313 Vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011. 314 Vgl. Vera Lengsfeld: Von nun an ging’s bergauf … Mein Weg zur Freiheit. München 2002.
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treten, um deren Wiedereinreise nicht zu gefährden (Dok. 75, 78). Zugleich weiteten sich in den folgenden Wochen und Monaten die oppositionellen Bewegungen in allen anderen Regionen aus. Und bis zum Herbst 1989 ebbte der öffentliche Protest von Ausreisewilligen nicht mehr ab. SED und Staatssicherheit standen nach dem 5. Februar zunächst wie »Sieger« da – zumindest haben sie es selbst so gesehen. 315 Stasi-IM, die innerhalb der Opposition, vorzugsweise der IFM, agierten und alles weitergaben, was sie erfuhren, waren als Informanten neben den abgehörten grenzüberschreitenden Telefongesprächen die wichtigsten Quellen, ohne aber politisch in der IFM wirklich etwas bewirken zu können. Es gab IM wie Sascha Anderson, die in West-Berlin eingesetzt waren und über das Wirken von Roland Jahn, Jürgen Fuchs oder Rüdiger Rosenthal berichteten. 316 Es wären Kirchenleitungsmitglieder zu nennen, die sich erneut nach »Denkpausen« sehnten, die das StaatKirche-Verhältnis noch immer nicht belastet sehen wollten und von denen einige mit dem MfS konspirativ zusammenarbeiteten. Der katholische Bischof von Berlin, Kardinal Joachim Meisner, zeigte sich überdies am 1. Februar 1988 besorgt, dass Gottesdienste in evangelischen Kirchen zu politischen Informationsveranstaltungen gerieten »– aus welchen Gründen auch immer. Wenn ein Gottesdienst nicht mehr zuerst der Gottesverehrung dient, dann ist das nach unserem katholischen Verständnis ein fragwürdiges Unterfangen.« 317 Zudem gab es eine besondere Personengruppe, die den Inhaftierten als Freunde und sogar in einem Fall als Ehepartner »zur Seite« stand. Sowohl Rechtsanwalt Schnur (IM »Torsten«) als auch Vera Wollenbergers Ehemann Knud (IM »Donald«) agierten seit vielen Jahren für das MfS. Neben den kirchlichen Amtspersonen spielte vor allem Schnur eine Schlüsselrolle. 318 Zwar agierte auch Staranwalt Wolfgang Vogel mit, aber dessen Rolle war bekannt und er 315 In einem Vortrag in der BV Gera nach den Ereignissen ist das sehr anschaulich nachhörbar, auch wenn der Vortragende nicht sonderlich kenntnisreich war und die UB und IFM ständig durcheinanderbrachte, was aber vielleicht sogar Absicht war. Dass die Oppositionellen in den Westen gingen, bezeichnete der ranghohe Stasi-Offizier als »Stärke« des MfS: BStU, MfS, BV Gera, Tb 21. 316 Mit dessen IM-Tätigkeit – nunmehr unter seinem dritten Decknamen »Peters« – schien die Stasi im Gegensatz zu anderen IM zufrieden zu sein. Major Graupner von der HA XX/5 notiert am 18.8.1988 in seinem Arbeitsbuch bei einer Besprechung zur Bearbeitung von Jahn, Hirsch u. a.: »›Peters‹ gute Resultate (HA XX/9)«. MfS, HA XX, Horst Graupner, Arbeitsbücher, 25.11.1985– 7.11.1989, 3 Stück. BStU, MfS, HA XX 8433, Bl. 357. Horst Graupner (geb. 1930) war seit 1950 MfS-Mitarbeiter, seit 1963 in der HA V und seit 1965 Referatsleiter in der HA XX/5. Am 1.2.1989 ist er zum Oberstleutnant befördert worden (BStU, MfS, HA KuSch KS 3906/90). 317 »Lasst niemanden allein«. Kardinal Meisner an die Priester und Diakone (1.2.1988), in: epdDokumentation 9/1988, S. 64. 318 Knud Wollenberger spielte nur im speziellen Fall seiner Ehefrau eine Rolle. Allerdings musste das MfS konstatieren, dass der IMB »Donald« einer endgültigen »Aussiedelung [seiner Ehefrau] aus der DDR generell ablehnend« gegenüberstehe und er somit ihre Rückkehr in die DDR wünsche: Operativ zu beachtende Hinweise zu einzelnen IM der Abteilung XX, BV Berlin. BStU, MfS, ZAIG 15321, Bl. 13.
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galt nicht als vertrauenswürdig. Wolfgang Schnur hingegen setzte sich als Rechtsanwalt für die Belange von Bausoldaten und Oppositionellen ein. Hirsch und Eppelmann waren mit ihm befreundet und fast alle – bis auf wenige Ausnahmen – vertrauten ihm. Er, aber auch Gregor Gysi, Lothar de Maizière und vor allem Manfred Stolpe spielten alle in diesen Tagen eine wichtige Rolle. 319 Klier und Krawczyk, Hirsch, Bohley, Fischer und die Templins sind in den Westen gedrängt worden, abgeschoben hat sie der Staat, der dies seit Sommer 1987 geplant hatte. Niemand hat ihnen im Knast von der Welle der Solidarität im ganzen Land berichtet. Knud Wollenberger und Wolfgang Schnur beteuerten bei ihren Besuchen, draußen sei nichts los, niemand kümmere sich um das Schicksal der Verhafteten. Derweilen hatte die SED medial eine wochenlange Hetzkampagne gegen die Opposition, gegen Kirchen und Unterstützer wie Jahn und Fuchs losgetreten. Das MfS setzte auch hier seine Pläne zielgerichtet um. Es wurden Beiträge aus bundesdeutschen DKP-Zeitungen – die in diesem Zusammenhang meist in Dienstzimmern der Stasi entstanden waren – ebenso wie PrawdaKommentare aus Moskau nachgedruckt. An MfS-Schreibtischen sind zahlreiche Beiträge gefertigt worden, die als ADN-Kommentare oder namentlich gezeichnete Artikel wie Hintergrundberichte daherkamen. 320 Noch vor der zweiten Verhaftungswelle veröffentlichte das »Neue Deutschland« – fast alle diesbezüglichen Beiträge wurden am gleichen oder einen Tag später von den anderen DDR-Tageszeitungen nachgedruckt – am 24. Januar 1988 einen Aufsatz, mit dem bewiesen werden sollte, dass Roland Jahn die »heißersehnte ›DDR-Opposition‹« vom Westen aus unterstützte, was ja stimmte, und dass dieser geheimdienstlich gebunden sei. Seit Monaten suchte das MfS fieberhaft, aber vergeblich nach Beweisen für Jahns geheimdienstliche Tätigkeit. Intern bekannten die Offiziere, keine Beweise zu haben. Öffentlich ließen sie das Gegenteil erklären (Dok. 77). 321 Der Hintergrund wurde am 25. Januar mit den Festnahmen öffentlich: Der Vorwurf gegen Hirsch, Bohley, Fischer, Klier und die Templins, Verdacht auf landesverräterische Verbindungsaufnahme, basierte allein auf ihren intensiven Telefonkontakten zu Jahn (Dok. 64–65). Ein »Interview« 322 mit dem in der DDR durch eine regelmäßige Fernsehsen319 Siehe noch 154–156 320 Z. B. überliefert in: BStU, MfS, HA IX 13839. (Hier finden sich auch unveröffentlichte Ausarbeitungen.) 321 »Leute, mit denen wir im engen Kontakt stehen ...«, in: ND vom 24.1.1988; Dem »Deutschlandfunk« missfiel eine UZ-Enthüllung, in: JW vom 28.1.1988; Journalisten auf der Gehaltsliste der BRD-Geheimdienste, in: ND vom 3.2.1988; Wer steuert die sogenannte DDR-Opposition, in: ebenda vom 17.2.1988. (Bei diesen Artikeln lässt sich die MfS-Autorenschaft direkt beweisen.) 322 Das ist zuvor von Krenz und Honecker »redigiert« worden: BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 63–68 (handschriftlich ist notiert worden »1 Jahr + 6 Monate«).
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dung (»Der Staatsanwalt hat das Wort«) bekannten Leiter der Pressestelle beim DDR-Generalstaatsanwalt, Peter Przybylski, 323 suggerierte am 28. Januar rechtsstaatliches Vorgehen gegen die Verhafteten: Ihnen stünde ein Verteidiger zu. Auch Przybylski bekräftigte: Die Verhafteten hätten Kontakt »zu Personen und Einrichtungen außerhalb der Staatsgrenzen der DDR« gehabt, damit waren Jahn und Fuchs gemeint, »deren Beziehungen zu westlichen Geheimdiensten bekannt sind«. 324 Nach Kliers und Krawczyks Ausreise folgte am nächsten Tag ein diffamierender Artikel über den Liedermacher, der an Böswilligkeit kaum zu überbieten war. Mit »Krawczyk wählte den [Weg] ins Gestern [...]« endete er. 325 Die SED versuchte im Folgenden noch mehrfach, Rosa Luxemburg und ihren berühmten Satz von den Andersdenkenden für sich zu retten. 326 Das MfS erarbeitete für die SED eine parteiinterne Information, mit der alle Parteifunktionäre ab 2./3. Februar 1988 327 über die Hintergründe der Ereignisse aufgeklärt werden sollten. Namentlich wurden die am 25. Januar Verhafteten sowie Stephan Krawczyk genannt. Ihre Ziele bestünden darin, die führende Rolle der SED zu beseitigen. Nachgewiesen sei, dass sie mit »geheimdienstlich gesteuerten Kreisen« zusammenarbeiteten. Fuchs und Jahn zählten zu diesen »Verbindungspersonen«, deren Ziel es sei, eine »›innere Opposition in der DDR‹ zu organisieren«. »Grenzfall« und »Umweltblätter« seien staatsfeindliche Schriften. Die Kirchen würden von ihnen zu politischen Zwecken missbraucht, was fast alle Christen ablehnten. Die DDR aber bringe nichts von ihrem Weg ab. Deshalb müssten diese Personen »sich jetzt vor dem
323 Er war auch dabei, als am 10.2.1988 SED-Bezirkschef Schabowski mit etwa 120–150 Schauspielern und Angestellten des Deutschen Theaters über innenpolitische Fragen diskutierte, wobei den Ausgangspunkt ein Brief zur Festnahme Kliers, Krawczyks usw. bildete. Die mehrheitliche Stimmung war offenbar gegen die SED-Linie im Zusammenhang mit Klier, Krawczyk u. a. gerichtet (BStU, MfS, HA XX 10817, Bl. 144–164). 324 ADN-Interview mit Pressechef der Generalstaatsanwaltschaft, in: ND vom 28.1.1988. 325 Peter Neumann: Der unaufhaltsame »Aufstieg« ins Abseits. Anmerkungen zum Fall Stefan (sic) Krawczyk, in: JW vom 3.2.1988. 326 Den Satz hat Rosa Luxemburg selbst nie veröffentlicht. In einer handschriftlichen Bemerkung schrieb sie in einer Auseinandersetzung mit den russischen Revolutionären an den Rand eines unfertigen Manuskriptes: »Freiheit nur für Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird.« (Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: dies.: Gesammelte Werke. Bd. 4, Berlin 1974, S. 359, Anm. 3.) Eine Luxemburg-Expertin vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED fügte den gewichtigsten Beitrag hinzu. Vgl. Annelies Laschitza: Rosa Luxemburgs Verständnis und Kampf für Demokratie, in: JW vom 29.1.1988. Im November 1989 verteidigte sie dann mit Luxemburg die SED: dies.: Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden, in: ND vom 11./12.11.1989. 327 Büro des Politbüros, Fernschreiben vom 1.2.1988. BArch DY 30/5175.
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Gericht verantworten«. 328 Dieses Papier belegt, dass nicht feststand, die Verhafteten außer Landes zu bringen. 329 Diese vom Stellenwert hoch einzuschätzende Parteiinformation machten sich die Funktionäre zu Eigen und argumentierten auf dieser Linie. Nur zwei, drei Tage später kam die Meldung, die Verhafteten seien in die Bundesrepublik bzw. nach England ausgereist, einige nur befristet. 330 SED und MfS hatten ein Eigentor geschossen. Denn sie hatten es geschafft, auch jene zu verunsichern und an ihrer Politik verzweifeln zu lassen, die eigentlich treu zu ihr standen. Im SED-Apparat gab es mehrere Gründe, warum keine Haftstrafen verhängt worden sind. 331 Die SED-Führung zeigte sich von der nach dem 25. Januar anwachsenden gesellschaftlichen Solidarisierungswelle überrascht und befürchtete, diese nicht mehr kontrollieren zu können. Zudem »hätte eine Verurteilung bei inneren Feinden eine nicht geringe nachhaltige abschreckende Wirkung hinterlassen«, den Inhaftierten aber wäre eine »Märtyrerrolle« zugefallen. »Das hätte den gegnerischen Kräften aller Schattierungen ständig Stoff geliefert. Selbst bestimmte kirchenleitende Kräfte und Amtsträger wären in ihrer oppositionellen Haltung gegenüber dem Staat bestärkt worden.« 332 Es überraschten die Proteste aus der westeuropäischen Friedensbewegung sowie von Parteien und gesellschaftlichen Organisationen, mit denen die SED »auch künftig im Interesse der Fortsetzung unserer außenpolitischen Linie« zusammenarbeiten wolle. Mielke betonte vor der Führungsmannschaft seines Ministeriums, dass die im Land verbliebenen Oppositionellen noch intensiver überwacht werden müssten. Es bleibe die Aufgabe, ihnen strafrechtlich relevantes Handeln nachzuweisen. Alle Diensteinheiten seien gefordert, um Bohley, Fischer, Klier, Krawczyk, Hirsch, Wollenberger und die Templins auch im Westen lückenlos zu überwachen (Dok. 80, 83–84). Deren Verbindungen zu westlichen Geheimdiensten seien nachzuweisen. »Es geht aber auch um die Erkenntnis, in welcher Lage [...] sie sich befinden [...], welche Wirkungen das evtl. auf die Kinder hat.« Mielke weiter: »Damit sind zugleich die erforderlichen Grundlagen zu schaffen, um auch den mit Reisepass ausgereisten Feinden die Staatsbürgerschaft der DDR abzuerkennen. Dieser
328 Zur Festnahme von Personen wegen des begründeten Verdachts landesverräterischer Beziehungen. Informationen 1988/2, Nr. 243, 4 S. (parteiinternes Agitationsmaterial). 329 Siehe S. 154–162. 330 Auch wurden in anderen internen Informationen zunächst falsche Angaben weitergegeben. So informierte Mielke die MfS-Führungsebene noch am 8.2.1988, dass die Templins für 5 Jahre und Bohley/Fischer für 2 Jahre befristete Visa erhalten hätten und innerhalb »dieser Fristen […] ihnen eine Einreise in die DDR nicht gestattet« sei. Hingegen korrekt war die Mitteilung, dass die Ermittlungsverfahren fortgeführt würden (MfS, Minister, an die Leiter der Diensteinheiten, 8.2.1988. BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 8484). 331 Siehe auch S. 154–162. 332 BStU, MfS, HA IX 10822, Bl. 99.
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Hinweis ist aber nur für diesen Kreis bestimmt, dem wohl klar sein dürfte, dass diese Personen auch in Zukunft in der DDR nichts mehr zu suchen haben.« 333
Innerhalb des MfS sind diese befehlsmäßigen Aufgabenstellungen bereits zuvor an die zuständigen Mitarbeiter erteilt worden. 334 War bis Ende 1987 in den MfS-Papieren von »zerschlagen«, »liquidieren«, »verhindern« die Rede, so hieß es nun bezogen auf die Opposition eher »kontrollieren«, »einschränken«, »begrenzen«, »einengen«. Die Stasi schätzte ein, die Opposition sei geschwächt, gab sich aber nicht der Illusion hin, sie zerstört zu haben. Es erweitere sich die oppositionelle Basis und diese breite sich über das ganze Land aus. Auch wenn das MfS seine Zersetzungsmethoden weiterhin verfolgen werde, so könne man auf eine Zerschlagung der Opposition nicht hoffen. Dies könnte nur mit politischen Mitteln bewirkt werden. 335 Das Verhältnis zwischen SED-Staat und evangelischen Kirchen war nach diesen Ereignissen beeinträchtigt. Für den 3. März 1988 war ein Treffen zwischen Honecker und dem Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen, Werner Leich, geplant, um das Stillhalteabkommen von 1978 zu erneuern. 336 Bereits am 18. Februar 1988 schickte Honecker an alle SED-Bezirks- und Kreisleitungen ein Schreiben, mit dem er auf »konterrevolutionäre Aktionen« hinwies, die »unter dem Dach der Kirche« stattfänden. Es müssten auf allen Ebenen mit den Kirchen Gespräche geführt werden, um »staatsfeindliches Handeln« in den Kirchen zu unterbinden. 337 Als Gesprächsleitfaden legte er eine Rede bei, die Politbüromitglied Werner Jarowinsky, zuständig für Kirchenfragen, einen Tag später bei einem Gespräch im Staatsratsgebäude Leich vortrug. Darin hieß es, die Ökumenische Versammlung zeige, 338 der 17. Januar sei keine »einzelne Entgleisung« gewesen. »Bestimmte 333 Erich Mielke, Referat auf der erweiterten Sitzung des Kollegiums des MfS, 9.3.1988. BStU, MfS, ZAIG 8618, Bl. 49, 71. 334 MfS, HA XX, Horst Graupner, Arbeitsbücher, 25.11.1985–7.11.1989, 3 Stück. BStU, MfS, HA XX 8433, Bl. 311 (Eintrag vom 15.2.1988). Ein Jahr später notiert er, dass es zu wenige offizielle Beweise gibt, um den Templins die Staatsbürgerschaft aberkennen zu können (ebenda, Bl. 397, Eintrag vom 14.3.1989). 335 Einen solchen Versuch stellte die Anfang 1989 bekannt gewordene Absicht dar, einen »Verband der Freidenker« zu bilden, der einem SED-Politbürobeschluss zugrunde lag und mit massiver Unterstützung des MfS umgesetzt wurde. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 304–307. 336 Gespräch Erich Honecker – Werner Leich am 3.3.1988/Krusche zieht Bilanz: Zehn Jahre nach dem 6.3.1978, in: epd-Dokumentation 12/1988; Protokoll Nr. 10 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 8.3.1988, Anlage 1: Niederschrift über das Gespräch … [von] Erich Honecker mit … Werner Leich am 3.3.1988. BArch DY 30, I IV 2/2/2263, Bl. 23; diese Anlage ist später publiziert worden, in: Utopie kreativ 1992/19–20, S. 107–119. 337 Erich Honecker an die 1. Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen, 18.2.1988. BStU, MfS, SdM 2224, Bl. 94. 338 Vgl. Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Dresden–Magdeburg–Dresden. Eine Dokumentation. Berlin 1990; Christian Sachse: »Mündig
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Kreise« lehnten das Konzept »Kirche im Sozialismus« ab. »Sie möchten das längst überholte und gescheiterte Konzept der Kirche als politische Opposition gegen den Sozialismus, der Kirche als ›trojanisches Pferd‹, wiederbeleben.« Es »muss Schluss sein damit [...], Kirchen zu Oppositionslokalen gegen den Staat zu machen.« Das SED-Politbüro sehe »Auflösungserscheinungen kirchlicher Strukturen, kirchlicher Ordnung«, und zugleich bildeten »sich regelrechte ›Substrukturen‹«. Kirchliche Dienststellen würden zu »Kontaktbüros«, »Solidaritätsbüros«, »Büros rüber« oder »Koordinierungszentren« umfunktioniert. »Jetzt ist es höchste Zeit, unverzüglich dafür zu sorgen und zu garantieren, dass überall Kirche wieder Kirche wird.« 339 Ein Vermerk über das Gespräch lässt erahnen, wie Leich von Jarowinskys Einlassungen überrascht war. Er sei zu einem Gespräch eingeladen worden, nun »aber sehen wir uns als Empfänger einer Erklärung. Es fällt uns schwer, dieses zu akzeptieren«. Jarowinsky bekräftigte mit neuen Beispielen seine scharfe Kritik, um zynisch zu beteuern: »›Wir sind auch Andersdenkende‹, mit denen zu sprechen ist.« 340 In den Kirchen begannen die Debatten um die Oppositionsgruppen schärfer als zuvor polarisierend zu wirken. Nur eine Minderheit der Kirchenleitungsmitglieder, Gemeindepfarrer und Kirchenmitarbeiter hielt offensiv und öffentlich zu den Oppositionsgruppen. Konservative Kirchenleute wie Superintendent Ulrich Woronowicz (Bad Wilsnack) wollten wieder Kirche Kirche sein lassen und spielten damit dem Staat, den sie ablehnten, ebenso in die Hände wie Generalsuperintendent Günter Krusche, der mal wieder eine »Denkpause« vorschlug. 341 Am 11. Mai 1988 betonte er an der Universität Münster, die Kirchen dürften sich von systemkritischen Gruppen nicht in Konfrontation zum Staat drängen lassen. 342 Einzelne Gemeindepfarrer und Kirchenmitarbeiter sorgten aber dafür, dass Kirchen im Land offen für alle blieben. Die Opposition in Ost-Berlin hatte mit den Nachwehen der Ereignisse lange zu tun. Die verbliebenen IFM-Mitglieder um Gerd und Ulrike Poppe, Reinhard Weißhuhn, Peter Grimm und Martin Böttger hielten engen telefonischen Kontakt zu den nun im Westen Wohnenden und betrieben zudem neue werden zum Gebrauch der Freiheit«. Politische Zuschriften an die Ökumenische Versammlung 1987– 89 in der DDR. Münster 2004; zur politischen Rolle dieser für 1989 vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 229–232. 339 [SED-Politbüro, Werner Jarowinsky], Zu prinzipiellen Fragen der Beziehungen zwischen Staat und Kirche [19.2.1988]. BStU, MfS, SdM 2224, Bl. 95, 98r, 100, 101. Auch in: epdDokumentation 43/1988, S. 61–65. 340 BEK, Vertraulicher Vermerk, 19.2.1988, in: epd-Dokumentation 43/1988, S. 66, 68. 341 Zu Woronowicz: MfS, BV Schwerin, Berichterstattung, Fernschreiben an MfS, General Mittig, Februar 1988. BStU, MfS, HA XX/4 1728, Bl. 73–74; Günter Krusche: Im Gespräch (Kommentar), in: Potsdamer Kirche vom 17.2.1988. 342 Chronik 11.5.1988, in: KiS 14 (1988) 3, S. 126.
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Projekte, wie die Herausgabe von Publikationen im Samisdat. Anfang August kehrten Bärbel Bohley und Werner Fischer aus England zurück (Dok. 89–90, 94). Honecker hoffte darauf, auch in London einen offiziellen Staatsbesuch absolvieren zu können und musste die beiden wieder zurückkehren lassen, wollte er keinen zwischenstaatlichen Eklat heraufbeschwören. Die Entscheidung war endgültig Anfang Juli gefällt worden, nachdem Forck sich in einem Brief an Honecker dafür verwendet hatte. Die Entscheidung ist am 5. Juli Stolpe mitgeteilt worden, 343 da hatten Bohley und Fischer bereits die Rückflugtickets London – Prag gebucht. 344 Bereits im Juni unterrichtete Stasi-IM Schnur seine Führungsoffiziere, dass »der Rückflug von London nach Prag« deshalb erfolge, wie er von Stolpe und anderen erfahren habe, »weil der DDR die Möglichkeit genommen werden soll, Bärbel Bohley und Werner Fischer unmittelbar nach London zurückzuschicken«. Weiter berichtete er: »Außerdem habe Stolpe die Absicht, dem Staat den Vorschlag zu unterbreiten, um überhaupt kein Aufsehen in dieser Sache zu machen, dass die Rückkehr drei bis vier Tage vorher erfolgt […]« 345 Die Intentionen von Bohley, Fischer und der Kirchenleitung trafen sich in diesem Punkt. Bohley und Fischer hatten für den Fall, dass es nicht klappen sollte mit der Wiedereinreise, eine Videobotschaft in London vorbereitet, die die ARD ausgestrahlt hätte. 346 Ralf Hirsch war die Vertrauensperson, die dafür sorgte, dass die Wiedereinreise ohne unmittelbares mediales Aufsehen erfolgte. 347 Zugleich bildeten sich neue Gruppen in der gesamten DDR. In Leipzig setzten ab 1987 Differenzierungsprozesse ein, sodass die Messestadt ab 1988 neben Ost-Berlin zum zweiten Oppositionszentrum avancierte. Die Gruppen waren zum Teil zuvor gebildet worden, gewannen aber ab 1988 politisches Profil. Die aus der Not geborenen regionalen und überregionalen Kommunikationsstrukturen wurden gefestigt oder neu geordnet. In mehreren Städten blieben Kontakttelefon- und Koordinierungsgruppen bestehen (Dok. 66), zuweilen – wie in Ost-Berlin und Leipzig – monatelang ohne festes Telefon (Dok. 120). Anfang 1989 stellte die Berliner Gethsemanegemeinde, nachdem Verhandlungen mit der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung ergebnislos blieben (Dok. 129), ein Telefon als oppositionelles Kontakttelefon zur Verfü343 Werner Jarowinsky an Egon Krenz, 7.7.1988. BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 104–107. 344 Bohley: Englisches Tagebuch, S. 115 (Eintrag vom 2.7.1988). 345 MfS, HA XX/4, Bericht, 23.6.1988. BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Bd. 12, Bl. 310 (basierend auf einem Bericht von Schnur). 346 MfS, HA XX/4, Bericht über die Ankunft von Bärbel Bohley, Werner Fischer und Anselm Bohley am 3.8.1988 in der Wohnung von Propst Furian in Zossen, 4.8.1988. Ebenda, Bl. 315 (basierend auf einem Bericht von Schnur). 347 Das bestätigt auch: MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Tonbandbericht IMB »Dr. R. Schirmer«, Bericht über den Sachvorgang Bärbel Bohley vom 8.8.1989. Ebenda, Bl. 319–322. Es handelte sich bei dem IM um Wolfgang Schnur.
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gung (Dok. 91, 125, 128, 136). 348 Auch in Leipzig verhandelten Oppositionelle und Kirchenmitarbeiter seit Februar 1988 mit der Kirchenleitung über einen Raum mit Telefon. Pfarrer Turek von der Markusgemeinde stellte schließlich ohne Rückendeckung am 15. September 1989 beides zur Verfügung. Für die weitere Entwicklung 1988/89 war die Einsicht wichtig, dass die bisherigen Gruppenstrukturen und Kommunikationsnetze nicht ausreichend seien. Bärbel Bohley meinte, die IFM müsse zum Dach aller Gruppen werden. 349 Zugleich brodelte es in den Ostberliner Gruppen heftig. Viele, die der IFM ohnehin ferner standen, schätzten den Weggang der Inhaftierten als verfrüht, feige, freiwillig, gewollt ein. Der Streit eskalierte, als Reinhard Schult im April 1988 einen Artikel im Samisdat mit dem Titel »Gewogen und für zu leicht befunden« publizierte (Dok. 79). Schult, der 1979/80 acht Monate im Gefängnis gesessen hatte und zu den markantesten Oppositionellen zählte, rechnete mit seinen Freunden hart ab. Ihn schmerze, dass der »Flächenbrand der brennenden Herzen und betenden Hände [...] verlosch«, weil die Inhaftierten in den Westen gingen. »Nicht ausgetreten durch die allmächtige Staatsgewalt, sondern durch die vermeintlich eigenen Leute.« Die Inhaftierten hätten ihren Prozess abwarten, hätten ein paar Monate absitzen, hätten Verantwortung für »die Mitkämpfenden« draußen zeigen müssen. Er zieh sie der Trittbrettfahrerei, und: »Die Inhaftierten gingen als politische Personen in den Knast, verlassen haben sie ihn als Privatpersonen.« Ihr Verhalten sei »eine politische und moralische Bankrotterklärung«. 350 Schult erhielt für seinen Vorstoß Beifall, auch von Kirchenleuten. Aber die Front der Ablehnung war nicht minder stark. Martin Böttger entgegnete, dass Schult in mehreren Punkten irre. Auch er wollte nicht mit Ausreisewilligen politisch zusammengehen, verteidigte aber das Menschenrecht auf Ausreise und die Solidarität mit Ausreisewilligen, wenn sie verfolgt würden. 351 Stephan Krawczyk und Vera Wollenberger zeigten sich in Briefen tief empört und bezichtigten Schult, der Staatssicherheit ungewollt in die Hände zu spielen.352 348 RHG, Bestand MBi 08. 349 MfS, HA XX/9, Faktenanalyse zum OV »Bohle«, 29.12.1988. BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 15, Bl. 111. Siehe auch Zitate in: Katja Havemann, Joachim Widmann: Robert Havemann oder: Wie die DDR sich erledigte. München 2003, S. 407. 350 Reinhard Schult: Gewogen und für zu leicht befunden. Versuch einer Einschätzung der Januarereignisse. Aufruf zur Diskussion, in: Friedrichsfelder Extrablatt, April 1986, S. 3–7 (Samisdat). 351 Martin Böttger: Brief, in: Friedrichsfelder Feuermelder, Mai 1988, S. 9 (Samisdat). 352 Was Reinhard Schult nicht ahnen konnte: Das MfS ließ über IM und Kontaktpersonen seinen Artikel zielgerichtet in West-Berlin und der Bundesrepublik verteilen (BStU, Arbeitsbuch Major Horst Graupner. BStU, MfS, HA XX 8433, Bl. 274, Eintrag vom 9.5.1988). In einem von der Stasi fingierten Brief, der Eppelmann, G. Poppe und vor allem Hirsch schaden sollte, wurde auf »SchultExtra« auch Bezug genommen. Der Brief kursierte in West-Berlin und stammte aus dem Mai 1988: RHG, RJ 03.
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Sie waren fassungslos wegen seiner Bemerkung von den »vermeintlich eigenen Leuten«. 353 Der wichtigste zustimmende Beitrag kam von Wolfgang Wolf, der als IM für das MfS arbeitete. 354 Es gab zahlreiche inoffizielle Mitarbeiter der Stasi, die in der Oppositionsszene tätig waren. Wenige Oppositionelle waren vor ihrem Engagement in der Opposition zeitweise für das MfS tätig. Das bekannteste Beispiel dafür ist Wolfgang Templin, der von 1971 bis 1975 als IM arbeitete und die Zusammenarbeit mit dem MfS durch Dekonspiration beendet hatte. 355 Seit dieser Zeit arbeitete er in oppositionellen Zirkeln mit. Aus der SED trat er 1983 aus. Der vom MfS gegen ihn geführte OV hieß »Verräter«. 356 In fast jeder oppositionellen Gruppe arbeiteten IM. Die Spitzel waren nicht erfolglos: Sie säten Zwietracht, verschleppten Debatten und Aktionen, verhinderten einiges, gaben zahllose Informationen weiter. Sie haben aber die politischen Vorstellungen oder Absichten der Oppositionellen nicht nachhaltig beeinflussen können. Viele Oppositionelle waren Persönlichkeiten, die Gruppenzusammenhänge brauchten, die aber alle gesellschaftliche Isolationserfahrungen kannten und demzufolge meist dickköpfig genug waren, um auch dann auf Positionen zu beharren, wenn Mehrheiten in den Gruppen anderes wollten. Den Oppositionellen war bewusst, dass sie beschattet, dass ihre Telefone abgehört, ihre Post mitgelesen und ihre Gespräche belauscht wurden. Gerd Poppe zum Beispiel fand am 8. April 1981 ein winziges hochempfindliches Kondensatormikrofon, mit dem die Wohnung abgehört werden sollte.357 Rainer Eppelmann spürte eine MfS-Abhöranlage am 19. Dezember 1988 – es kamen dann noch weitere hinzu – sogar in seinem kirchlichen Dienstzimmer auf, was nicht nur dem MfS ungelegen kam, sondern auch der Kirche missfiel und zu einer »Anzeige gegen Unbekannt« 358 führte (Dok. 111–112, 114, 122– 124, 126–127). Gegen viele Personen, die nach 1989 als IM des MfS überführt wurden, existierten bereits in den Jahren zuvor Verdachtsmomente. Nach den Ereignissen von Anfang 1988 kam es zu einer Reihe von Debatten, die sich um vermeintliche IM drehten und überwiegend den Kern trafen. Am 15. März 1988 strahlte zum Beispiel das ARD-Politmagazin »Panorama« ein Interview mit 353 Beide Briefe sind abgedruckt in: Friedrichsfelder Feuermelder, Juni 1988, S. 1–6 (Samisdat). 354 Wolfgang Wolf, in: Friedrichsfelder Feuermelder, Juni 1988, S. 6, 17 (Samisdat). 355 BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 2, Bl. 42–43. 356 Vgl. Stasi-Akten »Verräter«; Inga Wolfram: Verraten. Sechs Freunde, ein Spitzel, mein Land und ein Traum. Düsseldorf 2009. (Mit dem Spitzel ist nicht Templin gemeint, es geht um eine Oppositionsgruppe, in der er aktiv war und bespitzelt worden ist.) 357 Die »Wanze« ist als Dauerleihgabe dem Haus der Geschichte übergeben worden. Abgebildet ist das »Fundstück« in: Ungleiche Schwestern? Frauen in Ost- und Westdeutschland. Bonn 1998, S. 83. (Dass es sich dabei um die fragliche Abhörtechnik handelt, verdanke ich einer Auskunft von Uwe Schwabe vom Haus der Geschichte Bonn/Leipzig.) 358 EkiBB, Propst Furian, Mitteilung vom 3.1.1989, in: epd-Dokumentation 6/1989, S. 25.
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Rainer Wolf aus. Der war Ende 1985 in die Bundesrepublik ausgereist und bekannte nun, als IM »Schreiber« für das MfS gearbeitet zu haben. 359 Sein Vater, Wolfgang Wolf, geriet ebenfalls unter Druck. Es gab keine Beweise, aber Indizien, die dafür sprachen, dass auch er dem MfS diente. Erst 1990 stellte sich heraus, dass Wolfgang Wolf als IM »Max« für das MfS tätig war, unter mehreren Decknamen bereits seit 1962. Auch Mario Wetzky (»Martin«), Reiner Dietrich (»Cindy«), Sascha Anderson (»David Menzer«, »Fritz Müller«, »Peters«), Lutz Nagorski (»Christian«), Falk Zimmermann (»Reinhard Schuhmann«), Lothar Pawliczak (»Wolf«), Frank Hartz (»Dietmar Lorenz«), Sinico Schönfeld (»Rudolf Ritter«) oder auch Wolfgang Schnur (»Torsten«, »Dr. Ralf Schirmer«) 360 gerieten 1988/89 in MfS-Verdacht. Wenige wie Wetzky oder Schönfeld konnten vor dem Herbst 1989 überführt werden. Zu den Enttarnten gehörte auch Monika Haeger (»Karin Lenz«). Das MfS bereitete sie auf eine Oppositionskarriere vor, schleuste sie dort ein und bezahlte sie. Haeger berichtete umfangreich wie Manfred »Ibrahim« Böhme (»August Drempker«, »Paul Bonkartz«, »Bernd Rohloff«, »Maximilian«) 361 und ließ nur selten etwas aus. Sie agierte in der IFM und bei den »Frauen für den Frieden«. Anfang 1989 erklärten Bärbel Bohley, Irena Kukutz und Katja Havemann, Haeger arbeite für die Stasi. 362 Als sich die IFM am 15. Februar 1989 in der Wohnung von Ulrike und Gerd Poppe traf und es um die StasiFrage bei Haeger ging – sie war vom MfS darauf vorbereitet worden –, war genau die Hälfte der anwesenden Teilnehmer IM der Stasi. Einzelne Mitglieder der IFM, die nicht für das MfS arbeiteten, votierten dafür, nicht das Spiel des MfS zu betreiben, sondern einfach wie bislang weiterhin öffentlich zu agieren. Den Oppositionellen war bewusst, dies zeigen die Dokumente, dass die Debatte eine von der Geheimpolizei intendierte destruktive Wirkung erzielen könnte. 363 359 Er hatte sich offenbar Roland Jahn und der Presse selbst angeboten, wie ein mitgeschnittenes Telefonat nahelegt: MfS, HA III, Mögliche gezielte Hetze gegen das MfS, 8.12.1987. BStU, MfS, HA XX/4 31, Bl. 55–56. Der angerufene Journalist, ein Kenner der DDR-Verhältnisse, »bezeichnete Wolf als eine Person, die ›eine Hacke‹ haben muss, wenn er ihm eine solche Mitteilung auf fernmündlichem Wege gibt« (Bl. 56). Das ist ein Beispiel dafür, dass sich auch auf bundesdeutschem Territorium manche bewusst waren, von der Stasi abgehört werden zu können. 360 Bei Schnur sind solche Verdachtsmomente zuerst von Freya Klier und Stephan Krawczyk nach dem 2.2.1988 erhoben worden. Nach seiner Ausreise nach West-Berlin hatte auch Ralf Hirsch diesen Verdacht, als ihm Einzelheiten bekannt wurden und er einschätzen konnte, in welchen Punkten Schnur ihm in der U-Haft nicht die Wahrheit gesagt hatte. Enge Freunde hielten ihn ab, diese Verdächtigungen öffentlich zu machen, was in der IM-Akte von Schnur dokumentiert ist: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275, 90, Teil II, Bd. 12. 361 Vgl. Christiane Baumann: Manfred »Ibrahim« Böhme. Ein rekonstruierter Lebenslauf. Berlin 2009. 362 Ich danke Irena Kukutz für Informationen dazu, die sie mir am 12.3.2014 schriftlich zur Verfügung stellte. 363 BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 28.
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Monika Haeger schrieb Anfang April 1989, kurz bevor sie sich gegenüber Gerd Poppe und Bärbel Bohley als Spitzel zu erkennen gab, ihrem Führungsoffizier einen Bericht, den sie mit »Versuch einer Analyse« betitelte. Darin machte sie vor dem Hintergrund ihrer »Fast-Enttarnung« als »Einzelkämpferin in der politischen Untergrundbewegung« an »der vordersten Front« eine Reihe Vorschläge, wie die IM-Tätigkeit effizienter gestaltet werden müsste. Als Hauptproblem benannte sie, dass sie andere Spitzel »erriechen« würde an deren Verhaltensweisen, an den Argumenten, an der Verhinderungs- und Verzögerungstaktik. Problematisch daran sei, dass nicht nur sie die anderen und die anderen sie erkennen würden, sondern auch die »Feinde« könnten daher die »stillen Kämpfer« ausmachen. 364 Das SED-Trommelfeuer gegen Roland Jahn wiederum führte dazu, dass Mitarbeiter der »Umweltbibliothek« und der KvU es für denkbar hielten, dass er für einen Geheimdienst arbeite. Solche Informationen sind teilweise von IM, auch in West-Berlin, gestreut worden. Jahn wurde daraufhin im Herbst 1988 die ihm im Dezember 1987 verliehene Ehrenmitgliedschaft der »Umweltbibliothek« (Dok. 53, 93) wieder aberkannt. Aber nicht nur SED und Stasi wirkten gegen die Opposition. Auch so mancher bundesdeutsche Politiker sah in den Oppositionellen »Störenfriede«. Bärbel Bohley berichtete zum Beispiel über solche Erfahrungen in der Bundesrepublik. 365 Der britische Historiker Timothy Garton Ash fand ein SEDDokument, das trotz SED-Färbung solche Haltungen eindrücklich belegt. Am 7. Juli 1988 empfing der SPD-Politiker Karsten D. Voigt zwei SEDFunktionäre. Er erklärte, er habe Informationen, Templin und Bohley wollten testen, ob sie in die DDR zurückreisen dürften. Voigts persönlicher Meinung nach, heißt es in diesem SED-Vermerk, »wäre es die glücklichste Lösung, sie zunächst einreisen zu lassen und bei oder wegen entsprechender Aktivitäten zu ergreifen und auszuweisen. Sie selbst und die hinter ihnen stehenden Dienste rechnen damit und hoffen darauf, dass die Sicherheitsorgane der DDR schon ihre Einreise verhindern werden. Das beabsichtigt man gegen die sicherheitspolitische Zusammenarbeit von SED und SPD auszuspielen. Allein deshalb informiere K. D. Voigt […] darüber.«
Der Historiker kommentiert: »Es ist nicht überraschend, dass die Interpretation dieses unsignierten Vermerks bei den Beteiligten heiß umstritten ist.« 366 Das Jahr 1988 war für die Opposition ein besonderes. Am Anfang sah es so aus, als würde der Staat sie empfindlich beeinträchtigen können. Wenige Mo364 Der Bericht liegt gedruckt vor. Vgl. Irena Kukutz, Katja Havemann: Geschützte Quelle. Gespräche mit Monika H. alias Karin Lenz. Berlin 1990, S. 17–28. 365 Zit. in: Havemann; Widmann: Robert Havemann, S. 406. 366 Timothy Garton Ash: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent. München, Wien 1993, S. 494.
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nate später war sie bekannt und stark wie nie zuvor in der Honecker-Ära. Als sich fast zeitgleich mit dem »Sputnik«-Verbot 367 im Herbst die Ereignisse um die relegierten Ossietzky-Oberschüler in Berlin-Pankow zutrugen, erwies sie sich in Ost-Berlin erstarkt genug, um mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit die Gesellschaft über diese Vorgänge zu erreichen. Ältere fühlten sich an die 1950er Jahre erinnert. Mit Vera Wollenberger (Lengsfeld) war eine bekannte Oppositionelle direkt betroffen, da ihr Sohn zu den Relegierten zählte. Die Templins waren ebenfalls involviert, weil einige der abgestraften Schüler in ihrer Wohnung lebten. Der Schlag gegen Phillip Lengsfeld sollte auch bezwecken, dass seine Mutter für immer der DDR fern bleibe. Bischof Forck versuchte zu erreichen, dass sie drei Tage in die DDR könne, um ihrem Sohn beizustehen. Vera Wollenberger hielt sich in West-Berlin bei Roland Jahn und Rüdiger Rosenthal auf. Ohne Genehmigung fuhr sie zur Grenze und begehrte Einlass. Das MfS schickte sie zurück. Sie rief anschließend Rechtsanwalt Gysi zu Hause an und bekniete ihn, sich für sie einzusetzen. Nach der Aktenöffnung fand sie eine ausführliche Wiedergabe dieses Telefonats in den MfS-Akten, 368 wobei unklar ist, welches Telefon von der Stasi abgehört worden ist oder wie das MfS an diese Information gelangte. In anderen MfS-Dokumenten ist die Rede davon, dass Gespräche von Gysi genutzt werden sollten, um auf die Eltern einzuwirken. 369 Phillip Lengsfeld konnte mehrfach zu seiner Mutter nach West-Berlin fahren, sie aber konnte nicht mit den Verantwortlichen sprechen. Sie schrieb dem Schuldirektor einen Brief. In den MfS-Unterlagen fand sie den Inhalt wieder. Die »Umweltblätter« und der »Friedrichsfelder Feuermelder« brachten in ihren Oktoberheften ausführliche Darstellungen über die Ereignisse. Die Westmedien griffen das Thema auf. Marianne Birthler und Michael Frenzel vom Berliner Stadtjugendpfarramt verbreiteten am 4. November 1988 eine ausführliche Information, die allen Berliner evangelischen Gemeinden zuging. Seit Ende Oktober fanden in Ostberliner Kirchen Informations- und Fürbittandachten statt. 370 Die betroffenen Schüler hatten präzise Gedächtnisprotokolle verfasst, die ebenfalls verbreitet wurden. Am 27. November 1988 fand ein landesweiter Aktionstag mit Protest- und Informationsveranstaltungen in mehreren Ostberliner Kirchen sowie in zahlreichen anderen Städten statt (Dok. 99–100, 103). 371 FDJ-Chef Eberhard Aurich sah sich am nächsten Tag 367 Vgl. dazu Kowalczuk: Endspiel, S. 74–80. 368 Lengsfeld: Von nun an ging’s bergauf, S. 277. 369 BStU, MfS, HA IX 17077, Bl. 31. 370 Dabei kam es mehrfach zu »Zuführungen« von Oppositionellen, die z. B. dokumentiert sind in: BStU, MfS, AU 115/90, Bd. 2. 371 Der Aufruf zu diesem landesweiten »Aktionstag« findet sich als Anlage u. a. in einer Information an die SED-Führung: MfS, Minister, Information über die Durchführung eines sog. Informationsgottesdienstes in der Erlöserkirche Berlin-Lichtenberg, 21.11.1988. BStU, MfS, ZAIG 3708,
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veranlasst, alle FDJ-Bezirksleitungen über die Vorgänge an der EOS in Pankow zu informieren, um den Funktionären Argumentationen dafür an die Hand zu geben, dass alles mit Augenmaß und ordnungsgemäß über die Bühne gegangen sei. Aber nicht nur bei innenpolitischen Vorgängen konnte die Opposition immer besser mobilisieren. Auch über die Menschenrechtslage in anderen Ländern informierte sie. Eindrücklich gelang dies ebenfalls im November 1988, als sich Oppositionelle am internationalen »Rumänientag« mit einer Informationsveranstaltung beteiligten (Dok. 95, 98–99, 104–106). 372 Insgesamt hatte die Opposition 1987/88 erheblich an Profil und vor allem Bekanntheit gewonnen. Aber nicht abzusehen war, vor welchen Herausforderungen sie nur wenige Wochen später stehen würde. 373
Auf dem Weg zur Revolution: Opposition und Staatssicherheit 1989 Erich Honecker behauptete am 19. Januar 1989 unter Bezug auf die gerade zu Ende gehende KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien, in der DDR würden alle Menschenrechte geachtet. Die Bundesrepublik und die USA seien verantwortlich dafür, dass die DDR 1961 den »antifaschistischen Schutzwall« habe bauen müssen: »Die Mauer wird [...] so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in 50 auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind.« 374 Diese Vision vom 100-jährigen Mauerreich rief Entsetzen hervor. Oppositionelle antworteten Honecker am 23. Januar 1989: »Jeder weiß, dass die Mauer nicht gegen irgendwelche Räuber nach außen, sondern vor allem nach innen gerichtet ist. [...] Wir und unsere Kinder wollen nicht noch fünfzig Jahre warten.« 375 Nur Monate später hatte das Warten ein Ende. Viele Faktoren kamen zusammen: Eine tiefe wirtschaftliche, soziale und Umweltkrise verstärkte die bestehenden politischen Legitimationsdefizite, die außenpolitische Situation änderte sich rasant und ließ die SED-Führung immer isolierter dastehen. Die im Sommer einsetzende Massenflucht verstärkte Bl. 20–28. Das Dokument auch in: Die DDR im Blick der Stasi 1988. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, bearb. von Frank Joestel, Göttingen 2010, enthalten auf der beigelegten CD-ROM. 372 MfS-Einschätzungen und oppositionelle Erklärungen zu diesem Rumänientag enthält u. a.: BStU, MfS, HA XX/9 6, Bl. 1–47. Der »Aufruf zu einem europäischen Aktionstag Rumänien am 15. November 1988« aus West-Berlin: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 4323, Bl. 34. 373 Vgl. z. B. aus der Literatur Martin Gutzeit, Helge Heidemeyer, Bettina Tüffers (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen politischen Gruppen 1989/90. Düsseldorf 2011. 374 ND vom 20.1.1988. 375 Offener Brief an Erich Honecker, 23.1.1989. BStU, MfS, BV Berlin, AKG 37. Bl. 28.
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den Wunsch vieler, das System endgültig zu überwinden. Die Macht- und Herrschaftsapparate begannen zu erodieren. Teile der SED-Mitgliederbasis kündigten ihrer Führung die Gefolgschaft auf. Und als gesellschaftlicher Mobilisierungsmotor trat alsbald eine neu formierte Opposition hervor, die ihre Zentren in Ost-Berlin und Leipzig hatte. In Leipzig bildeten sich seit 1987 neue Oppositionsgruppen. Nach den Berliner Ereignissen vom Januar/Februar 1988 erhielten die Friedensgebete in Leipzig starken Zulauf durch Ausreisewillige. Es kam zu ersten Demonstrationen. Am 14. März 1988, während der Leipziger Frühjahrsmesse, zog ein Demonstrationszug von etwa 100 bis 120 Personen – nach der Friedensandacht mit 800 bis 900 Teilnehmern in der Nikolaikirche – schweigend zur Thomaskirche. Die Bilder von der Demonstration zeigten abends ARD und ZDF in ihren Nachrichtensendungen. Die Kirche war von dieser Umwidmung ihrer Friedensgebete nicht begeistert. Der Streit zwischen Kirchen und Gruppen eskalierte im Herbst 1988. Dieser Konflikt trug dazu bei, dass die Opposition ihren politischen Protest deutlicher als bislang auf die Straßen tragen wollte. Aus Anlass des ersten Jahrestages der Berliner Ereignisse von Anfang 1988 forderte die »Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft«, ein Zusammenschluss von Personen verschiedener Leipziger Oppositionsgruppen, zu einer Gedenkdemonstration aus Anlass der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht auf. 376 Die Demonstration solle am 15. Januar 1989 um 16.00 Uhr beginnen (Dok. 113). Die Gruppe druckte etwa 10 000 Flugblätter mit dem Aufruf. Bis zum 12. Januar waren 6 000 bis 7 000 verteilt worden. In der Vorbereitungsgruppe mit zehn, zwölf Personen war eine Frau als IM für das MfS tätig. Bis zum 14. Januar nahm die Staatssicherheit elf Personen fest. MfS und Polizei suchten Leipzig großflächig ab und beschlagnahmten viele Flugblätter, in den Wohnungen der Festgenommenen fanden sie noch 3 500 Exemplare und schließlich gaben – Uwe Schwabe schätzt mehr als 100 –377 Leipziger die Flugblätter freiwillig bei der Polizei oder in ihren Betrieben ab. Allein in drei Leipziger Straßen übergaben 16 Einwohner ohne Aufforderung den Aufruf staatlichen Stellen. 378 Zur verabredeten Zeit versammelten sich etwa 150 bis 200 Menschen. Fred Kowasch hielt eine kurze Rede und informierte über die elf Festnahmen. Anschließend zog die Menge los, ihr schlossen sich spontan weitere Menschen an. Die Polizei löste die Demonstration auf und nahm 53 Personen vorläufig fest. Bis zum Abend waren sie wieder frei. Die zuvor Festgenommenen kamen bis zum 19. Januar wieder aus der Haft. Honecker veranlasste dies. Er wollte 376 Der Aufruf ist nachgedruckt in: Tobias Hollitzer, Reinhard Bohse (Hg.): Heute vor 10 Jahren. Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution. Bonn 2000, S. 16. 377 Ebenda, S. 38–39. 378 MfS, BV Leipzig, KD Leipzig-Stadt, Protokoll vom 12.1.1989. BStU, MfS, BV Leipzig, AU 681/90, Bd. 1, Bl. 232–234.
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verhindern, dass sich Ähnliches zutrug wie ein Jahr zuvor. Denn unmittelbar nach den Festnahmen solidarisierten sich Gruppen in mehreren Städten mit den Verhafteten. Thomas Rudolph informierte kontinuierlich die Medien und Oppositionelle in Ost-Berlin, die wiederum die Informationen weitergaben (Dok. 121). Polnische und tschechische Oppositionelle protestierten noch am gleichen Tag (Dok. 115). 379 Auch die ein Jahr zuvor ausgebürgerten Bürgerrechtler aus Ost-Berlin einschließlich der Zurückgekehrten Bohley und Fischer schrieben eine Erklärung. Am wirkungsvollsten war der Protest von USAußenminister Shultz und Bundesaußenminister Genscher am 15. Januar in Wien, wo sie wenige Tage später das KSZE-Nachfolgedokument unterzeichneten. Honeckers erwähnte Rede reagierte darauf. Die Leipziger Ereignisse erhielten eine staatspolitische Bedeutung, die zuvor nicht absehbar gewesen war (Dok. 116–119). Nicht nur solche Demonstrationen häuften sich in Leipzig. Auch der Streit um die Gestaltung der Friedensgebete zwischen Kirchenleitung und Kirchenvorstand der Nikolaikirche einerseits und den Gruppen andererseits wurde beigelegt. Am 14. Februar 1989 beschloss der Kirchenvorstand, dass die Gruppen die Montagsfriedensgebete wieder selbstständig gestalten könnten. Am 10. April fand wieder ein Friedensgebet unter ihrer Verantwortung statt. Innerkirchlich blieb diese Entscheidung der Gruppe um Pfarrer Führer heftig umstritten. Staatsloyale Pfarrer protestierten. Vier Tage später versuchte Landesbischof Hempel in einer für Pfarrer ungewöhnlich erregten Debatte herauszufinden, wie es weiter gehen könne mit den Friedensgebeten. Die ihm vorliegenden Informationen stammten nur von jenen, die gegen die offenen Friedensgebete waren. Vor allem die Pfarrer Christoph Wonneberger (Lukaskirche), Rolf-Michael Turek (Markusgemeinde) und Christian Führer (Nikolaikirche) beharrten auf der wieder eingeführten Organisationsform. Hempel war hin- und hergerissen und schlug vor, nicht von »Friedensgebeten«, sondern von »Montagsgebeten« zu sprechen: »Ich weiß noch, was Krieg ist!« Magirius sprach sich scharf gegen die Ausreisewilligen aus: »Kirche ist keine Untergrundorganisation. Auch nicht ihr Helfer. Wir möchten Kirche bleiben.«380 Die Runde ging ergebnislos auseinander. Am 18. Mai redete Bischof Hempel mit dem Nikolaikirchenvorstand. Als Kompromiss wurden die »Friedensgebete« in »Montagsgebete« umbenannt (Dok. 131). Ein langes Tauziehen war beendet worden. Dazu trugen drei Umstände bei. Erstens spitzten sich die innenpolitischen Verhältnisse dramatisch zu und viele Ausreisewillige suchten immer stärker die Öffentlichkeit für demonstrative Aktionen. Zweitens gewannen die Oppositionsgruppen weiter an politischem 379 Erklärung vom 15.1.1989. BStU, MfS, HA XX/9 664, Bl. 14–15. 380 Karl Czok (Hg.): Nikolaikirche – offen für alle. Eine Gemeinde im Zentrum der Wende. Leipzig 1999, S. 198–199.
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Profil und verlegten ihre Aktionen seit Anfang des Jahres immer häufiger in außerkirchliche Räume. Drittens stärkten einzelne Pfarrer wie Wonneberger oder Turek den Gruppen wie den Ausreisewilligen kirchenintern den Rücken, solidarisierten sich offen mit deren Forderungen. 381 In der Sowjetunion ist 1988 eine Wahldebatte geführt worden, die von sowjetischen Dissidenten initiiert worden war. Gorbatschow setzte schließlich eine Verfassungsänderung durch, sodass bei den Wahlen 1989 jeweils mehrere Kandidaten zur Auswahl standen. In Polen und Ungarn gab es schon länger Forderungen nach demokratischen Wahlen, die 1989 zu ersten Erfolgen führten. Die SED-Führung zeigte sich davon unbeeindruckt. Im Frühjahr 1988 beschloss sie, am 7. Mai 1989 Kommunalwahlen zu den etwa 7 800 Volksvertretungen nach dem Einheitslistenprinzip durchzuführen (Dok. 130). Im Vorfeld dieser »Wahlen« zeigte sich in mehreren Orten, dass Oppositionelle die öffentliche Stimmenauszählung systematisch beobachten und dann mit den offiziell bekannt gegebenen Ergebnissen vergleichen wollten. Dabei nutzten sie etwa in Ost-Berlin oder in Coswig Erfahrungen, die sie bereits 1986 bei den Volkskammerwahlen gesammelt hatten. Obwohl nahezu jeder in der DDR wusste, dass die Wahlergebnisse von der SED gefälscht wurden, waren 1986 erstmals in einigen wenigen Wahllokalen in den genannten Orten die Fälschungen nachgewiesen worden. 1989 erfolgte dieser Nachweis systematisch. Die thüringische Regionalgruppe der »Solidarischen Kirche« gab am 16. März eine Erklärung ab, nicht wählen zu gehen. Aus Ost-Berlin kam eine solche am 15. April von 48 Oppositionellen heraus, die Marianne Birthler und Werner Fischer initiiert hatten. In Leipzig verteilte die »Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft« um Michael Arnold, Gesine Oltmanns, Thomas Rudolph, Rainer Müller und Uwe Schwabe Aufrufe zum Wahlboykott. Die sächsische Landessynode beschloss am 4. April, dass jeder für sich selbst entscheiden müsse, ob er wählen gehe oder nicht und wenn ja, was er wähle. Ein IM aus Anklam gab seinem Führungsoffizier Mitte Februar zu Protokoll: Eine Sekretärin im Rat des Kreises »erzählte kürzlich, dass die Wahlen so gut wie in Tüten und Papier sind. Das Ergebnis kann sie heute schon mitteilen, denn es werden 98,3 % oder 99,3 % sein. Die Unsicher-
381 Vgl. Christian Führer: Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam. Berlin 2009; Thomas Mayer: Der nicht aufgibt. Christoph Wonneberger – eine Biographie. Leipzig 2014; Andreas Peter Pausch: Widerstehen: Pfarrer Christoph Wonneberger. Leipzig 2014.
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heitsfaktoren sind von den Listen gestrichen und falls sie doch kommen, werden sie auf Wahlschein 382 wählen. Das merken sie gar nicht.« 383
Hier wird ein Prinzip der Wahlen benannt. Ausreiseantragsteller, bekannte Oppositionelle und Nichtwähler bei vorangegangenen Wahlen strich die Wahlkommission aus den Wählerlisten, sodass diese bei der Gesamtwählerzahl von vornherein nicht enthalten waren. Mitte April 1989 verfügte die zentrale Wahlkommission bereits über Zahlen, wonach 82 560 Männer und Frauen angekündigt hatten, nicht an den Wahlen teilzunehmen. 384 Auch diese sind aus den Wählerlisten gestrichen worden. Im Vorfeld der Wahlen wählte ein Drittel aller Wahlberechtigten in Sonderwahllokalen. 385 Auch hier hatte sich die Anzahl verdoppelt. In einem internen handschriftlichen Vermerk notierte Knuth Parthey, MfS-Kreisdienststellenleiter in Parchim, »mit Ergebnissen Sonderwahllokale kann operiert werden«. Er hielt außerdem fest, dass man mit »100 % bei Gemeinden vorsichtig sein« solle. Zur Auszählung sollen »keinerlei Einlasskontrollen« erfolgen, aber »Mehrheitsverhältnis sichern«. Eine »Gegenstimme« sei politisch gewichtiger als eine »Nichtteilnahme«, weshalb die Wahlhelfer nur sehr behutsam die Leute zur Wahlurne drängen sollten. Die Sicherung der Wahllokale erfolge wie immer: »wir innen, VP außen«. 386 Am Wahltag registrierten SED-Funktionäre und MfS-Mitarbeiter, dass so viele wie noch nie zuvor Wahlkabinen aufsuchten. Ab 18.00 Uhr begann die öffentliche Auszählung der Wahlzettel. In den meisten größeren Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern und in vielen kleineren Gemeinden überwachten Oppositionelle die Auszählung. Allein im Stadtbezirk Leipzig-Mitte kontrollierten in 83 von 84 Wahllokalen Bürger und Bürgerinnen die Auszählung, in Berlin-Weißensee in 66 von 67 oder in Dresden in 227 von insgesamt 444. An der Auszählung in rund 50 Städten und Gemeinden in mehr als 1 000 Wahllokalen beteiligten sich viele Menschen, die bislang nicht zu oppositionellen Gruppen zählten. Sie stellten dabei einen Anteil der Gegenstimmen fest, der zwischen 3 und 30 Prozent lag. Die Wahlbeteiligung betrug meist zwischen 60 und 80 Prozent. Hier mussten die Sonderwahllokale noch hinzugerechnet werden. Am Abend gab der Vorsitzende der Wahlkommission, Egon Krenz, das übliche Wahlergebnis bekannt: die Wahlbeteiligung betrage knapp 99 Prozent 382 Vgl. zum Procedere Hans-Michael Kloth: Vom »Zettelfalten« zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die »Wahlfrage«. Berlin 2000. 383 BStU, MfS, BV Neubrandenburg, KD Anklam 30, Bl. 102. 384 Wahlkommission, Zentrales Wahlbüro, 13. Kurzinformation, 19.4.1989. BStU, MfS, HA XX/AKG 181, Bl. 240. 385 Meldung an den Vors. der Wahlkommission, 7.5.1989. BArch DY 30, IV 2/2/2039/230, Bl. 155. 386 MfS, Arbeitsbuch Knuth Parthey. BStU, MfS, BV Schwerin, KD Parchim 5193, Bl. 99–102.
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und die Gegenstimmen lägen bei gut einem Prozent (absolut: 142 301). Nun konnte bewiesen werden, dass bei den beobachteten Auszählungen die Anzahl der Gegenstimmen meist schon deutlich höher lag als dann für die einzelnen Wahlkreise offiziell angegeben wurde. In Dresden zum Beispiel konnte man nachweisen, dass in den kontrollierten Wahllokalen bei 104 727 Wahlberechtigten 12 379 Gegenstimmen gezählt worden sind. Das offizielle Ergebnis für 389 569 abgegebene Stimmen wies aber nur 9 751 Gegenstimmen auf. 387 In Leipzig fand am Abend eine erste, schon lange zuvor geplante kleine Demonstration gegen die Wahlen statt. Es erfolgten 72 »Zuführungen«. In den Räumen der Elisabethgemeinde in Berlin-Mitte trafen sich etwa 300 Wahlverweigerer, darunter viele Aktivisten, die in Ost-Berlin in über 230 Wahllokalen die Auszählungen beobachtet hatten. In der Samaritergemeinde von Pfarrer Eppelmann trafen sich ebenfalls Wahlbeobachter. Nach und nach trafen auch Berichte aus anderen Teilen der DDR ein. Die in OstBerlin tätige »Koordinierungsgruppe Wahlen« um Mario Schatta und Evelyn Zupke vom »Friedenskreis Weißensee« beschloss, die Angaben systematisch zu sammeln. Am 19. Mai erschien ein erster »Bericht über die Kommunalwahlen 1989«. Am 8. Juni lag der von der »Umweltbibliothek« gedruckte »Wahlfall ’89« vor, eine umfassendere Dokumentation über die Wahlfälschungen. Auch in Leipzig, Zittau, Coswig, Eilenburg und anderen Städten kamen im Samisdat Dokumentationen heraus. Daneben stellten Hunderte Menschen vorwiegend aus Ost-Berlin und Potsdam Strafanzeigen gegen Unbekannt wegen Wahlfälschung, von denen keine einzige verfolgt wurde. Der DDRGeneralstaatsanwalt verfügte in enger Kooperation mit MfS-Minister Mielke am 19. Mai, dass auf solche Anzeigen inhaltlich nicht zu reagieren sei. Die Absicherung von Wahlen nannte das MfS in den 1980er Jahren »Aktion Symbol«. Dieses Codewort deutet an, warum die SED-Führung auf ein Ergebnis um 99 Prozent beharrte und viele Tricks anwandte, um auch die Nichtwähleranteile (offiziell etwas mehr als 150 000) gering zu halten. Nichtwähler und Gegenstimmen machten zusammen offiziell rund 300 000 von 12,5 Millionen Wahlberechtigten aus. Das schien auf 15 Bezirke verteilt überschaubar. Eine Fälschung, die nur je drei Punkte mehr Gegenstimmen und Nichtwähler zugelassen hätte, hätte schon eine Personengruppe von etwa einer Million Menschen ausgemacht. Die hätten sich nicht so einfach wegdiskutieren lassen. Da sämtliche Wahlunterlagen und -anweisungen wenige Tage nach dem 7. Mai vernichtet wurden, lässt sich nicht sagen, wie viele Menschen Gegenstimmen abgegeben haben und wie viele gar nicht wählen gingen. Spezielle Angaben sind etwa für das Hoch- und Fachschulwesen oder einzelne Regionen 387 Offener Brief von 146 Unterzeichnern an Lothar Kolditz, Präsident des Nationalrates der Nationalen Front, 12.6.1989. BStU, MfS, BV Dresden, KD Dresden-Stadt 90092, Bd. 9, Bl. 150.
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überliefert. Auch wenn es gerade kleinere Städte und Gemeinden gegeben hat, in denen die Wahlverweigerung und die Gegenstimmen jeweils bei 20 Prozent und mehr gelegen haben, so scheint für die gesamte DDR jeweils ein Wert von etwa 10 Prozent realistisch. Das wären immerhin weit mehr als 2 Millionen Menschen, die sich offen gezeigt hätten. Krenz selbst ging im Juni 1989 davon aus, dass es 8 bis 15 Prozent Gegenstimmen gab. 388 Zwei unmittelbare Folgen der Kommunalwahlen sind in ihrer historischen Bedeutung zu würdigen. Keine oppositionelle Demonstration, kein öffentlicher Protest blieb von nun an ohne den Hinweis auf die Wahlfälschung. Zum Sinnbild wurden die von Mario Schatta und jungen Männern und Frauen aus seinem Umkreis von nun ab an jedem 7. eines Monats organisierten Protestdemonstrationen in Ost-Berlin, die ab dem 7. Juli auf dem Alexanderplatz stattfanden. Eine zweite Folge der Kommunalwahlen und der Offenlegung der Fälschung war mindestens ebenso bedeutsam. Denn viele Menschen, ob systemtragend, systemloyal oder politisch desinteressiert, fühlten sich gedemütigt, zeigten sich erbost, waren wütend, weil die SED-Führung sie in Unmündigkeit hielt. Selbst Menschen, die überzeugt ihr »Ja« abgegeben hatten, fragten, warum die SED das Volk für dumm verkaufe, warum die Führung nicht mit 80 oder 90 Prozent Ja-Stimmen zufrieden sein könne. Davon würde doch im Westen, verklärten nicht wenige SED-Genossen das eigene Wahlsystem, jede Partei nur träumen. IM »Waldemar« aus Potsdam, ein Polizist, der seit 1965 für das MfS arbeitete, berichtete, dass seine Frau, eine Lehrerin, als Wahlhelferin aktiv war und ihr eine Nachbarin, die als Sekretärin des Leiters des NVAWehrkreiskommandos Zossen arbeitete, am 8. Mai 1989 sagte: »Wozu der Aufwand – das Ergebnis der Wahlen stand ja sowieso vorher fest.« 389 Eine bezeichnende Nachricht kam von Beschäftigten des Jugendsenders DT 64. Noch Ende Februar 1989 stellten IM fest, dass Rainer Eppelmann von der Belegschaft »übereinstimmend« abgelehnt werde. Die DT-64-Journalisten sähen, »dass Eppelmann vom Westen gesteuert und beeinflusst wird. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass der Eindruck entsteht, dass das ZDF noch vor ihm von seinen geplanten Aktivitäten Kenntnis besitzt.« 390 Wenige Wochen später hieß es nun aus dem Jugendradio, Eppelmanns Äußerungen in westlichen Medien 391 über Wahlfälschungen »sind Gesprächsgegenstand. Da388 [Zentrale Wahlkommission], Zu den Kommunalwahlen 1989, o. D. BArch DY 30, IV 2/2/2039/230, Bl. 245. 389 BStU, MfS, BV Potsdam, Abt. VII 15, Bd. 2, Bl. 314. 390 MfS, HA VI, Information, 27.2.1989. BStU, MfS, HA XX 914, Bl. 44. 391 Eppelmann schätzte am Telefon gegenüber einem bundesdeutschen Korrespondenten den Anteil der Nichtwähler und Gegenstimmen auf »irgendwo zwischen 15 und 25 Prozent«. (MfS, Abt. 26/6, an BV Berlin, Information, 22.5.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7181, Bl. 21. Es handelt sich um ein Wortprotokoll eines Telefonmitschnitts.)
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bei ist erstmalig der Umstand zu verzeichnen, dass Äußerungen des Eppelmann Glauben geschenkt wird.« Bekannte von DT-64-Mitarbeitern, »die in Wahlvorständen zum Einsatz gekommen sind«, bestätigten indirekt die Angaben. Resümierend heißt es: »Eine überwiegende Mehrheit vertritt die Auffassung, dass unser jetziges Wahlsystem nicht mehr den Anforderungen gerecht wird.« 392 Zeitgleich begann am 2. Mai 1989 die Mauer zu bröckeln – in Ungarn. An diesem Tag kündigte die ungarische Regierung an, die Grenzbefestigungen zu Österreich abzubauen. Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock zerschnitten am 27. Juni symbolisch den ungarischen Stacheldrahtzaun. Im März war Ungarn der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten, was ab 12. Juni 1989 wirksam wurde. Das war eine Vorbedingung, damit das verschuldete Land neue Kredite westlicher Gläubiger erhielt. Den Hintergrund dafür bildeten Zehntausende Flüchtlinge aus Rumänien. Damit verpflichtete sich Ungarn, Flüchtlinge nicht mehr auszuliefern, sollten sie im Herkunftsland strafrechtliche oder andere Verfolgungsmaßnahmen erwarten. MfS-Generalmajor Gerhard Niebling flog noch am selben Tag nach Budapest, um mit dem Chef der ungarischen Staatssicherheit Ferenc Pallagi zu sprechen. Sie vereinbarten, die bisherige Praxis der Übergabe von Flüchtlingen an das MfS beizubehalten. »Der zu erwartende Abbruch wird rechtzeitig angekündigt. Überraschungen sollen dabei ausgeschlossen werden.« 393 Bereits in den ersten beiden Monaten des Jahres waren bei den zuständigen DDR-Ämtern über 54 000 neue Ausreiseanträge eingegangen. Noch dramatischer entwickelten sich die Flucht- und die genehmigten Ausreisezahlen. Von Anfang Januar bis Ende April stiegen sie zunächst nur leicht an, übertrafen aber bereits die Vergleichszahlen aus den Vorjahren. Im Januar gelang 4 627 Menschen die Flucht, im Februar 5 008, im März 5 671 und im April 5 887. Die SED-Führung gestattete im ersten Monat 3 741 Menschen die Ausreise, im Februar 4 087, im März 4 487 und im April 4 996. Im Mai verdoppelten sich die Zahlen: 10 642 Menschen flüchteten, 9 115 durften ausreisen. Diese Relation blieb auch im Juni (12 428 bzw. 10 646) und Juli (11 707 bzw. 9 563) bestehen. Der Sommer hatte gerade begonnen und rund 100 000 Menschen hatten der DDR bereits den Rücken gekehrt. Diese Zahlen erinnern an die Krisenjahre 1953 und 1961. 394
392 MfS, HA VI, Information, 30.5.1989. Ebenda, Bl. 98. 393 MfS, Bericht über eine Dienstreise vom 12. bis 14.6.1989, 15.6.1989. BStU, MfS, Abt. X 1634, Bl. 5. 394 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Die innere Staatsgründung. Von der gescheiterten Revolution 1953 zur verhinderten Revolution 1961, in: ders., Torsten Diedrich (Hg.): Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR. Berlin 2005, S. 341–378.
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Die Berichte über geglückte Fluchten in Westmedien erzeugten eine Sogwirkung, die die Fluchtzahlen von Woche zu Woche ansteigen ließen. Seit 12. Juni hatten die Ungarn noch 101 »Straftäter« an die DDR übergeben. Doch der internationale und nationale Druck dagegen wuchs an. Am 12. Juli ist letztmalig ein fluchtwilliger DDR-Bürger von den Ungarn an das MfS übergeben worden. In der DDR-Gesellschaft gab es zu dieser Zeit kaum ein anderes Thema als die Fluchtbewegung. Nur die SED-Führung schwieg. Die Handlungsunfähigkeit angesichts von Flüchtlingscamps in Ungarn und besetzten Botschaften symbolisierte für immer mehr Menschen, dass das Regime am Ende ist. Intern bestand eine hektische Betriebsamkeit. Arbeitsgruppen unter Leitung der ZKAbteilung Sicherheitsfragen, des MdI und MfS erarbeiteten im August verschiedene Handlungsalternativen. Sie lauteten: sofortige Schließung aller Grenzen oder Verabschiedung eines großzügigen Reisegesetzes oder Zehntausende auf einmal ausreisen lassen. Von den politisch Verantwortlichen im SED-Politbüro zeigte sich niemand bereit, eine Entscheidung zu fällen. Jede Entscheidung barg enorme Risiken, die schriftlich fixiert und nach Misslingen einer Aktion dem zuständigen Politbüromitglied und seiner Entourage angekreidet werden würden. Am 14. August 1989 reagierte Honecker erstmals auf den aktuellen Flüchtlingsstrom. Er erklärte, dabei ein geflügeltes Wort von August Bebel aufgreifend: »Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Diese alte Erkenntnis der deutschen Arbeiterbewegung findet durch die große Initiative der Werktätigen der DDR ihre aktuelle Bestätigung.« 395 Der August markierte neue Höchstmarken in der Absetzbewegung: 21 000 Menschen gelang die Flucht, fast 13 000 durften offiziell aus der DDR ausreisen. Die ungarische Regierung entschloss sich zu handeln. Außenminister Gyula Horn traf am 31. August in Ost-Berlin – wenige Tage zuvor war er in Bonn – mit DDRAußenminister Fischer zusammen und erklärte, ab 11. September öffne Ungarn seine Grenzen für DDR-Bürger, sollte die DDR bis dahin ihre Menschen nicht durch eine öffentliche Ausreisezusicherung zurückgeholt haben. Österreich hob zuvor bereits für DDR-Bürger zeitweilig die Visumspflicht auf, um deren Durchreise unbürokratisch abzuwickeln. Um 0.00 Uhr wurden am 11. September die Westgrenzen Ungarns geöffnet. Innerhalb der ersten drei Tage flüchteten 15 000 DDR-Bürger, bis zum Ende des Monats schwoll die Zahl auf 34 000 an. Die SED gestattete zudem 12 000 offiziell die Ausreise. Innerhalb von zwei Monaten waren über 80 000 Menschen geflüchtet. Private Reisen von DDR-Bürgern nach Ungarn genehmigten die DDR-Behörden kaum noch. Das war der Hauptgrund dafür, dass ab dem 24. September die bundesdeutsche Botschaft in Prag zum Sammelpunkt von DDR-Flüchtlingen 395 ND vom 15.8.1989.
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wurde. Die Regierung der ČSSR erklärte am 27. September, es würde keine ungarische Lösung geben. Zwar waren seit Anfang 1988 vereinzelt Überlegungen angestellt worden, die Opposition neu zu formieren und neue, landesweite Strukturen zu schaffen, aber Erfolge blieben aus. Es existierten in Ost-Berlin nicht nur Rivalitäten zwischen einzelnen Köpfen der Gruppen und es gab nicht nur regionale Spannungen, insbesondere zwischen Ost-Berlin und den übrigen Bezirken, hinzu kamen politische Differenzen und unterschiedliche Vorstellungen über das weitere Vorgehen: Gerade weil es diese Spannungen und politischen Differenzen gab, formierte die Opposition mehrere Bürgerbewegungen, die neben den außenpolitischen Entwicklungen, der bundesdeutschen Regierungspolitik, der tiefen innenpolitischen Krise und der kaum zu überschätzenden Fluchtbewegung zum wichtigsten revolutionären Faktor wurden, was in der Summe zur Beseitigung des Regimes führte. Die IFM versuchte mit einem Aufruf vom 11. März 1989 eine landesweite Vernetzung zu erzielen. 396 Dieser Öffnungsversuch blieb relativ erfolglos. Die IFM nahm eine historische Vorreiterrolle ein, ohne zur Schrittmacherin zu werden. Exemplarisch formulierte Stephan Bickhardt Anfang Juni einen Konsens: die Opposition müsse näher an die Bevölkerung rücken. 397 Im Juni und Juli gab es in Ost-Berlin und Leipzig mehrere Gruppentreffen, die ergebnislos verliefen, aber letztlich immer wieder zwei Dinge zur Sprache brachten: Die Opposition benötige neue Strukturen und diese müssten von vornherein unabhängig von den Kirchen sein. Im Sommer 1989 ist das in vielen Gruppen diskutiert worden, weil die Einsicht gewachsen war, wie Bärbel Bohley etwa auf einem Kolloquium der Theologischen Studienabteilung Mitte Juni 1989 meinte, dass die Basis der Opposition quantitativ erweitert werden müsse. 398 Friedrich Schorlemmer forderte im Juni 1989, eine legale Opposition wie in Polen und Ungarn zu schaffen, die offiziell gewählt werden könne. Hansjörg Weigel 399 meinte im Juli 1989, in der DDR müsse eine oppositionelle politische Partei gegründet werden. Er sah als dringlichste Punkte: Einführung eines demokratischen Mehrparteiensystems, eines demokratischen Wahlsystems, die Reprivatisierung von Betrieben mit bis zu 1 000 Beschäftigten, Entideologisie396 Nachgedruckt u. a. bei Wolfgang Templin, Reinhard Weißhuhn: Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR, S. 201–203. Dazu: MfS, HA IX/2, Rechtliche Stellungnahme, 16.3.1989. BStU, MfS, HA XX 12488, Bl. 67–69. 397 MfS, HA XX/5, Information, 5.6.1989. BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 11, Bl. 5. 398 MfS, HA XX/9, Sachstandsbericht, 4.7.1989. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 15, Bl. 10. 399 Vgl. Matthias Kluge: Das Christliche Friedensseminar Königswalde bei Werdau. Ein Beitrag zu den Ursprüngen der ostdeutschen Friedensbewegung in Sachsen. Leipzig 2004; siehe zudem Martin Jander: Hansjörg Weigel, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 252– 255.
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rung des Bildungswesens, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. 400 Niemand – weder im Osten noch im Westen – rechnete zu diesem Zeitpunkt damit, dass sich Veränderungen in der DDR schnell oder gar in den nächsten Wochen einstellen würden. Allerdings ist im Frühsommer an mehreren Orten unabhängig voneinander angeregt worden, über Vorschläge für die künftige Installierung eines »Runden Tisches« nach polnischem Vorbild nachzudenken. Anfang Juli zirkulierte ein Papier, in dem Oppositionelle dazu aufriefen, »autorisierte Gesprächsrunden«, sprich »Runde Tische«, vorzubereiten. 401 Blieben die Überlegungen alle noch relativ vage, so erhielt die Bildung neuer Oppositionsstrukturen Mitte Juli einen erheblichen Schub. Anfang 1989 schlug Martin Gutzeit Markus Meckel vor, eine Sozialdemokratische Partei zu gründen. Am 24. Juli schrieben sie einen »Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen«. 402 Notwendig sei, den »absoluten Wahrheits- und Machtanspruch« der SED zu beseitigen. 403 Die »taz« schrieb am 15. August 1989: »Die DDR-Opposition geht an den Start.« Stephan Bickhardt, der gerade in West-Berlin weilte, sorgte für die Hintergrundinformationen und für den Titel. Der zeigte auch an, dass die Opposition den Entwicklungen praktisch ebenso hinterhereilte wie alle anderen politischen Handlungsträger im In- und Ausland. Der Flüchtlingsstrom rollte und die politische Opposition war noch mit »Sammlung« beschäftigt. Reinhard Schult sagte etwas zu selbstkritisch: »Die Opposition in der DDR ist heute programmatisch genauso blass wie die Partei.« 404 Letztlich kam der Opposition zugute, dass sie zwar den Entwicklungen nachrannte wie alle anderen, ihrer selbstgestellten Aufgabe aber dies weniger zum Nachteil gereichte als Regierungsvertretern. Denn in dieser historischen Situation kam es zunächst darauf an, deutlich »Nein« zu sagen, während von der Regierung politische Handlungskonzepte erwartet werden mussten, die diese nicht zu bieten hatte.
400 BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Information, 27.7.1989. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, OV »Spaten II«, XIV/2214/77, Bd. III, Bl. 443–447. 401 Nachgedruckt in: Gerhard Rein (Hg.): Die Opposition in der DDR. Entwürfe für einen anderen Sozialismus. Berlin 1989, S. 65–67. 402 Abgedruckt in: Markus Meckel, Martin Gutzeit: Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit – kommentierte Quellentexte. Köln 1994, S. 364–368. 403 Vgl. Martin Gutzeit, Stephan Hilsberg: Die SDP/SPD im Herbst 1989, in: Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR, S. 607–686; Gutzeit; Meckel: Opposition in der DDR; Markus Meckel, Steffen Reiche (Hg.): »Nichts muss bleiben, wie es ist.« Gedanken zur Gründung der Ost-SPD. Berlin 2010; Wolfgang Herzberg, Patrik von zur Mühlen (Hg.): Auf den Anfang kommt es an. Sozialdemokratischer Neubeginn in der DDR 1989. Interviews und Analysen. Bonn 1993; Daniel Friedrich Sturm: Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90. Bonn 2006. 404 Matthias Geis: Als Reaktion auf die Ausreisewelle, in: taz vom 15.8.1989.
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Wenig später erfuhr das MfS von Plänen einer Gruppe um Bärbel Bohley und Katja Havemann, ein »Demokratisches Forum« zu gründen. 405 Drei Punkte schienen besonders wichtig: Erstens sollte es eine Sammlungsbewegung sein, die offen und plural sei, sodass sich möglichst viele Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Reformvorstellungen ihr anschließen und mit ihr identifizieren könnten (Dok. 136). Zweitens sollte es keine Partei sein, sondern eine Vereinigung, die von Anfang an Legalität anstrebt. Drittens war nicht an radikale Umwälzungen gedacht, sondern an Reformen im bestehenden System. Das wenig später gebildete »Neue Forum« entsprach diesen Überlegungen. 406 Mit diesen und anderen Aufrufen hatten sich innerhalb weniger Tage neue, landesweite Oppositionsgruppen öffentlich gezeigt (Dok. 135). 407 In der Opposition ist diese Zersplitterung der Kräfte heftig diskutiert worden (Dok. 132–134). Einige waren enttäuscht, nicht mit in die Vorbereitungen einbezogen worden zu sein. Andere fanden die Programme zu dürftig. Niemand, weder die Kritiker noch die Initiatoren, rechnete mit einem raschen Erfolg. Einige oppositionelle Kritiker meinten gar, es handle sich um Erfindungen für die Westmedien, um Nachrichten zu produzieren. Tatsächlich waren die Initiatoren auf die Westmedien angewiesen, verfügten sie doch über keine öffentlichen Kommunikationswege innerhalb der DDR. Das MfS, das über diese ganzen Gründungsvorgänge durch seine IM informiert war, hatte sich verkalkuliert. Durch die Orientierung auf die IFM als gefährlichste Gruppe hatte es gehofft, die Opposition schwäche sich im Wege der Zersplitterung entscheidend. Manfred Böhme (IM »Maximilian«) schrieb am 15. September 1989 seinem Führungsoffizier: »Rechnung geht nicht auf, dass die Initiative sich auflöst oder auseinandergeht.« 408 Um die politische Bekämpfung der Opposition effizienter zu gestalten, wies Mielke am 21./22. September alle Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen des MfS an, mit allen Vorsitzenden der SED-Bezirks- und Kreisleitungen, den Chefs der Polizei auf Bezirks- und Kreisebene sowie den in den Räten der Bezirke und Kreise jeweils Verantwortlichen für Inneres zu sprechen und sie mündlich über die aktuelle Lage zu informieren, um die Opposition gemeinsam und konsequent zu zerschlagen. Demonstrationen und Kundgebungen 405 MfS, HA XX, Information, 21.8.1989. BStU, MfS, AOP 17396/91, Bd. 8, Bl. 194–195. 406 Zum »Neuen Forum« vgl. Irena Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung Neues Forum 1989– 1990. Berlin 2009. Ein IM war bei dem Treffen anwesend (IMB »Paule«): MfS, BV Berlin, KD Lichtenberg, Operativ-Information zum Zusammentreffen von Kräften des Politischen Untergrundes, 11.9.1989. BStU, MfS, HA XX/9 1535, Bl. 1–4. (Diese Information erhielten Mielke, Mittig, Kienberg und Hähnel.) 407 Vgl. Gutzeit; Heidemeyer; Tüffers (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution; Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR; Andreas H. Apelt, Robert Grünbaum, Martin Gutzeit (Hg.): Der Weg zur Deutschen Einheit. Mythen und Legenden. Berlin 2010. 408 Bericht vom 15.9.1989, in: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 29, Bl. 206.
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sollten im Vorfeld verhindert, notfalls mit polizeilicher Gewalt aufgelöst werden. Die Parteifunktionäre sollten treue Genossen anhand der Originaldokumente über die Ziele und Absichten der Feinde informieren, damit bei Diskussionen in Betrieben, Büros und Universitäten zugkräftige und einheitliche Gegenargumente entfaltet würden. Vorhandene Probleme und Mängel sollten nicht beschönigt, aber auch nicht dramatisiert werden. »Gesellschaftliche Kräfte« (SED-, CDU-, FDJ-Funktionäre, MfS- und MdI-Mitarbeiter u. a.) sollten in Kirchen und bei anderen Gelegenheiten an den oppositionellen Veranstaltungen teilnehmen, um die Räume physisch zu füllen (»wegen Überfüllung geschlossen«) und um in Diskussionen Gegenpositionen zu vertreten. 409 Ein Teil dieser Pläne ist umgesetzt worden, genützt hat es nichts mehr. Der Flüchtlingsstrom riss nicht ab, Anfang Oktober 1989 drohten die Ereignisse in Dresden oder Plauen zum Beispiel zu eskalieren, von Friedlichkeit aufseiten des Staates war vor dem 9. Oktober nichts zu erkennen. Am 7. Oktober kam es in Ost-Berlin und vielen weiteren Städten zu Demonstrationen der Opposition und zu gewalttätigen Polizeiübergriffen (Dok. 138–144). Am 9. Oktober 1989 kapitulierte der SED-Staat angesichts von etwa 70 000 Demonstranten in der Messestadt Leipzig. 410 Die Bilder davon gingen um die Welt. Ein Ereignis jagte das nächste – am 4. November kam es zur größten Kundgebung in Ost-Berlin (Dok. 146, 149), 411 fünf Tage später fiel die Mauer. Das Ende der SED-Diktatur war unumkehrbar geworden (Dok. 148, 150– 151).
4. Opposition und Staatssicherheit am Telefon: Bemerkungen zu den Dokumenten Einleitung – Opposition und Stasi am Telefon
In Kapitel 3 ist der historische Kontext skizziert worden, in dem die 151 in diesem Buch kommentierten Dokumente entstanden sind. Die Edition ist auf einen engen Zeitraum (ein Dokument stammt aus dem Jahr 1985, sechs aus dem Jahr 1986, 45 aus 1987, 58 aus 1988 und 41 aus 1989) und einen kleinen Personenkreis fokussiert worden, weil sich so der Wert dieser Quelle exemplarisch besser ermessen lässt. 412 Die Bearbeitungskriterien und die Editi409 Diese Praxis war innerhalb des MfS aus unterschiedlichen Gründen umstritten: einerseits waren viele der »gesellschaftlichen Kräfte« für die Diskussionen nicht geeignet, andererseits sind so manche Veranstaltungen erst durch SED-Kader gefüllt worden. Beispiele in: BStU, MfS, BV Berlin, BV-Leitung 103. 410 Vgl. Martin Jankowski: Der Tag, der Deutschland veränderte. 9. Oktober 1989. Leipzig 2007. 411 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 446–453. 412 Siehe das Vorwort, S. 9–14.
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onsprinzipien, die für das Verständnis der Auswahl unerlässlich sind, finden sich unmittelbar der Dokumentation vorangestellt. 413 Nachfolgend geht es um Überlegungen zu diesen spezifischen MfS-Akten, darum, was diese Quellen für wissenschaftliche Analysen bieten und welche Gesichtspunkte besonders beachtenswert erscheinen. 414 Telefonüberwachung setzt eine simple Tatsache voraus: Die zu Überwachenden müssen einen Telefonanschluss besitzen. Das war in der DDR auch am Ende der 1980er Jahre alles andere als selbstverständlich. 415 Das MfS hat die Freischaltung von Anschlüssen jedoch dann kräftig befördert, wenn die zu überwachenden Personen von »operativem Interesse« erschienen. Daher ist es kein Zufall, dass ein Teil der wichtigsten Oppositionellen über einen Telefonanschluss verfügte. Stephan Krawczyk erhielt einen Anschluss bereits 14 Tage nach Antragsstellung. 416 Gerd und Ulrike Poppe wiederum bekamen einen Anschluss wenige Tage bevor Petra Kelly, Lukas Beckmann und andere Grünen-Politiker am 1. November 1983 nach einem Treffen mit Honecker (31. Oktober) in ihrer Wohnung erwartet wurden. 417 Den Antrag hatten sie bereits Anfang 1979 gestellt. 418 Ihre Wohnung war seit 1982/83 zu einer Anlaufstelle vieler bundesdeutscher und ausländischer Gäste geworden, sodass unter Umständen der bevorstehende Kelly-Besuch in Ost-Berlin nur der letzte Auslöser für die nunmehr unerwartete und, angesichts der allgemeinen Wartezeiten von 15 und mehr Jahren, 419 plötzliche Freischaltung war. Die HA XX hatte dafür wenige Tage zuvor gesorgt. 420 Der Anschluss ist seitdem bis Ende 1989 abgehört worden. 421 Auch Bärbel Bohley, Ralf Hirsch, Lutz Rathenow
413 Siehe die editorische Vorbemerkung, S. 267–270. 414 In der wissenschaftlichen Literatur musste sich bislang auf die strukturelle Seite der Überwachung beschränkt werden. Vgl. z. B. Ghouas: The Conditions, Means and Methods of the MfS, S. 145–204. 415 Siehe S. 22–32. 416 Vgl. Stephan Krawczyk: Privileg, in: Kallinich; Pasquale (Hg.): Ein offenes Geheimnis, S. 141–143. 417 Der Anschluss ist am 26.10.1983 gelegt worden: Benachrichtigungskarte der Deutschen Post an Gerd Poppe (Archiv Gerd Poppe). Die Installierung kostete 150 Mark: Deutsche Post, Rechnung vom 23.11.1983 (Archiv Gerd Poppe). 418 Gerd Poppe, Schreiben an die Deutsche Post, 18.3.1980 (Archiv Gerd Poppe). Aus diesem Brief geht hervor, dass der Antrag seit über einem Jahr lief. Im Mai 1980 erhielt er die Nachricht, dass sich ein Anschluss jetzt nicht realisieren lasse und er mit einer längeren Wartezeit zu rechnen habe (Deutsche Post, Schreiben an Gerd Poppe, 14.5.1980. Archiv Gerd Poppe). 419 Vgl. Manfred Wagner: Wir sind leider nicht in der Lage … Wie lange es brauchte, um in der DDR einen Telefonanschluss zu erhalten, in: Gerbergasse 18 15 (2000) 16, S. 16–18. (Bei ihm dauerte es 15 Jahre, führte aber auch nur zum Erfolg, weil er dann eine »Eingabe« schrieb.) 420 MfS, HA XX an Leiter Abt. 26, 20.10.1983. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 16, Bl. 34. 421 Neben der »Maßnahme A« kam auch immer wieder die »Maßnahme B« (Raumüberwachung) bei Poppes zum Einsatz (BStU, MfS, AOP 1010/91). Dass beide Maßnahmen parallel »geschaltet« waren, kam auch bei anderen wie Bohley, Fischer, Hirsch oder Eppelmann vor. Weil dafür
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oder die Templins besaßen einen Privatanschluss, der ununterbrochen belauscht wurde. Dies betraf noch weitere Oppositionelle. 422 Die meisten knüpften übrigens in ihrem Telefonierverhalten und ihrem allgemeinen Verständnis von Öffentlichkeit an die entsprechenden Erfahrungen von Robert Havemann an. Offenbar sind vor allem solche Oppositionellen »bevorzugt« mit einem Telefonanschluss versorgt worden, die ihr Telefon für grenzüberschreitende Gespräche nutzten. 423 Zwar lässt sich keine Systematik dafür rekonstruieren, aber dies legen einerseits das Vorhandensein der Anschlüsse selbst und andererseits die Planungen des MfS in den »Maßnahmeplänen« nahe. Es gab auch Oppositionelle, bei denen sich die Stasi trotz »operativem Interesses« auf Raumüberwachungsmaßnahmen (»Maßnahme B«) konzentrieren musste, weil sie über kein eigenes Telefon verfügten. 424 So geschah es etwa bei Peter Grimm. 425 Da ein Nachbar und Bekannter als IMB »Andy« für das MfS tätig und speziell auf Grimm angesetzt worden war, ist dessen Telefonanschluss abgehört worden. Zunächst erbrachte dies nur, dass der IM als »zuverlässig« gelte, aber über Grimm konnten so keine relevanten Informationen gewonnen werden, weshalb die »Maßnahme A« eingestellt wurde. 426 Wochen später reaktivierte die Stasi die Telefonüberwachung, 427 bekam aber wieder keine relevanten Informationen, da Grimm dieses Telefon kaum benutzte. IMB »Andy« hatte das Telefon eigens dafür vom MfS erhalten, was dem IM bekannt war. 428 Auch konspirative Wohnungen des MfS sind bevorzugt mit Telefonanschlüssen ausgestattet worden. So ist zum Beispiel im Dezember 1986 die KW »Oderkahn« unter einer Legende zur Bearbeitung von Stephan Krawczyk und Freya Klier im Wohnhaus Krawczyks im Prenzlauer Berg eingerichtet worden. die technischen Möglichkeiten prinzipiell begrenzt waren, genehmigte das MfS solche Parallelabhörmaßnahmen nur in Ausnahmefällen. 422 Z. B. ist das seit 1983 für ein Ehepaar aus der Opposition in Ost-Berlin dokumentiert in: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 3761. 423 Auch das MfS verfügte nicht unbegrenzt über Telefonanschlüsse und konnte »legendierte Fernsprechhauptanschlüsse« nicht in dem notwendig erachteten Umfang realisieren: MfS, JHS, Major Rainer Burckhardt, Abt. N, Erarbeitung einer Konzeption zur Bereitstellung von legendierten Fernsprechhauptanschlüssen im Bereich der Hauptstadt der DDR sowie die politisch-operative Sicherung operativ-bedeutsamer Fernsprechteilnehmer aus dem staatlichen Nachrichtennetz. Diplomarbeit, 18.11.1987. BStU, MfS, JHS 20465, Bl. 16. 424 Z. B. dokumentiert für Harald Hauswald in: BStU, MfS, HA XX 14331; dazu der OV: BStU, MfS, AOP 17386/91. 425 MfS, BV Berlin, KD Köpenick, Sachstandsbericht zum OV »Robert«, 25.9.1987. BStU, MfS, BV Berlin, KD Köpenick 9746, Bd. 1, Bl. 64–71. 426 Ebenda, Bl. 65. 427 MfS, BV Berlin, KD Köpenick, Ergänzung zum Operativplan des OV »Robert«, 18.2.1988. Ebenda, Bl. 88. 428 Er informierte das MfS am 14.7.1988 handschriftlich über ein Problem mit seinem Anschluss und teilte mit, dass ihm die Deutsche Post gesagt habe, er sei ein »Sonderbedarfsträger«. IMB »Andy« übte keine Tätigkeit außerhalb des MfS aus, die eine solche Einstufung anderweitig zuließ: BStU, MfS, BV Berlin, AIM 8461/91, Teil II, Bd. 2, Bl. 86.
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Im Frühjahr 1987 ist in dieser Wohnung »ein operativ dringender Fernsprechanschluss« freigeschaltet worden. 429 In den Unterlagen lässt sich nicht nur nachvollziehen, dass die abgehörten Oppositionellen sich bewusst darüber waren, dass sie abgehört wurden (Dok. 1, 5, 30, 36). Sie glaubten auch, dass Störungen der Telefonleitungen und zwischenzeitliche Unterbrechungen ihrer Gespräche von der Stasi veranlasst worden seien (Dok. 1, 54). 430 Dies lässt sich im Einzelfall nicht belegen, auch wenn dem MfS die technischen Möglichkeiten dazu zur Verfügung standen. Denn unabhängig davon galt: »Telefonieren war immer katastrophal.« 431 Vor einem technisch anders gearteten Problem standen die MfSAbhörspezialisten, wenn die abgehörte Leitung tatsächlich gestört war. Dann nützten ihnen ihre Abhörmaßnahmen auch nichts. Aber sie bekamen dies mit, manchmal schneller als der Abgehörte selbst. Ralf Hirsch berichtet, wie er einmal mitten in der Nacht nach Hause kam, nicht mehr telefonierte, und morgens gegen 6.00 Uhr von einem Entstörungstrupp der Deutschen Post mit den Worten geweckt wurde: »Sie haben eine Störung und uns bestellt?« Hirsch hat weder das eine bemerkt noch das andere getan. Dies hatte offenbar die Stasi für ihn übernommen, eine Dienstleistung, die er gern entgegennahm, gab es doch auch in diesem Bereich sonst längere Wartezeiten. 432 Dass das MfS die Sperrung von Telefonanschlüssen veranlasste, ist in mehreren Fällen rekonstruierbar. 433 Dies konnte aus verschiedenen Gründen geschehen. Nach einer erfolgten Flucht zum Beispiel konnte der Anschluss für zurückgebliebene Familienmitglieder in der DDR gesperrt werden, wenn das MfS verhindern wollte, dass über Telefongespräche diese zur Übersiedlung in die Bundesrepublik bewegt werden könnten. 434 Da in der DDR keine Verwaltungsgerichtsbarkeit existierte, waren solche Sperrungen kaum anfechtbar. 429 MfS, BV Berlin, Abt. XX an Ltr. Abt. XX, Unterstützung zur Schaffung eines Fernsprechanschlusses, 4.6.1987. BStU, MfS, BV Berlin, AIM 5696/91, Bl. 23. 430 Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. So äußerte sich etwa Lutz Rathenow telefonisch gegenüber Jürgen Fuchs am 24.9.1985 über die zeitweilige Störung (BStU, MfS, HA XX/9 1876, Bl. 36). Ähnliches gilt für den 17.11.1986, als Rathenow gegenüber Roland Jahn erklärte, bei ihm sei gestern Abend das Telefon abgestellt worden. Darauf erwidert dieser, bei den Templins war es ebenso, es erklang dauernd das Besetztzeichen (ebenda, Bl. 61). 431 Ewald König: Menschen, Mauer, Mythen. Deutsch-deutsche Notizen eines Wiener Korrespondenten. Halle 2014, S. 185. Siehe von diesem Autor auch: DDR-Telefon: Fasse dich kurz, unter: http://www.euractiv.de/wahlen-und-macht/artikel/ddr-telefon-fasse-dich-kurz-003505. (Hier ist der grenzüberschreitende Telefonverkehr von Ost-Berlin nach Bonn oder Wien gemeint.) 432 Ralf Hirsch in einem Gespräch mit d. Verf. am 25.1.2012. 433 Der Minister-Befehl 6/77, Anlage 6, regelte solche Abschaltungen, die aber offenbar selten vorkamen (1977 5 Abschaltungen): BStU, MfS, HA XIX 7284, Bl. 140. Ab 1983 ist das in der DA 2/83 normiert worden. 434 Auch wenn die Effektivität dieser Maßnahme eher gering ausgefallen sein dürfte, kam dies vor. Z. B.: MfS, HA XIX, Kündigung eines Telefonanschlusses, 20.1.1978. BStU, MfS, HA XIX 6473, Bl. 28–29.
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Robert Havemann, der schon 1959 telefonisch überwacht worden war 435 und der spätestens ab 1964 systematisch belauscht wurde, 436 ist allerdings im November 1976 offiziell der Fernsprechanschluss durch Gerichtsentscheidung gekündigt worden. 437 Solche MfS-Maßnahmen spielten auch 1988 eine Rolle, als etwa der Anschluss der Templins nach deren erzwungener Ausreise abgeklemmt worden ist (Dok. 74). Analog kam es zu weiteren Stilllegungen. Als sich anzudeuten begann, dass Bärbel Bohley und Werner Fischer tatsächlich nach sechs Monaten in die DDR zurückkehren könnten, ist in Werner Fischers Wohnung im Juni 1988 – also in dessen Abwesenheit – ein Telefonanschluss gelegt worden, 438 um nach dessen Rückkehr die Überwachung sofort wieder aufnehmen zu können. Zugleich konnten so die Gespräche zwischen Katja Havemann und Bärbel Bohley überwacht werden, da dieser Anschluss in Fischers Wohnung nun zur wichtigsten Kommunikationsstrecke zwischen den beiden Freundinnen wurde, solange Bärbel Bohley noch im Ausland weilte. 439 Katja Havemann verfügte seit 1976 über keinen Privatanschluss in ihrem Haus mehr, da ihrem Mann dieser durch den erwähnten richterlichen Beschluss weggenommen worden war. Die Sperrungen von Fernsprechanschlüssen waren im »Gesetz über das Post- und Fernmeldewesen« vom 29. November 1985 geregelt. § 12 Abs. 4 legte fest, dass erteilte Genehmigungen »widerrufen werden können, wenn a) die Sicherheit des sozialistischen Staates oder wichtige volkswirtschaftliche Gründe es erfordern, b) die staatliche oder öffentliche Ordnung erheblich beeinträchtigt ist« oder erteilte Auflagen nicht erfüllt würden. 440 Als am 17. Dezember 1987 das Ermittlungsverfahren gegen den in West-Berlin lebenden Roland Jahn eröffnet wurde, 441 erwiesen sich die Aufnahmen seiner
435 BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 1, Bl. 107. 436 Vgl. Theuer; Polzin; Florath: Aktenlandschaft Havemann, S. 231–234. 437 Robert Havemann, Schreiben an das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen, 3.6.1979. BStU, MfS, HA XIX 6473, Bl. 27. 438 MfS, BV Berlin, KD Prenzlauer Berg, Operativinformation Nr. 90/88, 12.6.1988. BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 12, Bl. 43. 439 Das erste vom MfS dokumentierte Gespräch über diesen Anschluss stammt vom 22.6.1988 (BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 11, Bl. 1-2). Nur ein Teil der abgehörten und verschriftlichten Gespräche ist überliefert, ein Großteil ist vom MfS vernichtet worden (sowohl unmittelbar nach den Aktionen, aber auch großflächig Ende 1989). Für die Telefongespräche von Mitte Juni bis Anfang August ist eine Rechnung in Höhe von 931 Mark gestellt worden (BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 11, Bl. 12). 440 Gesetz über das Post- und Fernmeldewesen, 29.11.1985. Gesetzblatt der DDR, Teil I Nr. 31, S. 347. (Es trat am 1.5.1986 in Kraft.) 441 EV gegen Jahn nach § 99, Abs. 1 StGB. BStU, MfS, U 34/89, Bd. 1, Bl. 10; ein Haftbefehl stammt vom selben Tag (ebenda, Bl. 13); das EV wurde am 12.12.1988 vorläufig eingestellt (ebenda, Bl. 12).
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Telefongespräche von Anfang an als wichtigste »Beweismittel«. 442 Deshalb wurden unmittelbar nach der Eröffnung des Ermittlungsverfahrens gegen Jahn die Telefonanschlüsse von Ralf Hirsch, Wolfgang Templin, Bärbel Bohley und Lutz Rathenow nach einer Anordnung des DDR-Generalstaatsanwalts überwacht. 443 Hier zeigt sich nebenbei, gegen wen die SED-Justiz zunächst vorgehen wollte: Lutz Rathenow verblieb in der DDR, während Werner Fischer, obwohl selbst ein maßgeblicher Vertreter der Opposition, in diesem Fall aber zunächst eher als Lebensgefährte von Bärbel Bohley ins Visier geriet. Die Ergebnisse dieser offiziellen Abhörmaßnahmen konnten in den Vernehmungen ab 25. Januar 1988 verwendet werden (Dok. 64–65). 444 Die Verhafteten lehnten es ab, sich dazu inhaltlich zu äußern. 445 Ein umfangreiches Gutachten aus der Humboldt-Universität zu Berlin für den geplanten Prozess verarbeitete u. a. die juristisch angeordneten Telefonmitschnitte (Dok. 71–72). Ab 29. Januar sind durch Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft zwei weitere Telefonanschlüsse offiziell überwacht worden, darunter das Telefon von Gerd Poppe. 446 Die staatsanwaltschaftlich angeordnete »Fernsprechüberwachung« gegen Poppe blieb bis 29. August 447 und gegen Rathenow bis 12. Dezember 1988 448 bestehen. Parallel zu diesen gesetzlich-legalisierten Abhörmaßnahmen unterbreitete der Leiter der HA III, Horst Männchen, Minister Erich Mielke und dessen Stellvertreter Wolfgang Schwanitz am 22. Januar 1988 »Maßnahmen zur Unterbindung/Beeinträchtigung der Kommunikationsbeziehungen innerer und äußerer Feinde der DDR«. 449 Es wurden mehrere Möglichkeiten ins Auge gefasst, die aber entweder internationale Verwicklungen hervorrufen könnten oder aber ineffektiv bleiben würden. Letztlich einigten sich die Führungskräfte im MfS auf Folgendes: »Der effektivste Weg zur Unterbindung feindlichnegativer Kommunikation innerer und äußerer Feinde ist die offizielle Abschaltung der privaten Telefonanschlüsse« nach § 12 des »Gesetzes über das Post- und Fernmeldewesen« von 1985. Rechtsmittel könnten ausgeschlossen 442 BStU, MfS, U 34/89. 443 Die Anordnung findet sich für den Anschluss von Ralf Hirsch in: BStU, MfS, AU 131/90, Bd. 1, Bl. 78). Für die anderen in den entsprechenden Untersuchungsvorgängen sowie: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 1, Bl. 21. 444 Die Telefonabhörmaßnahmen in diesem EV gegen Jahn sind dokumentiert – sortiert nach seinen Gesprächspartnern – in: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 7 (R. Hirsch), Bd. 6 (W. Templin), Bd. 8 (B. Bohley), Bd. 9 (L. Rathenow). 445 BStU, MfS, AU 115/90 (W. Fischer), 131/90 (R. Hirsch), 140/90 (B. Bohley), 144/90 (St. Krawczyk), 155/90 (R. Templin), 156/90 (W. Templin), 297/90 (F. Klier); 14550/89 (V. Wollenberger). 446 BStU, MfS, U 34/89, Bd. 11. 447 BStU, MfS, HA XX 12488, Bl. 49. 448 BStU, MfS, U 34/89, Bd. 1, Bl. 12. 449 BStU, MfS, HA XIX 7284, Bl. 151–153. Dass der Plan an Mielke und Schwanitz ging, geht aus einem Schreiben vom 25.1.1988 hervor. Ebenda, Bl. 150.
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werden, wenn der Minister für Post- und Fernmeldewesen die Kündigung des Anschlusses ausspricht. Das MfS schätzte ein, dass auch eine solche Sperrung den Abbruch dieser Kommunikationsmöglichkeiten nicht gewährleiste, weil »der gesperrte Telefoninhaber sich über andere Telefone mit äußeren/inneren Feinden in Verbindung« setzen könne. 450 Dies erklärt auch, warum das MfS solche Abschaltungen nur zielgerichtet veranlasste. Denn die Apparate etwa von Lutz Rathenow, Gerd und Ulrike Poppe oder Bärbel Bohley und Werner Fischer nach deren Rückkehr im August 1988 boten der Stasi umfangreiche Möglichkeiten, um an Informationen zu gelangen. Anders sah es bei Oppositionellen aus, die aufgrund von vermuteten Abhörmaßnahmen ihre Privatanschlüsse für politische Gespräche mit westlichen Gesprächspartnern oder osteuropäischen Oppositionellen eher selten nutzten. Ludwig Mehlhorn zum Beispiel ist am 1. März 1988 mitgeteilt worden, sein Fernsprechanschluss werde mit sofortiger Wirkung abgeschaltet. 451 Dies gehörte zu den Zersetzungsmaßnahmen gegen Mehlhorn. 452 Ganz ähnlich lag der Fall bei Reinhard Weißhuhn. Ihm ist ebenfalls der Anschluss unter Berufung auf § 12 des Gesetzes über das Post- und Fernmeldewesen zum 29. Februar 1988 gesperrt worden. 453 Der von Weißhuhn beauftragte Rechtsanwalt, Gregor Gysi, legte am 11. März 1988 Beschwerde ein. Diese bezog sich darauf, dass sein Mandant schwerlich das ihm eingeräumte Recht auf Beschwerde wahrnehmen könne, da ihm keine Gründe für die Sperrung mitgeteilt worden seien. Auch sei Weißhuhn »in keiner Hinsicht bewusst, durch Gespräche mit seinem Telefon die Sicherheit des Staates gefährdet zu haben«. 454 Darüber müsste er, sollte so etwas vorliegen, vom Fernsprechamt aufgeklärt werden. 455 Das Fernsprechamt ging darauf nicht ein und gab der Beschwerde nicht statt. 456 Ihm wurde lediglich im April mitgeteilt, er habe durch sein Verhalten »die öffentliche Ordnung erheblich beeinträchtigt«.457 Gysi wandte sich Mitte Juli 1988 an den zuständigen Minister und erklärte, 450 MfS, HA XIX/4, Maßnahmen zur Unterbindung/Beeinträchtigung der Kommunikationsbeziehungen innerer und äußerer Feinde der DDR, 2.2.1988. BStU, MfS, HA XIX 7284, Bl. 140. 451 MfS, BV Berlin, Abt. XIX/6, Information, 2.3.1988. BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 10, Bl. 7. 452 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Im Blick des Staatssicherheitsdienstes – Ludwig Mehlhorn, in: Bickhardt (Hg.): In der Wahrheit leben, S. 214–241. 453 Deutsche Post, Schreiben an Reinhard Weißhuhn, 26.2.1988 (Archiv Reinhard Weißhuhn). Siehe auch: MfS, HA XX/2, Auskunftsbericht, 28.7.1988. BStU, MfS, AOP 1056/91, Bd. 8, Bl. 236. 454 Das ist eine etwas kuriose Formulierung, da Weißhuhn ja (wahrscheinlich) nicht mit seinem Telefon(apparat) sprach, sondern telefonierte, d. h. durch Gespräche mit Telefonpartnern die Sicherheit nicht gefährdete … 455 Gregor Gysi, Schreiben an Deutsche Post, 11.3.1988. BStU, MfS, AOP 1056/91, Beifügung Bd. 2, Bl. 34–36. (Es handelt sich um Fotokopien, die bei einer konspirativen Wohnungsdurchsuchung bei Weißhuhn angefertigt worden sind.) 456 Deutsche Post, Schreiben an Reinhard Weißhuhn, 25.3.1988. Ebenda, Bl. 33. 457 Deutsche Post, Schreiben an Reinhard Weißhuhn, 21.4.1988. Ebenda, Bl. 32.
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Weißhuhn beteuert, »den Fernsprechanschluss nicht gegen die öffentliche Ordnung verwandt zu haben. Im Übrigen dürfte auch unklar sein, wie solche Feststellungen getroffen worden sind.« 458 Auch dieser Vorstoß blieb erfolglos. Über ein Jahr später wandte sich Reinhard Weißhuhn erneut an den Postminister. Drei Tage zuvor war die Mauer gefallen. Weißhuhn forderte, ihm den Telefonanschluss wieder zurückzugeben. 459 Wenig später teilte ihm der Leiter der Ostberliner Bezirksdirektion der Deutschen Post mit, ihm würde »kurzfristig« ein neuer Fernsprechanschluss eingerichtet werden. 460 Ab 4. Januar 1990 konnte er wieder von zu Hause aus telefonieren. 461 Neben Privatanschlüssen sind auch Diensttelefone überwacht worden. Im Fall von Gerd Poppe sorgte das MfS nicht nur für dessen Privatanschluss im Oktober 1983, sondern auch dafür, dass er an seinem Arbeitsplatz in einer Ostberliner Schwimmhalle spätestens ab Juni 1983 abgehört worden ist. 462 Das Abhören von dienstlichen Anschlüssen gehörte darüber hinaus aus mehreren Gründen zum »operativen Tagesgeschäft« des MfS. 463 Eine Sonderrolle nahmen die Telefonleitungen der Kirchen ein. Diese galten nicht nur als besonders wichtige Beobachtungsobjekte, weil sie als »feindlich« eingestuft worden waren und zudem über ausgedehnte deutsch-deutsche und internationale Kontakte verfügten. Sie waren auch schon in den 1950er Jahren verhältnismäßig gut mit Telefonanschlüssen ausgestattet. Telefonleitungen stellten dabei einen Schauplatz geheimdienstlicher Aktivitäten dar. Denn auch westliche Dienste versuchten, sowjetische Leitungen in der DDR anzuzapfen. Die berühmteste Aktion (»Gold«) flog im April 1956 auf, als die Sowjets mithilfe ostdeutscher Dienststellen einen »Spionagetunnel« nebst Abhöranlage in Ost-Berlin freilegten, mit dem britische und USADienste seit Mai 1955 Telekommunikationsleitungen hochrangiger sowjetischer Stellen abhörten. Allerdings war Moskau durch einen ihrer wichtigsten Agenten in England von vornherein über das Projekt informiert gewesen, sodass die sowjetischen Stellen sehr genau abwägen konnten, was sie über diese angezapften Leitungen weitergaben. 464 Dennoch konnten bis 1961 immer 458 Gregor Gysi, Schreiben an den Minister Post- und Fernmeldewesen, 19.7.1988 (Archiv Reinhard Weißhuhn). 459 Reinhard Weißhuhn, Schreiben an Post- und Fernmeldeminister, 12.11.1989. Ebenda. 460 Deutsche Post, Schreiben an Reinhard Weißhuhn, 8.12.1989. Ebenda. 461 Deutsche Post, Schreiben an Reinhard Weißhuhn, 27.12.1989. Ebenda. 462 BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 13, Bl. 295. 463 Siehe S. 38–41. 464 Vgl. »Ist ja fantastisch!« Die Geschichte des Berliner Spionagetunnels, hg. vom Alliierten Museum, Berlin 2006. Dieser Spionagetunnel spielte seither in der entsprechenden »Sachbuchliteratur« in der DDR eine zentrale Rolle. Siehe nur 3 Beispiele von vielen: Eberhard Heinrich, Klaus Ullrich: Befehdet seit dem ersten Tag. Über drei Jahrzehnte Attentate gegen die DDR. Berlin 1981. (Dieses Buch erschien als Beitrag zum 30. Jahrestag des MfS in einer Auflagenhöhe von 60 000 Exemplaren: BStU, MfS, ZAIG 22917, Bl. 48–49; ein 2. Band, der den gesamten Ostblock behandeln sollte,
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wieder solche geheimdienstlichen Erfolge im Osten verbucht werden. Daraus schlussfolgerte das MfS auch, dass die eigene »operative Technik und deren Anwendung« so zu verbessern sei, »dass eine Dekonspiration ausgeschlossen ist«. 465 Dies gelang aber nicht immer. Großes Aufsehen erregte im September 1959 der Fund einer Abhöranlage in der Dienstwohnung des katholischen Bischofs Alfred Bengsch in BerlinWeißensee. Vom 2. bis 4. September 1959 verlegte das MfS, getarnt als Deutsche Post, Telefonleitungen in der Wohnung. Nur einen Tag später hatte Bengsch einen Telefontechniker aus West-Berlin in seinem Haus, um zu prüfen, ob Abhöranlagen eingebaut worden sind. Dies war der Fall, wie der Experte schnell feststellte. Da die Anlage bereits funktionierte, hörte die Stasi genau mit, was sich in dem Haus abspielte. Unter dem Vorwand, die Leitungen seien gestört, schritt sie sofort getarnt als Deutsche Post ein. Die Westmedien berichteten großaufgemacht über die Abhöraktion bei einem Bischof. Die Empörung war allgemein, zumal sich herausstellte, dass im Dienstzimmer des sächsischen Landesbischofs Gottfried Noth ebenfalls seit September 1958 Abhöranlagen eingebaut waren. 466 Das MfS erarbeitete verdeckt einen Artikel für das »Neue Deutschland«, in dem behauptet wurde, der Bischof sei von westlichen Diensten abgehört worden. 467 Offenbar ist auch DDRMinisterpräsident Otto Grotewohl nicht die Wahrheit gesagt worden – zumindest enthält eine Mitteilung an ihn die Version, es handle sich um eine westliche Abhöraktion. 468 Ob bei Bengsch oder Noth später erneut Abhöranlagen installiert wurden, ist bislang nicht bekannt. 469 Aber dass die Kirchen mannigfaltig belauscht wurden, steht außer Frage. In den Überlieferungen
erschien nicht mehr: ebenda, Bl. 160–161); Julius Mader: Nicht länger geheim. Die Geheimdienste der Deutschen Bundesrepublik und ihre subversive Tätigkeit gegen die Deutsche Demokratische Republik. Berlin 1966; Albrecht Charisius, Julius Mader: Nicht länger geheim. Entwicklung, System und Arbeitsweise des imperialistischen deutschen Geheimdienstes. Berlin 1969 (3., überarb. u. erg. Aufl., Berlin 1978). Diese Bücher sind in enger Zusammenarbeit mit dem MfS entstanden, Mader war IM (ab 1958), HIM (ab 1960) und schließlich bis 1989 OibE (BStU, MfS, HA KuSch, KS 25335/90). 465 MfS, Operative Information, 18.12.1957. BStU, MfS, ZAIG 70, Bl. 8. (Der Ausgangspunkt war die Offenlegung westlicher Telefonspionage gegen die DDR Anfang Dezember 1957: NATOWühlmäusen das Handwerk gelegt. Telefonspionage vor internationaler Pressekonferenz entlarvt, in: ND vom 7.12.1957; dazu: BStU, MfS, HA XIX 96). 466 Vgl. Fricke: Die DDR-Staatssicherheit, S. 117. 467 Geplatzte Enten des kalten Krieges, in: ND vom 20.9.1959 (ein weitgehend textidentischer Entwurf des Artikels aus dem MfS ist überliefert: BStU, MfS, HA XX/4 3147, Bl. 31–34). 468 MfS, [Einzel-Information über] die Telefonanlage bei Weihbischof Dr. A. Bengsch, 18.9.1959. BStU, MfS, ZAIG 215, Bl. 1–3. 469 Die Vorgänge von 1959 einschl. Vernehmungsprotokollen, dem erwähnten Abhörprotokoll, internen Vermerken zur Stasi-Abhöranlage, Stellungnahmen der Kirche sowie den Meldungen in westlichen Medien sind dokumentiert in: BStU, MfS, HA XX/4 3147.
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finden sich Dokumente, die belegen, dass Bischof Forck 470 ebenso zielgerichtet abgehört wurde wie Generalsuperintendent Günter Krusche, 471 das Berliner Stadtjugendpfarramt, die Zions-, Samariter- oder Gethsemanegemeinde472 oder einzelne Pfarrer wie Bernd Albani im sächsischen Frauenstein. 473 Auch die für die Revolution von 1989 wichtigen Leipziger Kirchen nebst dem dort eingerichteten Kontakttelefon sind nachweislich abgehört worden. 474 Dies galt offenbar auch für wichtige Dresdener Kirchentelefone, denn am 15. November 1989 – eine Woche nachdem die Stasi offiziell ihre Abhörtätigkeit als eingestellt erklärt hatte 475 – meldete die BV Dresden, die Abhörleitungen zu diesen Kirchentelefonen seien nun gekappt. 476 Diese wenigen Beispiele deuten an, dass die Kirchen zu einem bevorzugten Lauschobjekt der Staatssicherheit gehörten. Diesen war das bewusst. Am 11. Mai 1977, zum Beispiel, trafen sich Mitglieder des Präsidiums des BEK mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, und führten dabei auch »Beschwerde über angebliche Praktiken des MfS«. Sie monierten, »dass das MfS versuche, immer mehr kirchliche Amtsträger und Angestellte zur Mitarbeit heranzuziehen«. Und sie stellten fest: »Es würden Telefone überwacht werden.« 477 Solche Überwachungsmaßnahmen sind immer wieder seit den 1950er Jahren via Westmedien ans Tageslicht gekommen, weil die Abhörtechnik aufgefunden worden ist. 478 Nicht weniger spektakulär wie die Funde bei den Bischöfen Bengsch und Noth waren die Wanzenfunde in der Dienstwohnung von Pfarrer Rainer Eppelmann Ende 1988 und Anfang 1989 (Dok. 111–112, 114, 122–124, 126–127). Mithilfe eines Geräts zum Auffinden solcher Technik hatte Eppelmann die Staatssicherheit gleich mehrfach getroffen. In den Westmedien ist ausführlich darüber berichtet worden. Eppelmann selbst informierte Kollegen und Freunde auch am Telefon über seine Entdeckungen und dem 470 Z. B. MfS, Abt. 26/7, an HA XX/4, Dr. Gottfried Forck, 1.9.1983. BStU, MfS, HA XX/AKG 5916, Bl. 151–152. 471 Z. B. MfS, Abt. 26/6, an BV Berlin, Abt. XX, Günter Krusche, 15.1.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7191, Bl. 110–111. 472 Dazu Beispiele: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7191; ebenda, Abt. XX 7204. 473 Belegt und überliefert ist dies für das gesamte Jahr 1988 durch die KD Brand-Erbisdorf: BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AOPK XIV 1742/82. Albani wurde am 1.10.1989 Pfarrer in der Gethsemanekirche in Ost-Berlin. 474 Z. B.: BStU, MfS, HA II 41642. 475 Vgl. Schmole: Abteilung 26, S. 42. 476 BStU, MfS, BV Dresden, Abt. 26 6768, Bl. 37. 477 MfS, Stellv. des Ministers, Mittig, Gespräch des Staatssekretärs für Kirchenfragen mit den Mitgliedern des Präsidiums des BEK, 20.5.1977. BStU, MfS, HA XX/4 1007, Bl. 47–48; ähnlich: MfS, HA XX/4, Bericht über durchgeführte und dekonspirierte Werbungen und Kontaktgespräche auf der Linie XX/4 der Bezirksverwaltungen, 30.6.1977. BStU, MfS, HA XX/4 50, Bd. 3, Bl. 62. 478 Auch Stasi-Mitarbeiter wurden hin und wieder in ihren Wohnungen fündig. So berichtete ein Oberleutnant der HA XX/4 seinen Vorgesetzten von einer solchen Entdeckung in seiner Wohnung 1985: BStU, MfS, HA XX 18123, Bl. 278–279.
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MfS blieb nichts weiter übrig, als dies zu protokollieren. Zwar wiesen SED, Justiz und MfS die Anzeige von Eppelmann zurück, doch auch hier machten sie sich in den Augen der Öffentlichkeit lächerlich. Denn sie erklärten, durch den unsachgemäßen Ausbau der Technik durch Eppelmann sei nicht mehr beweisbar, von wem die Technik stammte und wofür sie benutzt worden sei. Geradezu grotesk hieß es u. a in einer Richtlinie zur Argumentation gegenüber der Kirche: »Der von Eppelmann eigenmächtig vorgenommene Ausbau festgestellter Geräte kann nur als vorsätzliche Verwischung von Spuren gewertet werden.« 479 Das MfS bereitete mehrere Zeitungsartikel vor, die behaupten sollten, Eppelmann sei ein Lügner oder die Technik stamme von westlichen Geheimdiensten. 480 Davon nahm man Abstand, weil das durch die Wanzenfunde belastete Verhältnis zur Kirche offenbar nicht weiter beeinträchtigt werden sollte. Die HA III analysierte präzise, wie und wann die Technik eingebaut worden war (1983/84). 481 Für das MfS brach das Überwachungssystem gegen Eppelmann weitgehend zusammen. Seit 1983 waren im »durchgängigen Schichtsystem« in der Basis »Gramkow« mehrere MfS-Mitarbeiter nur mit dem Abhören von Eppelmanns Dienst- und Wohnräumen befasst gewesen. 482 Hinzu kamen »4–6 IM-führende Mitarbeiter« sowie weitere Auswerter, die nur mit dem Pfarrer beschäftigt waren. 483 Da das Auffinden der RaumAbhörtechnik gleichzeitig mit der Enttarnung einiger IM durch Eppelmann zusammenfiel, verblieb ab Januar 1989 als wichtigste Quelle zur Überwachung von Rainer Eppelmann das Telefonabhören, was ebenfalls seit vielen Jahren bei ihm systematisch betrieben worden war. Das MfS räumte ein, dass »objektiv eingeschätzt werden« muss, Rainer Eppelmanns »feindlich-negative politische Machenschaften« könnten mit »den Mitteln des MfS nicht« zurückgedrängt werden. Die Stasi kam zu dem Schluss, Eppelmann sei in seinen Positionen nicht zu erschüttern und stehe gestärkt da wie nie zuvor. 484 Die weiterhin intensiv betriebene Telefonüberwachung nützte in diesem Kontext kaum noch etwas. Die gewonnenen Informationen füllten viele Aktenordner. 485 Aber weder diese »Erkenntnisse« noch die beiden wichtigsten IM in Eppelmanns
479 MfS, Argumentation, 16.2.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Leitung 103, Bl. 48. 480 Die Entwürfe sind überliefert in: BStU, MfS, HA XX/4 207. 481 Ebenda. 482 Die unter einer Legende von MfS-Mitarbeitern angemietete Wohnung (IMK/KO) ist nach den Wanzenfunden aufgelöst worden: BStU, MfS, BV Berlin, AIM 3903/89. 483 MfS, BV Berlin, Abt. XX, Sachstandsbericht zum OV »Blues«, Pfarrer Rainer Eppelmann, 3.4.1989. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 4, Bl. 184. 484 Ebenda, Bl. 185. 485 Unterlagen finden sich z. B.: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, 7179, 7190, 7191; BStU, MfS, HA II/13 2126.
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Umfeld, Reiner Dietrich und Wolfgang Schnur, konnten sein politisches Engagement beeinträchtigen.486 Die in diesem Buch dokumentierten Quellen werfen ein generelles Problem auf, mit dem Historikerinnen und Historiker in ihrer empirischen Arbeit oft konfrontiert werden: Auch die Unterlagen des MfS sind nicht vollständig überliefert. Bestandslücken gehören zum Regelfall.487 Bei der Beschäftigung mit Stasi-Unterlagen fällt dieses Problem oft nicht sofort ins Auge, weil die pure Masse der überlieferten Akten die Forschenden zumeist eher etwas ratlos oder gar verzweifelnd ausschauen lässt. Und tatsächlich existieren zu einzelnen Themengebieten geradezu Unmengen an Dokumenten. Dies betrifft den 17. Juni 1953 ebenso wie die Ereignisse um 1956, den Zeitraum um den Mauerbau 1961 in gleicher Weise wie die Vorgänge um den »Prager Frühling« 1968, und für die zweite Hälfte der 1980er Jahre trifft dies in einem besonderen Maße zu. Auch zu einzelnen Institutionen oder Personen erscheinen die Aktenberge kaum überschaubar, während zu anderen wenig oder gar nichts vorhanden ist. Die aus Telefon- oder Raumüberwachungsmaßnahmen gewonnenen Quellen weisen die Besonderheit auf, dass diese Dokumente nach den internen Richtlinien des MfS nur kurze Zeit aufbewahrt werden sollten. Für die Bänder und Kassetten der Telefonmitschnitte galten als Normalfall 10 Tage, bei Abhöraktionen in Räumen 20 Tage.488 Bislang sind keine Originalaudiomitschnitte von Telefongesprächen aufgefunden worden, um die es in diesem Band geht.489 Es ist daher auch nicht möglich, die verschriftlichten Gespräche bzw. Zusammenfassungen mit den Audiooriginalen abzugleichen. Die schriftlichen Dokumente aus den abgehörten Telefongesprächen durften
486 Die Berichte von Dietrich finden sich in den OV gegen Eppelmann, Hirsch u.v.a., aber auch in dezentralen Unterlagen, die IM-Akte selbst ist bereinigt worden (BStU, MfS, AIM 25768/92, in Verbindung mit dem Löschbefehl vom 28.11.1989, abgelegt unter: BStU, MfS, Abt. XII 880). Die IM-Akte von Schnur ist hingegen weitgehend überliefert. Für diesen Kontext: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275, Teil I, Bd. 1 sowie Teil II, Bd. 13 u. 14. 487 Vgl. auch Dietmar Schenk: »Aufheben, was nicht vergessen werden darf.« Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt. Stuttgart 2013. 488 MfS, Minister, Dienstanweisung 1/84 vom 2.1.1984. BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 7745. 489 Audioüberlieferungen von abgehörten Telefongesprächen im Herbst 1989 gibt es aber z. B. von der SDP-Mitbegründerin Angelika Barbe (bis Dezember 1989): BStU, MfS, Abt. 26, Ka 445, 524, 551, 577-578, 603, 607–613. Viel ist auch von Rainer Eppelmann aus dem Herbst 1989 überliefert: BStU, MfS, Abt. 26, Ka 12–13, 463–464, 499–501, 507–508, 553–556, 571–572, 581–586, 628–629. Es gibt zudem Mitschnitte zu weiteren Oppositionellen und Gruppen im Herbst 1989: BStU, MfS Abt. 26, Ka 6 (Ehrhart Neubert), 9 (Lutz Rathenow), 33–35 (Neues Forum, hier ist Bärbel Bohley darunter), 489 (Ulrike Poppe), 503–506, 525–529, 542, 562 (Neues Forum), 568, 579–580 (Demokratischer Aufbruch), 604–606, 630–631 (Neues Forum); BStU, MfS, BV Erfurt, TB 125, 505, 514 (Neues Forum); BStU, MfS, BV Halle, Ka 118 (Frank Eigenfeld); BStU, MfS, BV Rostock, Ka 150–152 (Neues Forum) usw. Die Qualität der Mitschnitte ist überwiegend sehr schlecht.
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»nur nach Entscheidung durch den Leiter der auftraggebenden Diensteinheit« vernichtet werden. Dies war zu protokollieren. 490 Nach welchem System bei dieser Vernichtung vorgegangen worden ist, lässt sich kaum rekonstruieren. Im OV »Zirkel« zum Beispiel, der in den 1980er Jahren gegen Gerd und Ulrike Poppe geführt wurde, sind Belege dafür überliefert, dass deren Wohnung immer wieder zeitweilig und deren Telefon systematisch abgehört worden ist. Im Vorgang aber finden sich nur verhältnismäßig wenige Berichte davon. Zwar liegen zum Teil solche Berichte in anderen Vorgängen und Ablagen, aber eine systematische Rekonstruktion ist auch auf diesem Wege nur schwer möglich. Zu Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch finden sich in deren OV auch nur relativ wenige Dokumente aus Abhörmaßnahmen, aber dafür sind für die Jahre 1988/89 solche in großer Anzahl in dezentralen Materialablagen überliefert worden. Ähnlich wie bei Lutz Rathenow oder Werner Fischer konnten zahlreiche solcher Dokumente seit 1992 aus »vorvernichtetem Material« 491 rekonstruiert werden. 492 Im Fall der Akten über Lutz Rathenow existiert vom 22. November 1989 ein Vernichtungsprotokoll, das die Vernichtung von Unterlagen aus »A- und BMaßnahmen« aus den Jahren 1983 bis 1988 belegt. 493 Das erfolgte in dieser Zeit, wie ein Stasi-Mitarbeiter festhielt, um die ungesetzliche Tätigkeit des MfS bei der Telefon- und Postkontrolle zu verschleiern. 494 Offiziell stellte das MfS im November 1989 wahrheitswidrig heraus: »Eine Kontrolle von Briefen, die Überwachung von Telefonen oder Durchsuchungen erfolgten nur im Rahmen der durch die Strafprozessordnung für das Ermittlungsverfahren festgelegten gesetzlichen Regelungen.« 495 Neben dieser großangelegten Vernichtungsaktion Ende 1989 496 und der vom Zentralen Runden Tisch auf Vorschlag der »AG Sicherheit« am 19. Feb490 MfS, Minister, Dienstanweisung 1/84 vom 2.1.1984. BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 7745. 491 Das ist durch MfS-Mitarbeiter ab November 1989 mit der Hand zerrissenes, aber in Tausenden Säcken überliefertes Material. 492 Z. B. zu Werner Fischer: BStU, MfS, HA XX 23202 (rekonstruierte Akten, 75 Bl.); zu Lutz Rathenow: BStU, MfS, HA XX/9 444 (rekonstruierte Akten, 133 Bl.), und: ebenda, HA XX/9 297 (rekonstruierte Akten, 245 Bl.). 493 BStU, MfS, AOP 1076/91, Bd. 15, Bl. 22. 494 Arbeitsbuch Erich Borowski. BStU, MfS, Abt. M 96, S. 315 (Eintrag vom 13.11.1989). 495 MfS, Leiter ZAIG, Fakten und Argumente zur Arbeit des MfS, November 1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XV 1, Bl. 22. (Diese Ausarbeitung ist seit Anfang November verteilt worden.) 496 Dabei gab es erhebliche technische Probleme, die Unmengen an Papier physisch zu beseitigen. Die vorhandenen Anlagen waren dafür nicht geeignet. Z. B. verdeutlichen dies handschriftliche Notizen eines Stasi-Offiziers vom 11.12.1989: BStU, MfS, HA VII 1360, Bl. 69. Diese Vernichtungsaktion ist z. B. auch behandelt worden von Walter Süß: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999; Kowalczuk: Endspiel; Roland Lucht: »Ablagen liquidieren – ›spezifische‹ Vorgänge tragfähig gestalten«. Schriftgutvernichtungen des MfS während der »Wende« und der Auflösungsphase der Staatssicherheit, in: Dagmar Unverhau (Hg.): Hatte »Janus« eine Chance? Das Ende der DDR und die Sicherung einer Zukunft
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ruar 1990 »einstimmig« 497 und dann vom Ministerrat am 26. Februar beschlossenen Zerstörung »magnetischer Datenträger« der Stasi 498 sind außerdem vom MfS in den 1980er Jahren routinemäßig kaum überschaubare Mengen an Akten kassiert worden. Dies ist noch im Einzelnen zu erforschen. Dennoch lässt sich belegen, dass für die Vorgänge um die Opposition 1987/88 zeitnah größere Mengen Material aus Telefonüberwachungsmaßnahmen vernichtet worden sind. 499 Am 1. Mai 1988 zum Beispiel sind Abhörprotokolle der HA III, Abt. III und Abt. 26, die sich auf Bärbel Bohley im Zeitraum 1982 bis 1988 bezogen, vernichtet worden. 500 Allerdings konnte auch davon zumindest ein Teil seit 1992 rekonstruiert werden. 501 Auch wenn die genauen Überlieferungslücken nicht quantitativ bestimmt werden können, 502 so fallen sie insgesamt für den Zeitraum und den Personenkreis, der in diesem Buch im Zentrum des Interesses steht, weniger ins Gewicht. Denn einerseits sind diese Dokumente meist in mehreren Exemplaren angefertigt worden, sodass sich bei intensiven Recherchen oft Hinweise eruieren lassen. Hinzu kommt, dass sich die Spuren von Überwachungsmaßnahmen vielfältig in anderen Dokumententypen (z. B. in »Sachstandsanalysen« zu OV, in »Faktenanalysen« – chronologische Ereignisabfolgen mit Quellenangaben – und auch in Einzelinformationen oder zusammenfassenden Tages-, Wochen- und Monatsberichten) wiederfinden. Schließlich steht für die historischen Rekonstruktionen ein breites Spektrum an Quellen zur Verfügung, unter denen die Abhörprotokolle zwar einen besonderen Stellenwert beanspruchen dürften, deren wissenschaftliche Nutzung aber ohnehin die Heranzie-
der Vergangenheit. Münster 2003, S. 81–97; Christian Booß: Von der Stasi-Erstürmung zur Aktenöffnung, in: Deutschland Archiv 44 (2011) 1, S. 79–87. 497 Auf die Nachfrage von Reinhard Weißhuhn (IFM) ist geantwortet worden, sämtliche Daten, die sich auf den Datenträgern befinden würden, seien auch in Papierform, als Ausdrucke, vorhanden. Wie es zu dieser offenkundigen Unwahrheit oder Lüge kam, ist bis heute ungeklärt. 498 Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente. Bd. III: Neuer Machtkampf, hg. von Uwe Thaysen, Wiesbaden 2000, S. 874 (der Beschluss auf S. 872–873). Das bekräftigte Werner Fischer am 12.3.1990, da war die Vernichtung bereits erfolgt. Vgl. ebenda, Bd. IV: Identitätsfindung, S. 1117. Der Ministerratsbeschluss: BA, DC 20-I/3/2924, Bl. 98–108. Amtsleiter Engelhardt hatte die Vernichtung bereits am 20.12.1989 angeregt, in Abstimmung mit Modrow sind seit dem 22.12.1989 Zehntausende Datensätze für die künftige Arbeit »herausgezogen« worden, was am 8.1.1990 beendet war. Die schlussendliche Vernichtung der Magnetbänder und vieler anderer Datenträger folgte den Intentionen von SED und Stasi. 499 Z. B.: MfS, HA XX, Vernichtungsprotokoll, 19.5.1988. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 3341/88, Bd. 1, Bl. 337. (Hier ging es um Material der Abt. III.) 500 MfS, BV Berlin, Abt. XX, Vernichtungsprotokoll, 1.5.1988. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 12, Bl. 279. 501 BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügungen. 502 Bezogen auf die HA III und Abt. 26 enthalten solche Vernichtungsprotokolle meist nur die internen Aktenzeichen und keine Umfangsangaben, z. B.: BStU, MfS, HA XVIII 12725, Bl. 105, 108.
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hung weiterer Quellen, wie es zum Beispiel in dieser Dokumentation geschieht, notwendig macht. Das Abhören von Telefongesprächen stellte das MfS vor zahlreiche technische Probleme. Die überlieferten Unterlagen der HA III, der Abt. 26 und der Abteilung operativ-technischer Sektor (OTS) ähneln zum Teil Akten wissenschaftlich-technischer Forschungslabors. 503 Ausgewertet wurden internationale Entwicklungstrends. Mitarbeiter der »auftraggebenden Diensteinheiten« instruierten ihre IM bei Auslandsreisen, bestimmte Materialien und Publikationen zu besorgen, die nicht selten für die Eigenbedürfnisse der Stasi-Techniker gedacht waren. Auch wenn diese MfS-Abteilungen auf einem vergleichsweise hohen technischen Niveau arbeiteten, so blieben auch sie von technischen Alltagsstörungen keineswegs verschont. Die Unterbrechung abgehörter Telefongespräche führte zwar regelmäßig dazu, dass die Abgehörten einen direkten Eingriff des MfS vermuteten (Dok. 54), aber ob dies tatsächlich so war, lässt sich nicht belegen. Allerdings ist aus quellenkritischer Sicht relevant, dass einzelne Gespräche oder auch Gespräche in bestimmten Zeiträumen schon deswegen nicht schriftlich überliefert sein können, weil die Mitschnitttechnik versagte. Beim Abhören des Telefonanschlusses von Lutz Rathenow traten zum Beispiel solche technischen Probleme zwischen dem 13. Mai und dem 10. Juni 1988 auf: die Aufnahmebänder rissen, die Aufnahmequalität war so schlecht, dass die Auswerter nichts verstehen konnten, oder die Aufnahmegeräte stellten sich einfach aus. 504 Das kam ziemlich häufig vor. Allerdings waren solche technischen Probleme meist auf einen kurzen Zeitraum beschränkt. Dass sie einen ganzen Monat andauerten wie bei der Überwachung Rathenows bildete eher die Ausnahme. 505 Für das MfS war es nicht immer einfach herauszubekommen, wer eigentlich mit wem telefoniert, 506 da der Anschlussinhaber nicht automatisch ein aktuel503 Als Beispiel siehe die 1963 bis 1989 innerhalb der Abt. 26 erarbeiteten und offenbar verteilten technischen »Informationsblätter«: BStU, MfS, Abt. 26 1580. 504 BStU, MfS, U 34/89, Bd. 9, Bl. 76. 505 Beim Einbau von Abhörtechnik zur Raumüberwachung häuften sich solche technischen Probleme erheblich. Insbesondere bei Technikausfällen war eine Reparatur in der Regel nicht schnell möglich, da erst die Bedingungen zum (erneuten) konspirativen Zugang in die Wohnung geschaffen werden mussten. Als Beispiel dient der Bericht über die Probleme mit der Abhörtechnik 1983/84 bei Rainer Eppelmann: MfS, HA III, Abt. T/2, Bericht über die bisher realisierten Maßnahmen im OV »Blues« der Abteilung XX der BV Berlin mit der HA III, 31.1.1989. BStU, MfS, HA XX/4 207, Bl. 39-40. 506 Das Problem verschärfte sich noch, wenn Telefonanrufe erfolglos blieben. So notierten MfSMitarbeiter z. B., dass am 2.2.1988 in der Zeit von 16.30 bis 19.30 Uhr »30 Anwahlversuche« aus Ost-Berlin bei Roland Jahn in West-Berlin erfolgten, dieser aber nicht zu Hause war (BStU, MfS, HA XX 2601, Bl. 15). Nicht überliefert ist, wer versuchte ihn zu erreichen. (In dieser Akte sind 65 Tagesrapporte zu Aktivitäten Jahns zwischen 29.1. und 17.9.1988 überliefert, die auf Informationen der Abt. 26 und HA III beruhten: ebenda, Bl. 1–102.) Wenn Jahn nicht telefonierte, verunsicher-
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ler Gesprächspartner sein musste (Dok. 20, 50). 507 Zwar wurde unter Umständen die Analyse erleichtert, wenn zugleich eine Raumüberwachung (»Maßnahme B«) erfolgte (Dok. 18), aber Raumüberwachungen stießen schnell an technische Grenzen, wenn zum Beispiel mehrere Personen gleichzeitig sprachen oder die Abhörtechnik in ihrem Empfang durch Nebengeräusche o. dgl. beeinträchtigt wurde. Das Problem, die Gesprächspartner eindeutig zu erkennen, erhöhte sich beträchtlich, wenn öffentliche Fernsprechapparate benutzt wurden. Gerade in Ost-Berlin sind zahlreiche öffentliche Telefone systematisch abgehört worden, 508 auch in anderen Städten, 509 aber diese Abhörmaßnahmen galten anderen Aufklärungsabsichten als der Bearbeitung der Opposition. Zwar war dem MfS in einzelnen Fällen bekannt, dass Oppositionelle bewusst öffentliche Anschlüsse benutzten (Dok. 5, 30), 510 aber dies erleichterte die Zuordnung der Telefonpartner kaum. Hinzu kam, dass die Aufklärung von Telefonzellen in West-Berlin, die etwa Roland Jahn und Jürgen Fuchs (Dok. 30) benutzten, sehr aufwendig war. 511 Allerdings sind Dokumente, die auf Mitschnitten von Gesprächen aus Telefonzellen basieren, äußerst selten zu finden. Bei dem exemplarisch abgedruckten Dokument 60 ruft zwar Roland Jahn aus einer Kneipe in West-Berlin bei Ralf Hirsch in Ost-Berlin an, aber dieses Gespräch konnte nur aufgezeichnet werden, weil der Anschluss von Hirsch abgehört wurde und nicht der der Kneipe. Die in dieser Edition abgedruckten Dokumente präsentieren unterschiedliche Formen, wie abgehörte Telefongespräche verschriftlicht worden sind. Es liegt nicht offen, nach welchen Kriterien MfS-Mitarbeiter entschieden, wann ein te das die Stasi-Mitarbeiter auch: »Jahn: z.Zt. keine Anrufe! Urlaub !?!« MfS, HA XX, Horst Graupner, Arbeitsbücher, 25.11.1985–7.11.1989, 3 Stück. BStU, MfS, HA XX 8433, Bl. 279 (Eintrag vom 3.12.1987). 507 Bei dem hier zur Rede stehenden Personenkreis blieb dieses Problem aber insgesamt ein geringeres, weil die potenziellen Gesprächspartner den MfS-Auswertern sehr gut bekannt waren, auch was ihre spezifischen Stimmlagen, Artikulationsformen etc. anbelangt. Außerdem hat gerade dieser Personenkreis in dieser Zeit offen gesprochen und auch den eigenen Namen genannt. Z. B. das Gespräch vom Anschluss der Poppes aus: MfS, HA XX/2, Information zu einem Gespräch zwischen Bärbel Bohley und Rechtsanwalt Schnur am 26.3.1988, 29.3.1988. BStU, MfS, HA XX/4 3628, Bl. 9–10. 508 Münzfernsprecher in Ost-Berlin, die 1988 abgehört wurden: BStU, MfS, HA VIII 8369, Bl. 121–131. In West-Berlin sind auch einige angezapft worden. 509 Siehe als Beispiel abgehörte Apparate im Zentrum Dresdens im Herbst 1989: BStU, MfS, BV Dresden, Abt. 26 6767. 510 Z. B. auch: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 30, Bl. 320. 511 Für Jürgen Fuchs liegt ergänzend zu Dok. 30 ein Auftragsersuchen der HA XX/5 zu den Telefonzellen in dessen Wohngebiet vom 3.7.1987 vor (BStU, MfS, HA VIII 1994, Bl. 152). Außerdem ist im zeitlichen Umfeld der IM »Milano« mit einem bundesdeutschen Reisepass nach West-Berlin geschickt worden, um mit West-IM die Wohngegenden von Fuchs und Jahn aufzuklären, was auch die Verortung von Telefonzellen einschloss (BStU, MfS, AIM 2626/91, Bl. 142–158).
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Gespräch überhaupt schriftlich dokumentiert wurde und wenn ja, in welcher Form. Außer im Falle der staatsanwaltschaftlich angeordneten Überwachung kann darüber nur gerätselt werden. Bei den »offiziell« angeordneten Lauschangriffen sind die relevanten Gespräche – eine verhältnismäßig sehr kleine Anzahl im Vergleich zu allen vom jeweiligen Anschluss aus geführten Gesprächen 512 – wortwörtlich verschriftlicht worden (Dok. 49, 51, 56–57, 61). Das ist nachvollziehbar, weil nur diese originalgetreue Abschrift bei einem eventuellen Gerichtsverfahren (in den 1980er Jahren) als offizielles Beweisdokument hätte anerkannt werden können. 513 Die Masse der überlieferten Abhörprotokolle stammt aber nicht aus solchen angeordneten Überwachungen, sondern erfolgte in völliger Eigenregie der Geheimpolizei. Die Verschriftlichung nahmen Auswerter der »auftragnehmenden« Abteilungen (HA III, Abt. 26) vor. Offenbar gehörte es zu ihren Aufgaben, nach den inhaltlichen Vorgaben der »auftraggebenden« Diensteinheiten zu entscheiden, in welcher Form sie ein als relevant erachtetes Gespräch verschriftlichten. 514 Vielleicht entschied darüber auch der simple Umstand, ob überhaupt personelle Kapazitäten vorhanden waren. Um ein Telefongespräch von fünf bis zehn Minuten abzuschreiben, veranschlagte das MfS anderthalb bis zwei Stunden Arbeitszeit. 515 Die für Vernehmungen und Untersuchungen zuständige Hauptabteilung IX beklagte im Februar 1988, dass sie jährlich in den 1980er Jahren von 30 000 bis 45 000 Stunden mitgeschnittener Vernehmungen und abgehörter Zellengespräche die Hälfte nicht verschriftlichen und
512 Das wird auch deutlich bei den durch den Generalstaatsanwalt angeordneten Telefonabhörmaßnahmen gegen Hirsch, Templin, Bohley, Rathenow und Poppe. Es überwiegen dem Abhörauftrag entsprechend »Fehlmeldungen«: »Die Auswertung des von der Deutschen Post am …. übergebenen Tonbandes Nr. …zur Überwachung des Fernsprechanschlusses …. hat ergeben, dass auf diesem Tonband keine strafrechtlich-relevanten Fernmeldegespräche gespeichert sind.« (BStU, MfS, U 34/89, Bd. 6–9, 11). 513 Entscheidend ist rechtshistorisch hier sicherlich ein anderer Umstand: Wenn die SED jemand strafrechtlich verurteilen wollte, setzte sie das auch durch, ganz unabhängig auf Basis welcher »Beweislage«. Dazu brauchte sie abgehörte Telefongespräche nicht. Dass dies Anfang Februar 1988 nicht griff, hatte ganz andere Ursachen als »Beweisnöte«. 514 Originalgetreue Abschriften sollten aber gemäß der Anweisung 1/87 über die Zusammenarbeit der operativen Diensteinheiten mit der Abteilung 26 nur in begründeten Ausnahmen gefertigt werden. BStU, MfS, BV Frankfurt/O., KD Schwedt 424, Bl. 2–16, hier 12. Einen sehr plastischen, aber auch sehr erschreckenden Bericht über seine Tätigkeit als Auswerter der Abt. 26 der BV Dresden gab ein ehemaliger Offizier 1990 zu Protokoll. Vgl. Der Mann, der zu viel hörte: »Meine Welt waren Wanzen und Telefone«, in: Lienhard Wawrzyn: Der Blaue. Das Spitzelsystem der DDR. Berlin 1991, S. 133–146. 515 MfS, HA III, Horst Männchen, Konzeption über den komplexen Einsatz und die Nutzung dezentraler Rechentechnik in den Diensteinheiten der Linie III bis 1995, 30.11.1987. BStU, MfS, HA III 10335, Bl. 1–44. (Den Hinweis auf dieses Dokument, das viele weitere Hintergründe enthält, verdanke ich Andreas Schmidt.)
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demzufolge auch nicht auswerten konnte. 516 Vor einem vergleichbaren Alltagsproblem dürften die HA III und die Abt. 26 gestanden haben. Aber wahrscheinlich waren davon die Gespräche und Personen, um die es in dieser Edition geht, kaum betroffen, da sie in der Bearbeitung durch das MfS oberste Priorität »genossen« und von praktisch allen infrage kommenden Diensteinheiten unter Federführung der HA XX/Abt. XX bearbeitet worden sind. Dennoch wird nicht ersichtlich, wann ein Gespräch aus der alltäglichen Telefonabhörmaßnahme transkribiert wurde und wann nicht. Weitere, auch in diesem Buch dokumentierte Formen, sind eine Zusammenfassung des Telefonats mit wörtlichen Zitaten sowie eine Zusammenfassung ohne Zitate. Andere mitgehörte und (ganz offenbar) ausgewertete Gespräche wiederum finden sich in keiner dieser Verschriftlichungsformen überliefert, sondern fanden Eingang unter Angabe der Quelle (Abt. 26/A, HA III o. Ä.) in »Sachstandsberichte«, »Monatsberichte«, »Lageberichte« u. Ä. Während die den »Gutachten« der Humboldt-Universität zu Berlin zugrundeliegenden Telefongespräche in Form von Wortprotokollen als Archivdokumente existieren (Dok. 71–72), sind die konkreten Bezüge auf Telefonate in den Vernehmungen (Dok. 64–65) schon deshalb nicht immer rekonstruierbar, weil diese schriftlichen Vernehmungsprotokolle selbst überwiegend knappe Destillate oft mehrstündiger Verhöre darstellen. Was für die MfS-Mitarbeiter in der Routinearbeit keine Probleme aufwarf, erweist sich heute selbst für im wissenschaftlichen Umgang mit MfS-Quellen erfahrene Forscher nicht immer als ganz einfach: nämlich zu bestimmen, auf welcher Quelle ein Dokument genau basiert. Aufgrund der angesprochenen Kassationen und Aktenvernichtungen sind von Abhörprotokollen oftmals nur Durchschläge überliefert. Auf diesen fehlen oft Absenderangaben, aber auch weitere nur auf der ersten Originalseite enthaltene Angaben. Dies betrifft auch Dokumente in dieser Edition. Allerdings lässt sich die genaue Herkunft oft rekonstruieren. So unterscheiden sich die Zusammenfassungen (und auch wörtlichen Abhörprotokolle) der HA III und Abt. 26 im formalen Aufbau erheblich voneinander. Die internen Aktenzeichen auf solchen Dokumenten fallen verschieden aus und sind so eindeutig zuzuordnen. Oftmals wird aber nicht auf den ersten Blick deutlich, dass es sich um eine Abhörmaßnahme handelt. Zwar ergibt sich dies meist aus dem Dokumenteninhalt, aber auch dies ist nicht immer zwingend, zumal auch solche Berichte ähnlich wie auf IM-Berichten fußende Dokumente Bemerkungen enthalten wie »auf der Basis einer inoffiziellen Quelle«, »durch Verbindungen einer inoffiziellen Quelle« oder bei »Auswertung der Information ist Quellenschutz erforderlich«. Im
516 Vgl. Jenny Schekahn, Tobias Wunschik: Die Untersuchungshaftanstalt in Rostock. Ermittlungsverfahren, Zelleninformatoren und Haftbedingungen in der Ära Honecker. Berlin 2012, S. 111.
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Kontext dieser Edition sind damit in jedem einzelnen Fall nachweisbar Abhörmaßnahmen gemeint. Anfang der 1990er Jahre, als die MfS-Bürokratie noch weitgehend im Dunkeln lag, kam es daher immer wieder zu Interpretationsproblemen. Im OV über Reinhard Weißhuhn ist zum Beispiel ein Dokument über ein Gespräch in dessen Wohnung am 17. Februar 1989 überliefert. An diesem Gespräch nahmen noch Gerd Poppe, Bärbel Bohley und Elisabeth Weber von den Grünen teil. In den Akten findet sich lediglich ein Durchschlag ohne Quellenangabe oder Absender. 517 Auch wenn dieser Rückschluss durch das Dokument nicht unbedingt naheliegen musste, verdächtigte später Bärbel Bohley wegen dieses Durchschlags die Bundesdeutsche Elisabeth Weber, eine der wichtigsten politischen Verbündeten der Opposition, als Stasi-Spitzel. 518 Erst später wurde ein weiteres Dokument erschlossen, aus dem zweifelsfrei hervorging, dass Weißhuhns Wohnung abgehört worden war und dass das erwähnte Dokument auf einer Raumüberwachungsmaßnahme (»Maßnahme B«) basierte und Elisabeth Weber keineswegs für die Stasi tätig war. 519 Prinzipiell bleibt das Problem, dass nicht jede Abhörmaßnahme in den schriftlichen Überlieferungen auch sofort oder kontextlos als solche erkannt werden kann. Ein anderes Problem stellt sich mit diesen Quellen, das ebenfalls Forschenden hinlänglich bekannt ist und im Fall des MfS immer wieder Gegenstand von öffentlichen und wissenschaftlichen Erörterungen ist: Die Sprache des MfS war nicht nur von bürokratischen Regeln, kommunistischem Jargon und SED-Spezifika charakterisiert, sondern enthielt auch Elemente einer Stasieigenen Diktion.520 Hinzu kommt, was oft unbeachtet bleibt, dass bei allen Formalisierungen und Ideologisierungen der »behördeninternen Bürokratiesprache« letztlich auch jeder Mitarbeiter den verfassten Dokumenten einen gewissen Grad – der stark schwankte – an individueller Handschrift verlieh. Dies ist anhand von Berichten über Treffen mit IM besonders deutlich zu ersehen. 521 Aber auch die Abhörprotokolle blieben davon nicht unberührt. 517 BStU, MfS, AOP 1056/91, Bd. 4, Bl. 292–295. 518 Elisabeth Weber mehrfach im Gespräch mit dem Verf., zuletzt am 20.2.2014 in Köln. 519 BStU, MfS, AOP 1056/91, Beifügung Bd. 1, Bl. 3. 520 Vgl. Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur »politisch-operativen Arbeit«, hg. von Siegfried Suckut, Berlin 1996 (das »Wörterbuch« stammt aus dem Jahr 1985). Wissenschaftlich hat sich mit der Sprache u. a. beschäftigt Christian Bergmann: Die Sprache der Stasi. Ein Beitrag zur Sprachkritik. Göttingen 1999. 521 Dafür zentral und herausragend Bettina Bock: »Blindes« Schreiben im Dienste der DDRStaatssicherheit. Eine text- und diskurslinguistische Untersuchung von Texten der inoffiziellen Mitarbeiter. Bremen 2013; vgl. weiter z. B. dies.: »Kommunikationsraum« MfS und die Texte der inoffiziellen Mitarbeiter, in: dies., Ulla Fix, Steffen Pappert (Hg.): Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche. Berlin 2011, S. 195-219; Steffen Pappert: Musterhaftigkeit und Informationsgehalt personenbeurteilender Texte des Ministeriums für Staatssicherheit, in: ders. (Hg.): Die (Un-)Ordnung des Diskurses. Leipzig 2007, S. 121–141; ders.: Formulierungsarbeit und ihre ›Folgen‹: Ein Vergleich zwischen öffentlicher und geheimer Kommunikation in der DDR, in: Journal for East German Studies 1/2010,
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Bei den Wortprotokollen verschwindet jeglicher Fremdeinfluss. Zwar gibt es hier immer wieder einmal Hör- und Verständnisfehler (z. B. Dok. 49)522, die zuweilen Grund für Heiterkeit sein können, oder auch Unsicherheiten bei der Interpunktion, aber angesichts der Menge, die verschriftlicht worden ist, kommen solche Fehlleistungen extrem selten vor. Transkribierte Abhörprotokolle sind praktisch die einzige Stasi-Quelle, in der die Verfolgten und Überwachten authentisch allein in ihrer eigenen Sprache zu Wort kommen. Diese Quellen stellen daher eine Form von Egozeugnissen dar – allerdings auch nur in begrenzter Form. Denn da sich alle Oppositionellen, die in dieser Edition tragend eine Rolle spielen, darüber bewusst waren, dass sie abgehört werden könnten, hat dies ihr Sprech- und Sprachverhalten gewiss beeinflusst. 523 Dies betrifft vor allem die Inhalte, aber auch die Umschreibung einzelner Sachverhalte bzw. die gänzliche Ausblendung solcher. Die Mithörenden im Kopf zu haben, beeinflusst unweigerlich die »freie Rede«, sodass diese wortwörtlichen Dokumente eine realistische Momentaufnahme der Sprachsituation darstellen können, aber keineswegs das allgemeine Sprach-und Sprechverhalten der Abgehörten adäquat spiegeln. Der Wandel der Opposition in den 1980er Jahren hat überhaupt erst das Telefon zu einem wichtigen Kommunikationsmittel, insbesondere mit den Unterstützern in West-Berlin oder mit politischen Weggefährten in anderen Ostblockstaaten, gemacht. Dazu bedurfte es der Überzeugung, das politische Handeln als öffentliches zu deklarieren und demzufolge nur noch bestimmte Absprachen wie Druckorte, Druckkapazitäten o. dgl. verdeckt, im kleinsten Kreis und gerade nicht am Telefon zu kommunizieren. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Personen um die IFM nicht nur offen westliche Medien für die Darstellung ihrer Ziele, sondern auch das Telefon als offenes Kommunikationsmittel benutzten. 524 Peter »Blase« Rösch, aus der Jenaer Opposition kommend und 1982 nach West-Berlin übergesiedelt, erinnert sich noch an eine
S. 24–35; im Vergleich dazu eine andere Textsorte: Ulla Fix: Der unkonventionelle Gebrauch von Textmustern im widerständigen Diskurs, in: ebenda, S. 36–50. 522 Dort findet sich die phonetische Wiedergabe eines Begriffs, den wir nicht entschlüsseln konnten. 523 Dieser Aspekt des Sprechverhaltens in überwachten Telefongesprächen, wenn das den Gesprächspartner bewusst war, wird von der Forschung bei der Telefonkommunikation meist nicht berücksichtigt. Vgl. mehrere Beiträge in: Ulrich Lange, Klaus Beck (Hg.): Telefon und Gesellschaft. Bd. 2, Berlin 1990. Für die Analyse solcher Sprachtexte der Opposition dürften auch die Überlegungen etwa von Pierre Bourdieu (Die feinen Unterschiede, 1982), Michel Foucault (Die Ordnung des Diskurses, 1970; Archäologie des Wissen, 1973) oder auch Michail Bachtin (The Dialogic Imagination; Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit; Literatur und Karneval; Die Ästhetik des Wortes; Speech Genres and Other Late Essays) hilfreich sein. 524 Für andere Oppositionskreise galt dies Mitte der 1980er Jahre so nicht. Vgl. Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«.
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andere Dimension im Telefonverhalten, die mit dem Gedicht von Jürgen Fuchs am Anfang des Buches in Bezug steht: »Beim Telefonverkehr in die DDR haben wir auch darüber gesprochen, dass z. B. Leute, die von einer Verhaftung bedroht sind, uns einen Lebenslauf und Foto schicken sollen. Dies so offen am Telefon anzusprechen, hatte den Zweck, einen Schutz vor der Verhaftung herbeizuführen und der Stasi mitzuteilen, wenn derjenige trotzdem in den Knast kommt, werden wir das sofort in die Medien bringen.« 525
Eine Schlussfolgerung aus dieser Edition ist auch, dass die meisten Oppositionellen ihr Telefonverhalten veränderten. Dies gilt für den überwiegenden Teil der Ostberliner Opposition nach den Ereignissen von November 1987 und Januar 1988, als sich erwiesen hatte, wie wichtig die Herstellung von Öffentlichkeit mittels westlicher Medien ist. Das führte bei vielen, die bislang dem Medium Telefon kritisch gegenüberstanden, auch zu einer Einstellungsveränderung diesem gegenüber. 526 Insofern spiegelt das »Telefonverhalten« der Oppositionellen durchaus auch den politischen Wandel der Opposition selbst. Für die Staatssicherheitsmitarbeiter war dennoch der Gesprächsverlauf nicht immer unmittelbar einleuchtend, verständlich oder nachvollziehbar. So hielten Auswerter der HA III zu einem zwischen Hirsch und Jahn im Januar 1988 geführten Telefonat fest: Es »fand ein Informationsaustausch zu verschiedenen Problemen statt, der in konspirativer Form geführt wurde«. 527 Nun kann es für diese Einschätzung verschiedene Gründe geben. Der naheliegende ist der, dass dies dem Charakter des Gesprächs entsprach. Wie aus vielen Gesprächsprotokollen zwischen Hirsch und Jahn aber ersichtlich wird, haben sie relativ offen miteinander gesprochen, auch wenn die Gespräche zwischen Templin und Jahn, Poppe und Jahn oder Bohley und Jahn im Vergleich dazu oft offener abliefen. Ralf Hirsch verwies immer dann, wenn er etwas offenkundig nicht sagen wollte, darauf, dass er dazu etwas schreiben werde. 528 Aber dieses eher geringfügige Ausweichen auf andere Kommunikationsformen war weder für die Telefonate prägend noch konspirativ. Es könnte daher auch einfach sein, dass der Auswerter zum eigenen Schutz seinen Vorgesetzten gegenüber so etwas behauptete, weil er es nicht verstand, nicht einzuordnen wusste oder auch nur zu faul war, mehr aufzuschreiben. 529 525 Brief von Peter Rösch an den Verf., 5.10.2011. 526 Dafür gibt es zahlreiche Beispiele etwa aus Gruppen wie »Gegenstimmen« oder »Umweltbibliothek«, was aber in dieser Edition nur wenig sichtbar wird (z. B. Dok. 50–51). 527 MfS, HA III, Aktivitäten innerer und äußerer Feinde, 22.1.1988. BStU, MfS, HA XX 397, Bl. 220. 528 Zu anderen Kommunikationsformen und -wegen siehe S. 143–145. 529 Der Zentrale Medizinische Dienst des MfS (ZMD) hat eine Untersuchung vorgenommen, in der die physischen und vor allem psychischen Belastungen und deren Folgen für jene Stasi-Mitarbeiter und ihre Arbeitsergebnisse erörtert wurden, die im Bereich von Abhörmaßnahmen eingesetzt worden sind: MfS, Abt. 26, Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse aus einer arbeitsmedizinischen
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Das Beispiel wirft ein methodisches Problem auf, das sich kaum hinreichend lösen lässt. Denn die anderen Formen der schriftlichen Protokollierung von abgehörten Telefongesprächen neben den Wortprotokollen sind StasiDokumente, die wiedergeben, was die MfS-Mitarbeiter verstanden, was sie als überlieferungswert erachtet und wie sie es niedergeschrieben haben. Beim Lesen dieser Dokumente ist zwar das hohe Maß an Authentizität bemerkenswert, was nicht zuletzt im Rahmen dieses Editionsprojektes von den angefragten abgehörten Personen überwiegend bestätigt worden ist. Aber dennoch ist im wissenschaftlichen Umgang mit diesen Quellen stets zu beachten, dass wir weder wissen können, was aus einem mitgehörten Gespräch nicht in eine Zusammenfassung gelangte, noch ob tatsächlich jeder Sachzusammenhang korrekt wiedergeben wurde. Prinzipiell allerdings kann man davon ausgehen, dass die Auswerter in der HA III und der Abt. 26 strikt dazu angehalten waren, so authentisch, »objektiv«, »wahrheitsgetreu« und sachlich wie möglich die Gesprächsinhalte nachzuzeichnen. Wie anhand dieser Edition zu ersehen ist, gelang es ihnen meist, sachlich-nüchtern zu protokollieren. Allerdings betrifft das vor allem die Gesprächsinhalte, die sich so zum Teil rekonstruieren lassen. »Rekonstruieren« auch deshalb, weil die Sprache nicht selten gerade nicht »authentisch« in den Zusammenfassungen erscheint, sondern immer wieder die ideologische Handschrift der Stasi-Verfasser zeigt. Zwar unterscheiden sich die zusammenfassenden Stasi-Protokolle wiederum von den meisten anderen MfS-Dokumenten erheblich, aber die sprachliche Überformung bleibt ein methodisches Problem. Vor allem zeigt sich dies anhand von Begrifflichkeiten, die den Abgehörten indirekt in den Mund gelegt werden, obwohl es sich dabei um typische SED- und MfS-Termini handelt, die einerseits nicht in jedem Fall unbekannt waren, die aber andererseits schon kaum von »normalen« zivilen Bürgern im Alltag verwendet wurden, von Oppositionellen aber schon gar nicht (zuweilen höchstens in ironischer Absicht). Am häufigsten kommt in den Zusammenfassungen folgende Zuschreibung vor (kursiv hervorgehoben): »Für Jahn ist es unverständlich, wenn sich aktive und führende Mitglieder feindlich-negativer DDR-Gruppierungen aus welchen Gründen auch immer aus diesen zurückziehen wollen oder eine Übersiedlung ins westliche Ausland in Erwägung ziehen.« (Dok. 12) Auch die Rede von »aktiven und führenden Mitgliedern« in »DDR-Gruppierungen« gehört zur SED-Sprache. Und vom »westlichen Ausland« im Zusammenhang mit Ausreisen zu reden, entspricht ebenso der normierten Amtssprache nicht der Rede von Jahn. Die Zuschreibung »negativ-feindlich« kommt häufig vor und beruht durchweg auf MfSInterpretation und nicht auf Selbstzuschreibung: »Dalos interessierte sich in einer nächsten Frage für die Zeitungen und Zeitschriften negativ-feindlicher Untersuchung des ZMD im Bereich der operativen Auswertung der Abteilung 26 des MfS, Dezember 1978. BStU, MfS, Abt. 26 401, Bl. 1–30.
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Kräfte in der DDR.« (Dok. 27) Oder: »Für die Zeit seiner Abwesenheit benannte Jahn als seinen Vertreter den ehemaligen DDR-Bürger Rosenthal, Rüdiger als ständigen Ansprechpartner für feindlich-negative DDR-Bürger.« (Dok. 50) Oder: »Für die nächste Zeit hielt es Krawczyk jedoch für angebracht, dass zu den Vorgängen um feindlich-negative Bürger als auch seine Person keine Beiträge mehr in den BRD-Medien gesendet werden.« (Dok. 51) Und ein letztes Beispiel dazu: »Weiter betonte sie [Katja Havemann], dass sie und andere feindlich-negative Kräfte weiter für eine Einreise von Biermann kämpfen werden.« (Dok. 149). Solche Beispiele sind charakteristisch für diese Dokumente und verlangen nach innerer Quellenkritik. Das mindert nicht deren Quellenwert, zumal jede historische Quelle nur im Sprachkontext des Quellenbildners zu verstehen ist. Aber dies zeigt eben, dass es sich um MfSQuellen und nicht um eine Form von Egodokumenten der Abgehörten handelt. Seltener als solche durchaus auch außerhalb des MfS im SEDHerrschaftsapparat gebräuchlichen Begriffe kamen typische Stasi-Termini vor. So heißt es zum Beispiel in einem Dokument: »Wolfgang Templin schildert dann seine Festnahme und seine Erlebnisse bei der VP. Er findet an der ganzen Sache die positive Seite, dass sich alle Exponenten und Sympathisanten der PUT-Szene zusammengeschlossen haben.« (Dok. 39) Der Begriff PUT (= politische Untergrundtätigkeit) war vor 1990 außerhalb des MfS unbekannt. 530 Ein anderes Beispiel, in dem Gesprächsinhalte in typischer Stasi-Begrifflichkeit wiedergegeben werden, in diesem Fall sogar einem bundesdeutschen Politiker in den Mund geschoben: »Bastian habe von der Volkskammer der DDR eine offizielle Einladung zur Teilnahme an der internationalen Konferenz für atomwaffenfreie Zonen im Juni in Berlin erhalten. Er bekundete die Absicht, diese offizielle Einladung für Zusammenkünfte mit Organisatoren und Inspiratoren politischer Untergrundtätigkeit in der DDR zu missbrauchen […]« (Dok. 81)
Auch wenn solche Formulierungen relativ leicht zu erkennen sind, so zeigen sie doch, dass die Stasi-Auswerter in ihren Berichten – vielleicht unbeabsichtigt – nicht ohne ideologisch motivierte Interpretationen auskamen. Die methodische Herausforderung besteht darin, das in der Arbeit mit solchen Dokumenten Satz für Satz, Aussage für Aussage zu berücksichtigen. Diese MfS-Dokumente spiegeln ebenfalls politische und zwischenmenschliche Konfliktlagen, die zwar auch von IM übermittelt wurden, die aber über abge530 Während der Begriff »IM« im Westen bekannt war, aber in der DDR weithin ebenfalls nicht, scheint PUT als stasiinterne Abkürzung auch im Westen unbekannt gewesen zu sein. Vgl. Karl Wilhelm Fricke: Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder. 3., akt. u. erg. Aufl., Köln 1989. (Hier kommt der Begriff »IM« wie selbstverständlich vor, PUT hingegen nicht.)
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hörte Telefongespräche für die Stasi eine größere Authentizität erhielten. Die Geheimpolizei erfuhr so von Kontroversen, die zwischen den Gesprächspartnern existierten oder aufbrachen (Dok. 51). Dabei sind mehrere Aspekte zu beachten: Die Personen, die miteinander grenzüberschreitend telefonierten, kannten sich oft persönlich nur flüchtig oder gar nicht. Jürgen Fuchs und Roland Jahn galten aufgrund ihrer Biografien als Vertrauenspersonen der Oppositionellen in der DDR. Die engen Verbindungen und telefonischen Absprachen sind nach Jahns illegalem Aufenthalt in der DDR und einem Treffen mit Ostberliner Oppositionellen 1985 erheblich intensiviert worden. 531 Jahn war mit seinen Ostberliner Telefonpartnern politisch eng verbunden, aber sie waren nicht automatisch deshalb auch persönlich befreundet. Noch schwerer wog aber, dass die Intentionen etwa von Jahn und seinen Gesprächspartnern im Osten nicht immer identisch waren. Zuweilen fühlten sich Ostberliner von ihm bevormundet. Umgekehrt scheint es Jahn nicht immer öffentlichkeitswirksam genug gewesen zu sein, was ihm erzählt wurde. In den Stasi-Protokollen stellt sich das häufig aber noch anders dar. Da das MfS bemüht war, Jahn als fremdgesteuert und zugleich als »Inspirator und Organisator« der Opposition im Osten zu überführen (Dok. 12, 14), sind solche Debatten in den Protokollen im Hinblick auf das Untersuchungsziel oft tendenziös dargestellt worden. Gleichwohl gab es zwischen den Gesprächspartnern Auseinandersetzungen, nicht nur inhaltlicher Art, zuweilen auch wegen der persönlichen Note der telefonischen Kommunikation. Ganz abgesehen von den realen Gegenständen der Auseinandersetzung kommt hinzu, dass solche Differenzen in der politischen Opposition zwischen Exilierten und Nichtexilierten eine über die DDR hinausreichende allgemeine Erscheinung darstellen. 532 Nach den Januar-Ereignissen und den Abschiebungen Anfang Februar 1988 haben sich diese Dissonanzen verstärkt. Zwischen Ralf Hirsch und Roland Jahn kam es in West-Berlin zu Kontroversen (Dok. 92, 96), die vom MfS durch IM und Zersetzungsmaßnahmen erheblich befördert worden sind, 533 die
531 Siehe S. 74–75. 532 Siehe dazu nur zwei ganz hervorragende Essays: Lewis Nkosi: The Wandering Subject: Exile as »Fetish«, in: Susan Arndt, Marek Spitczok von Brisinski (Hg.): Africa, Europa and (Post)Colonialism. Bayreuth 2006, S. 207–228; Edward E. Said: Reflections on Exile, in: Russell Ferguson, Martha Gever, Trinh T. Min-ha, Cornel West (Hg.): Out There, Marginalization and Contemporary Cultures. Cambridge (Mass.) 1990, S. 357–366. 533 MfS, HA XX, Horst Graupner, Arbeitsbücher, 25.11.1985–7.11.1989, 3 Stück. BStU, MfS, HA XX 8433, Bl. 332 (Eintrag vom 9.5.1988); MfS, HA XX/5, Ergänzende Information zur gemeinsamen Vorlage der HV A X und der HA XX/5 vom 25.10.1988 »Forcierung der Differenzen zwischen den Feindpersonen Roland Jahn und Ralf Hirsch«, 29.11.1988. BStU, MfS, AOP 15667/89, Bd. 1, Bl. 155–156.
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zugleich Rückwirkungen zeitigten. 534 Die in der DDR verbliebenen IFMMitglieder sprachen sich nun vorrangig mit Ralf Hirsch ab, ihre telefonischen Kontakte zu Jahn wurden sporadischer. Lutz Rathenow blieb ein wichtiger Telefonpartner, dennoch traten auch neue wichtige Gesprächspartner auf (z. B. Siegbert Schefke und Carlo Jordan in Ost-Berlin, 1989 baute er zudem belastbare Telefonkontakte nach Leipzig auf), was vom MfS sehr genau registriert worden ist. Diese und andere atmosphärische Störungen zwischen den Gesprächspartnern sollten historisch nicht überschätzt werden. Auf beiden Seiten der Mauer waren die Protagonisten in gewisser Hinsicht eingezwängt, gesellschaftlich isoliert und jeweils unter anderen Vorzeichen in Zwangssituationen, die ihnen unterschiedliche reale Handlungsoptionen eröffneten. Dies zeigte sich auch, nachdem Bärbel Bohley und Werner Fischer Anfang August 1988 in die DDR zurückkehren konnten. Ihre politische Rhetorik unterschied sich nun zuweilen nicht nur punktuell von den im Osten verbliebenen Personen und ließ Entfernungsprozesse erkennen. 535 Das war politisch sogar von Vorteil, wie sich 1989 erweisen sollte. Denn erst wegen solcher politischen Differenzierungsprozesse war es 1988/89 möglich geworden, dass sich aus der Opposition heraus die neuen Bürgerbewegungen und -gruppen bilden konnten. Diese waren für die Mobilisierung im Spätsommer/Herbst 1989 von zentraler Bedeutung. 536 Die Staatssicherheit versuchte, bestehende oder durch sie selbst erst verschärfte Konflikte für ihre Zersetzungsvorhaben zu nutzen. Der in Dok. 93 entfaltete Plan (unter Nutzung von Stimmenähnlichkeiten einen vermeintlichen Anruf Jahns mit »zersetzenden« Informationen an seinen Gesprächspartner zu übermitteln) stellt ein Beispiel dafür dar. Auch wenn es zu diesem fingierten Anruf eines MfS-Mitarbeiters nicht kam, zeigt dieses Dokument exemplarisch Möglichkeiten auf, wie das MfS das Medium Telefon selbst zu nutzen gedachte. Die Idee ist in der HA XX kurz nach den erzwungenen Ausreisen Anfang Februar 1988 offenbar erstmals besprochen worden. 537 Zu diesem Zeitpunkt muss die Stimmenähnlichkeit zwischen Roland Jahn und dem 534 Offenkundig ist dies an dem Vorgang, der im Herbst 1988 zur Aberkennung der Ehrenmitgliedschaft in der UB für Jahn führte (Anm. in Dok. 53). 535 Das ist im Einzelnen noch komplizierter, da sich die persönliche Situation zwischen Bohley und Fischer auch auf Gruppen- und Diskussionszusammenhänge auswirkte. Das kann hier nicht ausgeführt werden. Aber durch die enge Verzahnung von politischen und persönlichen Zusammenhängen in diesen überschaubaren Gruppen stellten sich ständig Konfliktlagen jenseits politischer Erklärungskraft ein. Das wissenschaftlich zu analysieren, dürfte interessante Gesichtspunkte auf die Oppositionsgeschichte eröffnen. Gleichwohl ist dieses Phänomen ein über diese historische Zeit und die DDR hinaus anzutreffendes. 536 Vgl. ausführlich Kowalczuk: Endspiel. 537 Am 9.2.1988 notierte Graupner in seinem Arbeitsbuch: »Ulf Hofmann – Stimmengleichheit mit Jahn für Störmaßnahmen nutzen« (MfS, HA XX, Horst Graupner, Arbeitsbücher, 25.11.1985– 7.11.1989, 3 Stück. BStU, MfS, HA XX 8433, Bl. 308).
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MfS-Mitarbeiter Hofmann bereits erwiesen gewesen sein. Die Anforderung für eine »Stimmkonserve« von Jahn kam im Juni 1987 (Dok. 22). Offenbar erfolgte die Einlagerung dieser in der »Stimmbank der Abt. 26« im September 1987. 538 Bis Anfang Februar 1988 muss ein Stimmenabgleich erfolgt sein, sonst hätte die Stimmgleichheit nicht behauptet werden können. Im September 1989 konnte die Stasi einen Anruf von Jahn ihm zuordnen, weil er, wie das Dokument festhält: »durch Stimmbank der Abteilung 26/AKG identifiziert« worden sei. 539 Der dem Dok. 93 zugrundeliegende Plan ist am 8. Juli 1988 in der HA XX praktikabel als »Vorschlag für aktive Maßnahme Jahn/Rüddenklau« angesehen worden. 540 Eine Woche später ist er dahingehend erweitert worden, nun Carlo Jordan einer MfS-Tätigkeit zu bezichtigen. 541 Spätestens zwei Wochen darauf ist das Vorhaben abgeblasen worden. Die Gründe sind nicht bekannt. Die Abt. XX der BV Berlin hatte nicht zugestimmt. 542 In den Stasi-Unterlagen, die Oppositionelle betreffen, finden sich relativ wenige Hinweise auf »Stimmkonserven« und die »Stimmbank«. Es ist bekannt, dass das MfS etwa bei Vernehmungen »Geruchsproben« einzog. Ebenso sammelte es zum Beispiel »Speichelproben«, 543 Schriftbilder von Schreibmaschinen, 544 Handschriften 545 und erprobte auch den Einsatz von »Lügendetektoren« 546. Über das Sammeln von »Stimmen« ist bislang wenig bekannt. 547 Die
538 MfS, HA XX/5, Aktenvermerk, 9.7.1987. BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 355. 539 BStU, MfS, Sekr. Neiber 622, Bl. 26. 540 MfS, HA XX, Horst Graupner, Arbeitsbücher, 25.11.1985–7.11.1989, 3 Stück. BStU, MfS, HA XX 8433, Bl. 346 (Eintrag vom 8.7.1988). 541 Ebenda, Bl. 348 (Eintrag vom 13.7.1988). Wer Jordan beschuldigen sollte, wird aber nicht klar. Es ging darum, nicht nur Differenzen zwischen Rüddenklau und Jahn, sondern auch zwischen Jordan (Arche) und Rüddenklau (UB) zu verstärken. 542 Ebenda, Bl. 351 (Eintrag vom 1.8.1988). 543 Z. B. MfS, OTS, Abt. 32, Auswertungsbericht zur Expertise Nr. 87.1352, 12.10.1987. BStU, MfS, HA XX 12488, Bl. 20 (anhand von 5 Filterzigaretten nahm das MfS bei Gerd Poppe eine Speichelprobe vor). 544 Z. B. MfS, HA XX/2, Schriftenüberprüfung, 29.11.1988. BStU, MfS, HA XX 12488, Bl. 64 (Überprüfung der Schreibmaschine Gerd Poppes anhand von Vergleichsschriftmaterial). 545 Z. B. »handschriftl. Material von Jahn beschaffen (BV Bln. XX)«. MfS, HA XX, Horst Graupner, Arbeitsbücher, 25.11.1985–7.11.1989, 3 Stück. BStU, MfS, HA XX 8433, Bl. 273 (Eintrag vom 11.11.1987). 546 MfS, HA XX/AG-A, Überprüfung der Tonkonserven der Vernehmung des Beschuldigten »Natter« am 17.11.1977 mittels spezifischer Technik, 12.1.1978. BStU, MfS, HA II 31734, Bl. 15– 53 (einschließlich beigefügter Auswertungsbögen); MfS, Vorliegende Erkenntnisse über den Einsatz operativ-technischer Geräte (PSE/Polygraph) u. a. medizinisch-physiologischer Mittel durch die imperialistischen Geheimdienste und bisherige Ergebnisse in der Erforschung dieser Mittel und Methoden und deren Vorbereitung für den operativen Einsatz in der HA II, o. D. (1977/78). Ebenda, Bl. 1–14. 547 Vgl. Schmole: Abteilung 26, S. 12–13; Schmidt: Hauptabteilung III, S. 125–127.
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Abteilung 26 begann 1976 mit dem Aufbau einer »Stimmbank«. 548 Ausgangspunkt waren dabei die seit Anfang der 1970er Jahre eröffneten diplomatischen Vertretungen in Ost-Berlin sowie die akkreditierten Korrespondenten, »da zunehmend mehr Bürger der DDR anonym mit diesen legalen Basen des Feindes in der DDR in Verbindung treten, um Informationen auszutauschen.« 549 Der Aufbau ging nur schleppend und unsystematisch voran. 1983 ist deshalb eine »zielgerichtete« Entwicklung befohlen worden. Zentral in diesem Zusammenhang erschien den MfS-Strategen dabei die Nutzung des Telefons: »Der kontinuierliche Ausbau des Fernmeldenetzes international, auch in der DDR, bietet immer größere Möglichkeiten, das Medium Telefon zur Kommunikation, zum Informationsaustausch, zur Übermittlung von Nachrichten, zum Gedankenaustausch über die verschiedensten Erscheinungen im gesellschaftlichen Leben, zur Darlegung von Einstellungen und Verhaltensweisen u. a. m. zu nutzen.« 550 Neben der Aufklärung anonymer Gewaltandrohungen und der Spionageabwehr kam die »Aufklärung operativ bedeutsamer Personen, die innerhalb der vom Gegner inspirierten politischen Untergrundtätigkeit in der DDR wirksam werden«, hinzu. 551 Neben der Abt. 26 unterhielten auch die HA III und die Abt./HA XXII ähnliche Datenbanken. 552 Seit 1987 plante das MfS, ein zentrales »Sprecherarchiv« sowie in den Bezirksverwaltungen Stimmbanken bei den Abt. 26 anzulegen. Zur Fertigstellung dieser Vorhaben – obwohl es erste Datenbanken gab – kam es nicht mehr. 553 Auch das seit 1987 in Angriff genommene »Dialektarchiv zum Sprachraum DDR« war Ende 1989 noch im Aufbau befindlich. 554 Die Arbeiten für die »Stimmbank« basierten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, die die Stasi-Spezialisten der internationalen Fachliteratur entnahmen. In der DDR befasste sich an der Humboldt-Universität zu Berlin, Sektion Kriminalistik, Christian Koristka mit solchen Fragen. Er arbeitete als Gutachter und Experte vielfach mit dem MfS zusammen, war aber selbst kein Stasi-Mitarbeiter (Dok. 71–72). 555 In der Bundesrepublik ist ebenfalls in den 548 BStU, MfS, Abt. 26 564, Bl. 7. (Es handelt sich um eine Ausarbeitung mit Grundsatzcharakter: GVS-P MfS 0035-4/87, deren Deckblatt fehlt in dieser Überlieferung). 549 Ebenda. 550 Ebenda, Bl. 11. 551 Ebenda, Bl. 12. 552 Vgl. Schmole: Abteilung 26, S. 12–13; Schmidt: Hauptabteilung III, S. 125–127; für HA XXII z. B.: BStU, MfS, HA XXII 21097; ebenda, HA XXII 645/2. 553 Dazu sind sehr viele Unterlagen überliefert, z. B. BStU, MfS, ZAIG 26235; Sekr. Schwanitz 52; OTS 2590; ZAIG 26231; HA XXII 17794; HA XXII 17796; HA XXII 18104; HA IX 2249; BdL 273; HA XVIII 12829; HA XX 12224; HA XXII 700/4. 554 BStU, MfS, Abt. 26 817. 555 Von seinen vielen Veröffentlichungen siehe z. B. folgende, die neben anderen von den StasiExperten ausgewertet worden sind: Christian Koristka: Zum Gegenstand und einigen Entwicklungen der kriminalistischen Akustik, in: Wiss. Ztschr. HUB, Ges.-Sprachw. Reihe 30 (1981) 2, S. 215–222;
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1980er Jahren an solchen Techniken zur Personenidentifizierung über Stimmenanalysen gearbeitet worden, was aber als rechtswidriger Eingriff in die verfassungsrechtlich verbürgten Persönlichkeitsrechte galt und demzufolge auf Kritik stieß. 556 Die »Stimmbanken« wurden unterschiedlich ausgewertet. In der HA XXII gelangten Sichtlochkarten 557 zum Einsatz. Die HA III und Abt. 26 arbeiteten mit Computertechnik. Die Stimmenanalyse erfolgte in der HA III mittels bildlicher Darstellung, was extrem aufwendig war und bei der Auswertung sehr stark vom Interpreten abhing. Hinzu kam, dass das Verfahren international als überholt galt. 558 In der Abt. 26 ist die Höranalyse verwendet worden: »Eine wesentliche Seite der Höranalyse ist der auditive Vergleich der analysierten Merkmale zwischen dem (akustischen) Ausgangsmaterial und dem Vergleichsmaterial. Als Ergebnis folgt die Einschätzung aller Merkmale und Eigenschaften des relevanten Sprechers einschließlich der vorgenommenen Textanalyse.« 559
Unabhängig von allen damit zusammenhängenden Problemen, den vielen dabei zu beachtenden und in umfänglichen Katalogen zusammengestellten Merkmalskomplexen, kam als wohl wichtigstes Hindernis hinzu, dass die Anzahl der »Stimmkonserven« sich bis 1989 in einem überschaubaren Rahmen hielt. 560 Gerade für »vorbeugend zu speichernde Stimmen« waren die Qualitätsanforderungen hoch. Das MfS benötigte zusammenhängende Aussagen von drei bis vier Minuten. Diese sollten keine Stör- und Nebengeräusche enthalten. Möglichst sollten »gespeicherte Stimmen« einer Person aus »unterschiedlichen Gesprächssituationen wie Umgangssprache mit Bekannten und förmliche Gespräche mit Institutionen« stammen. 561 Wahrscheinlich führten auch diese Anforderungen dazu, dass Anfang 1989 in der »Stimmbank« der Abt. 26 erst »3 427 Sprecher« gespeichert waren, von denen 90 Prozent bekannt waren. In der HA III lagen etwa »4 000 Sprecher« vor, von denen ein Fünftel keiner Person zugeordnet werde konnte. Die Abt. XXII hatte etwa »1 500 Sprecher« erfasst, von denen aber lediglich ein Fünftel bekannt war. 562 Wahrscheinlich befanden sich hierunter auch »Spreders.: Zu einigen Erfahrungen bei der Beweisführung mit auditiven Wiedererkennungen von Sprechern, in: Wiss. Ztschr. HUB Ges.Wiss. Reihe 37 (1988) 5, S. 455–458. 556 Vgl. Fahndung – Typisches Schmatzen, in: Der Spiegel Nr. 24 vom 8.6.1987, S. 77–80. 557 Vgl. dazu http://runde-ecke-leipzig.de/sammlung/index.php?inv=15012. 558 Vgl. Schmidt: Hauptabteilung III, S. 126. 559 BStU, MfS, Abt. 26 564, Bl. 15. 560 Einige »Stimmkonserven« sind überliefert, z. B.: BStU, MfS, BV Erfurt, Ka 126; ebenda, BV Halle, Ka 172; ebenda, BV Neubrandenburg, Tb 226. 561 BStU, MfS, Abt. 26 564, Bl. 24. 562 MfS, Leiter OTS, an stellv. Minister Schwanitz, Entscheidungsvorlage zu künftigen Arbeiten mit Sprecherarchiven im MfS, 18.1.1989. BStU, MfS, ZAIG 17746, Bl. 43. Eine handschriftliche Auflistung des »operativen Stimmenspeicher« der Abt. XXII mit 1 317 Eintragungen von 1981 bis 1988 findet sich unter: BStU, MfS, HA XXII 17244. Der geringe Anteil von konkreten Personen
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cher«, die bereits von der Abt. 26 bzw. HA III gespeichert worden sind. 563 Von den »Sprechern« in der »Stimmbank« der Abt. 26 sind 950 dem »politischen Untergrund« zugeordnet worden, 900 waren Ausreiseantragsteller bzw. bereits ausgereiste Bürger, 750 »Kontaktpartner von akkreditierten Korrespondenten« sowie »136 Korrespondenten westlicher Massenmedien«. 564 Wer diese Personen genau waren, ließ sich bislang nicht systematisch rekonstruieren. Die Unzulänglichkeiten verdeutlicht eine Anmerkung von 1987: In der »Stimmbank« der Abteilung 26 seien nur 68 Personen erfasst, die »als operativ bedeutsam einzuschätzen« seien. »Darunter befanden sich lediglich 46 Primärpersonen, die in A-Aufgaben der Abteilung 26 bearbeitet wurden.« 565 Die Effektivität dieser »Stimmbanken« lässt sich nur schwer einschätzen. Von 438 Aufträgen 1985/86 und 449 1986/87 konnte die Abt. 26 immerhin 265 bzw. 291 »personifizieren«. 566 Was sich genau dahinter verbirgt, bleibt aber unklar. In einigen überlieferten Fällen erweist sich, dass der hohe Aufwand zu keinen befriedigenden Ergebnissen führte. 567 Im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Opposition dürfte die »Stimmbank« schon deshalb keine besondere Bedeutung gehabt haben, weil die wichtigsten Protagonisten nicht nur der Stasi hinlänglich bekannt waren, sondern weil sie offen agierten – auch am Telefon. Allerdings gab es, wie schon mehrfach betont wurde, Einschränkungen, was am Telefon gesagt wurde und was nicht. Auch dass die Wohnungen abgehört wurden, war den meisten Oppositionellen bewusst. Bestimmte Absprachen sind deswegen an anderen Orten (Dok. 17) oder ganz bewusst im Freien getroffen worden. 568 Dies ging nur mit Personen, die selbst im Osten lebten oder in die DDR einreisen durften. Treffen in Polen, Ungarn oder der ČSSR scheiterten daran, dass viele Oppositionelle aus Ost-Berlin ein totales oder weitgehendes Reiseverbot auferlegt bekommen hatten (Dok. 2, 15–16, 18) und umgekehrt auch Personen wie Jahn, Fuchs oder Hirsch weder die DDR auf Transitwegen durchfahren durften noch eine Einreise z. B. in die ČSSR erhielten (Dok. 50, 77, 111). Zwar konnte Wolfgang Templin von der Bundesrepublik aus im Sommer 1988 eine Reise nach Polen, Ungarn, Slowenien und in zuzuordnender Stimmen könnte mit einer Aufgabe der Abt./HA XXII zusammenhängen, nämlich anonyme Drohanrufe im Rahmen der Terrorismusabwehr aufzuklären. 563 MfS, Abt. XXII/2 an Leiter OTS/Abt. 32, Geschätzter Umfang der in ein Zentralarchiv zu speichernden Sprecher, 29.12.1988. BStU, MfS, HA XXII 17555, Bl. 23. 564 BStU, MfS, Abt. 26 790, Bl. 2. (Es handelt sich wahrscheinlich um den Entwurf einer Zuarbeit der Abt. 26/AKG für den Leiter OTS.) 565 BStU, MfS, Abt. 26 564, Bl. 33. 566 Ebenda, Bl. 67. 567 BStU, MfS, HA XVIII 67. 568 Vgl. z. B. Kowalczuk: Im Blick des Staatssicherheitsdienstes – Ludwig Mehlhorn, S. 223– 228.
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die ČSSR unternehmen (Dok. 110), aber seine politischen Freunde aus der DDR durften nicht dorthin reisen. Vor diesem Hintergrund waren für die grenzüberschreitende Kommunikation neben dem Telefon weitere Wege notwendig und wichtig. Einige akkreditierte Korrespondenten, überwiegend mit bundesdeutschem Pass, verbreiteten nicht nur Materialien und Informationen der Opposition via westliche Medien. Sie unterstützten auch anderweitig die Opposition (Dok. 3, 11, 18, 51, 60, 86, 145). Dies galt noch mehr für einige bundesdeutsche Politiker und Politikerinnen, die durch einen Abgeordnetenstatus diplomatisch geschützt waren. Das waren vornehmlich Politiker der Grünen, die Bücher, Videokameras, Drucktechnik, den Reader »dialog« u. a. nach Ost-Berlin und in die DDR schmuggelten. 569 Einige Korrespondenten waren dabei besonders aktiv. Roland Jahn unterhielt enge Kontakte zu einigen, die zwischen Ost- und West-Berlin ungehindert pendeln konnten und als Kuriere tätig waren. Mit einem traf er sich zeitweise fast täglich, um Material zu übergeben bzw. zu empfangen. Lutz Rathenow verfügte ebenfalls über einen vom MfS nicht entdeckten Kurierkanal (Dok. 3), über den er u. a. mit Jürgen Fuchs Materialien austauschte. Neben dem Telefon wusste die Stasi, ohne weitere Einzelheiten zu kennen, »benutzen Fuchs und Rathenow konspirativ gehaltene Verbindungswege, wozu Kuriere eingesetzt sind und der Postverkehr abgedeckt benutzt wird«. 570 Ein Großteil der Geschäftspost Rathenows mit westlichen Redaktionen, Verlagen, Medienanstalten ist über die Westberliner Adresse von Fuchs abgewickelt worden. Peter Rösch (»Blase«) berichtet überdies, dass er von 1983 bis 1986 einen Kurierweg zu Uwe Kulisch über eine Bürgerin Dänemarks, die zwischen Ost- und West hin- und herfahren konnte, abwickelte (z. B. Geld, Bücher, Druckerfarbe, Wachsmatrizen). 571 Insgesamt ist über diese Transportwege festzuhalten, was die Stasi aus einem Telefonat zwischen Jürgen Fuchs und Horst-Eberhard Richter erfuhr: »Fuchs spricht dabei von ›Nadelöhren‹, über die er das Material in die DDR verbringt.« 572 Diese Kuriere betätigten sich aber auch im wahrsten Sinne des Wortes als »Briefträger«. Wie auch aus abgehörten Telefongesprächen deutlich wird, sind bestimmte Sachverhalte nur in Briefen kommuniziert worden (Dok. 20, 53, 107, 111, 122). Die konkreten Kurierwege waren nur ganz wenigen Einge569 Darüber berichtete z. B. als einstiger Akteur Wilhelm Knabe: Mein Gruß an die Freunde der Umweltbibliothek, 25.10.2011, Ms. Was »Kuriersendungen« genau enthalten konnten, hat ein IM am Beispiel einer Sendung vom 7.7.1988 an Gerd Poppe, die auch Material für Peter Grimm und Tom Sello enthielt, festgehalten: MfS, HA XX/4, o. T., 15.7.1988. BStU, MfS, HA XX 12488, Bl. 300. 570 BStU, MfS, AOP 15665/89, Beifügung Bd. 13, Bl. 5 (Information der Abt. 26 vom 2.12.1983). 571 Brief von Peter Rösch an den Verf., 5.10.2011. 572 BStU, MfS, AOP 15665/89, Beifügung Bd. 7, Bl. 11 (Information der HA III vom 2.7.1986).
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weihten bekannt, wie IM-Berichte zeigen (Dok. 24). Auch Briefe aus OstBerlin an Oppositionelle im Ostblock sind über Kuriere verschickt worden, wie ein Brief von Gerd Poppe an Petr Uhl und Jan Urban vom 7. Dezember 1988 exemplarisch zeigt (Dok. 115). Solche Kurierbriefe konnten eine Einladung zum künftigen Telefonieren enthalten. Roland Jahn schrieb am 5. August 1987 an Stephan Krawczyk und Freya Klier: »Ich hatte bisher vermieden, Euch anzurufen, weil es immer eine Entscheidung aus der DDR geben muss, mit mir offen Kontakt zu haben. Schließlich werde ich als Agent geführt. Wenn es für Euch kein Problem ist […], dann meldet Euch mal.« Es folgen zwei Telefonnummern, die der Stasi bekannt waren, wie Jahn wusste. 573 In den MfS-Unterlagen finden sich geschmuggelte Briefe dieser Oppositionellen nur in Ausnahmefällen. 574 Da sie sich der Gefahr von Verhaftungen und Wohnungsdurchsuchungen bewusst waren, sind solche Briefe meist schnell vernichtet worden. In einem Brief eines UB-Mitarbeiters an Roland Jahn vom 10. Januar 1988 heißt es einleitend: »Wie verabredet nun der lange Brief, von dem es, wie ebenfalls verabredet, eine (1) Kopie gibt, um Verständigungsschwierigkeiten zu verringern. Sie geht nach getaner Arbeit durch den Schornstein.« 575 Dass Abschriften eigener Briefe von Oppositionellen überliefert sind, gehört bislang zu seltenen Glücksfällen. 576 Wahrscheinlich liegen für die Forschung noch bislang unbekannt weitaus mehr solcher geschmuggelten Briefe als Originale, Durchschläge oder Abschriften in Privatsammlungen. Diese Quelle stellt eine besonders authentische dar. Im Bestand der Robert-Havemann-Gesellschaft lassen sich bereits jetzt einige finden, die diesen Quellenwert bestätigen. Im Rahmen dieses Editionsprojektes sind zudem bislang unbekannte Briefsammlungen in den Privatarchiven von Birgit Voigt und Roland Jahn zugänglich gemacht worden, die diese Einschätzung untermauern. Im Bestand von Voigt finden sich von 1984 bis 1989 z. B. zahlreiche geschmuggelte Briefe von und an Bärbel Bohley, Werner Fischer, Roland Jahn und vor allem Ralf Hirsch. Der Bestand von Roland Jahn ist noch umfangreicher und enthält außerordentlich aufschlussreiche und für die Oppositionsgeschichte wertvolle Briefe etwa von Wolfgang Rüddenklau, Siegbert Schefke, Carlo Jordan, Ulrike und Gerd Poppe, Werner Fischer, Martin Böttger, Wolfgang Templin, Stephan Bickhardt, Bärbel Bohley, Ludwig Mehlhorn, Ralf Hirsch, Freya Klier und Stephan Krawczyk. Die zahlreichen Schreiben von Lutz Rathenow an Jahn sind hingegen bislang nicht gefunden worden. 573 BStU, MfS, BV Berlin, AOP 3341/88, Bd. 7, Bl. 78. 574 Einige wenige z. B. in: BStU, MfS, BV Berlin, AOP 3341/88, Bd. 7, Bl. 77–86. 575 Brief an Roland Jahn vom 10.1.1988. Privatarchiv Roland Jahn. 576 RHG, GP 002, 1982–1992. Es handelt sich um den Bestand von Gerd Poppe. Siehe auch Dok. 115.
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Die Briefe von Wolfgang Templin z. B. stammen überwiegend aus dem Jahr 1986. Einige Anfangssätze seien zitiert, Datumsangaben fehlen jeweils: »Unsere häufigen Telefongespräche zeigen auch verteufelt gut, worüber man alles nicht reden kann und uns selbst im Brief schwer fällt.« Ein anderer beginnt so: »Nach unserem ›ungestörten‹ Telefonkontakten nun doch lieber erst mal ein Brief.« Und schließlich spricht Templin in einem weiteren Jahn so an: »Mein lieber Telefonfreund!« Diese systematisch schwer erschließbare Quelle steht in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den Telefonabhörprotokollen. Sie ergänzen einander, weshalb solche Briefe in den wissenschaftlichen Apparat dieser Edition Eingang gefunden haben. Noch anders als die wörtlichen Telefonabhörprotokolle haben sie als unmittelbare historische Egozeugnisse zu gelten. Gerade weil sie über vertrauenswürdige Kuriere verschickt worden sind und nicht offiziell über die Post, spiegeln sie einerseits politische Vorstellungen und Ziele, aber auch gruppeninterne und zwischenmenschliche Konflikte und zeigen andererseits sehr präzise, was diese Ostberliner Oppositionellen konkret an technischer und medialer Unterstützung von Roland Jahn oder auch Birgit Voigt erwünschten. Hier ist nicht der Ort, dies im Einzelnen zu analysieren, zumal auch diese Quelle ähnlich wie abgehörte Telefongespräche unmittelbar schützenswerte Persönlichkeitsrechte berührt. In einem künftigen wissenschaftlichen Forschungsprojekt zur (grenzüberschreitenden) Kommunikationskultur der Opposition aber werden diese Quellen in enger Absprache mit den Absendern und Adressaten eine zentrale Rolle spielen müssen. 577 Dabei werden auch von der Stasi anonym verfasste Briefe berücksichtigt werden müssen, die das MfS in West-Berlin, aber auch in Ost-Berlin, Bonn oder Jena in Umlauf brachte, um Roland Jahn (Dok. 8) oder Ralf Hirsch zu verleumden. 578 Kuriere sind auch in früheren Zeiten von regimekritischen Personen benutzt worden. Buchmanuskripte von Robert Havemann oder Rudolf Bahro gelangten so in die Bundesrepublik (wie 1988 auch von Rolf Henrich). Wenn Havemann eines seiner zahlreichen Rundfunkinterviews gab, so sind die Tonbänder meist über die Grenze geschmuggelt worden. Telefoninterviews gab er selten. 579 Mit der zunehmend offensiveren Nutzung westlicher Medien in den 1980er Jahren veränderte sich das. Einige Oppositionelle gaben nun Telefoninterviews, was sich vor allem ab 1987 erheblich steigerte (Dok. 29, 33, 37, 40, 68, 103). Im Jahr 1989 gehörten solche Interviews zu den wichtigen Mo577 Eine solche Projektidee wird gegenwärtig, da das aktuelle Forschungsprojekt mit dieser Edition abgeschlossen ist, innerhalb der Forschungsgruppe des BStU, die diese Edition verantwortet, mit einstigen Protagonisten der Opposition diskutiert und vorbereitet. 578 Sie liegen z. B. vor in: RHG, RJ 03. 2 Beispiele sind abgedruckt in: Pingel-Schliemann: Zersetzen, S. 333–334. 579 Ein Beispiel aus dem Jahr 1976 findet sich in: BStU, MfS, AOP 5469/89, Bd. 88.
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bilisierungsfaktoren, da sie unmittelbar in weite Teile der DDR zurückwirkten (Dok. 134, 137–138, 148). Bärbel Bohley gab im September täglich Interviews, allein vom 11. bis 21. September 1989 zählte das MfS 34 Telefoninterviews mit ihr. 580 Neben bundesdeutschen Sendern gaben Oppositionelle auch ausländischen Radiostationen Interviews. 581 Obwohl es auch zu Störversuchen kam (Dok. 127), konnten viele Telefoninterviews stattfinden. Wahrscheinlich schritten SED und MfS nicht ein, weil ihnen das internationale Aufsehen wegen einer gezielten Leitungsstörung weitaus ungelegener gekommen wäre als die Ausstrahlung von Interviews, die sich im Jargon der Rundfunkmacher ohnehin »versenden«. Hinzu kam, dass sie von vielen Interviews erst nach der Ausstrahlung durch die verschriftlichten Wortprotokolle des Staatlichen Komitees für Rundfunk, Redaktion Monitor, und nicht durch Abhörmaßnahmen erfuhren. 582 Gerade bei den bekannten Oppositionellen legten SED, Justiz und MfS nach den Ereignissen Ende 1987/Anfang 1988 größten Wert darauf, dass das aus ihrer Sicht strafrechtlich relevante Verhalten auch eindeutig beweisbar ist. So finden sich in den MfS-Unterlagen zahlreiche »rechtliche Einschätzungen« zu Samisdaterzeugnissen, Veröffentlichungen im Westen oder Telefoninterviews, die anschaulich zeigen, wie förmlich verzweifelt der Herrschaftsapparat letztlich seinen »Feinden« gegenüberstand (Dok. 137). Nachdem zum Beispiel am 7. Juni 1989 Ulrike Poppe ein Telefoninterview zu den Vorgängen in China und den Reaktionen der ostdeutschen Opposition darauf gegeben hatte, hielten Stasi-Juristen fest, dass es sich dabei »objektiv« um Verstöße gegen die §§ 219 (»ungesetzliche Verbindungsaufnahme«) und 220 (»öffentliche Herabwürdigung) StGB handele. Dafür drohte eine Haftstrafe. Weiter führten sie dann aus: »Aus beweisrechtlicher Sicht bestehen gegenwärtig jedoch keine Voraussetzungen für die Durchführung strafprozessualer Maßnahmen […], da das den Straftatverdacht begründende Telefongespräch im Ergebnis inoffizieller Maßnahmen 583 gesichert wurde und weiterhin keine Beweise vorliegen, dass es sich bei den Gesprächspartnern tatsächlich um Ulrike Poppe und eine Mitarbeiterin eines ausländischen Rundfunksender handelt, was sich auch aus dem vorliegenden Wortlaut des Interviews nicht ableiten lässt.« 584
Diese formaljuristische Einschätzung ist gleich in mehrfacher Hinsicht kurios. Denn das Interview führte Ulrike Poppe unter Nennung ihres Namens. Und 580 BStU, MfS, HA XX/9 1535, Bl. 17–18. 581 Z. B. Wortprotokoll eines am 10.8.1989 ausgestrahlten BBC-Interviews mit Werner Fischer und Gerd Poppe: BStU, MfS, HA XX 12488, Bl. 356–359. 582 Z. B. Reinhard Schult im RIAS am 25.7.1989 (Wortprotokoll): BStU, MfS, HA XX/AKG 6967, Bl. 112–121. 583 Damit ist die Telefonüberwachung gemeint. 584 MfS, HA IX/2, Rechtliche Einschätzung zu einem Telefoninterview der Ulrike Poppe am 7.6.1989, 20.6.1989. BStU, MfS, HA XX 12488, Bl. 84.
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dass es sich um einen »ausländischen Rundfunksender« handelte, wird allein an dem Umstand deutlich, dass Ulrike Poppe interviewt wurde und sie Dinge sagen konnte, die von DDR-Rundfunksendern nie hätten ausgestrahlt werden dürfen. Dies alles wussten natürlich die Stasi-Juristen. Ganz abgesehen davon, dass es aus politischen Gründen zu diesem Zeitpunkt nicht erwünscht war, eine Person wie Ulrike Poppe festzunehmen oder juristisch zu belangen. Die Einschätzung des MfS zu dem Telefoninterview belegt exemplarisch, dass das MfS, wie es selbst seit 1988 intern häufig betont hatte, 585 der SED eine politische Lösung überließ und über die Beobachtung und Kenntnisnahme hinaus kaum noch wirksame Gegenmittel einsetzte. Eine systematisch-organisierte Nutzung des Telefons für oppositionelles Engagement stellten die individuell geführten Telefoninterviews nicht dar. Denn hier mussten gleich mehrere Faktoren zusammenkommen: ein verfügbarer Anschluss, eine aktuelle politische Situation, die mediales Interesse hervorrief, eine Person, die bereit war, am Telefon ein Interview zu geben, und westliche Redaktionen und Journalisten, die Interesse an einem solchen Interview besaßen. Im Gegensatz dazu zielten die seit Ende 1987 von der Opposition eingerichteten »Kontakttelefone« a priori auf eine systematisch-organisierte Nutzung (Dok. 42, 46, 66, 91, 120, 125, 128–129, 136). Auch wenn die Einrichtung solcher Kontakttelefone gegen vielfältige, meist kirchliche Widerstände sowohl in Ost-Berlin wie auch in Leipzig, Dresden, Jena, Halle, Weimar, Erfurt oder Braunsdorf erfolgte, so bildeten sie als überregionale Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten eine neue Form oppositioneller Vernetzungsversuche. Das MfS hat diese Telefone systematisch abgehört (Dok. 136). Da es sich dabei überwiegend um kirchliche Apparate handelte, ist dies zugleich ein weiterer Beleg für die intensive Überwachung der Kirchen. 586 SED-Führung und MfS-Leitung zeigten sich wegen der Effektivität dieser Kontakttelefone sehr besorgt, zumal von dort Informationen an westliche Medien flossen. Das MfS sprach in Bezug auf die Kontakttelefone zutreffend von »Informationssystemen«. 587
585 Siehe S. 157–162. 586 Überwachungsberichte vom Leipziger Kontakttelefon im September/Oktober 1989 finden sich z. B. unter: BStU, MfS, HA II 41642; solche zum Kontakttelefon bei der Gethsemanegemeinde im Oktober 1989 z. B. unter: BStU, MfS, HA XX/4 3502; zu jenem bei der Zionsgemeinde im Januar 1988 unter: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7191. (Diese sind unter dem Stichwort »Gemeindeschwesternstation« von der Abt. 26 geführt worden.) 587 MfS, HA XX, Informationssysteme im Zusammenhang mit der Aktion »Symbol 89« von Personen der PUT, 8.5.1989. BStU, MfS, HA XX/AKG 1465, Bl. 312–314. (In diesem Dokument werden die Anrufer am Kontakttelefon bei der Gethsemanegemeinde und in der Stephanusstiftung vom 7.5.1989 – Kommunalwahlen – aufgeführt. Am Kontakttelefon saßen an diesem Tag nacheinander Werner Fischer, Marianne Birthler, Reinhard Weißhuhn und Dankwart Kirchner, in der Stephanusstiftung Evelyn Zupke.)
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Diese Stasi-Bemühungen, den Betrieb einzustellen bzw. zu verhindern (Dok. 120, 129), blieben halbherzig. Das MfS versuchte, Einfluss auf Personen in den Kirchenleitungen zu nehmen, um die Kontakttelefone zu verhindern oder abzuschalten. Zwar kam es in Ost-Berlin oder Leipzig zu erheblichen zeitlichen Verzögerungen, aber letztlich ließen sie die Leitungen selbst dann noch im Netz, als sich im September 1989 deutlich zeigte, wie außerordentlich wichtig diese für die Mobilisierung und Informationsweitergabe waren. Zum Medium Telefon gehört auch, dass die Geheimpolizei es selbst umfangreich nutzte. Im Kontext dieser Edition ist hervorzuheben, dass einzelne IM selbst zur Wahrung ihrer Konspiration das Telefon zur grenzüberschreitenden »feindlichen Verbindungsaufnahme« nutzten (Dok. 45, 67, 78, 84, 111), obwohl sie dies eigentlich unterlassen sollten. Seltener gelang es dem MfS hingegen, IM an den Kontakttelefonen zu platzieren (Dok. 66). Hier hätten sie reale Störversuche vornehmen können. Allerdings war die Gefahr der Dekonspiration bei einem aktiven Eingreifen auch besonders hoch. Für das MfS stellte das Telefon überdies in der Zusammenarbeit mit IM ein wichtiges Kommunikationsmittel dar, um unmittelbar an »operativ wertvolle« Informationen zu gelangen (Dok. 52). Dabei mussten die IM besonders vorsichtig und konspirativ agieren, gerade wenn es sich nicht um Anschlüsse in ihren Wohnungen handelte. 1986 kam es zu einer Enttarnung wegen eines Telefonats: »Durch eine Fehlleistung im Verbindungssystem eines Führungsoffiziers der Abteilung XX der BV Neubrandenburg erhielt der IMB während eines operativen Einsatzes anlässlich des ›5. mobilen Friedensseminares‹ im August 1986 in Vipperow Kenntnis von der Anwesenheit weiterer IM des MfS, u. a. eindeutige Kenntnis von der Zusammenarbeit des IMB ›Max‹ mit dem MfS. Ausgangspunkt war ein von ›Irene‹ zufällig mitgehörtes Telefongespräch des IMB ›Max‹ mit dem Führungsoffizier in der BV Neubrandenburg vom Postamt des Ortes und die Feststellung weiterer Teilnehmer des ›Friedensseminars‹, die die ihr bekannte Telefonnummer des Führungsoffiziers benutzten. Es war nicht berücksichtigt worden, dass Ferngespräche vom Postamt listenmäßig erfasst werden.« 588
Wolfgang Wolf (IMB »Max«) sprach während des Friedensseminars mit seinem Führungsoffizier, der auch Barbara Kanafolski (IMB »Irene«) führte und den diese ebenfalls aktuell informieren wollte. Sie hörte offenbar nicht nur das Gespräch von »Max« mit, sondern las »auf der Gebühren-Einnahmeliste der Post« auch, dass es sich um dieselbe Telefonnummer handelte, die sie anwählen ließ. 589 Das MfS veranlasste anschließend, dass sich Kanafolski auch gegen588 MfS, AKG, Einschätzung der Sicherheitslage zum IMB »Irene«, 12.4.1989. BStU, MfS, BV Berlin, AKG 96. 589 MfS, Abt. XX/AKG, Einschätzung zum Stand der Sicherheit und Zusammenarbeit bei IMB »Max«, 12.4.1989. BStU, MfS, BV Berlin, AIM 7651/91, Teil II, Bd. 5, Bl. 26.
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über Wolfgang Wolf und dessen Ehefrau Helga Wolf (IM »Mutter«) dekonspirierte. 590 Im Prinzip waren für diesen Vorgang die technischen Unzulänglichkeiten verantwortlich: Das einzige öffentlich zugängliche Telefon stand in der Post und die Verbindungen mussten auch noch vermittelt durch die Postangestellte hergestellt werden. Kanafolski, die u. a. auf Rainer Eppelmann angesetzt worden war, 591 erzählte diesem im März 1988, dass Wolf als Spitzel für die Stasi arbeite. 592 Das mutmaßten zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Oppositionelle (Dok. 107), u. a. auch Gerd Poppe. 593 »Max« wurde daraufhin nicht mehr bei Eppelmann eingesetzt. Aber auch »Irene« war »verbrannt«, denn Eppelmann verdächtigte sie ebenfalls spätestens seit März 1988 der StasiZuträgerei. 594 Auch dieses Beispiel zeigt, dass eine umfassende Betrachtung der Kommunikationsgeschichte der Opposition und der Geheimpolizei viele Facetten aufweisen wird. 595 So bietet die Beschäftigung mit Telefonabhörprotokollen von der Staatssicherheit weit mehr als nur eine Geschichte von Überwachungsdetails oder eine Auseinandersetzung mit der Oppositionsgeschichte. Allerdings blieb bislang eine Frage unberücksichtigt, die zum eigentlichen Kernzweck der Überwachung führt: Was geschah im Herrschaftsapparat mit den Ergebnissen und Erkenntnissen aus der Telefonüberwachung?
5. Zum Stellenwert der Telefonabhörmaßnahmen für SED, Justiz und MfS Einleitung – Stellenwert der Telefonabhörmaßnahmen
Die aufgeworfene Frage hört sich banal an, sie ist es auch, und dennoch gibt es keine einfachen Antworten darauf. Zunächst ist zu unterscheiden, wen Überwachungsmaßnahmen betrafen. Bei Gewalt- und anderen kriminellen Delikten oder deren Vorankündigung dürften juristisch angeordnete Überwa590 Operativ zu beachtende Hinweise zu einzelnen IM der Abteilung XX, BV Berlin. BStU, MfS, ZAIG 15321, Bl. 2. 591 Vgl. Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993, S. 306–307. 592 BStU, MfS, BV Berlin, AIM 7651/91, Teil II, Bd. 5, Bl. 27. 593 Ebenda, Bl. 29. 594 Operativ zu beachtende Hinweise zu einzelnen IM der Abteilung XX, BV Berlin. BStU, MfS, ZAIG 15321, Bl. 11; MfS, BV Berlin, Abt. XX, Sachstandsbericht zum OV »Blues«, Pfarrer Rainer Eppelmann, 3.4.1989. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 4, Bl. 183. 595 Dazu gehören auch »umgekehrte Lauschangriffe«, also wenn Kritiker ihrerseits verdeckt Gespräche mit staatlichen Vertretern aufnahmen, so wie es etwa Robert Havemann oder Manfred Krug taten, auch in den 1980er Jahren kam dies mehrfach vor. Das letzte berühmte Beispiel war die heimliche Weitergabe eines Mitschnitts der aufschlussreichen Sitzung der SED-Parteigruppe in der Volkskammer vom 24.10.1989 (Dok. 151).
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chungsmaßnahmen allgemein akzeptiert sein. Solche Maßnahmen führte auch die Staatssicherheit aus. Selbst die von ihr vorgenommene Absicherung und Überwachung hochrangiger staatlicher Leitungen stellen im Vergleich zu anderen Staatssystemen nichts Ungewöhnliches dar. Die HA III und die Abt. 26 nahmen aber überwiegend andere Personengruppen ins Visier. Die in dieser Edition vorgestellten Dokumente belegen einen permanenten Verfassungsbruch. Auch wenn es einige staatsanwaltschaftliche Anordnungen zur Telefonüberwachung gab (Dok. 49, 51, 56–57, 61), im gleichen Zeitraum sind weitaus mehr als diese sechs »offiziellen«, zeitlich eng begrenzten Abhörmaßnahmen gegen Ostberliner Oppositionelle vollzogen worden. Neben dem Verfassungsbruch zeigt diese Edition exemplarisch die permanente Verletzung grundlegender Menschenrechte. Beides gehörte zur generellen Charakteristik des SED-Systems. Auch wenn es für die wissenschaftliche Beschäftigung von unschätzbarem Nutzen ist, dass solche Quellen zur Verfügung stehen, so stellt sich die Frage, ob die Überwachungsmaßnahmen für die Herrschaftsausübung effizient waren und ob sich der Aufwand gelohnt hat. Prinzipiell ist die Frage zu bejahen, da der Überwachungsstaat nicht nur eine Fiktion der Gesellschaft oder eine Drohung des Staates blieb, sondern real existierte, was fast allen Bewohnern des Landes klar war. Das Überwachungsund Unterdrückungssystem (zu dem auch das Grenzregime zählte) bildete die unmittelbare Voraussetzung für die Herrschaftsausübung und die viele Jahre bestehende Systemstabilität. Beides war nur möglich, weil das System nicht nur von Millionen Menschen aktiv getragen und gestützt worden ist, sondern mindestens genauso wichtig war, dass die große Bevölkerungsmehrheit nicht gegen das System offen und aktiv opponierte. Dass dies so war, lag nicht zuletzt an der scheinbaren Omnipräsenz und Omnipotenz des Unterdrückungsund Überwachungssystems. Der größte Teil der Gesellschaft verhielt sich noch im Sommer 1989 nicht systemdestabilisierend. Die Diktatur hatte es über viele Jahre hinweg verstanden, die Gesellschaft stillzulegen. Dazu trugen auch andere Faktoren bei, aber der Überwachungsstaat stellte für die meisten Menschen – sie mussten sich dessen nicht einmal bewusst sein, so wie es heute viele leugnen, dass es so war – eine reale Bedrohung dar. Das Telefonierverhalten, wie angedeutet wurde, ist dabei nur ein Merkmal, aber ein typisches. Das alles rechtfertigte aus herrschaftslogischer Sicht den Überwachungsstaat. Und es war so auch folgerichtig, dass SED, Polizei, MfS und Justiz Gegner des Regimes und solche, die sie dafür hielten oder dazu erklärten, beobachteten, verfolgten, »zersetzten«, einsperrten oder abschoben. Diese Herrschaftstechnik zielte weniger auf die einzelnen Betroffenen, sondern diente der Disziplinierung der gesamten Gesellschaft. Das Individuum zählte im kommunistischen Kollektivstaat wenig. Die von Verfolgungen und Beobachtungen konkret betroffenen Personen traf es gewissermaßen stellvertretend. Dies ist an den politischen Strafprozessen in den 1950er Jahren, auch an denen unmittel-
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bar nach dem 17. Juni 1953, besonders deutlich zu erkennen. An dieser Herrschaftstechnik hatte sich vom Grundsatz her in den 1980er Jahren nichts geändert. Oppositionelle »mussten« schon allein deshalb verfolgt, drangsaliert, bestraft, abgeschoben werden, damit sie keinen Schneeballeffekt verursachten. Ähnliche Motivationen lagen den Wahlfälschungen zugrunde. Noch als dem MfS 1987/88 bewusst geworden war, dass es die Opposition nicht mehr dezimieren oder gar zerschlagen könne, stand im Mittelpunkt der StasiBemühungen, eine Ausbreitung der Opposition (»Nachahmungseffekte«) zu verhindern. Deshalb war es herrschaftslogisch, die überschaubaren bekannten Oppositionsgruppen engmaschig zu beobachten. Dies erfolgte nicht nur verdeckt, sondern auch offen, einerseits um die Oppositionellen selbst einzuschüchtern (was kaum noch gelang), aber andererseits auch, um so neue potenzielle Sympathisanten abzuschrecken. Gerade daher ist zu berücksichtigen, dass zwar die prominenten Oppositionellen wegen ihrer Präsenz in westlichen Medien in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre von hohen Haftstrafen verschont blieben, dies aber längst nicht auf alle Systemkritiker zutraf. Anders gingen SED, Justiz, Polizei und MfS vor, wenn es um in der Öffentlichkeit unbekannte Personen ging. Wolfram Hasch zum Beispiel, der seit seinem 16. Lebensjahr unter Stasi-Kontrolle stand, und einige seiner Freunde wurden nur zwei Tage, nachdem Ulrike Poppe und Bärbel Bohley wegen des internationalen Protestes am 24. Januar 1984 aus der MfS-Untersuchungshaft 596 entlassen worden sind, in Weimar festgenommen. Sie hatten verschiedene Aktionen unternommen und wollten Flugblätter verteilen, um zum Wahlboykott aufzurufen. Hasch erhielt zweieinhalb Jahre Gefängnis. Schwache westliche Proteste saß die SED-Führung aus. 1985 konnte Hasch durch »Freikauf« 597 nach West-Berlin ausreisen. Im November 1986 ist er erneut festgenommen worden. Mit vier Freunden hatte er auf der westlichen Seite der Mauer begonnen, einen weißen Strich zu malen, um gegen die Mauer und die Umgestaltung der Mauer auf westlicher Seite in eine öffentliche Galerie zu protestieren. Er wurde dabei kurzerhand auf die Ostseite gezogen und erhielt drei Jahre Haft im MfS-Sondergefängnis Bautzen II. Am 18. Juni 1987 fuhr ihn Anwalt Vogel zurück nach West-Berlin – diesmal hatten westliche Proteste sehr geholfen. 598 Bei Thomas Kretschmer war dies ganz ähnlich. 1973 wollte er in die Bundesrepublik fliehen, wurde festgenommen und erhielt 15 Monate Jugendhaft. Im November 1980 verweigerte er 596 Prinzipiell zur Stasi-Untersuchungshaft, HA IX und Abt. XIV einschlägig Katrin Passens: MfS-Untersuchungshaft. Funktionen und Entwicklung von 1971 bis 1989. Berlin 2012. 597 Zu dieser Praxis siehe prinzipiell Jan Philipp Wölbern: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Göttingen 2014. 598 Vgl. Anne Hahn, Frank Willmann (Hg.): Der weiße Strich. Vorgeschichte und Folgen einer Kunstaktion an der Berliner Mauer. Berlin 2011. Zu Bautzen II Karl Wilhelm Fricke, Silke Klewin: Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle, 1956–1989. 3., überarb. Aufl., Dresden 2007.
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gerade eingezogen den Wehrdienst. Nach sechswöchiger Untersuchungshaft und einer Bewährungsstrafe – er hatte die Totalverweigerung zurückgezogen – ist er zu den Bausoldaten gekommen. Dort vertrat er »offensiv seine pazifistische Haltung, propagierte Solidarität mit Solidarność und der sich in der DDR entwickelnden Friedensbewegung. Kurz vor Ende seiner anderthalbjährigen Dienstzeit wurde er deshalb Anfang 1982 erneut verhaftet, ins Untersuchungsgefängnis des MfS nach Berlin gebracht und im Herbst 1982 zu viereinhalb Jahren verurteilt.« 599 Im Juli 1985 kam er vorzeitig frei – amnesty international hatte ihn zum »Gefangenen des Jahres« erklärt. Einer der letzten aus politischen Gründen Verurteilten war Martin Rohde. Wegen einer Protestaktion Anfang Juli 1989 verurteilte ihn am 22. September 1989 das Kreisgericht Frankfurt/O. zu 14 Monaten Gefängnis. 600 Wie bei vielen anderen politischen Häftlingen konnte die Öffentlichkeit keine Notiz von diesem Unrecht nehmen. Rohde kam erst im Dezember 1989 frei. Bei dem Versuch von SED und MfS, die IFM 1987/88 zu zerschlagen, sind zwar Strafprozesse und Haftstrafen in Erwägung gezogen worden, die aber aus »rechtspolitischen« Gründen, wie es hieß, nicht zur Anwendung kamen. In den »offiziell« angeordneten Telefonabhörmaßnahmen haben SED, Stasi und Justiz nichts erfahren, was sie nicht schon zuvor gewusst hätten. Lediglich die Legalisierung von angeblichen Beweisen, die vor Gericht Bestand haben würden, gelang (Dok. 71–72). Das jahrelange Telefonabhören bei Personen wie Rathenow, Bohley, Eppelmann, Poppe, Templin, Hirsch, Fischer sowie Jahn und Fuchs bildete eine wichtige Quelle für Maßnahmen gegen diesen Personenkreis. Dies ist historisch nicht gering zu schätzen. Aber nur selten schöpfte die Stasi dabei Informationen ab, die sie nicht auch anderweitig, z. B. über IM, erhalten hatte. Besonders wichtig scheinen hingegen Telefonüberwachungen für die Stasi gewesen zu sein, um gruppeninterne Dynamiken und zwischenmenschliche Konfliktlagen authentisch einschätzen und so für Zersetzungsmaßnahmen nutzen zu können. Ihr Ziel aber, das seit November 1987 im Vordergrund stand, die IFM zu zerschlagen und Roland Jahn einer Mitarbeit bzw. Auftragsarbeit für westliche Geheimdienste zu überführen, erreichte die Stasi gerade nicht. Dafür stand die »offizielle« Telefonkontrolle ab 17. Dezember 1987 als wichtigstes Beweismittel im Zentrum ihres Interesses – vergeblich, wenn das Ziel eines Strafprozesses auch aus politischen Erwägungen heraus scheiterte. Oft ist anhand der MfS- und SED-Unterlagen nicht mehr rekonstruierbar, ob und wie einzelne Überwachungsmaßnahmen Eingang in Maßnahmepläne, Ermittlungsverfahren, Anklageschriften oder Urteilsbegründungen fanden. Die 599 Reinhard Weißhuhn: Thomas Kretschmer, in: Kowalczuk; Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen«, S. 251. 600 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 343–346.
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Vorgänge zwischen November 1987 und Februar 1988 um die IFM und Jahn stellen eine Ausnahme dar. Denn hier lassen sich viele Arbeitsschritte en détail rekonstruieren – im Gegensatz zu den konkreten Entscheidungen. Aus der stasiinternen Vorgabe im Sommer 1987, 601 die weitere Herausgabe des »Grenzfalls« zu unterbinden, die IFM zu zerschlagen und Jahn als Agenten zu überführen, folgte nicht nur die intensivierte Überwachung dieses Personenkreises, sondern auch der Versuch, Beweisstücke zu offizialisieren. Dabei arbeiteten einerseits Diensteinheiten wie die HA XX/Abt. XX, HA II, HV A, HA III oder Abt. 26 eng zusammen, deren Führungsebene wiederum ließ sich die Vorhaben von der Leitung der BV Berlin bzw. dem Minister und seinen zuständigen Stellvertretern bestätigen. Umgekehrt erteilten diese Befehle und Anweisungen, die sie nach Rücksprache mit SED-Chef Honecker, dem für das MfS zuständigen Politbüromitglied Krenz und dem Chef der SEDBezirksleitung Schabowski, der zugleich Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung war, ausgaben. Obwohl diese Kommunikationsstränge offenliegen und auch, dass Details auf der höchsten Partei- und MfS-Ebene miteinander besprochen und abgestimmt wurden, ist die konkrete Entscheidungslage unklar. Es ist jedenfalls keinesfalls so, wie Krenz am 22. Januar 1990 der Öffentlichkeit weismachen wollte, dass das MfS ein nach außen hin »abgeschirmter Staat im Staate« war und deshalb außer Honecker niemand in der SED-Führung die Machenschaften der Stasi kannte oder gar kontrollieren konnte. 602 Auch auf eine Nachfrage von Gerd Poppe log Krenz unverblümt und sagte, das Vorgehen gegen Oppositionelle auch im Zusammenhang mit der Zionsaffäre und der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration sei allein vom MfS behandelt und entschieden worden. 603 Die Verhaftungen am 25. Januar 1988 erfolgten tatsächlich erst nach Bestätigung durch SED-Politbüromitglieder (Honecker, Krenz). Aber wer für das interne Chaos anschließend verantwortlich war, 604 wer wann genau entschied, dass von Haftstrafen abzusehen sei, liegt weiter im Dunkeln. Als am 2. Februar 1988 das SED-Politbüro zusammenkam, informierte Honecker über »Maßnahmen im Zusammenhang mit der Festnahme von Personen wegen des begründeten Verdachts landesverräterischer Beziehungen«. Das Protokoll vermerkt lediglich dazu: »Die Information wird zustimmend zur Kenntnis genommen; den eingeleiteten Maßnahmen wird zugestimmt.« 605 Im Protokollanhang ist überliefert, was Honecker vortrug: nichts
601 Siehe zu den die Abläufen und Planungen, S. 76–79. 602 Erklärung Egon Krenz zur Beziehung von SED und Sicherheitsapparat, 22.1.1990, 9. Sitzung, in: Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente. Bd. II: Umbruch, hg. von Uwe Thaysen, Wiesbaden 2000, S. 502. 603 Ebenda, S. 514. 604 Siehe S. 92–93. 605 Sitzung des SED-Politbüros am 2.2.1988. BArch DY 30, I IV 2/2/2258, Bl. 4.
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weiter als die parteiinterne Information, 606 die er am 28. Januar bestätigt hatte 607 und die Krenz am 29. Januar 1988 allen Politbüromitgliedern zugestellt hatte, um zustimmen zu lassen. 608 Diese ist dann ab 2. Februar unter allen SED-Funktionären verteilt worden. Darin war festgehalten worden, dass die Verhafteten sich vor einem Gericht zu verantworten haben werden. Am gleichen Tage aber ist in der Untersuchungshaftanstalt Wolfgang und Regina Templin, Bärbel Bohley und Werner Fischer erstmals der Vorschlag unterbreitet worden, in die Bundesrepublik oder die DDR entlassen zu werden. 609 Am nächsten Tag ist dieser Vorschlag zurückgezogen worden, weil die Stasi Honecker neues Belastungsmaterial vorgelegt habe. So erzählten es die Rechtsanwälte den genannten Personen und so ähnlich auch Ralf Hirsch. Am 4. Februar kamen schließlich die Ausreisealternativen ins Gespräch, die letztlich einen Tag später umgesetzt wurden. Stephan Krawczyk und Freya Klier ist der Vorschlag, in die Bundesrepublik auszureisen, von Schnur in Absprache mit Stolpe bereits am 26. Januar unterbreitet worden: 610 »Aufgrund der konkret getroffenen schriftlichen Absprache von Stolpe, der eine schriftliche vertrauliche Ausfertigung eines Schreibens gab«, unterbreitete Schnur den beiden diesen Vorschlag. 611 An diesen Vorgängen ist interessant, dass Honecker am Vormittag des 2. Februar das Politbüro in Absprache mit Krenz und Mielke der Parteiinformation zustimmen ließ und damit auch einem bevorstehenden Gerichtsverfahren. Etwa zur gleichen Uhrzeit aber wurden Bohley und Fischer völlig neue Alternativen angeboten, etwas später dann den Templins. Ebenso bemerkenswert ist die Angabe, Honecker seien neue Beweise vorgelegt worden. Juristisch gab es zwar nach den erfolgten Hausdurchsuchungen viele Beschlagnahmen, aber ausweislich der Untersuchungsvorgänge kamen als »Beweise« nur die angeordneten Telefonüberwachungsmaßnahmen in Betracht. Es ist durchaus denkbar, wie laut IM-Berichten von Schnur einige Kirchenvertreter sagten, dass es in der SED-Führung unterschiedliche Ansichten über die Frage gab, was mit den Verhafteten geschehen solle. Offenbar neigte Honecker zu einer schnellen weichen Lösung, während wahrscheinlich die Stasi-Spitze eher eine
93.
606 BArch DY 30, I IV 2/2 A/3093, Bl. 20–26. Zum Inhalt der Parteiinformation siehe S. 92–
607 BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 49. (Krenz schickte per Hauspost am 28.1.1988 Honecker den Entwurf und Honecker schrieb auf die Hausmitteilung handschriftlich »Einverstanden 28.1.88«.) 608 Die Unterlagen dazu in: BArch DY 30/5175. 609 Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch, S. 25; Brief von Regina Templin an die Freunde der IFM, Juli 1988. Archiv Gerd Poppe. (Diesen Brief übergab Monika Haeger am 12.7.1988 ihrem Führungsoffizier.) 610 Abschrift eines Berichts von »Torsten« (d. i. Schnur) zu Strafsachen, Vorgängen, 26.1.1988. BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Bd. 12, Bl. 145–150. 611 Ebenda, Bl. 145.
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harte Linie verfolgte. »Stolpe drückte seine Erwartung aus«, schrieb Schnur nach einem Gespräch am 2. Februar, »dass der Generalsekretär der SED, der sich persönlich dieser Sache angenommen hat, eine eigene Entscheidung trifft und dass man dem Minister für Staatssicherheit nicht noch einen solchen erfolgreichen Abgang verschafft durch eine solche Geschichte. Stolpe versuchte wiederum deutlich zu machen, dass erhebliche Gegensätze im Politbüro sind, die zu verschärften Auseinandersetzungen führen. Man wisse nicht, ob in der kommenden Woche Honecker noch Generalsekretär sei.« 612
Auch hier ließ sich bislang nicht überprüfen, was an Schnurs Bericht der Realität entsprach und was nicht. Aber sicher erscheint, dass Manfred Stolpe und Gottfried Forck sich erstens hinter den Kulissen intensiv für die Verhafteten einsetzten, ohne sich, was ihnen von verschiedenen politischen Seiten »vorgeworfen« wurde, zu deren »Sprachrohren« zu machen oder deren Haltungen zu teilen. Und beide engagierten sich zweitens bis zuletzt dafür, dass mindestens einige Verhaftete in die DDR entlassen werden. Stolpe setzte dabei auf Honecker, der offenbar eine weichere Linie im Gegensatz zu anderen Politbüromitgliedern, mindestens Mielke, vertrat. Am 3. Februar ist die Alternative »Entlassung in die DDR« zurückgezogen worden. Das hat bei mehreren Verhafteten ein Umdenken bewirkt, zumal ihnen niemand sagte, was sich in der Gesellschaft mittlerweile zutrug. Ralf Hirsch ist in der Untersuchungshaft klar gemacht worden, dass es auf eine Haftstrafe bis zu 12 Jahren hinausliefe. Forck und Stolpe zeigten sich sehr überrascht, wie Schnur berichtete, dass Hirsch einer Übersiedlung in den Westen am 4. Februar zustimmte. Die Idee mit den befristeten Aufenthalten in England scheint von Stolpe zu stammen, der überhaupt auf der nichtstaatlichen Seite der wichtigste Akteur in diesen Tagen gewesen sein muss. Am 3. Februar signalisierten die britische Botschaft in OstBerlin und die Anglikanische Kirche, dass sie sich eine solche Lösung »befristete Aufenthalte« vorstellen könnten. 613 Manfred Stolpe und Gottfried Forck versuchten augenscheinlich ihr Mögliches. Die Berichte von Schnur legen nahe, dass er deren Strategie mit seinen Stasi-Instruktionen behinderte, eindämmte, wie auch immer, jedenfalls als Mann der Stasi und nicht der Kirche agierte. Es gab noch ein anderes Verbindungsdreieck, 614 dessen Rolle bislang völlig unklar ist. Denn zu SED-Führung und Kirchenleitung kamen noch bundesdeutsche Politiker hinzu. Der Besuch von Lambsdorff bei Honecker am 612 MfS, HA XX/4, Bericht über ein Gespräch zu den Berlin-Ereignissen, 2.2.1988. Ebenda, Bl. 159. 613 MfS, HA XX/4, Zu den »Berlin-Ereignissen«, 3.2.1988. Ebenda, Bl. 161 (basierend auf einem Bericht von Schnur). 614 Das kommt auch bei der auf der Grundlage von Erinnerungen und Schnurs IM-Akte entstandenen dichten Schilderung von Freya Klier nur kurz vor. Vgl. Klier: Aktion »Störenfried«.
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4. Februar dürfte dabei keine Rolle gespielt haben (Dok. 70).615 Weitaus bedeutungsvoller waren Gespräche mit der Bundesregierung und führenden SPD-Politikern. Und auch hier nahm Stolpe eine Scharnierfunktion ein, denn ihm vertrauten viele SPD-Politiker ebenso wie Teile der Bundesregierung, namentlich der Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts, Wolfgang Schäuble.616 Die SPD setzte Honecker in ihren Gesprächen Anfang Februar 1988 offenbar unter Druck: eine Verurteilung könnte das SED/SPD-Papier zur reinen Makulatur werden lassen. Die Bundesregierung hatte weitaus stärkere Argumente. Ihr Unterhändler unterbreitete Honecker »erhebliche finanzielle Angebote«.617 Über diese Vorgänge ist seither viel spekuliert worden. Eine restlose Aufklärung darüber, was sich hinter den Kulissen abspielte, ist bislang nicht möglich. Innerhalb der SED-Führung muss es zwei Fraktionen gegeben haben. Die Kirche wollte eine Lösung erzielen, die die Interessen von Verhafteten, Kirche und Staat gleichermaßen zu berücksichtigen suchte. Stolpes Rolle dabei erscheint weitaus rationaler und nachvollziehbarer als es oft behauptet worden ist. Er agierte in erster Linie als Kirchenvertreter und in zweiter Linie für die Verhafteten, sah aber auch die staatlichen Bedürfnisse und versuchte mit seinem diplomatischen Handeln, die politische Ausreisebewegung von den Kirchen fernzuhalten. Dass er nicht die Interessen der Stasi vertrat, zeigen nicht nur viele Dokumente, sondern auch der Umstand, dass es ihm verwehrt wurde, die Verhafteten in der Untersuchungshaft zu sprechen. Die Staatssicherheit wusste, dass er sowohl die Interessen von Bärbel Bohley618 als auch von Ralf Hirsch (er war kirchlicher Angestellter) besonders vertrete. Als sich im Laufe der nächsten Monate das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen wegen der Zensurpraxis619 wiederum zuspitzte, agierte Stolpe ganz ähnlich im Interesse der Kirche. Man mag dies unterschiedlich beurteilen können. Aber der ungewöhnlich scharfe Angriff auf Manfred Stolpe ein knappes Jahr später, am 11. Januar 1989 im »Neuen Deutschland« (»Herr Stolpe und der Idealfall«),620 615 MfS, HA XX/4, Bericht zum Besuch von Lambsdorff am 4.2.1988 bei Kirchenvertretern, 5.2.1988. BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Bd. 12, Bl. 181–184 (basierend auf einem Bericht von Schnur; dieser Bericht zeigt anschaulich, wie einige bundesdeutsche Politiker zu den »Störenfrieden« standen). 616 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 225. 617 MfS, HA XX/4, Bericht über ein Gespräch zu den Berlin-Ereignissen, 2.2.1988. BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Bd. 12, Bl. 158. 618 Stolpe betonte, »dass diese in einer besonderen Schutzposition der Kirche stehen wird, weil sie ausdrücklich beauftragt worden sei, nachdem das Mahnwachenbüro ausgesetzt worden ist, bestimmte funktionelle Kontakte für Kirchenleitung, Kirchgemeinden mit abzusichern«. Sie habe zudem in den »letzten Zeiträumen« nichts angeheizt und sei nicht aggressiv aufgetreten, war besonnen und vernünftig. Abschrift eines Berichts von »Torsten« (d. i. Schnur) zu Strafsachen, Vorgängen, 26.1.1988. Ebenda, Bl. 149. 619 Siehe S. 59. 620 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 304–305.
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zielte zwar auf die Kirchen insgesamt, auch sollte Stolpe für seine bundesdeutschen Gesprächspartner geschwächt erscheinen, aber insgesamt nahm sich die SED gerade den diplomatischen Moderator »zur Brust«, um ihn persönlich zu verunsichern. 621 Neben der Rolle der SED-Führung und der Kirche scheint die englische Seite nur eine willkommene Alternative mitgetragen zu haben. Was aber die Offerten, Angebote und wohl auch Drohungen bundesdeutscher Politiker bewirkten, bedarf noch eingehender wissenschaftlicher Erörterungen. Die SPD wird dabei ungünstiger wegkommen als die Bundesregierung. Dem SPD-Bundestagsabgeordneten Gert Weisskirchen ist zwar die Einreise in die DDR verwehrt worden, weil, wie Hermann Axen in einem Vieraugengespräch Egon Bahr im März 1988 erklärte, dieser »wiederholt Kontakte mit staatsfeindlichen Elementen aufgenommen« hatte. 622 Das stimmte, Weisskirchen war einer der wenigen SPD-Politiker, die mit ostdeutschen Oppositionellen sprachen. Die SPD-Führung unterließ es aber, wegen dieser international skandalösen Einreiseverweigerung offiziell bei der DDR-Regierung zu protestieren – um des lieben Friedens willen. Die Ereignisse jedenfalls sind nicht monokausal abgelaufen. Es gab viele Player mit unterschiedlichen Interessen. In der historischen Rekonstruktion erscheinen die Verhafteten kurzzeitig wie Spielbälle der großen Politik. Ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Information, dass am 3. Februar 1988 Honecker von Mielke neues Material präsentiert bekommen habe, ist es kaum zweifelhaft, dass ihm vor dem 29. Januar bereits Erkenntnisse aus den Telefonüberwachungen vorgestellt worden sind. Insofern durchliefen die Erkenntnisse aus der »Maßnahme A« gegen diese Personen in einem kurzen Zeitraum sämtliche Hierarchien des MfS und des obersten SEDMachtapparates – mindestens Krenz als zuständiges Politbüromitglied und die ZK-Abteilung Sicherheitsfragen waren unmittelbar eingebunden – bis auf Honeckers Schreibtisch zur Entscheidung. Aus einigen MfS-Dokumenten lässt sich ersehen, was letztlich die getroffenen Entscheidungen begründete. Es wird aber die zeitliche Dynamik nicht erkennbar, das Entscheidungschaos, das zwischen dem 29. Januar und 4. Februar herrschte. Am 9. März 1988 hielt Mielke vor der kompletten MfSFührungstruppe ein mehrstündiges Referat, das auch für die Vorgänge um die Opposition historisch aufschlussreich ist. Er konstatierte, dass der »harte Kern feindlich-negativer Gruppierungen in der Hauptstadt der DDR« immer stär621 Information über ein Gespräch des Genossen Löffler mit Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, 20.1.1989. BArch DY 30/9049, Bl. 186–187. 622 H. Axen, Vermerk über interne Gespräche mit E. Bahr und K. D. Voigt, 31.3.1988. BArch DY 30/2346, Bl. 68. (Dieser Vermerk ist exemplarisch, weil er zeigt, was Politiker wie Bahr oder Voigt ihren SED-Gesprächspartnern im »Dialog« ohne Not erzählten. Das hat eine ganz andere, »höhere« Qualität als das, was z. B. Stolpe aus einer anderen Interessenlage in solchen von der SED dokumentierten Gesprächen sagte.)
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ker auf eine »Konfrontation mit dem Staat« abziele. Historisch nicht zutreffend erzählte er, dieser Kern arbeite immer enger mit Ausreiseantragstellern zusammen und versuche diese »in entsprechende provokativ-demonstrative Handlungen einzubeziehen«. Deshalb habe die SED-Führung die Entscheidung getroffen, »nicht nur gegen die Provokateure vom 17. Januar 1988, sondern auch gegen einige ihrer Hintermänner strafprozessuale Maßnahmen durchzuführen. Der Schlag richtete sich also vor allem gegen Mitglieder des Führungskerns, der über Jahre hinweg zu den maßgeblichen Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit zählte und engster Kontaktpartner der gegnerischen Kräfte war und von diesen gesteuert wurde.« 623
Unerwähnt ließ er den unmittelbaren Zusammenhang zur Zionsaktion im November 1987, die die gleichen Ziele verfolgt hatte. Dann kam er zu konkreten Motiven der Festnahmen: »Allen im Sinne politischer Untergrundtätigkeit wirkenden Kräften wurde unmissverständlich demonstriert, dass wir gegen Feinde des Sozialismus auch mit den Mitteln des sozialistischen Strafrechts vorgehen […]« Es sei nachgewiesen, behauptete Mielke weiter, dass es sich bei Krawczyk, Klier, Hirsch, Bohley und Templin »um unverbesserliche Feinde des Sozialismus handelt, die durch geheimdienstlich gesteuerte Kräfte aus dem Operationsgebiet angeleitet, instruiert und materiell unterstützt wurden«.624 Dann betonte Mielke, was bereits dargestellt wurde und als Stellvertreterprinzip zu bezeichnen ist: »Damit sollte auch gegenüber den Anhängern und Sympathisanten des sogenannten harten Kerns, aber auch gegenüber den sie offen oder verdeckt unterstützenden Kirchenkräften deutlich gemacht werden, wo die eigentlichen Drahtzieher und Auftraggeber sitzen. Damit sollte auch all jenen, die immer noch glauben, sich für solche Kräfte aus welchen Motiven auch immer, innerhalb und außerhalb unseres Landes engagieren zu müssen, verdeutlicht werden: Wer sich mit solchen Leuten einlässt, muss sich somit auch über die Konsequenzen im Klaren sein.« 625
Dass dieser Schlag auch die Kirchen einschüchtern sollte, erwähnt er sodann, um anschließend zu begründen, warum es doch nicht zu Strafprozessen kam. Den Inhaftierten und »kirchenleitenden Kräften« war bewusst, dass die »eindeutige« Beweislage für eine Verurteilung bis 12 Jahren Haft ausgereicht habe. Letztlich habe den Ausschlag gegeben, führte er aus, dass die internationalen Proteste und die unübersehbaren Solidarisierungseffekte in der DDR langfristig größeren politischen Schaden hätten anrichten können als die sofortige Ausreise der Inhaftierten. 626 623 Erich Mielke, Referat auf der erweiterten Sitzung des Kollegiums des MfS, 9.3.1988. BStU, MfS, ZAIG 8618, Bl. 45. 624 Ebenda, Bl. 46. 625 Ebenda. 626 Siehe dazu S. 88–89.
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Ebenfalls im März 1988 erläuterte Major Knut Anding von der HA IX 627 Hintergründe, die noch konkreter ausfielen. Dieser »Diskussionsbeitrag« fällt selbst im MfS-internen Vergleich durch konstruierte Behauptungen auf, die entweder dazu dienen sollten, Hass zu schüren, oder die der Referent wirklich glaubte. 628 Sein Redebeginn zeugt davon: »Fuchs und Jahn haben von Westberlin aus die reaktionären Kräfte der Kirche Berlin-Brandenburg gesteuert. Unter Leitung von Jahn wurde 1986 die Gruppe ›Grenzfall‹ gebildet.« 629 Es sei nachgewiesen worden, dass die verhafteten Personen Teil des »Verbindungssystems von Jahn« gewesen seien. Dann ging er über zu »Problemen der Ermittlungsverfahren«: »Die Beweislage für die Einleitung der Ermittlungsverfahren gegen Templin, Hirsch und Bohley erfolgte auf der Grundlage der Offizialisierung der Telefonate im Rahmen des EV gegen Jahn. Bei den Durchsuchungen wurden mehrere Wäschekörbe Beweismaterial sichergestellt. Die Beschuldigten waren nicht aussagebereit und forderten die Vorlage aller Beweise.«
Nun folgte eine erstaunliche Einlassung des Offiziers der HA IX: »Die Weisung des Genossen Minister lautete, in wenigen Tagen die Hauptverhandlung durchzuführen und allen Beschuldigten klar zu machen, dass sie aus der DDR bis 6.2.1988 ausgewiesen werden. In der Taktik wurde dann so vorgegangen, den Beschuldigten klarzumachen, dass sie eine langjährige Freiheitsstrafe zu erwarten haben und gleichzeitig die Erwartungshaltung geweckt, dass sie Chancen hätten, in die BRD zu gelangen.« 630
Zwei Gesichtspunkte fallen auf. Anding behauptet, von vornherein ging es darum, die Beschuldigten schnell außer Landes zu zwingen. Dies kann nur eine nachträgliche Interpretation sein, weil das SED-Politbüro zunächst etwas 627 Anding war Stellvertreter des Leiters der HA IX/2, die für den »politischen Untergrund« und für die hier zur Rede stehenden Ermittlungsverfahren zuständig war. Vgl. grundlegend zur HA IX Passens: MfS-Untersuchungshaft. 628 Offenbar sind im März in allen BV auswertende Vorträge dazu gehalten worden. Aus der BV Gera ist ein solcher als Audiomitschnitt überliefert. Der Offizier betont mehrfach, es sei eigentlich nichts für das Tonband. Der Vortragende brachte ziemlich viel durcheinander, ob das bewusst so gemacht worden war, ist nicht rekonstruierbar. Dennoch ist dieser Mitschnitt sehr bemerkenswert: BStU, MfS, BV Gera, Tb 21. Der Redner sagte z. B. »1 000 Feinde« terrorisieren 16 Mio. Bürger. Besonders erwähnt er als »echte Untergrundmänner« Eppelmann, G. Poppe, Böttger, Hirsch und Krawczyk. Die sog. »Friedensgruppen« hätten mit »Frieden« so viel gemeinsam wie Feuer und Wasser. Interessant auch hier, wie er Hass schürt: Die Mahnwachenleute z. B. seien alles Asoziale, ohne Arbeitsverträge, die aber Geld hätten, was sie vom »Feind« aus dem Westen erhielten. Er bedauert auch, dass nur in »früherer Zeit« die Oppositionellen alle wegen »Hetze« leicht »wegzunehmen« gewesen seien. Die Thüringische Landeskirche sei »realistischer« als die Berlin-Brandenburgische. Aber in Berlin könne man auch besser »abtauchen«, sich besser »verstecken«. SED und Stasi seien mitten »im Kampf«, den »wir« aber »beherrschen« und deshalb »siegen« werden. 629 MfS, HA IX/AKG, an BV Rostock, Leiter Abt. IX, Übergabe von Diskussionsbeiträgen, 25.3.1988. BStU, MfS, BV Rostock, Abt. IX 116, Bl. 31. 630 Ebenda, Bl. 33.
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anderes beschlossen hatte und eine Übersiedlung ohne dessen Zustimmung unmöglich war. Zweitens aber sagt er, was den Abläufen entspricht, dass die Festgenommenen faktisch ausgebürgert, aber dabei so unter Druck gesetzt werden sollten, dass es als Entscheidung der Betroffenen erscheint. Dies entspricht den Stasi-Plänen von 1987. 631 Die Argumentation von Anding, Mielke und in anderen Stasi-Dokumenten, nicht zuletzt die im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren eingeleiteten »offiziellen« Telefonabhörmaßnahmen legen auch nahe, dass Vera Wollenberger, Stephan Krawczyk und Freya Klier, aber in gewisser Hinsicht auch Regina Templin und Werner Fischer aus unterschiedlichen Gründen, aber nicht wie bei Ralf Hirsch, Wolfgang Templin und Bärbel Bohley von vornherein geplant in die Verhaftungs- und Abschiebewelle gerieten. Das kam SED und MfS sehr gelegen, dies gleich miterledigen zu können, aber als die Planungen Mitte Dezember 1987 mit der Eröffnung des Ermittlungsverfahrens konkret wurden, konnte von den Protesten bei der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration noch nichts bekannt sein, da diese Idee erst Anfang Januar entwickelt wurde. Stasi-Offizier Anding geht dann auf den Ermittlungsvorgang ein. Auch wenn er von eindeutigen Beweisen spricht, zeigen sogar seine Ausführungen, wie brüchig und lächerlich die »Beweislage« war: »Die Vernehmung von Zeugen wurde für sinnlos gehalten, so dass Schwerpunkt gelegt wurde auf die Auswertung des Hausdurchsuchungsmaterials. Das erfolgte in enger Zusammenarbeit mit der Juristischen Hochschule und der Humboldt-Universität. Aus der Vielzahl der Telefonate wurden in Zusammenarbeit mit der Abt. 32 632 die strafrechtlich relevanten Gespräche herauskristallisiert. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass Hirsch, Bohley und Templin eine Vielzahl von Informationen an Jahn gegeben haben. Jahn seinerseits ließ diese Informationen im ›Radio 100‹ veröffentlichen.«
Jahn habe außerdem mit der »taz« eng zusammengearbeitet und würde »geheimdienstlich gesteuert«. Insgesamt erfolgten 17 Hausdurchsuchungen. 633 Mit anderen Worten: Anding räumte ein, dass sie nichts gefunden oder ermittelt hatten, was sie nicht zuvor bereits gewusst hätten. Das zeigt auch der Fortgang seiner Einlassungen, die sich den Telefonabhörmaßnahmen widmen: »Die Deutsche Post nahm die Überwachung vor, hatte aber große technische Probleme. Die ankommenden Gespräche konnten so z. B. nicht von ihrem Abgangsort nachvollzo631 Siehe S. 76–79. 632 Die Abt. 32 war seit 1969 Teil des OTS. Öffentlich war sie mit dem Firmenschild »Technische Untersuchungsstelle« oder »Institut für Technische Untersuchungen« oder nur »ITU« ausgewiesen, was die meisten Menschen als MfS-Einrichtung deuteten. Zu ihren Aufgabenfeldern gehörten kriminal-technische Untersuchungen, darunter Schrift- und Dokumentenexpertisen, Ermittlung von Geheimschreibmitteln sowie akustische Expertisen. 633 MfS, HA IX/AKG, an BV Rostock, Leiter Abt. IX, Übergabe von Diskussionsbeiträgen, 25.3.1988. BStU, MfS, BV Rostock, Abt. IX 116, Bl. 34.
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gen werden. Die technische Zeitansage konnte nicht gekoppelt werden. Im Zeitraum vom 17.12.1987 bis 25.1.1988 wurden 40 Tonbänder (ca. 120 Stunden) bespielt. Von diesen waren nur 24 Einzelgespräche von strafrechtlicher Relevanz. Alle diese Tonbänder mussten also abgeschrieben und strafrechtlich bewertet werden. Dies erfolgte durch die zuständige operative Diensteinheit, weil hier die Sachkenntnis dazu vorlag. Es zeigte sich aber, dass bei den Abschriften große Qualitätsmängel auftraten und dass die Mitarbeiter die rechtliche Wertung falsch vorgenommen hatten. […] Des Weiteren war eine Stimmenidentifizierung erforderlich, was wiederum kompliziert war, da nicht genügend Stimmenkonserven vorlagen.« 634
Der Stasi-Major zeichnet nicht gerade ein Bild perfekter Abläufe. Diese knappen Ausführungen könnten auch den Verdacht nahelegen, dass die Verhafteten schon deshalb in den Westen abgeschoben werden mussten, weil ein Strafprozess vermutlich höchste internationale Beachtung gefunden hätte und letztlich keinerlei Beweise vorlagen, die eine Verurteilung sachlich gerechtfertigt hätten. Die Zeit der Schauprozesse war vorbei. Anding ging abschließend noch auf weitere Aspekte ein. So gab es mit den Verhafteten »große Solidaritätsbekundungen«. Die Beschuldigten erhielten in der Untersuchungshaft in der relativ kurzen Zeit 672 Postsendungen. 635 Und offenbar waren die Stasi-Vernehmer den Beschuldigten nicht ganz gewachsen. Anding ermahnte, die Untersuchungsführer müssten »darauf eingestellt werden, dass die Beschuldigten nicht bereit sind, auszusagen«. Eigentlich hätte man davon ausgehen dürfen, dass Vernehmer darauf eingestellt sind. Die Vernehmer schienen unter großen Druck geraten zu sein. Nicht nur dass die Beschuldigten »die U-Führer mit Beschwerden (Beschwerde zur Festnahme, Beschwerde nach Haftbefehl, Unterbringung der Kinder, Unterbringung von Haustieren) sowie Eingaben beschäftigten. Ferner stellten sie eine Reihe von Forderungen. Darüber hinaus versuchten sie, die Untersuchungsführer zu beeinflussen, dass sie sich nicht zum Werkzeug der Unterdrückung der Menschenrechte machen lassen sollten.« 636
Diesem Bericht zufolge dürften auch die Untersuchungsführer im MfS froh gewesen sein, als sie die Verhafteten endlich wieder los waren. Insgesamt ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Zwar wurde die politische Zielstellung von SED und MfS Anfang 1988 bei der Bekämpfung der Opposition zeitweise und partiell erreicht – ein Teil der oppositionellen Köpfe war außer Landes verfrachtet worden –, aber der Aufbau dieser scheinjuristischen Fassade erwies sich als unnötig und nicht systemlogisch. Denn letztlich entschieden politische und nicht juristische Gesichtspunkte. Die Obersten Richter saßen im SED-Politbüro. 634 Ebenda, Bl. 35. 635 Ebenda, Bl. 36. 636 Ebenda, Bl. 37.
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Der Erfolg der Aktionen wurde innerhalb der Stasi nur begrenzt gesehen. Mielke glaubte zwar, die erteilte Lehre würden die Betroffenen und ihre Sympathisanten verstehen. 637 Aber dies gab er vor dem Stasi-Führungskorps zum Besten, einem Gremium, das für Selbstkritik nicht der geeignete Ort war. Anders sahen es untergeordnete Chargen. Ein hochrangiger Vertreter der BV Berlin hielt ebenfalls im März 1988 einen analysierenden Vortrag und bilanzierte nüchtern: »Mit diesen Maßnahmen wurde ein Optimum erreicht, viel mehr war nicht möglich, vieles wird nicht wiederholbar sein.« 638 Er gab sich keinen Illusionen hin: »Abgesehen von den infolge der Maßnahmen nach dem 17. Januar eingetretenen […] Wirkungen gibt es nur wenige Hinweise auf Langzeitwirkungen von Zersetzungsmaßnahmen.« 639 Dieses Eingeständnis kam der Realität nahe. Die Opposition war nicht zerschlagen worden, sondern sollte sich schon bald größer und lauter als zuvor zeigen. Auch wenn für die Stasi-Tätigkeit der Nutzen der Abhör- und Überwachungsmaßnahmen keineswegs gering geschätzt werden sollte, der enorme Aufwand stand überwiegend, nicht immer, in einem kritischen Verhältnis zum juristischen und operativen Gewinn. Die Informationsgewinnung jedoch war grundlegend für die Stasi-Arbeit. Für die Betroffenen mag es im Nachhinein nützlich sein, auch diese Quellen zu ihrer Biografie einsehen zu können. Die größten Nutznießer aber dürften Historikerinnen und Historiker sein, wenn sie denn mit dieser Quelle arbeiten können. Dass diese unter Verletzung der Menschenrechte gewonnene Quelle zugleich außerordentlich schwer zu interpretieren ist, zeigt diese Edition an einem sehr bekannten Personenkreis. In anderen zeitlichen, inhaltlichen und personellen Zusammenhängen müssten die Grenzen einer eventuellen Nutzbarkeit weitaus enger gezogen werden. In jedem Fall sollten sich die Nutzer solcher Quellen bewusst sein, dass das Eindringen der Stasi in die absolute Privatsphäre nicht im Nachhinein durch einen unsachgemäßen Umgang mit diesen Quellen förmlich legitimiert oder aber für die Opfer solcher intensiven Abhöraktionen zum persönlichen Nachteil wird.
637 Erich Mielke, Referat auf der erweiterten Sitzung des Kollegiums des MfS, 9.3.1988. BStU, MfS, ZAIG 8618. 638 BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 4670, Bl. 50. (Wahrscheinlich handelt es sich um eine Rede des Leiters der Abt. XX oder eines Stellvertreters im März 1988.) 639 Ebenda, Bl. 39.
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Einleitung – Schlussbemerkungen
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6. Dieser Teilnehmer ist nicht mehr erreichbar Einleitung – Schlussbemerkungen
In den Monaten September, Oktober und November 1989 glühten auf allen Seiten die Drähte. 640 Die Opposition war gefragt wie nie zuvor. Das MfS kam mit dem Protokollieren kaum noch nach. Unvermindert wurden Opposition, Botschaften, Korrespondenten abgehört 641 – genutzt hat es nun gar nichts mehr. Dass dies weniger an der Einsatzbereitschaft der Stasi-Mitarbeiter und Polizisten lag, zeigte sich Anfang Oktober 1989, als sie noch gewalttätig gegen Demonstranten vorgingen. Eine Rede von Innenminister Dickel vor den Chefs der BdVP am 21. Oktober 1989, also nach Honeckers erzwungenem Rücktritt, 642 veranschaulicht das, und auch, dass die Ausgabe von Durchhalteparolen gepaart mit Lügen und Entstellungen im Falle einer anderen Befehlslage durch die SED-Führung zur sofortigen gewalttätigen Mobilisierung gegen die Revolution genutzt werden sollte. 643 Dickel unterstellte den Demonstranten massive Gewalt. Sie hätten Waffenlager erfolgreich angegriffen und »auch Maschinenwaffen« erbeutet. 644 Bärbel Bohley verkörpere dieses »ganze feindliche Spektrum«. Und Telefone spielten eine große Rolle, wie er ausführte: »Genossen, bei den Demonstrationen und Zusammenrottungen in Leipzig am vergangenen Montag und auch schon davor gab es ein umfangreiches Stützpunktsystem. Natürlich waren die Kräfte, die dort zusammenkamen, nicht nur aus Leipzig. Das muss man hier auch mal betonen. Sie formierten sich praktisch aus der ganzen Republik, aber vorwiegend aus den mittleren und südlichen Bezirken. Das wurde eindeutig durch unsere Aufklärung festgestellt. Aber an Punkten wie in Berlin, Potsdam, Magdeburg, Halle saßen die Leute am Telefon mit einer klaren Weisung, zu sehen, was in Leipzig erfolgt. Werden die Sicherheitskräfte eingreifen und auflösen, auch mit notwendigen Sondermitteln, das heißt, wird sich dort die Eskalation, die sie wahrscheinlich auch im Sinne hatten, wird sich diese Eskalation vollziehen nach ihrem Muster? Falls diese Eska-
640 Vom 4.12.1989 stammt ein Videomitschnitt, der Bärbel Bohley beim Telefonieren mit Leipziger Oppositionellen zeigt und den Betrachter auch akustisch mithören lässt: NF, Videoaufnahme: Bärbel Bohley am Krisentelefon am 4.12.1989. RHG/NFo 024. Vgl. zum Inhalt Kowalczuk: Endspiel, S. 507–508. 641 Beispiele für die Opposition im Oktober enthält: BStU, MfS, HA XX 2692; für den November: BStU, MfS, Sekr. Neiber 610; Beispiele für die US-Botschaft im Oktober in: BStU, MfS, HA II 35060; Beispiele für westliche Journalisten (z. B. auch Roland Jahn), die sich in der Bundesrepublik aufhielten, in: BStU, MfS, HA III 8756 und 8868. 642 Vgl. zu den konkreten Abläufen und dem Szenario des »Rücktritts« ausführlich Kowalczuk: Endspiel, S. 411–424. 643 Zu einer vergleichbaren Rede des Stasi-Chefs der BV Karl-Marx-Stadt am 4.12.1989 vgl. ebenda, S. 509. 644 Rede von Dickel am 21.10.1989. BStU, MfS, HA VII 1195, Bl. 7.
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lation zur Gewalt in Leipzig stattfindet, sollte sofort angerufen werden, um dann mit Aktionen in anderen Bezirken zu beginnen. Das war das Konzept dieser Leute.« 645
Das »ausgebaute Informationssystem« des »Feindes«, wie Dickel die Demonstranten nannte, sei durch Kontakte zu westlichen Massenmedien geprägt. Die Friedlichkeit der Demonstranten, so der Innenminister, sich in seiner Hasstirade selbst widersprechend, diene dem Zweck, die »Wachsamkeit« einzuschläfern. Aber: »Was sollen wir machen? Ich stelle mal diese rhetorische Frage. Sollen wir dazwischengehen bei 20 000, 30 000, 40 000 Bürgern? Wissen Sie, was das bedeutet? Da können wir gleich SPW oder Panzer einsetzen. Aber jeder wird verstehen, dass das in der gegenwärtigen Situation und bei der weiteren Entwicklung unmöglich ist.« 646
Das hatte Erich Mielke im SED-Politbüro am 17. Oktober 1989 so ähnlich gesagt 647 und am 21. Oktober vor der Führungsmannschaft seines Ministeriums bekräftigt,648 aber abgeklärter und längst nicht so aggressiv wie Dickel am selben Tag vor seiner Führungscrew. Der Innenminister betonte anschließend, dass der Einsatz von »Sondertechnik« zur Räumung von Demonstrationen allein von der SED-Führung und nicht einmal von ihm befohlen werden könne. »Massenzuführungen« hätten zudem deshalb schon »nicht die gewollte Wirkung«, 649 weil sie auch negativ auf die eigenen Kräfte zurückschlügen. Den Sicherheitskräften seien »unvorstellbarer Hass«, Aggressivität und Gewalt entgegengeschlagen: »Hervorzuheben ist, dass Frauen und Mädchen hier besonders hervortraten. Sie hielten die Kinder unseren Genossen hin, und eine hat es sogar fertiggebracht, ihr Kind dort einfach in die Einsatzkräfte hineinzuwerfen.« 650 Dickel zog alle Register. 651 Der Ostberliner Polizeipräsident Friedhelm Rausch ergänzte in der Diskussion, dass bei den Einsätzen um den 7. Oktober herum positiv zu vermerken sei, dass der Volkspolizei die Einheiten des MfS, der NVA und der Grenztruppen unkompliziert unterstellt worden seien. 652 Das zeigt, nebenbei, wie wichtig 645 Ebenda, Bl. 15–16. Vgl. dazu die realistische Schilderung über den 9.10.1989 einer Organisatorin des Berliner Kontakttelefons: Marianne Birthler: Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben. Berlin 2014, S. 162–170. 646 Rede von Dickel am 21.10.1989. BStU, MfS, HA VII 1195, Bl. 22. 647 Vgl. Gerhard Schürer: Persönliche Aufzeichnungen über die Sitzung des Politbüros am 17.10.1989, in: Hans-Hermann Hertle: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates. Opladen 1996, S. 433–434. 648 Referat Mielkes zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED und zu den sich daraus ergebenden ersten Schlußfolgerungen für die Tätigkeit des MfS, 21.10.1989. BStU, MfS, ZAIG 4885. 649 Rede von Dickel am 21.10.1989. BStU, MfS, HA VII 1195, Bl. 23. 650 Ebenda, Bl. 28. 651 Vgl. zu einem weiteren Beispiel der SED-Demagogie mit Kindern Anfang Oktober Kowalczuk: Endspiel, S. 385. 652 Rede von Dickel am 21.10.1989. BStU, MfS, HA VII 1195, Bl. 74.
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Einleitung – Schlussbemerkungen
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es in der historischen Analyse ist, keine Institution isoliert zu betrachten, sondern die SED-Diktatur als ein komplexes System zu begreifen, in dem die Stasi zwar eine zentrale Stütze war, die aber ohne andere Stützen nicht so lange die Parteidiktatur hätte mittragen können. Und Rausch wusste auch wie Dickel die Stimmung anzuheizen: Aus Fenstern sei bei den Einsätzen »heißes Fett« auf die Sicherheitskräfte gegossen worden. 653 Wenig später ist diese Mär in den DDR-Medien verbreitet worden. 654 Obwohl Dickel alles versuchte – seine Führungstruppe zeigte sich in der Diskussion, die ungewohnt offen geführt wurde, nicht zufrieden. Er legte nun nach, fühlte sich offenbar in seiner Ehre verletzt: »Lasst sie marschieren, greift erst ein, wenn wirklich Gewalttaten [geschehen] und organisiere Dir Deine Kräfte und Reserven so, dass Du schnell eingreifen kannst, aber nur dann. Und das ist der Auftrag, den ich durchzusetzen habe. Ich kann jetzt nicht nach persönlicher Meinung gehen. – Ich würde am liebsten hingehen und diese Halunken zusammenschlagen, dass ihnen keine Jacke mehr passt. Ich war 1953 verantwortlich hier in Berlin. Mir braucht keiner zu sagen, was die weiße Brut veranlasst. Ich bin als Jungkommunist nach Spanien und habe gegen diese Halunken, gegen dieses faschistische Kroppzeug gekämpft. Ich habe in der Sowjetarmee gedient, von 1939 bis 1946, als ich nach Deutschland zurückkam, als Aufklärer bei der Roten Armee, im Westen und im Fernen Osten. Mir braucht keiner zu sagen, wie man mit dem Klassenfeind umgeht. Ich hoffe bloß, dass Ihr das genau wisst. Umzugehen, Schießen, liebe Genossen, und dass die Panzer dann vor der Bezirksleitung und vor dem ZK stehen, das wäre noch die einfachste Sache. Aber solch eine komplizierte Situation nach 40 Jahren DDR?« 655
Noch sieben Wochen später, am 4. Dezember 1989, wird der langjährige Leiter der BV Karl-Marx-Stadt, General Siegfried Gehlert, vor den MfSKreisdienststellenleitern seines Bezirks sagen: »Es ist meines Erachtens unverantwortlich jetzt, die Waffen aus der Hand zu geben. […] Wir müssen versuchen mit den oppositionellen Kräften einen Konsens zu finden, um eben nicht die Waffen aus der Hand zu geben, sondern ihnen zu sagen, also nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir noch Waffen besitzen.« 656
Diese Beispiele veranschaulichen, dass es an der Unentschlossenheit der SEDFührung lag, dass Staatssicherheit und Polizei nicht mit allen Mitteln gegen die Revolution zu Felde zogen. Die veränderte Haltung Moskaus zu inneren Krisen ihrer Satellitenstaaten und die inneren Erosionsprozesse im Macht- und 653 Ebenda, Bl. 77. 654 Peter Bethge: Gefährliche Tendenzen. Pressekonferenz zur Berliner Demonstration am Dienstag, in: JW vom 26.10.1989. 655 Rede von Dickel am 21.10.1989. BStU, MfS, HA VII 1195, Bl. 50. 656 Tonbandmitschnitt. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Ka 1. In einer aktuellen Forschungsarbeit erfährt ausgerechnet Hardliner Gehlert eine Aufwertung, die ihn 1989 fast als Reformer erscheinen lässt. Vgl. Gunter Gerick: SED und MfS. Das Verhältnis der SED-Bezirksleitung Karl-MarxStadt und der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit 1961 bis 1989. Berlin 2013.
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Herrschaftsapparat der DDR kamen hinzu, 657 die aber erst durch die fehlenden eindeutigen Vorgaben der SED-Führung erheblich verstärkt worden sind. Die Apparate begannen zu zerfallen, bevor sie systematisch aufgelöst wurden. 658 Ab November 1989 versuchte das MfS mit einer Medienoffensive die eigene Tätigkeit zu verteidigen und die Institution für die Zukunft zu retten. Die Gesellschaft ließ sich nicht täuschen. Die noch an der Macht befindlichen SED-Herrscher versicherten der Stasi-Leitung, die Geheimpolizei würde auch in Zukunft benötigt werden. 659 Die versuchte nun Erfolge bei der Aufklärung von Spionage und Neofaschismus vorzuweisen. Doch das waren fingierte »Erfolge«. 660 Zugleich bereitete sich das MfS für die Zukunft vor: Es kam zu umfangreichen Aktenvernichtungen und zu ersten internen Umstrukturierungen. In einer Ausarbeitung für die Öffentlichkeitsarbeit schrieb die StasiLeitung Ende Dezember 1989, Anfang Januar 1990: »Mit Wirkung vom 8.11.1989 wurden auf Weisung des damaligen Ministers für Staatssicherheit alle Telefonüberwachungen drastisch reduziert, alle Maßnahmen gegen oppositionelle politische Kräfte und Andersdenkende eingestellt und im Wesentlichen nur noch Maßnahmen im Zusammenhang mit der Aufdeckung und Bekämpfung der Spionage und von schweren Straftaten gegen die Volkswirtschaft weitergeführt. Seit dem 5.12.1989 sind alle Anlagen zur Telefonüberwachung entsprechend einer Festlegung des damaligen Leiters des Amtes für Nationale Sicherheit abgeschaltet und damit alle Maßnahmen beendet.« 661
Das trug die Modrow-Regierung etwas abgeschwächt am 15. Januar 1990 auch dem Zentralen Runden Tisch als offizielles Statement vor. Sie informierte zudem, dass mehr als 3 000 Telefonleitungen von der Stasi »an die Deutsche Post zurückgegeben« worden seien und bis zum 16. Januar die »Fernsprechsonderverbindungen zu Dienstzimmern und Wohnungen ehemaliger Partei- und Staatsfunktionäre sowie zu den Parteivorständen der SED-PDS« abgeschaltet würden. 662 Doch entgegen den öffentlichen Beteuerungen ist die Opposition weiterhin überwacht und noch bis Anfang Januar »bearbeitet« worden. 663
657 Vgl. Süß: Staatssicherheit am Ende. 658 Vgl. Bernd Florath: Die SED im Untergang, in: ders. (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur. Göttingen 2011, S. 63–104. 659 Dienstbesprechung anlässlich der Einführung des Generalleutnant Schwanitz als Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit durch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Hans Modrow, 21.11.1989. BStU, MfS, ZAIG 4886. 660 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 510–511. 661 BStU, MfS, ZAIG 21313, Bl. 30. 662 Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente. Bd. II, S. 367. 663 Vgl. Kowalczuk: Stasi konkret, S. 342.
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Wie diese Edition exemplarisch zeigt (Dok. 150–151), wurde die Opposition über den 8. November 1989 hinaus abgehört.664 Aber längst nicht nur sie. 665 Im Bezirk Halle waren zum Beispiel am 1. Dezember noch 23 Abhörmaßnahmen der Abt. 26 aktiv. 666 Als Senator Ted Kennedy am 27. November 1989 nach Berlin kam, beide Stadthälften besuchte und sich mit Willy Brandt, Bärbel Bohley und Rainer Eppelmann traf, war die Stasi informiert, da die Telefonleitungen der US-Botschaft in Ost-Berlin weiterhin unter Dauerkontrolle standen. 667 Die Konfusion der nicht mehr Regierungsfähigen verdeutlicht auf kuriose Weise ein Dokument aus dem Kreis Löbau vom 18. November. Ein junger Mann hatte am Vortag zweimal in der MfS-Kreisdienststelle angerufen und wortwörtlich gesagt: »An die Wand Ihr Schweine«. Er war verärgert darüber, dass die Kreisdienststelle immer noch arbeitete, obwohl in der Öffentlichkeit am Tag zuvor das Gegenteil behauptet worden war. Das MfS machte ihn ausfindig und sprach verdeckt als Kriminalpolizei mit ihm. Er schrieb anschließend folgende Erklärung: »Am heutigen Tag wurde ich durch einen Mitarbeiter der Kriminalpolizei belehrt, sachlichen Dialog zu führen.« 668 Mindestens noch im Januar 1990 belauschten die HA III/Abt. III den Telefonverkehr in der Bundesrepublik, was die private Telefonkommunikation zwischen Ost- und Westdeutschland einschloss. 669 Der BND und dessen Chef, Hans-Georg Wieck, beobachteten das. Viel ist aber nicht darüber bekannt. Wieck meint, sein Dienst sei unter seiner Leitung sehr gut über die Lage in der DDR in der zweiten Hälfte 1980er Jahre informiert gewesen. 670 Am 23. Januar 1990 ließ er Bundeskanzleramt, Bundespräsidialamt, Verfassungsschutz und wichtige Ministerien wissen, dass zwar die »Kontrollfunktionen« des MfS »weitgehend eingeschlafen« seien, aber der »Bereich Post- und Telefonkontrolle wieder in alter Stärke« arbeite. In den Bezirken Rostock, Gera, Halle, Neubrandenburg, Frankfurt/O. und Karl-Marx-Stadt würde wieder »jeder zweite Brief« geöffnet. »In den anderen Bezirken ist die Öffnungsquote deutlich 664 Daher gibt es auch Dokumente basierend auf der »Maßnahme A«, die unmittelbar zeigen, wie bekannte Oppositionelle auf den Mauerfall – nämlich sehr überrascht und glücklich – reagierten: BStU, MfS, HA XX/9 665, Bl. 191 (ein Dokument, das ein Telefonat vom 10.11.1989, 0.35 Uhr, zwischen Marianne Birthler einerseits und Ehrhart Neubert/Gerd Poppe andererseits zusammenfasst). 665 Beispiele von abgehörten Telefonaten bis Anfang Dezember 1989 von Oppositionellen, Botschaften, bundesdeutschen Journalisten und Politikern enthält exemplarisch: BStU, MfS, Sekr. Neiber 610. 666 Es handelte sich um 19 A-Maßnahmen und 4 B-Maßnahmen: BStU, MfS, BV Halle, Abt. 26 1434, Bl. 1–2. 667 BStU, MfS, HA II 30459, Bl. 1–3. 668 Stellungnahme, 18.11.1989. BStU, MfS, BV Dresden, Leiter 10793, Bl. 35. 669 Z. B. BStU, MfS, BV Erfurt, Abt. III 62. 670 Vgl. Hermann Wentker: Die DDR in den Augen des BND (1985–1990). Ein Interview mit Dr. Hans-Georg Wieck, in: VfZ 56 (2008) 2, S. 323–358.
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niedriger; Briefe aus Ostberlin werden offenbar nicht geöffnet.« Ihm fiel jedoch nicht auf, dass dies im Widerspruch zu seiner Information stand, es würden unentwegt MfS-Mitarbeiter aus dem Dienst ausscheiden, aber kaum Arbeit finden und dass »sich hieraus ein innenpolitisches Unruhepotential […] (Schatten-Stasi?)« entwickeln könnte. 671 Nicht einmal vor dem Herbst 1989 war die Stasi in der Lage, »jeden zweiten Brief« zur inhaltlichen Kontrolle zu öffnen. 672 Es setzten im November 1989 Veränderungen ein, die für die Stasi ein Alptraum gewesen sein müssen. Am 13. November teilte ein OibE zu MfSTelefonanschlüssen mit, dass ab sofort »Gespräche in die BRD/WB und kap. Ausland vom Wohnungsdienstanschluss […] nicht mehr verboten« sind. 673 Es kam noch ärger, wie Mittig den Stasi-Führungskräften am 28. November 1989 mitteilte: »Von Seiten gegnerischer Geheimdienste, insbesondere der BRD, werden über Telefonnummern, die dem Amt für Nationale Sicherheit zugeordnet werden, Verratsangebote an Mitarbeiter unterbreitet.« 674 Es blieb unklar, wie viele Überläufer es gab und wie viele Stasi-Mitarbeiter in den unmittelbaren Dienst des KGB eintraten. 675 Der einzige ranghohe MfS-General übrigens, der offenbar 1990/91 mit dem Verfassungsschutz kooperierte, war der ehemalige Leiter der HA III, Horst Männchen. 676 Dass bundesdeutsche Dienste ab 1990 in den Stasi-Unterlagen recherchierten, ist bekannt. Der Generalbundesanwalt ermittelte ebenso wie verschiedene Staatsanwaltschaften. Das Landesamt für Verfassungsschutz Bayern erfuhr so am 13. Juni 1990, dass die Anschlussinhaber Wolfgang und Regina Templin seit 13. April 1988 von der HA III im Rahmen des gegen sie und Hirsch, Bohley, Fischer, Wollenberger, Klier und Krawczyk geführten ZOV »Heuchler« unter ständiger Telefonkontrolle in Bochum standen. 677 Auch alle anderen genannten Personen sind – wie Jahn und Fuchs – im Westen ständiger Post- und Telefonkontrolle ausgesetzt gewesen. 678 Im Rahmen dieses ZOV »Heuchler« standen auch ihre wichtigsten Kontaktpartner in Ost-Berlin – neben der Bearbeitung in eigenen 671 BND-Brieftelegramm, Der Präsident, an Bundeskanzleramt, BM Seiters, u. a., 23.1.1990. BArch B 206/534, Bl. 108–109. 672 Vgl. Kowalczuk: Stasi konkret, S. 128–131. 673 BStU, MfS, BV Rostock, OibE 449/93, Teil II, Bd. 1, Bl. 294. 674 BStU, MfS, HA XVIII 12725, Bl. 1. 675 Z. B. BND, 32C, DDR/UdSSR: Übernahme nachrichtendienstlicher Kapazitäten der DDR durch den KGB (Entwurf), 16.2.1990. BArch B 206/554, Bl. 63; BND, 32C, an Chef des Bundeskanzleramts, 22.2.1990. BArch B 206/535, Bl. 33; BND, 32C an 31C, Markus Wolf in Moskau, 2.3.1990. BArch B 206/536, Bl. 307–308; BND-Brieftelegramm, Der Vizepräsident, an Bundeskanzleramt, 8.6.1990. BArch B 206/537, Bl. 184. 676 Vgl. Andreas Förster: Chef-Abhörer der Stasi gestorben, in: Berliner Zeitung vom 21.1.2008. 677 Anlage zum BayLfV-Schreiben vom 13.6.1990. BStU, MfS, HA II 15278, Bl. 358. 678 MfS, HA XX/5, Vorschlag zum Anlegen des ZOV »Heuchler«, 15.3.1988. BStU, MfS, AOP 15667/89, Bd. 1, Bl. 29; MfS, HA XX/5, Operativplan zur Bearbeitung des ZOV »Heuchler«, 4.5.1988. Ebenda, Bl. 92–93.
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Einleitung – Schlussbemerkungen
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OV/OPK – unter Kontrolle. Dazu zählten u. a. Reinhard Weißhuhn, Lutz Rathenow, Carlo Jordan, Rainer Eppelmann, Martin Böttger, Katja Havemann, Reinhard Schult, Peter Grimm, Gerd und Ulrike Poppe und Stephan Bickhardt. 679 Noch am 17. November 1989 erneuerte die Stasi-Führung die gegen Biermann, Jahn, Fuchs und Hirsch bestehenden Einreisesperren (Dok. 146, 149). Der ZOV »Heuchler« wurde am 28. November 1989 eingestellt. Die »operative Bearbeitung« von Ralf Hirsch aber sollte weiter fortgeführt werden. 680 Unmittelbar mit dem Ende der Stasi-Arbeit begann die politische, juristische und wissenschaftliche Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das Ministerium für Staatssicherheit galt erst zum 30. Juni 1990 als offiziell aufgelöst, was auch mit der Selbstauflösung der Hauptverwaltung A zusammenhing, aber die Debatte um den künftigen Umgang mit diesem Erbe begann im November 1989. Im Januar 1990 sind die ersten Anzeigen wegen Verletzung des Fernmelde- und Postgeheimnisses erstattet worden. 681 Später wurden u. a. deswegen die Leiter der Stasi-Bezirksverwaltungen Rostock, Magdeburg und Leipzig angeklagt. Am 4. Januar 1993 erhielten vier ehemalige Stasi-Offiziere der BV Magdeburg Freiheitsstrafen. 682 Dabei wurde das fehlende Unrechtsbewusstsein der Offiziere und solcher Zeugen, die früher für das MfS gearbeitet hatten, sichtbar. Alle beriefen sich darauf, nach Recht und Gesetz gearbeitet und letztlich Befehle ausgeführt zu haben. Der Staatsanwalt fragte sie auch: »Hätten Sie es in Ordnung gefunden, wenn Ihr Telefon abgehört worden wäre?« Die Antworten lauteten »Ja«. Und dann bekundeten sie, sie hätten, bei einem entsprechenden Befehl, auch den eigenen Vater oder die Ehefrau abgehört. Einer fügte hinzu: »In meiner Verwandtschaft gab es keinen Grund für Abhörmaßnahmen.« 683 Das Magdeburger Urteil hob der Bundesgerichtshof am 9. Dezember 1993 vollständig auf. Es lag weder »Amtsanmaßung« vor noch erfolgte das Telefonabhören »unbefugt«. Außerdem haben sie als Mitarbeiter des Staatsapparates Anweisungen des Ministers und Ministerrates befolgt. 684 Das war ein Grundsatzurteil. »Insgesamt stellten sich damit die angeklagten Handlungen«, das 679 MfS, HA XX/5, Konzeption zur komplexen Bearbeitung des ZOV »Heuchler«, 23.2.1988. BStU, MfS, AOP 15667/89, Bd. 1, Bl. 45. 680 MfS, HA XX/5, Vorschlag zur Entscheidung über die Einstellung des ZOV »Heuchler«, 28.11.1989. BStU, MfS, AOP 15667/89, Bd. 1, Bl. 171. 681 Lena Gürtler: Vergangenheit im Spiegel der Justiz. Eine exemplarische Dokumentation der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht in Mecklenburg-Vorpommern. Bremen 2010, S. 108. 682 Vgl. Die Post- und Telefonkontrolle durch die Staatssicherheit im Bezirk Magdeburg. Der Prozess gegen die verantwortlichen Staatssicherheitsoffiziere. Magdeburg 1993. 683 Ebenda, S. 61–64. 684 BGH, Urteil vom 9.12.1993, abgedruckt in: Marxen; Werle (Hg.): Strafjustiz und DDRUnrecht. Dokumentation. Bd. 6, S. 73–84.
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Abhören von Telefonen durch das MfS, »als nicht strafbar heraus«. 685 Kein einziger MfS-Mitarbeiter ist wegen Telefonabhörens oder des Abhörens von Wohnungen strafrechtlich belangt worden. 686 Auch die Anklage gegen Horst Männchen von der HA III ist 1995 zurückgezogen worden. 687 Die juristische Aufarbeitung der illegalen Stasi-Überwachungsmaßnahmen scheiterte. Letztlich sanktionierte das BGH-Urteil im Rückblick sogar solche Praktiken. Das ist ärgerlich, aber historische Bewertungen unterscheiden sich im Regelfall von richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Einschätzungen.688 Hinzu kommt als nicht unerheblicher Interpretationskontext: Die SED hat das Abhören von Telefonleitungen und den Einbau von Wanzen in Wohnungen immer scharf verurteilt – wenn es um den Westen ging. Die eingangs dieses Essays angedeutete Berichterstattung zu Enzensbergers Einlassungen 1979 zeigt das exemplarisch. Es war kein Einzelfall. Die Tageszeitungen druckten regelmäßig solche Empörungen ab. 689 Es gab auch eigenständige Veröffentlichungen, die das thematisierten. So die Stasi-Broschüre »Nachts ging das Telefon«, die dem gleichnamigen Evergreen von Hilde Hildebrand (1937) nur den Titel entlehnt hatte. 690 Das »Neue Deutschland« druckte am 26. August 1953 unter der Überschrift »Spitzel an jedem Telefon« einen »Erfahrungsbericht« über die Bundesrepublik ab, der totalen Überwachungsdiktatur, folgt man den SED-Autoren, und forderte im Fettdruck zu Westkontakten auf: »Bitte senden Sie diese Seite an ihre Bekannten nach Westdeutschland«. In einem »Sachbuch« zeichnete der Autor 1981 ein Sittenbild der bundesdeutschen Gesellschaft, das etwa so aussah: Jeder Bürger ist nebenbei ein Spitzel, alle bespitzeln alle und über allem thront der Geheimdienst. »Telefonleitungen anzuzapfen ist sicher noch am simpelsten.« 691 Diese Beispiele veranschaulichen, dass die SED sehr genau wusste, wie das Mithören von Telefongesprächen durch ihre Geheimpolizei zu bewerten ist.
685 MfS-Straftaten im Spiegel der Strafjustiz, in: ebenda, S. XL. 686 Vgl. auch die generelle Bilanz von Klaus Marxen, Gerhard Werle, Petra Schäfer: Die Strafverfolgung von DDR-Unrecht. Fakten und Zahlen. Berlin 2007. 687 Anklage des Generalbundesanwalts vom 3.5.1993, abgedruckt in: Marxen; Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation. Bd. 4/1, S. 717, Anm. 1. Siehe auch den Beitrag von Wolfgang Templin im vorliegenden Band. 688 Vgl. etwa Jacques Le Goff: Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1999, S. 229–251; Werner Paravicini: Die Wahrheit der Historiker. München 2010; Fernand Braudel u. a.: Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers. Berlin 1990; Bloch: Apologie der Geschichte, S. 136–141; Michael Stolleis: Der Historiker als Richter – der Richter als Historiker, in: ders., Norbert Frei, Dirk van Laak (Hg.): Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. München 2000, S. 173–182. 689 Z. B. Hört durch die Wände, in: Berliner Zeitung vom 29.10.1963. 690 Vgl. Nachts ging das Telefon. Ein Tatsachenbericht über die verbrecherischen Methoden der Geheimdienste in Westberlin zur Abwerbung von Bürgern der DDR, hg. vom MfS, Berlin 1960. 691 Willi Büchner-Uhder: Menschenrechte – Eine Utopie? Leipzig, Jena, Berlin 1981, S. 100.
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Diese Edition wird bei manchen Leserinnen und Lesern die Frage aufwerfen, inwiefern die Abhörpraxis des MfS singulär, systemspezifisch, diktaturtypisch oder eine übliche geheimpolizeiliche und geheimdienstliche Tätigkeit ist. Diese Frage drängt sich nicht zuletzt durch die Enthüllungen über die Ausmaße der Abhörpraxis von Geheimdiensten der USA, aber auch anderer Länder auf. 692 Gegenwärtige geheimpolizeiliche Praktiken in Russland oder China, Kuba oder anderen nichtwestlichen Staaten erregen westliche Gesellschaften übrigens nicht einmal ansatzweise vergleichbar. In einer neueren Studie ist die Bundesrepublik, was die geheimdienstliche Post- und Telefonkontrolle im Vergleich zur DDR anbelangt, als Staat hingestellt worden, der effektiver, moderner, umfassender und erfolgreicher Telefonleitungen abhörte. 693 Ganz abgesehen davon, dass diese Analyse unter erheblichen empirischen Engpässen und an großzügigen Interpretationen leidet: Dem Verfasser ist nicht eingefallen, nach den Wirkungen und Folgen der jeweiligen Überwachungspraxis für die Gesellschaft und die konkret Betroffenen zu fragen. So inakzeptabel und für die Gesellschaft gefährlich das Abhören von Telefonleitungen ohne richterliche Verfügung ist, 694 so müssen doch in der konkreten Bewertung auch die Folgen der Überwachung für die Betroffenen berücksichtigt werden. Die geheimpolizeiliche Abhörpraxis in einer Diktatur und die geheimdienstliche Überwachung in einem demokratischen Verfassungsstaat unterscheiden sich dabei in vielerlei Hinsicht. 695 Ganz abgesehen davon, dass von den inakzeptablen staatlichen Massenabhöraktionen in der Gegenwart empirisch nur die Datenmengen annähernd bekannt sind. Gesichert erscheinen die technischen Möglichkeiten der Datenspeicherung. Der konkrete Umgang mit den Massendaten ist aber nicht nur ein technisches Problem. Und über diesen tatsächlichen Umgang, die Folgerungen daraus, wissen wir ziemlich wenig. Dieser Befund stellt keine Verharmlosung dieser Praxis dar, zeigt aber den empirisch belegbaren Unterschied zur Stasi-Abhörpraxis: der Umgang damit ist historisch rekonstruierbar. Daher sind die immer wieder aufgerufenen Stasi-
692 Vgl. etwa Greenwald: Die globale Überwachung; Marcel Rosenbach, Holger Stark: Der NSA-Komplex. Edward Snowden und der Weg in die totale Überwachung. München 2014. 693 Vgl. Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Göttingen 2012. 694 Vgl. das Kapitel »Die Antiquiertheit der Privatheit« (1958) u. a. mit dem Abschnitt »AbhörApparate sind totalitär« in: Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München 1987, S. 210–246. Der Hintergrund ist eine stark technikpessimistische Einstellung. Vgl. etwa ebenda, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1994, S. 99–129 (ursprünglich 1956). 695 Vgl. David Johst: Geheime Dienste unter Freunden. Verfassungsschutz lauscht mit: Die Abhör-Affäre um den Whistleblower Werner Pätsch 1963 veränderte die Rechtsprechung in der Bundesrepublik, in: Die Zeit vom 7.11.2013.
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Gleichsetzungen in der Gegenwart auch nicht tragfähig.696 Das Ministerium für Staatssicherheit ist Geschichte und sollte als solche auch behandelt werden. Die hinterlassenen Quellen bieten noch vielen Historikergenerationen Stoff für Analysen und Bücher. Für eine notwendig kritische Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Geheimdiensten in demokratischen Verfassungsstaaten sind sie nicht geeignet. Die politische Instrumentalisierung historischer Stoffe, Quellen und Prozesse ist zwar ein realer Wegbegleiter gesellschaftlicher Entwicklungen. Dieser kritisch anzusehende Umstand legitimiert sie aber nicht. Mindestens für manche Historiker steht außer Frage, was überlieferte Quellen des MfS ermöglichen und was nicht. Diese Edition versucht, dies am Beispiel ausgewählter Telefonabhörprotokolle zu veranschaulichen.
696 Dies ist ein globales Erscheinungsmuster, das auf allen Kontinenten anzutreffen ist, »die Stasi« zu bemühen, wenn ein Sachverhalt besonders skandalisiert werden soll. In der NSAÜberwachungsaffäre geschieht dies aktuell ebenso wie z. B. in Frankreich. Siehe Empörung über Sarkozys Stasi-Vergleich, in: faz.net vom 22.3.2014.
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Andreas Schmidt, Arno Polzin
Grenzüberschreitende Telefonüberwachung: Die Hauptabteilung III in den 1980er Jahren 1
Die Hauptabteilung III ging 1983 aus der Fusion der für Funkaufklärung zuständigen Abteilung III mit der Abteilung Funkabwehr im MfS Berlin hervor. Gemeinsam mit den nachgeordneten Abteilungen III der Bezirksverwaltungen betrieb sie die Funkaufklärung, Funkabwehr, Funkkontrolle und Funkgegenwirkung. Ihr oblag es, aus den Funk- und Fernmeldeverbindungen der Bundesrepublik und West-Berlins möglichst viele und hochwertige Gesprächsinhalte abzuschöpfen. Im Mittelpunkt der Lauschangriffe standen Informationen aus der Bundesregierung, den Landeskabinetten, den Parteien und Medien, der Bundeswehr, der Rüstungsindustrie, den Führungsgremien der NATO, den bundesdeutschen Geheimdiensten und der Polizei. Daneben wurde die dem Aufspüren illegaler Funksendungen auf dem Gebiet der DDR dienende Funkabwehr betrieben und die auf den DDR-internen Funkbetrieb beschränkte Funkkontrolle. Der Auftrag der HA III bedingte den Einsatz von funkelektronischen Mitteln und ein Gefüge aus Stützpunkten, Gebäuden, Anlagen und technischen Dienstleistungsstellen. Im Jahr 1989 existierten auf dem Gebiet der DDR 187 Stützpunkte: 105 feststehende sowie 82 mobile oder halbstationäre Abhörstellen. Aus technischen und geografischen Gründen lag die Mehrzahl der Objekte nahe der innerdeutschen Grenze bzw. verteilt um West-Berlin. Zusätzlich erfüllten 41 Stützpunkte von anderen DDR-Ministerien Abhöraufträge oder Funkkontrolldienste im Auftrag der Hauptabteilung III. Der HA III gehörten im September 1989 2 361 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an, weitere 654 waren in den 15 Abteilungen III der Bezirksverwaltungen tätig. Die Mitarbeiter verfügten im Vergleich zu anderen Diensteinheiten im höheren Maße über technische Berufs- und Studienabschlüsse bzw. Fremdsprachenkenntnisse. Der zentrale Dienstsitz der HA III befand sich in 1 Der nachfolgende Text basiert auf Andreas Schmidt: Hauptabteilung III: Funkaufklärung und Funkabwehr (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2010. In Abstimmung mit dessen Autor ist der Text hier von Arno Polzin erarbeitet worden. Die Beschränkung auf die im Rahmen dieser Publikation erforderlichen Schwerpunkte bedingte eine verkürzende Darstellung bzw. Ausblendung weniger relevanter Aufgaben/Strukturen usw. Als knappen strukturellen Überblick siehe auch Roland Wiedmann: Die Diensteinheiten des MfS 1950–1989. Eine organisatorische Übersicht (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2012, S. 35–38, 264–267.
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Berlin-Köpenick, im Zentralobjekt Wuhlheide. Im Jahr 1989 gliederte sich die HA III bei insgesamt 25 Abteilungen in fünf Anleitungs- und Arbeitsbereiche. Leiter der Hauptabteilung war Horst Männchen, zuletzt im Dienstrang eines Generalmajors. 2 Die HA III arbeitete auch mit inoffiziellen Mitarbeitern, die hier überwiegend zur Absicherung der Technik bzw. des Zugangs zu den technischen Einrichtungen eingesetzt waren und weniger zur direkten Arbeit am »Feind«. 1988 wurden in der HA III insgesamt 108 IM-Vorgänge, IM-Vorläufe oder GMS geführt. Zusätzlich befasste sich die Linie III 1988 mit vier Operativen Personenkontrollen und einem Operativen Vorgang. Neben den inoffiziellen Mitarbeitern arbeiteten noch 27 HIM in der Hauptabteilung III, die mit speziellen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben, der Kontrolle des Amateurfunks und Rundfunkweitempfangs, der Auswertung deutschsprachiger Zeitungen aus dem westlichen Ausland, der Primärdatenerfassung, speziellen Beobachtungs- und Ermittlungsaufträgen in der DDR und in der Bundesrepublik, der Betreuung von konspirativen Wohnungen und Objekten bzw. mit Sicherungsaufgaben in einem Wohngebiet von Angehörigen der Linie III betraut waren. Auftrag der HA III war, politische, wirtschaftliche und militärische Informationen aus Spitzengremien und bedeutenden Bereichen der Bundesrepublik und West-Berlins zu beschaffen. Dabei machte die Art, Informationen zu erlangen, den Unterschied zu den meisten anderen Dienstlinien im MfS aus: In der Hauptrichtung dominierte die signal intelligence (SIGINT), das mit funkelektronischer Gerätetechnik praktizierte »Abschöpfen von Quellen«. Die Informationsgewinnung erfolgte überwiegend vom Gebiet der DDR aus und war auf grenzüberschreitende Nachrichtenkanäle, einschließlich Transittrassen (Kabel, Richtfunkstrecken) sowie auf Nachrichtenkanäle, die per Abstrahlung das Gebiet der DDR erreichten (Mobiltelefonnetze, Richtfunkstrecken, Satellitenverbindungen) gerichtet. Jedoch kam sie auch vom Territorium der ČSSR aus sowie innerhalb der Bundesrepublik, Österreichs und Belgiens gegen Nachrichtenkanäle zur Anwendung, die vom Gebiet der DDR aus nicht kontrolliert werden konnten. Die gewonnenen Informationen dienten der Landesverteidigung, dem Schutz des in der Bundesrepublik und innerhalb West-Berlins agierenden IMNetzes sowie der Bekämpfung von Personen oder Gruppen, die in Opposition zum DDR-Regime standen. Empfänger waren die Partei- und Staatsführung der DDR sowie die Diensteinheiten des MfS, insbesondere die HA I, HA II und HV A. Aber auch die Botschaften der DDR und die Diensteinheiten zur Bestätigung bzw. Überwachung von Reisekadern (insbesondere die HA XVIII, XIX und XX) bzw. die Terrorabwehr (HA XXII) waren Nutznießer der über 2
BStU, MfS, HA III 9703, Bl. 1–18.
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die HA III erlangten Informationen. Zugleich bestanden mit den Geheimdiensten der sozialistischen Staaten, voran dem KGB, erstrangige Interessenten und Nutznießer. Von den vier großen Aufgabenfeldern Funkaufklärung, Funkabwehr, Funkgegenwirkung und Funkkontrolle hatten die Funkaufklärung und die Funkgegenwirkung im Rahmen des hiesigen Projektes die größte Relevanz.
1. Funkaufklärung Zur Funkaufklärung gehörten fünf Arbeitsrichtungen: Die beiden typischen und gleichsam festen, dauerhaften Arbeitsrichtungen der drahtgebundenen und der drahtlosen Funkaufklärung waren darauf ausgerichtet, ausschließlich vom Gebiet der DDR aus »Quellen« anzuzapfen. Im Gegensatz dazu schöpfte die Arbeitsrichtung 3 »Quellen« des drahtlosen Funkverkehrs von Stützpunkten innerhalb der Bundesrepublik aus ab. Leitungen bzw. Kabel innerhalb der Bundesrepublik bzw. West-Berlins konnten bis zum Ende der DDR nicht angegriffen werden. Die Arbeitsrichtung 4 schloss komplizierte funktechnische Operationen mit dem Ziel ein, in Computer und rechnergestützte Datenübertragungen westlicher Botschaften in Ost-Berlin und von Sicherheitsbehörden in der Bundesrepublik einzudringen. Auch die Ausspähung mittels Flugzeugen und Helikoptern fiel darunter. Innerhalb der Arbeitsrichtung 5 wurden die beschafften Informationen indexiert und in Speichern festgehalten.
Arbeitsrichtung 1: Leitungen (Kabel) zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik In den 1980er Jahren war die HA III in der Lage, in eigenen Stützpunkten die circa 900 bis 1 000 Fernmeldekanäle zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik mit hochkanaligen Selektierungsanlagen automatisch zu überwachen. Im November 1989 funktionierte die Kontrolle der Fernsprechverbindungen mit vier Rufnummernselektierungsanlagen (RSA). Zwei dieser Anlagen kontrollierten jeweils 1 024 Leitungen. In Zusammenarbeit mit der Abteilung 26 wurden zudem die internationalen Telex-Verbindungen diplomatischer Vertretungen kontrolliert (ab Juni 1989 in alleiniger Zuständigkeit der Abteilung 26). Seit 1988 betrieb die HA III auch eine rechnergestützte Kontrolle der in Ost-Berlin existierenden anrufbaren Telefonzellen. Damit standen auch die
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Gespräche von den Teilen der Bevölkerung unter Beobachtung, die über keinen privaten Fernsprechanschluss verfügten oder sich nicht privat anrufen lassen mochten. Auch Verbindungen auf der Basis von Anrufweiterschaltungen, also weiter- bzw. umgeleitete Gespräche im grenzüberschreitenden Fernsprechverkehr, wurden abgehört; insbesondere ab dem Zeitpunkt, als die offizielle Luxemburg-Liebknecht-Ehrung im Januar 1988 von Oppositionellen in der DDR zu Protesten genutzt wurde. In der HA III hieß es dazu: »In der Folge der notwendig gewordenen operativen Maßnahmen […] im Bereich der Kräfte des politischen Untergrundes wurde die Verkehrsrichtung Westberlin nach Berlin [Ost] bearbeitet mit dem Ziel, die Führungskräfte der sogenannten 2. Reihe zu erkennen und aufzuklären. Die dabei erbrachten Ergebnisse waren ein spürbarer Beitrag.« 3
Arbeitsrichtung 2: Richtfunk, Telefonfunk, Satellitenfunk, Glasfaserkabel Seit Beginn der 1970er Jahre überwachte die HA III bzw. ihre Vorläufer den das DDR-Gebiet überquerenden Richtfunkverkehr sowie Teile des über Funktrassen innerhalb der Bundesrepublik geführten Fernmeldeverkehrs planmäßig. Insbesondere das Richtfunknetz der Bundespost und die Richtfunkverbindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin bildeten über viele Jahre hochwertige Quellen. Dabei war wegen der Insellage WestBerlins eine günstige Konstellation entstanden: Im Jahr 1980 existierten zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik vier Funkbrücken, in denen insgesamt 38 Richtfunkverbindungen unterschiedlicher Kanalzahl verliefen. Von den rund 21 000 zur Verfügung stehenden Richtfunkübermittlungskanälen wurden 17 183 Kanäle zwischen den beiden Territorien unterhalten. In der HA III waren die technischen Möglichkeiten für die Aufklärung von nahezu 900 Kanälen vorhanden. Dabei wurde unterschieden nach ständiger oder regelmäßiger Kontrolle (z. B. im Rahmen von Aktionen oder bei aktuellen politischen Anlässen). Außerdem unterlagen bestimmte Richtfunkstrecken innerhalb der Bundesrepublik einer ständigen Beobachtung. Eine Schwierigkeit bei der Kontrolle und Abschöpfung dieser Nachrichtenverbindungen resultierte aus ihrem Massencharakter und den sich daraus ergebenden Problemen für die Auswahl und Auswertung solcher Informationen, für die ein dringliches Interesse bestand. Die Masse an sich erschwerte es, Verbindungen, auf die man es besonders abgesehen hatte, gezielt zu überwachen. Dieser Umstand büßte an Gewicht ein, nachdem es gelungen war, mit-
3 HA III/16, OSL Bemme, Lageeinschätzung 1988, 20.9.1988. BStU, MfS, HA III 868, Bl. 381–389, hier 384.
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hilfe teilautomatisierter Geräte den gesamten Nachrichtenverkehr ausgewählter Adressaten lückenlos zu kontrollieren. In die Arbeitsrichtung 2 fielen auch die Überwachung von Autotelefonen und der Funknetze von Sicherheitsbehörden. Der Autotelefonverkehr innerhalb West-Berlins konnte problemlos und uneingeschränkt mitgehört werden. Das Abhören des Autotelefonverkehrs im Bundesgebiet war dagegen nur möglich, wenn sich die Gesprächsteilnehmer in einem erfassbaren Richtfunkbereich zur Grenze hin befanden. Der funkelektronischen Aufklärung unterlagen alle wichtigen Persönlichkeiten aus Politik, Militär und Wirtschaft, darunter das Autotelefon des Bundespräsidenten, des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Generalbundesanwaltes. Daneben standen die Autotelefone sämtlicher Mitglieder der Bundesregierung seit etwa 1987 unter »Zielkontrolle«. Das Gleiche galt für zahlreiche Abgeordnete des Bundestages. Nur kurz erwähnt seien hier die zusätzlichen Möglichkeiten des Zugriffs auf UKW- und KW-Funk, Satellitenfunk (damit auch Teile des internationalen Telexverkehrs) und Glasfaserkabel zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet (inkl. darüber verlaufender digitaler Richtfunkverbindungen; u. a. gelang es den Spezialisten der HA III, schon vor der offiziellen Inbetriebnahme ein wichtiges Kabel in einem Umschaltpunkt der Deutschen Post der DDR anzuzapfen). Aus der Unzahl an Informationen, die im Zeitraum von Januar bis August 1989 von den Nachrichtenübertragungskanälen abgeschöpft wurden, konnte man in der Zentralen Auswertung 55 437 Sofort-, Einzel- und Ergänzungsinformationen fertigen, außerdem 211 Analysen und Berichte, 150 Dossiers und Personenauskünfte, 15 746 Informationen in Form von EDV-Ausdrucken sowie 33 264 Kartei- und Speicherauskünfte. Für die Selektion der Informationen und der damit festgelegten Art und Weise ihrer Aufbereitung bestanden durchschnittliche Normen: Ein 3Minuten-Gespräch bei mittlerer Sprachgeschwindigkeit und guter Qualität nahm bei einer Schreibdauer von 20 Minuten einen Umfang von 10 Kladdenseiten an. Die zusammenfassende Niederschrift des Gesprächsinhaltes nahm 30 Minuten in Anspruch. Sechs bis sieben Stunden dauerte es indes, um eine abgefangene fremdsprachige Kommunikation in eine »politisch-operative« Information zu verwandeln. Exkurs: Auswertung der Informationen und Dossierarbeit Der Umgang mit Informationen im MfS wurde grundsätzlich durch die Dienstanweisung Nr. 1/80 geregelt. Für die Arbeit der Linie III waren zudem eine Rahmenordnung aus dem Jahr 1986 sowie die Ordnung Nr. 5/87 (In-
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formationsordnung) maßgebend. 4 Danach galten für die Informationen bestimmte Bewertungs- und Weiterleitungskategorien. Die Fernschreiben, Kladden oder Bandkonserven erreichten dann die Zentrale Auswertung und wurden nach einem Themen- bzw. Deliktschlüssel auf die zuständigen Referate verteilt. Die Ordnung der Informationen erfolgte auf der Grundlage von »Personen-, Sachverhalts- und Merkmalskategorien«. Dabei wurde der charakteristische Gehalt einer Information genau vorbezeichneten Schlagworten zugeordnet und war so zu jeder Zeit abrufbar. Solche Schlagworte waren zum Beispiel: »Ungesetzlicher Grenzübertritt BRD – DDR«, »Linksextremistische Organisationen«, »Grenzdurchbruch« oder »Kriminelle Menschenhändlerbanden«. In den Auswertungsbereichen entstanden die eigentlichen Informationen, die in Form von Meldungen, Mitteilungen, Berichten, Einschätzungen, Dokumenten, Dokumentationen, Analysen, Lageübersichten und dergleichen die Leitungsebenen und Dienstbereiche des MfS erreichten. Bei seiner Recherche standen dem Auswerter zahlreiche Hilfsmittel zur Seite: neben bereits erarbeiteten Informationen, vor allem Personen-, Objekt- und Sachverhaltskarteien, Fahrzeugkarteien einschließlich Flugzeuge und Schiffe, Funknetzkarteien, Frequenz-, Rufnamen-, Rufnummern- und Rufzeichenkarteien, Fernschreibund Fernsprechanschlusskarteien, Karteien und Datenbanken anderer Diensteinheiten des MfS sowie von infrage kommenden Stellen und Bereichen aller Ministerien und nicht zuletzt auch aus der Bundesrepublik beschaffte Nachschlagewerke zu den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Alle Informationen waren durch eine Buchstaben-Ziffern-Kombination codiert, zum Beispiel: »Information A/003817/29/01/88/03«. Die Codierung enthielt neben dem Datum, an dem die Information gewonnen wurde, und der laufenden Informationsnummer, bezogen auf die Quelle, von der die Information stammte, Buchstaben, die die Herkunft der jeweiligen Information markierten. Die wichtigsten Buchstaben verwiesen auf folgende Ursprünge: A – von einer »spezifischen Quelle« der Linie III, B – von einem Auslandsstützpunkt, C – von Partnern im operativen Zusammenwirken, D – von einem IM der Funksicherung, E – von einem IM jeder anderen Kategorie, 4 DA 1/80 des Ministers für Staatssicherheit: Grundsätze der Aufbereitung, Erfassung und Speicherung operativ bedeutsamer Informationen durch die operativen Diensteinheiten des MfS, 20.5.1980, abgedruckt in: Roger Engelmann, Frank Joestel (Hg.): Grundsatzdokumente des MfS (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2004, S. 328–343; Rahmenordnung der Linie III zur DA 1/80 des Genossen Minister zur Aufbereitung, Bereitstellung, Erfassung und Speicherung politisch-operativ bedeutsamer Informationen, 25.1.1986. BStU, MfS, HA III 522, Bl. 1–24; Ordnung 5/87 – Informationsordnung – des Ministers für Staatssicherheit über die Gewinnung, Aufbereitung und Weiterleitung operativ bedeutsamer Informationen durch die Diensteinheiten der Linie III und deren Auswertung in den Diensteinheiten des MfS, 3.7.1987. BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 8752, Bl. 1–13.
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F – von einem Mitarbeiter der Linie III, G – von mehreren »spezifischen Quellen« der Linie III, H – aus dem Datenverarbeitungsprojekt »Fahndung West«. Da im Verlaufe der 1980er Jahre die Zahl der abgehörten Fernsprechkanäle anstieg, vermehrte sich die Anzahl der »spezifischen Quellen« in der Linie III, was zu einer weiteren Differenzierung in der Quellenbezeichnung führte. Zusätzliche Kategorien waren: I – aus operativen Zielkontrollen (OZK) von Fernsprechverbindungen zwischen West-Berlin und der DDR, Z – aus OZK von Fernsprechverbindungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR, X – aus OZK von Fernsprechverbindungen zwischen dem Ausland und der DDR, T – aus manuellen Direktkontrollen aller Fernsprechverbindungen, S – aus dem Richtfunkverkehr der DDR, Y – aus dem Telexverkehr der DDR mit dem Ausland. Eine der wichtigsten Aufgaben der Linie III war die Dossierarbeit, an der der Wert der Fern- und Funkmeldeaufklärung gemessen wurde. Vorrangiges Ziel der Dossierarbeit war »die gezielte Unterstützung der operativen Linien des MfS zur Schaffung von Stützpunkten und IM im Operationsgebiet« 5. Ein zweites Ziel der Dossierarbeit bestand in der systematischen Informationsbeschaffung für nachrichtendienstliche Zwecke. Den Auftrag, Informationen zu ausgesuchten Personen, Einrichtungen und Institutionen zu erbringen, löste die HA III hauptsächlich mittels Zielkontrollen auf der Grundlage detaillierter Vorgaben ein. Vor allem Auskunftsberichte und Dossiers zu Mitarbeitern westlicher Geheimdienste und Sicherheitsbehörden wurden als bedeutende Ergebnisse dargestellt. Berichte, Abhandlungen und Dossiers wurden auch zu Menschen gefertigt, die für Organisationen wie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM) oder das Emigrantenzentrum Kontinent tätig waren oder diesen nahestanden. Im Jahr 1985 hatte das MfS 203 solcher »feindlichen Stellen und Kräfte« namentlich ausgemacht und ihre »offensive Bekämpfung« deklariert. Ein drittes Ziel der Dossierarbeit bestand in der »Vervollständigung und Präzisierung der im MfS zu ausgewählten Personen bereits vorhandenen Erkenntnisse« 6. Im Fokus stand ein beträchtlicher Kreis von Personen der Bundesrepublik und West-Berlins: führende Vertreter von Parteien; Bundes- und Landesminister, Bundestags- und Landtagsabgeordnete; Vorstände und Redakteure der Presse und Medienanstalten; Personen im Umfeld von Politikern 5 6
HA III [o. Verf.], Referat in der HA III, 22.6.1982. BStU, MfS, HA III 7974, Bl. 82. Ebenda, Bl. 101.
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und Geheimdienstmitarbeitern wie Sekretärinnen, Schreibkräfte, Kraftfahrer, persönliche Referenten, Haushaltshilfen, Freundinnen, Freunde oder Servicepersonen; Offiziere der Bundeswehr und US-Armee; Aktivisten der Friedensbewegung; Mitarbeiter von Radio Free Europe, Radio Liberty, der Deutschen Welle oder des RIAS; Sympathisanten der Solidarność-Bewegung in Polen, Mitarbeiter von Detekteien.
Arbeitsrichtung 3: Informationsgewinnung innerhalb der Bundesrepublik und West-Berlins sowie aus Amateurfunkverbindungen und Speichern Dazu zählte auch die Arbeit an einem Stützpunkt in der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, an dem zuletzt rund um die Uhr 35 Tonbandgeräte und 32 Empfänger betrieben wurden. Andere Stützpunkte waren in sowjetischen Einrichtungen in der Bundesrepublik bzw. in der DDR-Handelsmission in Düsseldorf untergebracht. Um bestimmte Frequenzbereiche innerhalb West-Berlins, die weder von den vorhandenen Bodenstützpunkten noch von der Luft aus aufgeklärt werden konnten, zu erreichen, setzte die HA III seit 1982 gemeinsam mit Spezialisten des KGB der UdSSR getarnte Kraftwagen bzw. Diplomatenfahrzeuge ein. Wegen der zunehmenden Nutzung von Handfunkgeräten im Frequenzbereich des »Jedermannfunks« wurde auch dieser Bereich zunehmend beobachtet. Nicht zuletzt standen Mitglieder von Fluchthilfeorganisationen im Verdacht, mit solchen Funkgeräten zu agieren. Andererseits erbrachte die Aufklärung des »Jedermannfunks« Informationen zu den westlichen Geheimdiensten, Emigrantengruppen in West-Berlin, linksextremistischen, terroristischen und neonazistischen Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen sowie zu (noch) unentdeckten oder bereits bekannten Bürgern, die sich aus Sicht des MfS feindlich gegen die DDR eingestellt zeigten. Insbesondere sollten Handlungen und Straftaten an der Grenze zu West-Berlin sowie im Transit- und Reiseverkehr vereitelt werden. Dem MfS war auch bekannt, dass in der Bundesrepublik Anfragen an Ämter und Behörden, die mit Speichern zu Personen und Sachverhalten arbeiteten, mit Funkfernsprechgeräten (Autotelefonen) gestellt wurden. Dies betraf z. B. Mitarbeiter der Observationsdienste des BND, des BfV, des BKA, der Mobilen Einsatzkommandos, der Kriminalpolizei sowie zahlreicher staatlicher Stellen, aber auch Detekteien und Zivilpersonen. Das MfS fand Verfahren, sich auch diese Datendepots zunutze zu machen.
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Arbeitsrichtung 4: Eindringen in Computer und rechnergestützte Datenübertragungen westlicher Botschaften in Ost-Berlin und von Sicherheitsbehörden in der Bundesrepublik Seit 1983 führte die HA III regelmäßig Aktionen zur Aufklärung der westlichen Botschaften und Einrichtungen des diplomatischen Dienstes auf dem Gebiet der DDR durch. Das geschah unter Nutzung geheimer Stützpunkte in Ost-Berlin, besonders im Stadtbezirk Mitte, wobei die entsprechenden Räumlichkeiten von den Hauptabteilungen II, VI, XVIII und XX sowie der Abteilung 26 zeitweise oder ständig bereitgestellt wurden. Die Hauptmethoden dieser Informationsgewinnung bestanden darin, den grenzüberschreitenden drahtgebundenen Gesprächsverkehr und den über Kabel geführten chiffrierten Telex- bzw. Fernschreibverkehr abzuschöpfen sowie in das Betriebsregime der Nachrichten- und Chiffriertechnik verschiedener Missionen durch die Abnahme parasitärer Strahlung einzudringen. Mitte des Jahres 1988 bestand für die HA III die Möglichkeit, 59 diplomatische Einrichtungen, deren drahtgebundene Nachrichtenverbindungen über das Haupttelegrafenamt verliefen, abzuhören. Seit 1982 wurden regelmäßig Hubschrauber und Flugzeuge mit dem Ziel eingesetzt, Sendeanlagen mit geringer Sendeleistung oder aber Frequenzbereiche, die wegen ihrer schwachen elektromagnetischen Ausstrahlung von den Bodenstützpunkten auf dem Gebiet der DDR entweder gar nicht oder kaum verwertbar erfasst werden konnten, hinsichtlich ihrer technischen Parameter auszukundschaften sowie nach Informationsgehalten auszuwerten. Exkurs: relevante Systeme/Speicher/Arbeitsmittel: a) Das System der Operativen Zielkontrolle (OZK) Seit Ende der 1970er Jahre gab es Bemühungen, die bis dahin zeitweilig und manuell ausgeführte Überwachung von Anschlüssen und Rufnummern auf ein neues Niveau zu heben. Die Stützpunkte wurden mit selbsttätig funktionierenden Rufnummernselektierungsanlagen ausgestattet: Schon die ersten dieser Art ließen den Wechsel zwischen vollautomatischer und manueller Überwachung zu. Damit konnten in den 1980er Jahren ausgewählte Fernmeldeanschlüsse zeitweise oder ständig automatisch überwacht werden. Das Herz einer jeden Selektierungsanlage bildete ein Erkennungsrechner, der die angewählte Rufnummer suchte und bei positivem Abgleich eines von insgesamt 128 peripheren Tonbandgeräten anschaltete. Dabei wurde umgehend ein Protokoll ausgedruckt, das die erfasste Fernmeldeverbindung, Datum, Beginn und Ende des Aufzeichnungsvorganges, die entsprechenden Bearbeitungs- und Weiterleitungskriterien sowie das Gerät festhielt, welches den Gesprächsverkehr aufgezeichnet hatte. Auch Telex- und Telefaxaussendungen wurden auf Band aufgezeichnet und anschließend decodiert
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bzw. lesbar gemacht. Die Auswertung der automatisch bespielten Bänder bewegte sich parallel zum Abhörvorgang und erfolgte durch Vorauswerter entsprechend den Vorgaben des Zielkontrollauftrages. Danach wurde entschieden, ob eine Weiterbearbeitung notwendig war. Die erteilten Zielkontrollaufträge enthielten die Vorwahl- und Anschlussnummern (Telefon, Funktelefon, Telex, Teletex, Telefax) der abzuhörenden Personen, deren Vor- und Nachnamen (wenn bekannt auch Geburtsdatum und Wohnanschrift sowie die berufliche Tätigkeit) und den konkreten Informationsbedarf. Die Kontrollvorgaben umfassten fast immer auch die Privatsphäre und das Umfeld der abzuschöpfenden Personen. Hinzu kamen Vorgaben zur Laufzeit der Zielkontrolle, zur Form der Inhaltswiedergabe und zur Zeitspanne, innerhalb derer die jeweilige Information an die Diensteinheit zu übermitteln war, welche den Auftrag gegeben hatte. Für die Zielkontrolle gab es unterschiedliche Laufzeiten. Sie konnten einen Monat, sechs Monate, zwei Jahre oder zehn Jahre betragen, was einer ständigen Überwachung gleichkam. Für Recherchen nach diesen Gesichtspunkten stand auf den Stützpunkten eine Dezentrale Zielkontrollkartei (DZK) zur Verfügung. Die Weiterleitung der Informationen vollzog sich nach verschiedenen Abstufungen. Diese reichten von der »Sofortinformation« bis hin zur Magnetbandkonserve, die im Zeitraum von vier Werktagen auf dem Kurierweg zu überbringen war. Die »Sofortinformation« war binnen drei Stunden auf fernschriftlichem Wege zu übersenden. Sie beinhaltete die wörtliche Wiedergabe des Gesprächsinhaltes. Letzterer wurde mitunter auch schon vorab fernmündlich übermittelt. Zielkontrollaufträge wurden vor allem von der HV A erteilt. Andere Auftraggeber waren die Hauptabteilungen II, I, XVIII, XIX und XXII. Aber auch die Hauptabteilung XX, die ZKG, der KGB und der Geheimdienst der ČSSR veranlassten Zielkontrollen. Die HA III selbst durfte nur in Ausnahmefällen eigenständig Zielkontrollen einleiten und verwirklichen. Dies war besonders dann der Fall, wenn während der Abhörtätigkeit auf den Stützpunkten Erkenntnisse zu Bundesbürgern »anfielen«, die für eine »operative Nutzung« in Betracht kamen. Hierzu zählten vorrangig Personen aus dem Politikumfeld wie persönliche Referenten, Sekretärinnen, Kraftfahrer, Angehörige von Geheimdienstmitarbeitern sowie ehemalige DDR-Bürger mit regen »Rückverbindungen«. Diesbezügliche Abhörergebnisse wurden zur weiteren Verwendung vorrangig an die HV A übergeben. Die Erkenntnisse aus Zielkontrollen wurden in Fachreferaten ausgewertet. Diese erstellten Sofort-, Einzel- oder Ergänzungsinformationen oder fertigten Auskunftsberichte und Dossiers, die an die zuständigen Diensteinheiten weiterzugeben waren. Alle Ausarbeitungen enthielten aus Gründen der Tarnung keinen Hinweis auf die Linie III und waren sprachlich zumeist so gestaltet, als seien die Informationen auf menschliche »Quellen« (IM) zurückzuführen.
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b) Stimmbank Seit 1985 bestand das Projekt einer elektronisch gesteuerten Phonothek, das in erster Linie dazu diente, die seit den 1970er Jahren auf Tonband gespeicherten Stimmen nach (noch kaum) ausdifferenzierten Kriterien zu verwalten und zu beschreiben. Den Stamm dieses Archivs bildeten Stimmen von Personen der Bundesrepublik: Mitarbeiter der Geheimdienste und des Staatsschutzes, Politiker, Firmen- und Wirtschaftsvertreter, Terroristen, Protagonisten von Fluchthilfeorganisationen, interessante Personen des gesellschaftlichen Lebens sowie Dissidenten und Opponenten gegen das DDR-Regime. Die jeweilige stimmliche Bewertung nach den Merkmalen Grundstimme, Stimm-/Tonlage, Ausdrucksweise und Dialekt sowie die messtechnischen Werte der Stimmenanalyse wurden rechnergestützt konserviert. Für die manuelle Identifizierung von aufgezeichneten Stimmkonserven unter Laborbedingungen, mithin für die Stimmenerkennung von Gesprächsteilnehmern über Vergleichsvorgänge, konnte die Stimmbank sinnvoll eingesetzt werden. Wenn auch der Grundstock für die Zielkontrolle bzw. Zielfahndung nach Stimmen in den überwachten Nachrichtenverbindungen gelegt war, ein anwendbares, geschweige denn ausgereiftes Verfahren zur automatischen Stimmenidentifizierung existierte bis zum Ende der DDR nicht. c) Datenverarbeitungsprojekt »Fahndung West« Seit den 1970er Jahren wurden diverse »Personen- und Sachfahndungshinweise« aus Datenfunknetzen und Datenbanken bundesdeutscher Sicherheitsbehörden ständig automatisch abgehört. Sämtliche auf diese Weise gewonnenen, aufgearbeiteten und elektronisch umgesetzten Informationen wurden mittels Lochstreifen an die Rechenstation der Abteilung 13 übergeben und seit 1980 im Datenverarbeitungsprojekt »Fahndung West« gespeichert: Informationen zu 200 000 Personen, 30 000 Kraftfahrzeugen und 1 000 Objekten allein im ersten Jahr. Die Informationen und Daten wurden an die HV A und an andere Diensteinheiten zweckbezogen weitergegeben. Sie dienten dazu, Agenten, inoffizielle Mitarbeiter oder Reisekader durch bestimmte Maßnahmen innerhalb der Bundesrepublik zu unterstützen und zu schützen. d) Datenverarbeitungsprojekt »Rufnummer« Das Datenverarbeitungsprojekt »Rufnummer« bestand seit 1980. Alle Telefonnummern, einschließlich Autotelefon-, Bildschirmtext-, Datex-, Gentexund Telex-Nummern mit Hinweisen auf Personen, Objekte und Fahrzeuge sowie Ausgangsmaterialien, die den Diensteinheiten der Linie III seit 1970 bekannt geworden waren und höchstwahrscheinlich 1985 noch galten, waren darin gespeichert. Seit 1986 wurden alle Ausgangsmaterialien der Abteilungen 7, 9 und 16 zentral in diesem Projekt nachgewiesen und gleichzeitig nach bestimmten Such- und Wichtigkeitskriterien gesammelt. Des Weiteren leistete
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dieses Projekt die elektronische Verwaltung der laufenden operativen Zielkontrollen und stellte die mikroelektronischen Speicher für die Recherche- und Selektionstechnik in der Informationsgewinnung der Linie III bereit. Außerdem verwaltete es ein Verzeichnis der Ortskennzahlen für den Fernsprechselbstwählfernverkehr, ein Abkürzungsverzeichnis und Angaben aus Telefonbüchern der Bundesrepublik. An die Großdatenbank waren 40 Bildschirmterminals zur Erfassung und Recherche angeschlossen. Das System bildete den ersten Komplex des vorgesehenen EDV-Systems der Linie III. Die Innovation bestand darin, dass den Diensteinheiten der Zentralen Auswertung und der Informationsgewinnung aktuelle, gemeinsame Daten vorlagen, die nur einmal erfasst werden mussten und dann auf einer einmaligen gemeinsamen Nachweisführung gründeten.
2. Funkgegenwirkung: Aktive Maßnahmen Der HA III kam auch die Aufgabe der Funkgegenwirkung im gesamten zur Nachrichtenübertragung genutzten Frequenzspektrum zu. Der Übergang von temporären Eingriffen hin zu systematischen Operationen der Gegenwirkung vollzog sich seit Anfang der 1980er Jahre: Insbesondere als die ersten Fälle der Einblendung von Solidarność-Texten in laufende Fernsehprogramme bekannt geworden waren, erachtete es der Leiter der HA III als notwendig, stärker als je zuvor mit elektronischen Maßnahmen auf »gegnerische Kommunikationsmittel« (Funkstationen, Funknetze, Funklinien) einzuwirken. Zunächst standen »Hetzsender« und »illegale« bzw. »Schwarzsender« jeder Art im Fokus. Dass es der Opposition im Nachbarland gelungen war, das staatliche Monopol auf alle Rundfunk- und Fernsehbereiche zu brechen, war beispielgebend und musste unter allen Umständen in der DDR vereitelt werden. Dies galt umso mehr, als die von West-Berlin aus agierenden Sender »Roter Stachel« und »Schwarzer Kanal« begonnen hatten, Sendungen in den Rundfunkbändern Mittelwelle und UKW auszustrahlen. Die Suche nach technischen Lösungen mit der Absicht, direkte »Gegenwirkungen« zu erzielen, zeitigte solche althergebrachten Praktiken der Funkgegenwirkung wie Blendung, Desinformation, Täuschung, Niederhaltung, Breitbandstören auf neuem Niveau. Trotz technisch bedingter Unvollkommenheiten hatte die zuständige Abteilung 14 in den 1980er Jahren eine Reihe von Ergebnissen vorzuweisen: Zum Beispiel Störaktionen gegen die Radiosender »Roter Stachel«, »Schwarzer Kanal«, »Radio 100« und »Radio Glasnost«. Den Spezialisten der HA III zufolge, erreichte der Sender »Radio 100« seinerzeit »mit den für Westberlin gestatteten technischen Leistungsparametern […] eine Eindringtiefe von 100 bis 150 km in das Terri-
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Die Hauptabteilung III in den 1980er Jahren
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torium der DDR«. 7 Grund genug, eine »aktive Störmaßnahme«, wie sie in einem von Horst Männchen, Leiter der HA III, ausgearbeiteten Maßnahmeplan 8 bezeichnet wurde, zu initiieren. Das Ziel der Aktion vom 22. bis 26. April 1988 bestand »in der wirksamen Beeinträchtigung des Empfangs der Aussendung von ›Radio Glasnost‹ in der Hauptstadt Berlin, angrenzende[n] Territorien der Bezirke Frankfurt/O., Potsdam, Cottbus und dem Stadtgebiet Potsdam; im selektiven Einsatz der funktechnischen Störungsmittel, insbesondere wenn sich der Inhalt der Sendebeiträge gegen die DDR richtet«. 9
Die Störung erfolgte in der Form, dass auf der Grundlage der ständig mitverfolgten Sendung der Befehl zur aktiven Störung einzelner Sendepassagen erteilt wurde. Die selektiven Störungen wurden mit insgesamt 18 Störanlagen von 12 Standorten aus erzeugt. Der Hauptstörsender befand sich im UKW- und Fernsehturm Berlin-Alexanderplatz. Weil sich der Einsatz von Geräten der NVA und Deutschen Post als unumgänglich herausstellte, war das notwendige effektive Zusammenspiel mit beiden Partnern herzustellen. Die eigentliche Störstrahlung zur Unterdrückung des Empfangs wurde durch Überlagerung mit sogenanntem »weißem Rauschen« aufgebaut. Selbstverständlich sind die Störmanöver nicht unbemerkt geblieben oder gar still und leise hingenommen worden: weder im Funkkontrollmessdienst der Landespostdirektion West-Berlins, noch von den Verantwortlichen der »Radio Glasnost«-Sendung sowie diversen Hörern in Ost und West. Verschiedene bundesdeutsche Tageszeitungen maßen dem Vorgang mit einigen Artikeln eine nicht unerhebliche Bedeutung zu. So berichtete »Die Welt« am 28. April 1988 unter der Überschrift »Nach zehn Jahren Funkstille stört OstBerlin wieder West-Sendungen« und im Untertitel »›Radio Glasnost‹ teilweise mit Rauschen überlagert/Post schickt Peilwagen an die Mauer«. 10 Der zuständige Redakteur wird darin mit den Worten zitiert: »Wir bekamen eine Kassette aus Ost-Berlin, auf der die gesamte Sendung mit ihren Störungen aufgezeichnet war, so, wie sie drüben [in Ost-Berlin] ankam.« Gemessen am internationalen Recht stellte das Senderstören einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Vollzugsordnung »Funk« der Internationalen Fernmeldeunion, der die DDR als Vollmitglied angehörte, dar. Horst Männchen hat diesen Aspekt im bereits 7 HA III, Bericht zum Sendebeitrag »Radio Glasnost – außer Kontrolle« des Westberliner privaten Rundfunksenders »Radio 100«; 9.9.1987. BStU, MfS, SdM 1987, Bl. 23–27, hier 26. 8 HA III, Generalmajor Männchen, Anschreiben vom 22.4.1988 an den Stellvertreter des Ministers, Generalleutnant Schwanitz, nebst Anlage: Maßnahmeplan zur Beeinträchtigung des Empfangs des Sendebeitrages »Radio Glasnost – außer Kontrolle« auf dem Territorium der Hauptstadt der DDR, 22.4.1988. Ebenda, Bl. 1–5. 9 Ebenda. 10 Vgl. Die Welt vom 28.4.1988.
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Andreas Schmidt/Arno Polzin
genannten »Maßnahmeplan« bedacht, wonach ein drittes Ziel »in der möglichst geringfügigen Beeinträchtigung des Empfangs auf Westberliner Territorium« 11 bestand. Der zweite Aufgabenkreis der Funkgegenwirkung – offensive (aktive) Ausnutzung westlicher Nachrichtenverbindungen – beinhaltete vor allem den Zugriff auf funkgestützte Nachrichtennetze einschließlich der Herbeiführung geeigneter Anschalt- und Zuschaltpunkte. Hierunter fiel der aktive Eingriff in Datenbanken, Informationsdateien und Rechnerverbundnetze ebenso wie die Ausnutzung des Telefonnetzes C, um Verbindungslinien zu eigenen Agenten in der Bundesrepublik aufzubauen. Das konzeptionelle Vorgehen beim Ausbau der Arbeitslinie insgesamt beinhaltete Importe von in Ungarn für die militärische Funkgegenwirkung hergestellter Technik, die Ausrüstung von Fahrzeugen der Typen W 50 und B 1000 mit Spezialtechnik für den gedeckten Einsatz sowie die Beschaffung spezieller Störsender aus der Bundesrepublik. Erfahrungsberichte von ehemaligen DDR-Bürgern bestätigten, dass das MfS den Telefonverkehr zwischen Bürgern in Ost und West als mitunter einziges Verständigungsmedium gezielt störte oder verhinderte: Gespräche wurden unterbrochen und/oder blockiert; stundenlang zog das MfS Leitungen auf sich, sodass das Einwählen auf eine Freileitung nicht möglich war; Transitleitungen nach Osteuropa, vor allem nach Polen und in die ČSSR, wurden gezielt mit Signalen belegt sowie phasenweise oder punktuell blockiert. Systematisch wurde auch telefonischer Psychoterror betrieben, etwa durch Hineinrufen in Gespräche, Verunsicherung der Gesprächsteilnehmer durch Beschimpfungen oder Drohungen, durch regelmäßiges und/oder nächtliches Anklingeln, ohne sich zu melden, durch das »Umschalten« von Telefonanschlüssen, sodass der Inhaber von beliebigen Personen angerufen werden konnte und wurde. Im Zusammenspiel zwischen der Linie III und der Linie VIII kam es auch zum Einsatz mobiler Stationen vor den Wohnhäusern von Zielpersonen, um deren Telefonverkehr zu manipulieren. Zu diesem Zweck war ein Kleinauto der HA VIII mit Empfangs- und Spezialtechnik der HA III ausgerüstet worden. Zudem wurden in den 1980er Jahren die Voraussetzungen für solche Eingriffe und Ausführungen geschaffen wie: »Desinformation und Täuschung auf den Verbindungsrichtungen von der DDR nach dem Ausland« und »manuelle Störung bestehender Verbindungen zwischen der DDR und der BRD und zwischen Westberlin und der BRD im Fernamt Magdeburg«. Gleiches galt für »das Trennen einer bereits bestehenden Verbindung«. 12 11 HA III, 22.4.1988 (siehe Anm. 8). BStU, MfS, SdM 1987, Bl. 1–5, hier 2. 12 HA III, Vorlage zum Problemkreis »aktive Maßnahmen« auf internationalen Fernmeldeleitungen, 7.4.1988. BStU, MfS, HA III 5357, Bl. 2–11, hier 11.
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Die Hauptabteilung III in den 1980er Jahren
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Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die HA III, ähnlich wie die Abt. 26, auf technisch relativ hohem Niveau agierte und so unzählige Informationen den auftraggebenden Diensteinheiten zur Verfügung stellen konnte. Ähnlich wie aus der Quellenabschöpfung anderer Bereiche ist aber auch hier festzustellen, dass nur ein geringer Teil der gewonnenen Informationen »operativ« bedeutsam war und dass davon nur ein kleiner Teil tatsächlich »operativ« verwertet werden konnte. Insofern stand die HA III in der Tradition vieler geheimdienstlicher Institutionen, ihren Anspruch nach der Gewinnung so vieler Informationen wie möglich mit einem erheblichen Ungleichgewicht von Aufwand und Nutzen zu bezahlen.
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Angela Schmole1
Abhörmaßnahmen der Abteilung 26 im Ortsnetz von Ost-Berlin
Ende 1989 gehörten zum Ortsnetz von Ost-Berlin etwa 380 000 Telefonanschlüsse, daneben warteten 180 000 Ostberliner zum Teil seit über 20 Jahren auf einen eigenen Anschluss. 2 Die rund 5 000 öffentlichen Telefone befanden sich in Poststellen, häufig auch in Hausfluren und Gaststätten. Eine Besonderheit des Telefonnetzes in der DDR stellte bis zuletzt die Vielzahl von Zweieranschlüssen dar. Wegen des Mangels an Anschlussleitungen teilten sich zwei Teilnehmer eine Leitung – weswegen auch der Begriff Gemeinschaftsanschluss gebräuchlich war. Das bedeutete, dass immer nur ein Teilnehmer auf der gemeinsamen Leitung telefonieren konnte. Daneben gab es vergleichbar auch Viereranschlüsse und schließlich existierten sogenannte Zeitgemeinschaftsanschlüsse. Hier wurden den Teilnehmern zwischen 17.00 und 7.00 Uhr nicht benutzte Anschlüsse von Behörden und Betrieben in die Wohnung umgeschaltet. Der Organisationsstand der Fernmeldeämter Ost-Berlins im Jahre 1989 entsprach dem der Ämter in West-Berlin Ende der 1950er Jahre. Den sechs Ämtern des Fernmeldewesens in West-Berlin (ein Weitverkehrsamt, vier Ortsverkehrsämter, ein Fernmeldezeugamt) stand eine Vielzahl von Organisationseinheiten im Osten mit Doppel-Funktionen gegenüber. Neben dem Fernamt, dem Fernsprechamt und einem Fernmeldebauamt gab es in Ost-Berlin ein Fernmeldeamt der Regierung, ein Funkamt sowie das Zentralamt für Materialwirtschaft. Die Aufgaben der Ämter in West und Ost ähnelten sich: im Vertrieb, Service, Bau und Unterhaltung von Ortsvermittlungsstellen und Fernmeldelinien sowie bei handvermittelten Diensten, Funkdiensten, Auskunfts- und Telegrammdiensten und dem Selbstwählferndienst. 3 In Ost-Berlin waren alle Vermittlungsstellen des Telefondienstes, die Ortsverbindungskabel zwischen den verschiedenen Vermittlungsstellen, alle Telefonkabel mit den entsprechenden Schacht- und Verteilereinrichtungen sowie die eigentlichen Teilnehmereinrichtungen fester Bestandteil des Ortsnetzes. Um auch Gespräche von Ost-Berlin in die DDR-Bezirke oder den internationalen Fernsprechverkehr überwachen zu können, wurden für die Abhörabtei1 Zum Gelingen des Textes trugen Stephan Konopatzky und Detlef Vreisleben bei. 2 Vgl. Post- und Telekommunikationsgeschichte, hg. von der Deutschen Gesellschaft für Postund Telekommunikation e.V., Frankfurt/M., Heft 1/1996. 3 Vgl. ebenda, S. 9–10.
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Angela Schmole
lung des MfS regionale Sondernetze geschaffen, die über Bezirkssonderkabel an das Ortsnetz Ost-Berlins angeschlossen waren. Für die Telefonüberwachung innerhalb der DDR war die Abteilung 26 des MfS verantwortlich.4 Zusammen mit der Abteilung zur Sicherstellung des Nachrichtenwesens (Abteilung N des MfS) hatte die Abteilung 26 außerdem die Verantwortung für den »schwerpunktorientierten Ausbau des Sonderkabelnetzes« – einer Kommunikationsverbindung des MfS zu Führungseinrichtungen der SED und des Staates. 5 Die beiden MfS-Abteilungen warteten und sicherten die Sondernetze des Staatssicherheitsdienstes. Die Zuständigkeit der Abteilung 26 des MfS wird in der Regel auf die Telefonüberwachung reduziert. Die Aufgaben dieser MfS-Diensteinheit waren jedoch vielschichtiger. 6 Der Aufbau einer eigenen Abhörabteilung erfolgte in den 1950er Jahren, damals noch unter dem Namen des Vorläufers Hauptabteilung S. Die DDR-Geheimpolizei unterschied zwei Arten von Abhörmaßnahmen: den A-Auftrag und den B-Auftrag. 7 Beide Maßnahmen mussten vom Staatssekretär für Staatssicherheit (später dem Minister) oder dessen Stellvertreter genehmigt werden. Die technische Ausführung der A-Aufträge war auf 20 Tage, die der B-Aufträge auf 30 Tage begrenzt. Die angezapften Leitungen wurden rund um die Uhr kontrolliert. Die Aufzeichnung mitgehörter Telefongespräche erfolgte zunächst auf Tonband und wurde dann verschriftlicht. Per Kopfhörer schalteten sich die Auswerter in den drahtgebundenen Telefonverkehr ein, zeichneten Gespräche auf Tonbändern auf und fertigten im Nachhinein allgemeine Zusammenfassungen der mitgehörten Telefongespräche an.8 Die Steuerung der Tonbandgeräte erfolgte manuell durch den MfSMitarbeiter. Jedoch gelang wenig später die Entwicklung von Gerätschaften, die statt der manuellen Steuerung der Tonbandgeräte das automatische Mitschneiden von Gesprächen erlaubten. Sobald auf der abgehörten Telefonleitung gesprochen wurde, setzte sich ein Tonband in Gang, wurde der Telefon4 Vgl. Angela Schmole: Abteilung 26. Telefonkontrolle, Abhörmaßnahmen, Videoüberwachung (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2009. 5 MfS, Abt. 26, Leiter Generalmajor Olaf Leben, Planvorgabe für 1988 vom 18.11.1987. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 303, Bl. 47–92. 6 Zu den Aufgaben der Abteilung 26 gehörten neben der Telefon- und Telexkontrolle auch die akustische und visuelle Überwachung von Privat- oder Diensträumen, die Abwehr von Abhörangriffen feindlicher Dienste auf Räume des MfS sowie der Einsatz von Röntgenstrahlen und chemischen Markierungsmitteln. 7 SfS, Generalleutnant Erich Mielke, Richtlinie »über die Auftragserteilung und Auftragsabwicklung der Aufträge mit der Hauptabteilung S für A- und B-Aufträge, 8.2.1954. BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 2491. 8 MfS, Abt. 26/6/2, Referatsleiter Hauptmann Heinz Lang: Die Bedeutung der Ermittlungstätigkeit im Prozess der Aufbereitung erarbeiteter Informationen zu den politisch-operativen Schwerpunkten des MfS entsprechend des Aufgabengebietes der Abteilung 26/6. Fachschulabschlussarbeit vom 5.3.1982. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 586, Bl. 7.
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Abhörmaßnahmen der Abt. 26
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hörer aufgelegt, stoppte die Aufnahme. Das stundenlange Warten auf eine Gelegenheit zur Überwachung hatte sich damit erübrigt. Allerdings funktionierte die automatische Schaltung immer nur für einen Anschluss, sodass jedes Tonbandgerät je einem Teilnehmer zugeordnet werden musste. Auf den Volksaufstand vom Juni 1953 reagierte das MfS mit der Bildung gesonderter Abhörreferate in den Bezirken der DDR. Diese sollten das regionale Kommunikationsnetz in die Überwachung des grenzüberschreitenden Fernsprechverkehrs einbinden. Das SED-Regime hatte den Auftrag erteilt, die »Hintermänner« des »faschistischen Putsches« zu finden. Mitte der 1950er Jahre gingen die Abhörabteilungen daran, DDR-weit ungenutzte »grenzüberschreitende und grenznahe Fernsprechkabel« ausfindig zu machen, um angeblich eine »missbräuchliche Nutzung des Kabels durch den Gegner zu vermeiden«, und diese gegebenenfalls partiell zu durchtrennen. Im Zuge dieser »Kabeltrennaktion 1956« ermittelten MfS-Mitarbeiter in koordinierten Aktionen mit den Bezirksdirektionen des Post- und Fernmeldewesens der DDR sämtliche Telefonkabel und erfassten sie statistisch. In einer Bilanz stellte das MfS 1966 fest, dass es gelungen sei, eine detaillierte Übersicht zu den »Nachrichtenleitungen und Nachrichtenkabeln« zu erarbeiten. 9 Diese Übersicht, die mithilfe der inoffiziellen MfS-Mitarbeiter aus dem Fernmeldebereich stetig aktualisiert wurde, versetzte das MfS seit den späten 1960er Jahren in die Lage, jeden einzelnen Teilnehmer ausfindig machen zu können. Nach dem Mauerbau fehlten dem MfS in zunehmendem Maße technische Geräte. Eine Forschungsgruppe »Neuerer« arbeitete an der Entwicklung und der Kleinserienfertigung einzelner Geräte und Anlagen, um diese Defizite zu überwinden. Techniker der Abteilung 26 und Ingenieure der Abteilung Operativ-Technischer Sektor (OTS) des MfS konzipierten in den späten 1960er Jahren ein »zentrales« Telefon-Abhörsystem (genannt CEKO), dessen Einsatz wegen technischer Unzulänglichkeiten zunächst jahrelang hinausgeschoben wurde und erst ab 1973 schrittweise erfolgte. 10 MfS-Mitarbeiter testeten in ihren eigenen Werkstätten Geräte, mit denen es den Auswertern möglich sein sollte, Gespräche auf Tonbandgeräten mitzuschneiden und »zentral« zu speichern. Verwendet wurden Aufnahmegeräte aus dem gesamten europäischen Wirtschaftsraum, doch die eingesetzten Geräte aus dem Westen stellten die MfS-Mitarbeiter vor Schwierigkeiten bei der Ersatzteilversorgung. Die Gesprächsmitschnitte wurden transkribiert und die Bänder gelöscht, um sie wiederverwerten zu können. 9 MfS, BV Berlin, Einschätzung zur Lage in Berlin im »Auskunftsbericht: Nachrichtenleitungen und Nachrichtenkabel im Bereich der Staatsgrenze der Hauptstadt der DDR«, 9.12.1966. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 193, Bl. 1–21. 10 Zur Entwicklung und zum Einsatz von CEKO-Anlagen vgl. Detlev Vreisleben: Die TelefonAbhörtechnik des MfS, in: Tele-Kurier, Ausgabe III/2013, hg. vom Vorstand der Interessengemeinschaft Historische Fernmeldetechnik e.V. Dresden, S. 8–14.
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Für die Abteilung 26 bedeutete die Entspannungspolitik eine dauernde Erweiterung der Einsatzorte sowie eine Ausdifferenzierung der Aufgaben. Die deutliche Zunahme privater und offizieller Kontakte von Bürgern beider deutscher Staaten wurde als sicherheitspolitische Bedrohung gesehen, der mit einem Ausbau der geheimdienstlich zu überwachenden Verbindungen begegnet wurde. Als zum Ende der 1979er Jahre immer offensichtlicher wurde, dass die Abteilung 26 die steigende Zahl der Abhöraufträge nicht mehr bewältigen konnte, wurden ihr 1983 die Abhöraufgaben in der Bundesrepublik entzogen und ihre Tätigkeit auf die DDR begrenzt. Die MfS-Hauptabteilung für Funkaufklärung und Funkabwehr (HA III) übernahm die Westspionage der Abteilung 26 und die Überwachung des grenzüberschreitenden Fernsprechverkehrs. Damit existierten seit 1983 getrennte MfS-Abteilungen für die Abhörarbeit in die Bundesrepublik und in der DDR. Die Überwachungs- und Kontrollaufgaben der Abteilung 26 erstreckten sich weiterhin auf sämtliche Fernmeldeeinrichtungen der Deutschen Post in der DDR. Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) und inoffizielle Mitarbeiter der Abteilung 26 arbeiteten in wichtigen Schaltstellen des Fernsprechwesens der Deutschen Post. 11 Ohne Hilfestellungen von Verantwortlichen der Deutschen Post wäre die Telefonüberwachung in diesem Umfang freilich nicht möglich gewesen. Die Deutsche Post sicherte der Abteilung 26 vertraulich die Nutzung der technischen Anlagen zu und vermietete dem Staatssicherheitsdienst für entsprechende Schaltungen Kabel und Netze.
Das Abhörverfahren Die Selbstwähltechnik der analogen Telefone übermittelte außer der Sprache auch die Nummerninformation. Dies erfolgte durch die Nutzung der Spannungszustände im Fernsprechnetz: 1. Der Telefonhörer liegt auf; es herrscht Ruhezustand. An beiden Leitungspolen liegt eine Gleichspannung von etwa 60 V; es fließt praktisch kein Strom.
11 Nach dem Ende der DDR übernahm die Deutsche Bundespost annähernd 41 000 Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern. Bei knapp 6 Prozent der Beschäftigten wurde eine inoffizielle MfS-Tätigkeit festgestellt. Vgl. hierzu Gerhard Pschollkowski: »Stasi-Abwicklung« bei den Unternehmen der Deutschen Bundespost, in: Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR. Berlin 2002, S. 223–231.
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Abhörmaßnahmen der Abt. 26
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2. Der Hörer wird abgenommen. Die Gleichspannung bricht auf 8 V zusammen; ein Gleichstrom von etwa 30 mA fließt und dem Ganzen ist als NFSpannung das Freizeichen überlagert. 3. Der Wählvorgang beginnt. Beim Anziehen der Wählscheibe wird die Leitung kurzgeschlossen. Beim Zurückdrehen der losgelassenen Wählscheibe wird dieser Kurzschluss so oft geöffnet, wie es der gewählten Ziffer entspricht; das heißt die Rufnummer wird mittels sogenannter Impulswahlverfahren (IWV) übertragen. 4. Die Verbindung kommt zustande. Der angerufene Teilnehmer nimmt den Hörer ab. Der Zustand wie 2. tritt ein; allerdings ist nun nicht das Freizeichen der 8 V-Spannung überlagert, sondern die Sprache mit einem Frequenzbereich von etwa 300 Hz bis 3 kHz. In der Vermittlungsstelle wurde eine entsprechende Schaltung durchgeführt. 5. Der Hörer wird aufgelegt. 12 Zur Ausführung der Abhörmaßnahmen 13 durch die Abteilung 26 liegen unterschiedliche Auskünfte von Experten vor. Einigkeit herrscht darüber, dass die Telefonüberwachung durch die veraltete DDR-Fernmeldetechnik erleichtert wurde und das DDR-Telefonnetz eine Fülle von Manipulationsmöglichkeiten bot. Bis 1989 verwendete die Deutsche Post der DDR technische Anlagen, die zum Teil noch aus den Jahren 1922 bis 1926 stammten. Neuere Anlagen, die auf Siemens-Entwicklungen basierten, kamen hingegen im MfS, bei der NVA, dem ZK der SED sowie den DDR-Ministerien zum Einsatz. Hauptprobleme aller DDR-Telefonanlagen blieben die minderwertigen Kontaktmaterialien in den elektromechanischen Schaltern. Zum Einsatz kamen elektromechanisch gesteuerte Vermittlungssysteme, überwiegend analoge Übertragungsstrecken und Kupferkabel; die Folge der verschlissenen Vermittlungstechnik waren permanente Störungen und das bekannte Knackgeräusch beim Telefonieren. Die Aufschaltung von Abhörleitungen (auch PO-Leitungen: PostmietleitungOrtsnetz oder Kontrollanschlussleitungen genannt) auf eine gewünschte Telefonleitung erfolgte in einer Schaltstelle der Deutschen Post. Nur die als IM der Abteilung 26 verpflichteten Postangestellten erhielten Einsicht in entsprechende schriftliche Aufzeichnungen und hatten konkrete Kenntnisse von den Abhörmaßnahmen der Abteilung 26. 14
12 Wolf Peter Tangermann: Abhörverfahren. Techniken geheimer Lauschangriffe. München 1989, S. 14–15. 13 Die Ausführungen zum Abhörverfahren beruhen auf Gesprächen mit dem Nachrichtentechniker und Diplom-Physiker Hans-Joachim König, der 1989/90 im Forschungs- und Technologiezentrum der Bundespost Telekom arbeitete und mitverantwortlich war für die Auflösung der Abhörabteilungen des MfS in Berlin und den ehemaligen DDR-Bezirksstädten. 14 Interview mit Hans-Joachim König im Jahre 2004.
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Aufgrund des Einsatzes analoger Übertragungsstrecken im Ortsnetz von Ost-Berlin erfolgte die Telefonüberwachung mittels analoger Anschaltung, Informationsweiterleitung und Informationsverarbeitung. Laut Untersuchungen der KASBA 15 erfolgte das Abhören der angezapften Fernsprechleitungen durch galvanische Anschaltung an Kabeln und Übermittlungssystemen. Diese vergleichsweise einfache Methode hatte den Vorteil, dass Manipulationen im Fernmeldesystem nicht auffielen. 16 Um die Gespräche eines Fernsprechteilnehmers abzuhören, musste sich das MfS in die Teilnehmeranschlussleitung einschalten. Dazu kamen mehrere Schaltpunkte im Telefonnetz infrage. Laut Berichten der KASBA wurden die Hauptverteiler einer Ortsvermittlungsstelle nicht angezapft. 17 Sie galten als personell gut besetzt und wurden elektromechanisch überwacht. Im Einzelfall wäre eine Anzapfung nicht unbemerkt geblieben. Eingriffe an den Verzweigereinrichtungen der Ortsnetze seien dagegen unauffälliger und unkomplizierter zu realisieren gewesen. Andere Experten gehen davon aus, dass eine Anzapfung des Hauptverteilers durch Mitarbeiter der Deutschen Post der DDR durchaus möglich war. MfS-Überlieferungen der Abteilung 26 belegen, dass diese Möglichkeit in den 1980er Jahren genutzt wurde. 18 Eine weitere Methode der Raum- und Telefonüberwachung war der Einbau eines Abhörmikrofons – auch Wanze 19 oder Minispion 20 genannt. Beim Überwachen mittels eines Abhörmikrofons wurde über einen Kleinsender oder eine Drahtverbindung ein Kontakt zwischen dem Mikrofon und einem Aufnahmegerät hergestellt. Die meisten Mikrofone wurden mit winzigen Batterien betrieben. Aus den MfS-Berichten über die »Erfüllung der Aufgaben der Kaderarbeit« geht hervor, dass die Abteilung 26 stets nach Fachleuten für Abhörarbeit suchte. Besonderen Wert legte die Abteilung 26 dabei auf ausgebildete Elektronikfacharbeiter, Nachrichtentechniker und Fernmeldemechaniker. Im Ortsnetz von Ost-Berlin verlief eine Telefonleitung von der Wohnung eines Teilnehmers über verschiedene Verzweigereinrichtungen zum Hauptverteiler einer Ortsvermittlungsstelle (OVSt). Hierbei ergaben sich mehrere Schaltpunkte, auch Netzpunkte genannt, an denen abgehört werden konnte. Das Telefon 15 Die Arbeitsgruppe »Kontrolle der Abhör-, Schaltungs- und Bereinigungsaktion« (KASBA) der Deutschen Bundespost übernahm die Auflösung der MfS-Diensteinheiten zur Telefonüberwachung. 16 Vgl. Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR, hg. vom Museum Post- und Telekommunikation. Berlin 2002, S. 160. 17 Vgl. ebenda, S. 160. 18 MfS, Abt. 26, Objektakte Beschaltung/Mietleitungen, 1987. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 213. 19 Vgl. Helmut Roewer, Stefan Schäfer, Matthias Uhl: Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 490. 20 Vgl. Tangermann: Abhörverfahren, S. 43–45.
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Abhörmaßnahmen der Abt. 26
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einer Wohnung war an eine sogenannte Verbinderdose fest angeschlossen, in modernen Ausführungen wurde eine fünfpolige Anschlussdose verwendet. Von hier aus verlief die Telefonleitung zur untersten Stufe der Verzweigereinrichtung, dem Endverzweiger (EVz), einem kleinen grünen oder grauen Kästchen im Inneren oder außerhalb des eigenen Hauses. Der Endverzweiger war über eine Leitung an einen Kabelverzweiger (KVz) angeschlossen. Mit Kabelverzweigern wurden ganze Straßenzüge versorgt. Die ankommenden (bis zu 100) Doppeladern in einem Kabel wurden auf bis zu acht Kabel aufgeteilt und weitergeführt. 21 Kabelverzweiger waren ein Meter hohe und 75 cm breite graue Kästen, die meist auf dem Gehweg standen. Ein Kabelverzweiger enthielt Kabelanschlusspunkte von mehreren Endverzweigern und weitere Anschlusspunkte zur nächsten Hierarchie, dem Linienverzweiger (LVz). Linienverzweiger versorgten in der Regel einen Stadtbezirk und hatten die Größe einer Litfaßsäule. Vom Linienverzweiger verlief ein Hauptkabel zum Hauptverteiler (HVt). Hauptverteiler waren immer am Ort der Ortsvermittlungsstelle (OVSt) installiert. Ortsvermittlungsstellen wickelten den Telefonverkehr in einem Ortsnetz ab. Hier lief die Gesamtzahl der Kabel aus den nachgeordneten Verzweigereinrichtungen zusammen. Von hier aus wurde umgekehrt die Gesamtzahl der realisierten Teilnehmereinrichtungen auf die Fernsprecher des Ortsnetzes verteilt. Die Verzweigereinrichtungen (EVz, KVz und LVz) der meist sternförmig aufgebauten Ortsnetze waren letztlich Schaltpunkte, die eine flexible Gestaltung des Netzes ermöglichten, über die bei Schäden auch die Schaltung von Ersatzkabeln möglich war und über die bei Bedarf zusätzliche Sonderkabel zum Einsatz kamen. Die Verbindungen zwischen ankommenden und abgehenden Kabeln in den jeweiligen Verzweigereinrichtungen wurden durch Schaltdrähte, sogenannte Rangierungen, hergestellt. Von den Beschaltungsunterlagen waren viele als Doppelausführungen beim MfS hinterlegt. Das bedeutete: die Abteilung 26 verfügte bei Bedarf über die Schaltunterlagen jedes Ostberliner Teilnehmers. In den Beschaltungsunterlagen wurden auch Netze der Deutschen Post der DDR verzeichnet, die temporär zur Verfügung standen, wie Reportageleitungen für Medien und Ersatzschaltungen von gestörten Teilnehmeranschlussleitungen. 22 Zur technischen Ausführung der Telefonüberwachung bediente sich das MfS folgender Methoden: Doppelaufschaltung durch »Nadeln« in den Rangierungen, Doppelaufschaltungen in Rangierverteilern oder Duplizierung von Kabeln in Kabelmuffen. Beim Nadeln in Rangierungen wurden feine Stahlnadeln 21 MfS, Abt. 26, Übersicht über die sich in den HVt befindenden Sonderkabel und POLeitungen, 6.5.1987. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 471, Bl. 1–4. 22 Interview mit Hans-Joachim König im Jahre 2004.
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durch die Isolation von Schaltdrähten gestochen, sodass eine elektrische Verbindung zwischen Kupferkabel und Nadel entstand. Ein an der Nadel gelöteter Draht führte zu den MfS-Dienststellen. Die Doppelaufschaltung in Rangierverteilern kam in den Verzweigereinrichtungen Ost-Berlins und in den DDR-Bezirken zum Einsatz. Die Kabel aller Verzweiger liefen über Rangierverteiler, mit denen die Verbindung zwischen zwei verschiedenen Ortsnetzeinrichtungen hergestellt werden konnte. Um eine »flexible« Netzgestaltung zu ermöglichen, waren die Rangierverteiler schaltbar ausgelegt. Das bedeutete, dass die Rangierleitungen an den Rangierverteilern entweder angelötet, mit Schraubenverbindungen angeklemmt oder mit Wickelvorrichtungen angebracht waren. Das MfS schaltete sich in den Verteiler mit der gleichen Verbindungstechnik (Löten, Schrauben, Wickeln) parallel auf und zapfte so alle geführten Gespräche auf dieser Telefonleitung an. Die Duplizierung von Kabeln in Kabelmuffen stellte laut KASBA eine aufwendige Methode dar. Kabelmuffen dienten entweder der Verbindung zweier Kabel mit gleicher Kapazität oder der Aufteilung eines Kabels mit hoher Adernanzahl in mehrere Kabel mit kleiner Kapazität. 23 Aus den MfS-Überlieferungen geht hervor, dass bei der eingesetzten Methode meist ein Kabel mit 100 Doppeladern verwendet und mithilfe der Kabelmuffe auf drei Kabel zu 50, 30 und 20 Doppeladern »aufgeteilt« und komplett dupliziert wurde. Das Kabel mit 100 Doppeladern wurde vollständig angezapft und in einem zweiten 100-paarigen Kabel direkt zu den MfS-Dienststellen geschaltet. Perspektivisch plante das MfS, jeden Telefonanschluss in Ost-Berlin mit dieser Abhörmethode zu überwachen. Der hohe technische und finanzielle Aufwand führte aber dazu, dass Ende 1989 von 380 000 Ostberliner Telefonanschlüssen auf diese Weise lediglich 1 400 abgehört werden konnten – das waren nicht einmal 1 Prozent (genauer: 0,4 Prozent). 24
Abhörstützpunkte des MfS Die Abhörstützpunkte der Abteilung 26 lagen meist in den Dienstgebäuden des MfS. Dazu betrieb die MfS-Diensteinheit in Ost-Berlin, in allen MfSBezirksverwaltungen und in einigen MfS-Kreisdienststellen Abhörstützpunkte, die als Teil des »CEKO«-Systems mit entsprechender Abhörtechnik und Tonbandgeräten zur Speicherung von Informationen ausgestattet waren. In den 23 Vgl. Ein offenes Geheimnis, S. 162–164. 24 Abt. 26, OSL Leben, Konzeption zum Endausbau der CEKO-Stützpunkte in Berlin unter Beachtung der erforderlichen Übertragungstechnik und des daraus resultierenden Raumbedarfs, 12.6.1981. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 38, Bl. 5; Vreisleben: Die Telefon-Abhörtechnik des MfS.
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Abhörstützpunkten saßen die Auswerter der Abteilung 26 und zeichneten im Schichtsystem, an Wochenenden und an Feiertagen je nach Auftragstellung, die Gespräche auszugsweise oder ganz auf. Dann leiteten sie die Ergebnisse der Telefonüberwachung als wörtliche Abschrift oder Zusammenfassung an die auftraggebende Diensteinheit des MfS weiter. Neben der Speicherung des Telefongesprächs wurden die Gesprächsdauer, die Uhrzeit und die Rufnummer des überwachten Anschlusses festgehalten. 25 Die Hauptauftraggeber für die Telefonüberwachung waren in den 1980er Jahren das MfSUntersuchungsorgan (HA IX), die Spionageabwehr (HA II), die HA XX (Staatsapparat, Kirche, Kunst, Kultur, Opposition) und die HA XVIII (Volkswirtschaft). Abhörmaßnahmen der Abteilung 26 innerhalb der DDR richteten sich gegen Dissidenten und Bürgerrechtler, die Kirchen und gegen zahlreiche Bürger der DDR, die aus welchen Gründen auch immer dem MfS verdächtig schienen. Zum Kreis der Abgehörten zählten ferner Schriftsteller und Künstler, Sportler und Trainer, Wissenschaftler und Pädagogen sowie Personen, die unter Operativer Personenkontrolle standen oder im Rahmen von Operativen Vorgängen beobachtet wurden. Die genaue Zahl der Abhörstützpunkte der Abteilung 26 ist nicht bekannt. Für Ende der 1980er Jahre gehen Experten von mindestens 25 Abhörstützpunkten in Ost-Berlin aus. Abhörstützpunkte gab es in den MfSKreisdienststellen Berlin-Mitte, Köpenick, Hellersdorf und Pankow, außerdem im Haus der Ministerien, in der Deutschen Staatsbibliothek »Unter den Linden« (unter dem Deckname »Charlotte«) und in allen wichtigen Ortsvermittlungsstellen der Deutschen Post. Abhörstützpunkte betrieb die Abteilung 26 auch im Fernsprechamt in Berlin-Mitte (Deckname »Kurt«), im Rat des Stadtbezirks Prenzlauer Berg (Deckname »Prenzlau«) und in der Poststelle von Berlin-Mitte in der Klosterstraße 44 (unter den Decknamen »Mönch«, »Zange« und »Universal«). 26 Hauptamtliche MfS-Mitarbeiter der Abteilung 26 erhielten getarnt als Postangestellte Zugang zu den Diensträumen der Deutschen Post. Was sich hinter den Türen ihrer speziellen Arbeitsräume tat, blieb normalen Postmitarbeitern verborgen. Berichtete einer von Merkwürdigkeiten in der Dienststelle wurde er versetzt. Mehrere Dienststellenleiter im Fernsprechamt arbeiteten inoffiziell mit der Abteilung 26 zusammen. 27 MfS-Überlieferungen zu Abhörmaßnahmen in den Ortsvermittlungsstellen der Deutschen Post sind zum Teil sehr lückenhaft. Zu den vollständigen Beständen zählen beispielsweise die MfS-Berichte zur Ortsvermittlungsstelle Nummer 28. Die Ortsvermittlungsstelle 28 in der Tucholskystraße 6 wickelte 25 Ministerium für Post- und Fernmeldewesen (MPF), Staatssekretär Manfred Calov: Weisung 1/1980, 24.2.1980. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 369, Bl. 82. 26 Vgl. Schmole: Abteilung 26, S. 54–55. 27 Objektakten zum Fernsprechamt »Abteilung Beschaltung/Mietleitungen« in Berlin-Mitte und »Abteilung Technischer Dienst« in Berlin-Prenzlauer Berg: BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 213 u. 209.
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bis zuletzt den Telefonverkehr des nördlichen Teils des Stadtbezirks BerlinMitte ab. Zugleich liefen über das Fernsprechamt der OVSt 28 die Telefonleitungen für mehrere DDR-Betriebe, den Magistrat, die Akademie der Künste, die Humboldt-Universität zu Berlin, das Krankenhaus der Volkspolizei und den Bund der evangelischen Kirche. In der Regel hatten elf hauptamtliche MfS-Mitarbeiter der Abteilung 26 ungehinderten Zugang zu Diensträumen der Deutschen Post in der Tucholskystraße. Sie schalteten, neben vielen anderen »Zielobjekten«, Abhörleitungen auf die Telefonleitung der Botschaft Jugoslawiens und der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik. Sobald ein Beschäftigter in der Albrechtstraße 26 (Botschaft Jugoslawien) oder in der Hannoverschen Straße 30 (Ständige Vertretung der Bundesrepublik/StäV) eine Telefonnummer in West-Berlin wählte, schaltete sich in der Tucholskystraße automatisch ein Tonband ein. 28 Auch in der Dottistraße 12–16 saßen die Lauscher der Abteilung 26 und zapften in der internationalen Fernsprechvermittlungsstelle in Berlin-Lichtenberg die Leitungen an. 29 MfSMitarbeiter saßen dort im Abhörstützpunkt »Frankfurt« und zeichneten Gespräche nach West-Berlin auf.
Die Ortszentrale OZ 100 D Im Mai 1985 hatte die DDR-Regierung beschlossen, in Kooperation mit der Sowjetunion ein »komplettes digitales Vermittlungssystem« zu entwickeln, das Mitte der 1990er Jahre startbereit und schließlich ab 1995 als »Einheitliches System der Vermittlungstechnik« in mehreren Ostblockländern eingesetzt werden sollte. 30 Für die Einrichtung von Vermittlungsstellen in digitaler Technik begann die Abteilung 26 in den 1980er Jahren, die Abhörmöglichkeiten »kleinerer und mittlerer digitaler Vermittlungszentralen« im internen und gemieteten Netz der Deutschen Post zu testen, beispielsweise die digitale »Ortszentrale OZ 100 D«, die in großstädtischen Neubaugebieten von der Deutschen Post erprobt wurde und für 32 bis 312 Anschlüsse nutzbar war. Sie konnte jedoch wegen vieler ungelöster Probleme und »veralteter Technik«, zu geringer »Pro-
28 Objektakte zur OVSt 28: BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 478. 29 Stützpunktakte IMK/KW »Frankfurt«: BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 497. 30 MfS, Abt. 26, Leiter Generalmajor Olaf Leben, Schlussfolgerungen aus dem Beschluss des Ministerrates der DDR vom 22.10.1987 über die »Maßnahmen zum beschleunigten Auf- und Ausbau des automatisierten Daten- und Fernschreibnetzes der DDR«. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 620, Bl. 1–7.
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duktionskapazität« und »völlig unzureichender Entwicklungskapazitäten« 31 nur eingeschränkt eingesetzt werden. Um alle technischen Probleme bis 1995 zu lösen, wurde eine »nichtstrukturelle Arbeitsgruppe OZ 100 D« gebildet, in der Experten des Operativ-technischen Sektors (OTS), der Abteilung 26 und der Abteilung zur Sicherstellung des Nachrichtenwesens (Abteilung N) des MfS zusammenarbeiteten. Die mit der Entwicklung betrauten Fachleute sollten Vorschläge erarbeiten, wie die »spezifische operative Technik« des MfS den neuen digitalen Systemen angepasst werden könnte. Zusammen mit der Deutschen Post arbeiteten MfS-Mitarbeiter der Abteilung 26 an der Weiterentwicklung der »Ortszentrale OZ 100 D«, deren Schaltungen nach und nach immer weniger »Fehlverbindungen« verursachten und von Nebengeräuschen frei waren. Die Anpassung der MfS-Abhörtechnik an das digitale System misslang allerdings. Die Testergebnisse bestätigten zwar die Funktionstüchtigkeit als technologisches Einzelsystem, von einem »ISDN-fähigen Vermittlungssystem«, wie es der Leiter der Abhörabteilung, Generalmajor Olaf Leben, gefordert hatte, konnte jedoch keine Rede sein. Zwar heißt es in einem Protokoll, dass die »Arbeitsgruppe OZ 100 D« Anfang 1989 die ersten »technischen Aufgabenstellungen« für Abhörschnittstellen an die Kooperationspartner in der DDR-Industrie weitergab und dass nach dem 31. Dezember 1989 ein serienmäßiger »Tausch der Software« in den Anlagen vorgesehen war, zu einer Umsetzung kam es jedoch nicht mehr. 32
CEKO – Das »centrale Kontrollsystem« 1986 33 gelang allerdings die Ablösung der verschiedenen, bis dahin zur Telefon- und Raumüberwachung eingesetzten Geräte durch ein einheitliches Abhörsystem. Dieses Verfahren kam DDR-weit zur Anwendung. Unter den CEKO-Anlagen verstand der Staatssicherheitsdienst ein »centrales Kontrollsystem« zwischen der Abteilung 26 und den Abhörabteilungen in den MfSBezirksverwaltungen für alle »modernen operativen Endstellen- und Übertragungstechniken zur Erfüllung der linienspezifischen Aufgaben«. 34 Die CEKO31 VEB Kombinat Nachrichtenelektronik Leipzig, Information zum Stand der Realisierung der Aufgaben auf dem Gebiet der Entwicklung und Produktion von digitalen Vermittlungseinrichtungen im Jahre 1987. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 93, Bl. 1–16. 32 MfS, Abt. N, Leiter Generalmajor Karl Zukunft, Mitteilung über eine »Kontrollberatung OZ 100 D«, 7.6.1989. BStU, MfS, SdM 2054, Bl. 108. 33 Zur Entwicklung des CEKO-Systems im MfS vgl. Detlev Vreisleben: Die TelefonAbhörtechnik des MfS. 34 MfS, Abt. 26, Leiter Generalmajor Olaf Leben, Ordnung 26/1/88 für den Betrieb von CEKO-Anlagen, 21.1.1988. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 616, Bl. 1–5.
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Technik erlaubte es, 4 000 Telefonanschlüsse DDR-weit gleichzeitig abzuhören. 35 Die Zahl der anfallenden Abhörkassetten erreichte Mitte der 1980er Jahre eine solche Dimension, dass deren Auswertung kaum mehr zu bewältigen war. Die CEKO-Anlagen waren nun so konzipiert, dass für jeweils fünf Teilnehmer fünf Kassettenrekorder (plus einer als Reserve) bereitstanden, mit denen zeitgleich abgehört und Gespräche aufgezeichnet werden konnten. Nach 30 Minuten Aufnahmedauer wurden die Kassetten per Hand ausgetauscht, beschriftet und in einem Kassettenmagazin archiviert. Auf den Kassetten wurden die Gespräche (Spur 1) sowie das Datum, die Uhrzeit und die gewählte Rufnummer (Spur 2) getrennt gespeichert. Beim Einsatz von CEKO-Technik im Serienparallelbetrieb standen für fünf Teilnehmer 15 Kassettengeräte bereit, womit jeweils bis zu 90 Minuten Gesprächszeit aufgezeichnet werden konnten. 36 An die Stelle der manuellen Steuerung durch die MfS-Mitarbeiter war damit ein vollautomatisches Pult mit mehreren Speichervorgängen getreten. Die Kassettengeräte konnten pro Teilnehmer bis zu 90 Minuten automatisch am Stück aufzeichnen, mussten dann lediglich per Hand ausgetauscht werden. Das Ziel eines automatischen unbeaufsichtigten Ablaufes mit nachträglicher Auswertung war damit erreicht. Die Aufbereitung des gespeicherten Materials ergab eine Fülle weiterer Details: Gesprächsbeginn und Gesprächsende wurden mit Datum und Uhrzeit registriert – auch wenn kein Gespräch zustande kam, speicherten die Geräte die Rufnummer; wurde eine telefonische Verbindung hergestellt, erfolgte eine Speicherung des Namens und der vollständigen Anschrift des Teilnehmers. Sämtliche Teilnehmer wurden nach der Rufnummer geordnet in einer Arbeitskartei der Abteilung 26 abgelegt. Um die Kassetten wiederverwenden zu können, wurden die Inhalte nach der Auswertung und kurzer Aufbewahrungsfrist gelöscht. Ende 1988 gab es in jeder MfS-Bezirksverwaltung ein zentrales Kontrollsystem. Das »CEKO Berlin Johannisthal« 37 am Groß-Berliner Damm 101 war zugleich Hauptsitz der Abteilung 26, Kommandozentrum und innerer Netzknoten, über den alle brisanten Abhörmaßnahmen Ost-Berlins direkt geschaltet werden konnten. 38 Im Stützpunkt »Berlin Johannisthal« in Berlin-Treptow war die Telefonüberwachung aller Teilnehmer des öffentlichen Netzes in OstBerlin möglich. Ende 1989 arbeiteten hier etwa 200 hauptamtliche MfS35 Generalmajor Günter Schmidt (OTS, Leiter): Strategie 2000. Zentralisierungstechnik für Aund B-Aufgaben vom 30.8.1988. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 1474, Bl. 140–147. 36 Vgl. Vreisleben: Die Telefon-Abhörtechnik des MfS. 37 MfS, Abt. 26, Stellv. Leiter OSL Peter Müller, Konzeption zum Endausbau der CEKOStützpunkte in Berlin, 12.6.1981. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 38, Bl. 5–14. 38 MfS, Abt. 26, Leiter Oberst Olaf Leben, Ordnung 26/4/88 für das Dienstobjekt BerlinJohannisthal (Objektordnung), 14.3.1988. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 532, Bl. 1–11.
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Mitarbeiter. Bei der Auflösung des Hauptsitzes fand das Berliner Bürgerkomitee 50 000 Kassetten mit aufgezeichneten Telefongesprächen vor. 39 Letzter Chef in »Berlin Johannisthal« war Oberst Günter Backendorf, der stellvertretende Leiter der Abteilung 26. 40 In der Revolutionszeit des Herbstes 1989 wurde er durch den Diplomingenieur Lutz Bartczak, zuvor Abteilungsleiter der Bezirksdirektion der Deutschen Post Berlin, ersetzt. Dass Bartczak von 1962 bis 1981 mit dem MfS inoffiziell unter dem Decknamen »Larsky« und danach offiziell in seiner staatlichen Funktion zusammengearbeitet hatte, konnte zu der Zeit niemand wissen. 41 Nach 1990 wurde der Stützpunkt »Berlin Johannisthal« sukzessive abgerissen. Der Aufbau und die Entwicklung der CEKO-Anlagen wären allerdings ohne Unterstützung durch die DDR-Wirtschaft nicht möglich gewesen. Mit Zulieferbetrieben berieten MfS-Offiziere der Abteilung 26 regelmäßig über die Verbesserung des benötigten Materials. Sie trafen monatlich mit Fachleuten des OTS zusammen, um sich über »Reparaturanalysen« zu verständigen sowie den Entwicklungsstand und die unzähligen »Probleme der Erhaltung des im Einsatz befindlichen Systems CEKO« zu erörtern. Unterstützung fand die Abteilung 26 dabei beim VEB Rundfunk- und Fernsehtechnik/Funk- und Fernmeldeanlagenbau Berlin, der neben der Montage von Vermittlungs- und Übertragungstechnik im MfS-eigenen Leitungsnetz etwa die Stromlieferung und die Errichtung einer Funk-, Sende- und Empfangsanlage übernahm. 42 Das Volkseigene Kombinat Robotron Dresden lieferte diverse Geräte und Ersatzteile. Außenstellen von Robotron, etwa Robotron-Elektronik Zella-Mehlis, übernahmen außerdem den Kundendienst für komplette Geräteserien und verhandelten jeweils über Kosten und Termine mit den MfS-Beschaffern. 43 Das Institut für Regelungstechnik des VEB Elektro-Apparate-Werke in BerlinTreptow versorgte die Abteilung 26 des MfS mit Strommessgeräten und Leiterplatten für die hausinterne »Entwicklung, Musterbau und Projektierung« 44. Im Jahre 1988 war die Ausrüstung der DDR-Bezirksstädte mit CEKOAnlagen abgeschlossen. Die Ausrüstung der regionalen MfS-Kreisdienststellen 39 Interview mit Hans-Joachim König im Jahre 2004. 40 Kaderakte zu Günter Backendorf: BStU, MfS, KS 24071/91. 41 IM-Akte zu Lutz Bartczak: BStU, MfS, AIM 4054/67. 42 RFT, Projektleiter M. Neumann, Vereinbarung zwischen dem als Auftraggeber von RFT operierenden VEB Spezialhochbau Berlin und dem MfS, 7.11.1986. BStU, MfS, Abt. N 373, Bl. 1– 27. 43 VEB Robotron, Direktor für Absatz und Außenwirtschaft (Triebel) und MfS (Goth), Kundendienstvereinbarung zwischen VEB Robotron-Elektronik Zella-Mehlis und dem MfS, 19.1.1978. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 93, Bl. 30–34. 44 MfS (Hengst) und Institut für Regelungstechnik, HA-Leiter Planökonomie (Krause), Vertrag über wissenschaftlich-technische Leistungen zwischen dem Institut für Regelungstechnik im Kombinat VEB Elektro-Apparate-Werke Berlin und dem MfS, 27.5.1975. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 326, Bl. 2–3.
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gelang bis zum Ende des SED-Regimes nicht. Der Wettbewerb mit dem Westen blieb trotz des vom MfS selbst festgestellten technologischen Zurückbleibens hinter der digitalen Revolution ein hehres Planziel, das sich in immer neuen »großen« Plänen und in dem umfangreichen Konzept zur »Strategie operative Technik bis zum Jahr 2000«, auch »Strategie 2000« genannt, niederschlug. 45 Die »Strategie 2000« hing jedoch außerhalb jeglicher DDR-Realität gleichsam im luftleeren Raum. Während die Bundesrepublik Ende der 1980er Jahre eine weitgehend flächendeckende private Telefonausstattung erreicht hatte, türmten sich bei der Deutschen Post der DDR 1,3 Millionen Anträge auf einen privaten Telefonanschluss mit Wartezeiten von zehn und mehr Jahren. Trotz erheblicher Sondermittel war der Staatssicherheitsdienst auf den elektronischen Technologiesprung, der im westlichen Ausland in vollem Gang war, nicht vorbereitet. »Horch und Guck« klagte angesichts dieser Entwicklung in internen Expertisen geradezu wortreich über eine drohende Schwerhörigkeit, als die DDR ihren Geist aufgab.
45 MfS, Abt. 26/3, Strategie operative Technik bis zum Jahr 2000, 25.4.1988. BStU, MfS, Abt. 26, Nr. 93, Bl. 37–46.
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Nachts ging das Telefon. Erfahrungen, Einsichten und Erinnerungen eines Abgehörten
Annäherungen
Mein erstes Eintauchen in die Aktenflut der Staatssicherheit liegt über 20 Jahre zurück. Im Januar 1992 saß ich als einer der ersten DDR-Bürger vor knapp 30 Bänden zu meiner Person und politischen Gruppierungen, an denen ich beteiligt war. Im ersten, schmalen Teil konnte ich meinen frühen Irrweg verfolgen, der mich beinahe in das Netz der Spinne geraten ließ. Die zwei Genossen des MfS, die im Frühjahr 1971 überraschend in meiner Studentenbude in der Schwedter Straße auftauchten, waren gut vorbereitet und hatten sich eine Strategie zurechtgelegt. Sie ahnten, wie sie den Philosophiestudenten der Humboldt-Universität, den »intelligenten und klassenbewussten Parteigruppenorganisator«, über den sie bereits zahlreiches Material gesammelt hatten, zur Mitarbeit bewegen konnten. Drohen, Locken oder Erpressen hätten nicht gefruchtet, dafür war ich nicht der Typ. Den jungen, kritischen Genossen bei der Überzeugung packen, vom notwendigen, schwierigen Einsatz für die Sache der Veränderung, für die sie selbst stünden, fabulieren – das versprach Erfolg. Es ging nicht um den Einsatz als IM innerhalb der Universität – in meiner Fachrichtung marxistisch-leninistische Philosophie gab es davon schon mehr als genug. Jung, ledig, kritisch, entfernte Westverwandtschaft – all das waren gute Voraussetzungen für eine andere Perspektive, die spätere legendierte Flucht in die Bundesrepublik und den perspektivischen Einsatz als HV A-Agent. Von diesen Plänen erfuhr ich erst 20 Jahre später aus den Akten und konnte noch einmal nachvollziehen, was das »Vertrauensverhältnis« des MfS zu seinen ehrenamtlichen Mitstreitern wert war. Meine eigene Entscheidung, in die Zusammenarbeit einzuwilligen, ohne Verrat an meinen Kommilitonen und späteren Freunden zu üben, war so naiv wie vermessen. Dass ich mich halbwegs heil aus der Fallgrube herausziehen konnte, verdankte ich einer Portion Glück und dem Freundeskreis, der mich später umgab, der mir die endgültige Lösung vom MfS möglich und zwingend machte. Voraussetzungen, Umstände und Folgen meiner befreienden Entscheidung fand ich in den Bänden des OV »Kreis« dokumentiert, der die Jahre 1974 bis 1977 umfasst. Mit der akkuraten Handschrift unseres Gruppen-
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mitglieds und späteren Spitzen-IM Arnold Schölzel protokolliert, waren dort die erhitzten Debatten eines konspirativen Zirkels verstiegener Trotzkisten festgehalten, denen zum endgültigen Sieg der Weltrevolution nur noch die proletarische Armee fehlte. Ich las noch einmal die Einzelheiten unserer Pläne für meine Lösung vom MfS, bei denen wir nicht ahnen konnten, dass die Genossen längst von meinem »Verrat« wussten. Aus Gründen des Quellenschutzes mussten sie jedoch unwissend tun und mich zähneknirschend ziehen lassen – nicht ohne mir für die künftige Feindakte den Titel »Verräter« mitzugeben. Ihre Sorge um den Schutz der anderen Identität von Schölzel ging soweit, dass sie mir nach dem Auffliegen der Gruppe und der ersten »Zuführung« im September 1977 meine erste Ehefrau als Denunziantin zu präsentieren suchten. Von elektronischer Überwachung und Abhörtechnik war in den Akten dieser Phase noch keine Spur zu finden; unsere damaligen Spekulationen darüber einschließlich unserer laienhaften Vorsichtsmaßnahmen machten die Konspiration für die Quelle Arnold Schölzel mit Decknamen »Andre Holzer« nur noch stärker. Was ich nicht mehr wollte, wusste ich ab Mitte der 1970er Jahre sehr genau, viel weniger jedoch, wohin die Reise gehen sollte. Die Erfahrungen eines ganzen Jahres in Polen wurden entscheidend dafür, orthodoxen Trotzkismus und intellektuellen Elitedünkel hinter mir zu lassen. Eine DDR-Karriere schied aus und ich machte mich auf eine lange Reise durch die Alternativquartiere des Prenzlauer Berges. Das »wissenschaftliche Leben« am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR, an das es mich mit Bewährungsauflagen verschlagen hatte, erschien so sinnlos wie nur irgendetwas. Ideologen und Pseudoakademiker übten sich dort in marxistischen Scholastereien, die jeden klardenkenden Normalsterblichen abwinken ließen und in ihren unangenehmeren Varianten nur noch anwiderten. Das MfS stellte in der Operativen Personenkontrolle (OPK »Tempel«), die es mittlerweile gab, fest, dass Templin seine Tätigkeit am Akademieinstitut nur noch zur »Informationsgewinnung und Tarnung« nutzt. Mit dieser Einschätzung hatte es völlig recht. Neben weithin unbekannten Zuarbeitern waren im Institut die führenden Genossen GMS »Rehbein« und IMS »Direktor« auf mich angesetzt. Teile meiner Such- und Wanderwege in diesen Jahren sind denn auch in den Bänden der OPK dokumentiert, ohne dass man hier schon von einer umfassenden, intensiven Überwachung sprechen konnte. Das sollte sich mit der Umwandlung der OPK »Tempel« und des OV »Tempel« zum OV »Verräter« im Jahre 1985 einschneidend ändern. Der »fanatische Feind der DDR und Inspirator der Untergrundtätigkeit«, als der ich mittlerweile eingestuft war, stieg spätestens mit dem Parteiaustritt im Jahre 1983 in den Kreis der sozialen Parias auf, denen die realsozialistischen Segnungen des Rechts auf Arbeit und Bildung dauerhaft entzogen waren. Im Vorfeld der Gründung der »Initiative Frieden und Menschenrechte«, in den folgenden beiden Jahren unserer Arbeit in Ost-Berlin und den knapp zwei Jah-
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ren des anschließenden Exils in der Bundesrepublik zeugten die Analysen, Maßnahme- und Zersetzungspläne, die Flut der IM-Berichte und die dokumentierten Observations- und Überwachungsmaßnahmen von einer intensiven »Arbeit am Feind«. Zwischen dem Kauderwelsch der ideologischen Formeln und operativ-technischen Fachtermini, den unbeholfenen Berichtsfloskeln der Rapporteure und dem servilen Denunziantenstil der diversen IM-Berichte, stieß ich bereits beim ersten Durchblättern der Bände des OV »Verräter« auf Dokumente, die mich stutzen ließen und faszinierten. Aus ihnen sprachen ich selbst und Menschen, die ich gut kannte – nicht in Briefen, die wir aus Vorsichtsgründen kaum schrieben, nicht im Tagebuch, das keiner von uns führen konnte, nicht in den Texten unserer Erklärungen und Artikel, sondern im intensiven Austausch untereinander. Wortprotokolle von einzelnen der unzähligen nächtlichen Telefonate, die ich mit Roland Jahn zwischen 1986 und 1988 führte, gehörten zu den ersten Funden dieser Art, denen später zahlreiche weitere folgten. Wozu die Protokolle dienen sollten – über die Dokumentation des Inhaltes hinaus –, wer genau sie in Auftrag gegeben hatte und wer im Einzelnen den Auftrag erledigte, wurde mir damals noch gar nicht so deutlich. Ebenso wenig, was die zahlreichen Signaturen und Kürzel auf den Protokollen bedeuteten; was ich mit Namen wie Kuschel, Männchen, Kienberg, Paroch und zahlreichen anderen Personen anfangen sollte. Mir war noch nicht klar, welche Führungsebenen des MfS und der SED sich damit letztlich befassten, was gerichtsfeste Wortprotokolle, die offiziell beim Staatsanwalt beantragt und genau geprüft wurden, von den Dutzenden »nichtlegalisierter« Gesprächsmitschriften unterschied, bei denen ständig gefordert wurde, auf die Quellengefährdung zu achten. Überrascht hatte mich nicht so sehr die Existenz solcher Dokumente, sondern die Entdeckung, wie viel sie von der damaligen Atmosphäre, unserer eigenen Ungeduld und Unrast, unseren Schritten und Sprüngen einfingen. Als meine Frau Lotte und ich im Herbst 1985 überraschend schnell zu einem Telefonanschluss kamen, war mir klar, dass wir abgehört wurden und dies nur ein Moment innerhalb der zahllosen Eingriffe in unser Leben sein würde. In der leer geräumten Wohnung unter uns im Erdgeschoß wurde 1986 angeblich das Lager einer Druckerei eingerichtet, Leute im Blaumann rollten von Zeit zu Zeit geschäftig Papierballen herein und heraus. Ideale Bedingungen für das Ausdehnen der »Maßnahme B«, also der akustischen Raumüberwachung, auf alle Zimmer unserer Wohnung. An die Wagen vor unserer Haustür hatten wir uns irgendwann gewöhnt, ebenso an die Beschattung durch Fußpatrouillen, die selten unauffällig waren, sondern meist als Drohpräsenz erfolgten. Erkennungsdienstliche Behandlung bei »Zuführungen«, Handschriftenproben, Stimmproben, Geruchsproben, ungebetene Fotografen – was fehlte hier eigentlich noch? Wahrscheinlich waren auf dem stillgelegten Fabrikgelände gegenüber unserem Haus Observationskameras installiert.
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Was sich über das Abhören hinaus mit einem Telefon noch alles anstellen ließ, konnten wir im Lauf der Zeit bis zum Überdruss erfahren. Sobald anderweitige strategische Interessen des MfS über das Abhörbedürfnis siegten – unsere Kommunikation nach draußen für eine bestimmte Zeit unterbunden werden sollte –, war der Apparat urplötzlich tot. Funktionierte er dann wieder, mussten es nicht die Anrufer sein, welche wir erwarteten. Stöhnen und Keuchen am anderen Ende der Leitung, unflätige Beschimpfungen, eindeutige Offerten von unbekannten Damen und Herren, die Palette des »telefonischen Psychoterrors« wurde bei uns im Osten, aber auch bei Jürgen Fuchs oder Roland Jahn in WestBerlin, aufgeboten. Kurz nach Gründung der IFM, im Winter und Frühjahr 1986, war unser Telefonanschluss in eine systematische Zersetzungsmaßnahme eingebaut worden. Mehr als ein Vierteljahr lang war vor meiner Wohnungstür und am Telefon die Hölle los. Woody Allens bekanntes Diktum: »Nur weil ich unter Verfolgungswahn leide, heißt das ja noch lange nicht, dass keiner hinter mir her ist«, konnte man umdrehen. Hinter uns waren sie her, ob wir nun Verfolgungswahn entwickelten oder nicht. All das konnte mir und anderen die Lust am Telefonieren nicht nehmen und gab den Abhörspezialisten der Abteilung 26 und der HA III Arbeit in Hülle und Fülle. Wie so vieles andere in der DDR existierte auch das »Telefonprivileg« eines Oppositionellen nur auf Abruf. Wer als Dissident » falsch telefonierte«, wie zum Beispiel unsere Mitstreiter Reinhard Weißhuhn oder Ludwig Mehlhorn, wer sich dem Gesprächsmarathon mit Roland Jahn und anderen Staatsfeinden im »Operationsgebiet« entzog und am Telefon vorwiegend belanglose Gespräche führte, konnte mit Entzug des Telefonanschlusses bestraft werden. Wurde der Staatsfeind, dem DDR-Pass und Wohnung erhalten blieben, vorübergehend außer Landes gezwungen, löste sich sein Telefonanschluss ebenso plötzlich in Luft auf. Interventionen bei der Deutschen Post blieben fruchtlos. Die wahren Herren des Telefonnetzes ließen sich nicht in die Karten blicken. Wie einige andere Leute in unserer Gruppe und ihrem Umfeld telefonierte ich »richtig«, das heißt, ich nutzte das Telefon zum ungehemmten inhaltlichen Austausch mit all denen, die uns jenseits der Grenze politisch und persönlich nahestanden, die entweder überhaupt nicht mehr einreisen konnten oder mit zeitweiligen Einreisesperren konfrontiert waren. Immer wichtiger wurde der telefonische Kontakt zu Journalisten, Korrespondenten und einzelnen Politikern, es wuchs der Mut zu Telefoninterviews für Rundfunk- und Fernsehstationen im westlichen Ausland. Mit diesen Interviews hatten die verantwortlichen Strategen des MfS ihre besonderen Probleme, da die Rechtslage in der DDR unklar war. Da vonseiten bundesdeutscher Medien die gleiche Unsicherheit herrschte, ergaben sich hier spannende Wanderungen in der Grauzone. Von erstrangiger Bedeutung war das Telefon, wenn es um die Möglichkeit des direkten Kontaktes zu unseren osteuropäischen Freunden und Partnern
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ging. Die Vertreter der »Charta 77«, Aktivisten von »Freiheit und Frieden« in Polen, Mitglieder von Moskauer Dissidentengruppen konnten ihre Länder in der Regel nicht verlassen. Ihnen wurden die Pässe abgenommen oder verweigert, so wie man für uns alle Reisemöglichkeiten in den Osten blockierte. Der rote Teppich wurde – mit der Ausnahme von Oppositionellen, die im Auftrag der Kirchen reisen durften – einzig in Richtung Emigration ausgerollt, eine aufgezwungene Einbahnstraße, für die das Wort »Ausreise« noch weniger zutraf, als für alle diejenigen, welche die DDR freiwillig verließen. Wir wussten um die »Lauscher« auf der anderen Seite und ließen Absprachen und Bestellungen für Materialsendungen, Terminvereinbarungen und andere Details über sichere Kurierwege laufen. Akkreditierte Korrespondenten, Diplomaten und die wenigen westlichen Politiker, die auf unserer Seite waren und die Mühe nicht scheuten, leisteten hier eine unschätzbare Hilfe. Alles was über die zu sichernden organisatorischen Wege und technischen Absprachen hinausging – politische Debatten und Auseinandersetzungen, Privates, Witze und sarkastische Bemerkungen, die zum Teil direkt für die Ohren der Lauscher bestimmt waren – passierte die Leitungen. Bereits die wenigen Ausschnitte, die ich beim ersten Aktendurchgang vor mir hatte, zeigten deutlich, dass in den Protokollen ein intensives Bild der fieberhaften Entwicklung steckte, die wir in einer ungewöhnlichen Zeit kurz vor dem Ende der DDR nahmen.
Die Lauscher – »Arbeit am Feind« und »vorgangsbezogene Aufgaben« Auf den Fotos, die die Abhörspezialisten des MfS bei der Arbeit zeigen, sieht man zumeist Uniformierte mit riesigen Kopfhörern vor Tonbandgeräten und Schaltschränken sitzen. Sie nehmen Gespräche auf, protokollieren oder fertigen Informationsberichte an. Fast immer sind es Männer, die auf den Bildern zu sehen sind, obwohl der Anteil von Frauen in der Abteilung 26 nicht unerheblich war. In den Abhör- und Auswertungsabteilungen, die sich um das Ausforschen von Botschaften und diplomatischen Vertretungen kümmerten und dafür Fremdsprachenspezialisten brauchten, waren sie überproportional vertreten. In höhere Ränge rückten sie dagegen kaum auf. Gertraud Prill, die ab 1970 das Referat bzw. die Unterabteilung 7 der Abteilung 26 leitete und es gegen Ende ihrer Laufbahn bis zum Oberstleutnant brachte, bildete hier die Ausnahme. Die Bilder in ihrer Kaderakte zeigen die jugendliche Sekretärin, eine mütterlich-strenge Vorgesetzte, die 1978 vorzeitig aus dem strapaziösen Dienst ausschied und mit nur 63 Jahren im Januar 1983 verstarb. Ihr sozialer Hintergrund in einer sozialdemokratisch geprägten Arbeiterfamilie, die Ausbildung als Stenotypistin und Sekretärin, gute Englisch- und Franzö-
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sischkenntnisse waren wichtige Kadervoraussetzungen, um sie nach der erfolgreichen Werbung im Oktober 1955 als operative Mitarbeiterin in der damaligen Abhörabteilung »O« der Bezirksverwaltung Magdeburg einzusetzen. Da sie keine Familie hatte und volle Bereitschaft zeigte, sich dem militärischen Regime unterzuordnen, war sie rund um die Uhr einsetzbar. Für die Realisierung der Aufgabe B, das Abhören von Zimmern und Wohnungen, wurde sie oft nach außerhalb kommandiert und regelmäßig während der Leipziger Messe eingesetzt. Hotels und private Messequartiere dürften dort eine wahre Fundgrube für professionelle Lauscher gewesen sein. Auszeichnungen für gute Pflichterfüllung und Beförderungen folgte im Jahre 1960 die Versetzung in die Abteilung 26 der Ostberliner Zentrale. Dort wohnte sie zunächst in einem Ledigenwohnheim des MfS in Johannisthal, um später eine der begehrten Neubauwohnungen unweit des Friedrichshains zu beziehen. Nachbarn sollten sie Jahrzehnte später als unauffällig und bescheiden schildern und vermuteten eine höhere Angestellte des Innenministeriums in ihr. Sie wurde Referatsleiterin der Abteilung 26/7, die ihre Lauschangriffe unter anderem auf Oppositionelle richtete. In den 1970er Jahren zeugt die Flut der Telefonabhörprotokolle, die sich unter anderem im Aktenbestand Wolf Biermanns und Robert Havemanns findet, von der Arbeitsleistung der Abteilung. Prills Arbeitseifer und Erfahrung hatten sie nach oben rücken lassen. Anleitung der Mitarbeiter, Kontrolle der Arbeitsergebnisse und Koordinierung des gesamten Berichtswesens – zunehmend trat die unmittelbare operative Arbeit zurück hinter die Pflichten der Vorgesetzten und führenden Tschekistin. Zahlreiche Abhörspezialisten, welche die Oppositionellen der 1980er Jahre bearbeiteten, dürften zuvor durch die disziplinierten Hände der Genossin Prill gegangen sein. Der stetige Kontakt zu den Gedanken und Äußerungen von Staats- und Systemfeinden schien ihrem Panzer aus Pflichterfüllung und Klassenbewusstsein nichts anhaben zu können. Von den vier Abteilungsleitern, die ab 1951 das Profil der späteren Abteilung 26 prägten – Oberstleutnant Adolf Viehmann, Generalmajor Günter Schmidt, Oberst Gerhard Böhme und Generalmajor Olaf Leben – war erst die Laufbahn des Letzteren ausschließlich durch die DDR geprägt, während die Biografien all seiner Vorgänger in die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit zurückreichten. Sie kamen aus überwiegend kommunistischen Familien und unterlagen als Angehörige der Flakhelfergeneration dem Mythos des antifaschistischen Neubeginns unter Führung der SED. Neben der festen ideologischen Prägung waren nicht nur bei den Mitarbeitern sondern auch in den Leitungsetagen der Abteilung 26 Spezialkenntnisse gefragt, so etwa eine Ausbildung als Telefon- bzw. Nachrichtentechniker. Zahlreiche Unteroffiziere und Offiziere der Abhörabteilung kamen aus diesen Berufsgruppen, wurden zum Beispiel als Angestellte der Deutschen Post geworben und erhielten eine zusätzliche tschekistische Schu-
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lung. Es gab aber auch die umgekehrte Laufbahn, bei der MfS-Offiziere später noch eine technische Ausbildung anschlossen. Spezialisten für die Entwicklung, den Einbau und den Einsatz operativer Technik mussten mit den Fachleuten der Auswertungsabteilungen, die für die Verarbeitung und Verdichtung der gewonnenen Informationen zuständig waren, Hand in Hand arbeiten. Im Jahre 1983, einer Hochphase von Aktivitäten der unabhängigen Friedensbewegung, scheiterte die SED-Strategie eines frontal-repressiven Konfrontationskurses. Wiederholte »Zuführungen« und Festsetzungen zahlreicher Aktivisten, die zeitversetzte Verhaftung bekannter Protagonisten der Szene, wie Katrin Eigenfeld, Martin Böttger, Ulrike Poppe und Bärbel Bohley, führten nicht zum gewünschten Ergebnis. Ihre Standhaftigkeit und die Intervention bekannter westlicher Persönlichkeiten und Parteienvertreter verhinderten die geplante Abschiebung und bewirkten die Entlassung in die DDR. Vor allem die GrünenPolitikerin Petra Kelly, die bereits engen Kontakt zu Bärbel Bohley, ihren Freundinnen und Freunden besaß, meldete sich auf unkonventionelle und wirksame Art bei Erich Honecker zu Wort. Das Arsenal der Kontroll- und Repressionsinstrumentarien des MfS musste neu sortiert werden. Auf die Abteilung 26 kamen verstärkt »vorgangsbezogene Aufgaben« bei der möglichst lückenlosen Aufklärung und Überwachung grenzüberschreitender Kontakte von profilierten Ostberliner Oppositionellen zu. In welche Richtung die MfS-Spitze dabei dachte, ging aus der zentralen Dienstanweisung Nr. 2/85 vom 20. Februar 1985 »zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit« hervor. Hier wurden der Abteilung 26 folgende Einsatzschwerpunkte zugeordnet: »Nutzung aller spezifischen operativen Möglichkeiten zur Erarbeitung von Hinweisen auf Aktivitäten im Sinne politischer Untergrundtätigkeit, insbesondere auf Versuche der Inspirierung und Organisierung politischer Untergrundtätigkeit durch feindliche Stellen und Kräfte bzw. durch Nutzung von Rückverbindungen ehemaliger DDR-Bürger, auf geplante Zusammentreffen und öffentlichkeitswirksame Aktionen, vor allem unter Mitwirkung bzw. Einbeziehung von bevorrechteten Personen und Korrespondenten nichtsozialistischer Staaten und anderer politisch-operativ interessierender Staaten, von Massenmedien, Presseorganen und Verlagen dieser Staaten bzw. Westberlins.«
Das neue Selbstbewusstsein von Oppositionellen, die öffentlichkeitswirksame Aktionen, den engen Kontakt zu Korrespondenten, Diplomaten und Politikern westlicher Länder als selbstverständlichen Teil der eigenen Aktivitäten ansahen, schreckte die Gegenseite auf. Vor allem gefürchtet war »die Herstellung, Aktivierung und Nutzung der Rückverbindungen von Personen, die die DDR nach nichtsozialistischen Staaten, insbesondere der BRD verlassen haben, zu Personen in der DDR, um sie im Sinne politischer Untergrundtätigkeit zu inspirieren. Besonders zu beachten sind dabei Personen, die vor ihrem Verlassen der DDR bereits mit Aktivitäten im Sinne politischer Untergrundtätigkeit in Erscheinung getreten sind.«
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Führungskräfte bzw. Exponenten politischer Untergrundtätigkeit galt es »nachhaltig zu neutralisieren« und ihren Einfluss »wirksam zurückzudrängen«. Hier sahen die SED- und MfS-Strategen zu Recht den Kern des Problems. Oppositionelle, die die DDR nicht freiwillig verlassen hatten, sondern wie Jürgen Fuchs oder Roland Jahn mit Erpressung und offener Gewalt aus dem Lande getrieben worden waren, betrachteten die Bundesrepublik als politisches Exilland, ähnlich wie andere mittelosteuropäische Exilanten unterstützten und befeuerten sie die nachwachsende Opposition innerhalb der DDR und stellten damit auf neue Weise eine Kontinuität her, welche ausstrahlen konnte. Ein Referat Erich Mielkes auf der erweiterten Sitzung des Kollegiums des MfS vom März 1988, kurz nach der Luxemburg-Liebknecht-Verhaftungswelle des Januars zeigte, wie bedrohlich die Verantwortlichen mittlerweile diese Gefahr einschätzten: »Der in die DDR mit verschiedensten Mitteln und Methoden, darunter auch mit subversiven Aktivitäten hineinwirkende Personenkreis wurde immer größer. Er vereint Mitglieder hinlänglich bekannter Feindorganisationen, darunter zunehmend ehemaliger DDRBürger, Spalterkräfte der westlichen Friedensbewegung, Vertreter aller Bundestagsparteien bis hin zu geheimdienstlich gesteuerten Mitarbeitern westlicher diplomatischer Vertretungen und akkreditierten Korrespondenten. Es erfolgt auch eine immer breitere Einbeziehung internationaler Organisationen und Kräfte. Ihr Wirksamwerden wurde und wird durch eine massive ideologische Einflussnahme der Massenmedien der BRD und Westberlins unterstützt. Dieses Vorgehen inspirierte und mobilisierte im Sinne politischer Untergrundtätigkeit wirkende Kräfte, besonders den sogenannten harten Kern feindlichnegativer Gruppierungen in der Hauptstadt der DDR, ihren auf Konfrontation mit dem Staat abzielenden Kurs weiter zu beschleunigen. Sie unternehmen sehr ernst zu nehmende Versuche, im großen Umfang Übersiedlungsersuchende für ein gemeinsames Vorgehen gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung zu gewinnen und in entsprechende provokativ-demonstrative Handlungen einzubeziehen.«
In welcher rechtlichen Grauzone sich die gesamte Abhörpraxis des MfS abspielte, selbst wenn man sich den Anschein zu geben suchte, die Prinzipien »sozialistischer Gesetzlichkeit« einzuhalten, wurde in der juristischen Auseinandersetzung deutlich, die sich nach 1989 darum entspann. Obwohl die DDRVerfassung das Post- und Fernmeldegeheimnis im Artikel 31 formell garantierte und eine Einschränkung nur auf gesetzlicher Grundlage möglich gewesen wäre, wurde jahrzehntelang ungehemmt abgehört. Erst 1979/80 gab es den Vorstoß, die Abhörmaßnahmen des MfS auf eine wenigstens normative Grundlage zu stellen. Gemäß einer gemeinsamen Anweisung des Generalstaatsanwaltes der DDR, des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei, des Ministers für Staatssicherheit und des Leiters der Zollverwaltung der DDR konnten bei »Gefahr im Verzuge« die Leiter der Bezirksdirektionen der Deutschen Post eine Anordnung zur Telefonüberwachung nicht vom DDR-
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Staatsanwalt, sondern von einem »Beauftragten« des Staatssicherheitsdienstes entgegennehmen. Neben dem MdI und dem MfS hatte auch die Zollverwaltung der DDR eigene Untersuchungsorgane. Für den Bereich der Deutschen Post wurde diese Vereinbarung durch die Weisung Nr. 1/1980 des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen konkretisiert. Die daraus abgeleitete vermeintliche Berechtigung zur Anordnung von Abhörmaßnahmen ohne Genehmigung eines Staatsanwaltes wurde exzessiv ausgenutzt. Ein Verfahren, welches die staatsanwaltliche Genehmigung und spätere richterliche Bestätigung einschloss, wurde nur dann gewählt, wenn die Inhalte von Abhörprotokollen »gerichtsfest« sein, also unmittelbaren Eingang in vorbereitete Strafverfahren finden sollten, wie bei den Verhaftungen im Januar 1988. Der damit verbundene Bruch der DDR-Verfassung war in den Jahren 1992 bis 1994 Gegenstand von Gerichtsverfahren in Leipzig, Magdeburg und Dresden und erreichte auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. In Magdeburg standen der Leiter der Bezirksverwaltung, sein Stellvertreter Operativ, der Leiter der für Postkontrolle zuständigen Abteilung M und der Abteilungsleiter 26 vor Gericht. Ihnen wurde in der Anklage das unrechtmäßige Überschreiten ihrer dienstlichen Befugnisse, also »Amtsanmaßung«, in den Jahren 1985 bis 1989 vorgeworfen. Aus Verjährungsgründen wurde im Prozess nur der Zeitraum dieser Jahre berücksichtigt. Vertreter des historischen Dokumentationszentrums des Bürgerkomitees Sachsen-Anhalt e.V. begleiteten den Prozess, der sonst nahezu ohne Beteiligung der Öffentlichkeit stattfand. Mit der Dokumentation der Verhandlungen, der Aussagen der Beschuldigten, den Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung entstand ein einzigartiges Dokument, welches Einblick in die strafrechtlichen Probleme der Verfahren aber auch das Arbeitsverständnis und die Mentalität mittlerer Führungskader des MfS gibt. Die durchweg höheren Offiziere sahen sich als Angehörige eines militärischen Organs, die Militärgesetzen unterstanden, Befehle und Weisungen entgegennahmen und erteilten: »Jeder Angehörige konnte sich darauf verlassen, dass jeder erteilte Befehl rechtmäßig war.« In der Arbeitsteilung zwischen den auftraggebenden Dienststellen, welche die Abhörmaßnahmen auf den Weg brachten, und den Abteilungen, welche die Abhöraufträge realisierten und das Material weiterleiteten, sahen sich die verantwortlichen Offiziere als funktionierende Rädchen im Getriebe. Den Zweck der jeweiligen Abhörmaßnahme kannten sie nur soweit, wie es für die Realisierung des Auftrages von Bedeutung war. Auch die letztendliche Verwendung des gewonnenen Materials entzog sich angeblich ihrem Horizont. Intensität und Umfang der Abhörarbeit und Postkontrolle wurden durch Weisungen von der Spitze des Ministeriums und Ministerbefehle gedeckt. Neben den schriftlichen Befehlen gab es mündliche Weisungen, die sich jeder Dokumentation entzogen und entsprechend des parteikommunistischen Prinzips »nach Ausführung zu vergessen« behandelt wurden.
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Auf Anweisung hätten die Offiziere auch ihre Familie und ihre Eltern abgehört. Befehl sei nun einmal Befehl. Ein anderer Angeklagter argumentierte damit, dass das MfS ein Regierungsorgan mit einer Rechtsabteilung war, welche die Rechtmäßigkeit der erteilten Befehle und Weisungen prüfte. Zwischen dem legalen Weg des Abhörens und dem konspirativen Abhören durch das MfS gäbe es zwar eine Diskrepanz, die aber durch den notwendig konspirativen Charakter des Sicherheitsdienstes gerechtfertigt sei. Fragen der Richter und des Staatsanwaltes nach der Einsichtsfähigkeit in ein kontinuierliches Unrechtshandeln liefen ins Leere. Die Angeklagten sahen sich mit klassisch kommunistischer Logik in der Situation internationalen Klassenkampfes und äußerer Bedrohung und wiesen jeden Vorwurf des Gesetzesbruchs zurück. Die DDR-Volkskammer habe den Ministerrat als kollektives Organ zur Erarbeitung von Gesetzen ermächtigt. Das Gesetz über die Bildung des MfS sei vom Ministerrat erarbeitet und von der Volkskammer beschlossen worden. Alles sei auf Grundlage der Beschlüsse der Partei geschehen, die Mitarbeiter handelten in Übereinstimmung mit ihrem Fahneneid. Im Übrigen sei die Führende Rolle der SED in der Verfassung verankert gewesen. Staatsangestellte in Erfüllung ihrer Pflicht – Offiziere, die ihrem Fahneneid verpflichtet sind –, Genossen, die den Auftrag der Partei erfüllen. Der Kreis schloss sich erneut. Einzig als Zeugen geladene Mitarbeiter der Deutschen Post, die als Betreuer von Fernmeldekabeln und -einrichtungen in die Abhörmaßnahmen einbezogen waren und Schweigeerklärungen unterschreiben mussten, äußerten, dass sie Schuldgefühle hatten, sich aber in einer ausweglosen Situation sahen. Eine Verweigerung der Mitarbeit hätte den Verlust des Arbeitsplatzes bedeutet, eine Verletzung der Verpflichtungserklärung gerichtliche Schritte nach sich gezogen. Ein vorgeladener Dienststellenleiter im Ortsschaltdienst, der auf Anweisungen Leitungen bereitstellte, erklärte, ihm sei nicht einmal bekannt gewesen, dass es Abhöranlagen des MfS bei der Deutschen Post gab. An diesem Punkt verschlug es dem Staatsanwalt die Sprache. In seinem Urteil legte das Gericht Vorsatz und fortgesetzte Täterschaft der Angeklagten zugrunde, schloss »Verbotsirrtum« und »Befehlsnotstand« aus. Da die Angeklagten sämtlich auch eine auf der Hochschule des MfS in PotsdamEiche erworbene juristische Qualifikation hatten, hätte ihnen der schreiende Widerspruch zwischen den international durch die DDR eingegangenen Konventionen, dem Wortlaut der DDR-Verfassung und ihrem illegalen Tun bewusst sein müssen. Im Januar 1993 verurteilte das Landgericht Magdeburg den ehemaligen Leiter der Bezirksverwaltung des MfS, Wilfried Müller, wegen illegaler Abhörpraktiken und Diebstahlsdelikten im Zusammenhang mit Postkontrollen zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten, seine mitangeklagten Mitarbeiter zu Bewährungsstrafen. Die Verteidigung der Angeklagten rief den Bundesge-
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richtshof an. Mit der Begründung des Vorliegens einer »Strafbarkeitslücke«, die »dem Gerechtigkeitsgefühl allerdings deutlich zuwiderlaufe«, hob der Bundesgerichtshof im Dezember 1993 die Entscheidung der Magdeburger Richter auf. Der Artikel 31 der Verfassung der DDR garantiere zwar das Post- und Fernmeldegeheimnis, Verletzungen seien aber nicht strafbewehrt gewesen. In Leipzig hatte sich die dortige Staatsanwaltschaft gegen die Ablehnung der Anklageerhebung durch das Landgericht gewehrt und vor dem Oberlandesgericht Dresden erreicht, dass es trotz des durch den BGH-Entscheid zu erwartenden Freispruches, noch im Juni 1994 zu einer Hauptverhandlung kam. Angeklagt waren der Leipziger MfS-Chef Manfred Hummitzsch und seine Stellvertreter. Noch dreister als seine Magdeburger Kollegen war die Einlassung eines der Stellvertreter Hummitzschs, nach der er angeblich den Abhörraum im Neubau der Leipziger »Runden Ecke« erstmals betreten habe, als die Auflösung des MfS zur Debatte stand. Dem Gericht blieb nichts anderes übrig, als die vier Angeklagten freizusprechen, obwohl die Ungesetzlichkeit der Telefonabhörung klar zu erkennen war. Auch in diesem Teil der DDR-Wirklichkeit seien die Menschenrechte mit Füßen getreten worden, wird in der Begründung des Freispruches ausgeführt. Trotz des mehr als unbefriedigenden juristischen Ausgangs der Auseinandersetzung mit der Abhörpraxis des MfS förderten die Untersuchungen und Verhandlungen aufschlussreiche Erkenntnisse über die Arbeitsweise der Abteilung 26, die Stationen der Auftragserteilung und -realisierung und die Zusammenarbeit der verschiedenen Diensteinheiten zutage. Am unteren Ende der Befehls- und Auftragskette funktionierten die als inoffizielle Mitarbeiter geworbenen oder mit Schweigeerklärungen zur Zusammenarbeit genötigten Mitarbeiter der Post und deren willfährige Vorgesetzte. Letztere konnten in der Funktion eines Gesellschaftlichen Mitarbeiters für Sicherheit (GMS) tätig sein. Daneben gab es Offiziere im besonderen Einsatz (OibE), die als Postangestellte legendiert waren. Oft wussten die Ausführenden nicht im Einzelnen, zu welchen Personen bzw. Anschlüssen die Leitungen führten, welche sie freischalteten. Am anderen Ende der Auftragskette waren es Diensteinheiten wie die Hauptabteilung XX, welche sich der »Bearbeitung« von Oppositionellen oder anderen Personen widmeten, die von strategisch-operativem Interesse waren. Wenn sie im Rahmen ihres Vorgehens Abhörmaßnahmen ins Auge fassten, mussten sie diese mit der Spitze des MfS abstimmen. Dort wurde auch über Umfang, Dauer, Verlängerung und den Einsatz weiterer technischer Maßnahmen entschieden. Sobald die Genehmigung vorlag, wanderten standardisierte Auftragsformulare, die nur durch bestimmte Hände gehen durften, zur Leitungsebene der Abteilung 26. In besonders dringenden Fällen konnte die Auftragserteilung von legitimierter Ebene auch telefonisch erfolgen. Telefonüberwachung per Telefon anzuordnen, machte
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schließlich Sinn. Die Tonbänder wurden nach Überspielen und kurzer Aufbewahrungsdauer zuallermeist sehr schnell gelöscht und später neu bespielt. Die in Schriftform vorliegende Beute der Lauscher gelangte zu den auftraggebenden Abteilungen, ging je nach Bedeutung des Materials in die strategischen Berichte der ZAIG ein und wanderte in Ausnahmefällen zu Mielke selbst. Über die standardisierten Angaben zu Zielperson und Zielobjekt hinaus war die auftraggebende Diensteinheit – meist in Gestalt der vorgangsführenden Offiziere und häufig im direkten Kontakt mit den Auswertungsspezialisten der Abteilung 26 – beim Feinjustieren des Auftrages tätig. In regelmäßigen Abständen trafen sich die beteiligten Seiten, glichen den wechselseitigen Informationsbedarf der Auftraggeber und der Lauscher ab, kommentierten und bewerteten die Ergebnisse. Höhere Vorgesetzte, die zu diesen Abstimmungsrunden nur selten persönlich dazukamen, ließen es sich nicht nehmen, vom Schreibtisch aus, die vorgelegten Arbeitsergebnisse ihrer Untergebenen zu kommentieren. Handschriftliche Anmerkungen und Kommentare, Forderungen nach präziserer Erfassung von Sachverhalten, Entschlüsselung der Identität von Personen, die in den abgehörten Gesprächen erwähnt wurden, finden sich in den Akten der Betroffenen und geben weitere Hinweise auf den Stellenwert des Abhörmaterials und den Umgang damit. Wenn sich in meinen Unterlagen Oberst Kuschel, in dessen HA XX/2 der Operative Vorgang über mich bis zur Verhaftung 1988 geführt wurde, und General Männchen, der als Leiter der HA III für die Abhöraktivitäten gegen die »Sperrobjekte« im »Operationsgebiet« zuständig war, in ihren Interessenlagen wieder einmal kreuzten und aneinandergerieten, kam regelmäßig Donner von oben. Generalmajor Paul Kienberg, Leiter der Hauptabteilung XX, beschwerte sich dann und forderte zur Durchsetzung der Maßnahmen im OV »Verräter« eine bessere Koordinierung. Für Kienberg musste ich eine unangenehme Erinnerung und besondere Provokation bedeuten, denn seine Unterschrift stand schon im Jahre 1972 auf der Bestätigung meiner IMVorlaufakte. Der damalige Oberst dürfte dem hoffnungsvollen Perspektivkader, der sich zum »fanatischen Feind des Sozialismus« entwickelte, nicht verziehen haben. Bei spezifischen Beschaffungsaufträgen kamen dann die Stellvertreter zum Einsatz. So zum Beispiel Oberst Benno Paroch, der in den 1970er Jahren unter Kienberg als Hauptmann gedient hatte und zum Schluss einer der stellvertretenden Chefs der Hauptabteilung XX war. Er forderte vom Leiter der Hauptabteilung III Stimmkonserven der im OV »Weinberg« der Hauptabteilung XX/5 »erfassten bzw. operativ angefallenen Personen« an. Die Stimmkonserven wurden von der Technischen Untersuchungsstelle des MfS zur Klassifizierung/Einspeicherung benötigt. Da es beim Personenkreis im OV »Weinberg« nahezu ausschließlich um Thüringer ging, dürften die auf Dialektologie speziali-
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sierten Stimmenentschlüssler des MfS bei dieser Lieferung auf ihre Kosten gekommen sein. Als sich auf dem Höhepunkt der politischen Auseinandersetzungen um die Jahreswende 1987/88 aufseiten der SED-Spitze die Verhaftungsoption durchsetzte, wurden die Arbeitsaufträge für das MfS und seine Spezialabteilungen präzisiert. Ab dem 19. Dezember 1987 wurde mit »Genehmigung« der Staatsanwaltschaft abgehört, wurden von den Telefongesprächen der zur Verhaftung vorgesehenen Personen akribische Wortprotokolle angefertigt. In einer zusammenfassenden Einschätzung der für das MfS strafrechtlich relevanten Inhalte der Gespräche wird deutlich, welche Rolle unserem wichtigsten Partner in West-Berlin Roland Jahn zugeschrieben wurde. Er sei »Agentenführer« und »Verbindungsmann« zu westlichen Geheimdiensten in einer Person. Roland Jahn informiert, gibt zu erkennen, fordert ein, weist an und erteilt Instruktionen. Die willfährigen Werkzeuge feindlicher Kräfte und feindlicher Agentenzentralen – in diesem Falle also wir – erfüllen die Informationsaufträge. Darüber hinaus gibt es noch eine Steuerungsebene, auf der Jahn darauf drängt, die Ausreisenden aus der DDR zu Regimegegnern umzufunktionieren und sie damit den oppositionellen Kräften zuzuschlagen. Um die Identität der Gesprächsteilnehmer und die Gefährlichkeit der besprochenen Inhalte für die Ebene der Strafverfolgung wissenschaftlich zu belegen, wurden Akademiker ans Werk gesetzt. Zu den stimmlich-sprachlichen Eigenheiten und den Inhalten der Gesprächsprotokolle wurden Gutachten in Auftrag gegeben. So forderte die Generalstaatsanwaltschaft zur Feststellung der Identität der gesprächsführenden Personen Jahn, Templin, Hirsch und Bohley von der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin ein »Sprecheridentifizierungsgutachten« an. Diese Sektion war sowohl eine Filiale des MfS als auch ein regulärer Teil der Ostberliner Universität. Vom Leiter des Lehrstuhls Kriminaltechnik, Professor Koristka, wurde der Auftrag prompt entgegengenommen und wenig später eine Reihe phonetischer Gutachten erstellt. Bei der späteren Akteneinsicht konnten die Betroffenen auf Dutzenden von Seiten nachlesen, welche Besonderheiten ihre jeweiligen Stimmlagen und mundartlichen Verschleifungen aufwiesen. Unterhalb dieser strategischen Ebene aber auf deren Bedürfnisse bezogen, stellten die Lauscher und Auswerter ihr Material bereit. Da die übergroße Mehrzahl der Abhördokumente nicht als Wortprotokolle, sondern als ausführliche oder knappe Zusammenfassungen von Gesprächen vorliegen, geben sie zahlreiche Aufschlüsse über die Abhörenden selbst. Wer im Dreischichtrhythmus an den Geräten saß, unter hohem Zeitdruck auswerten musste und über lange Zeit die gleichen Personen im Hörer hatte, entwickelte ein Gefühl für sein Gegenüber und brachte sich selbst mit ein. Intelligenz, Bildungsgrad und die jeweiligen
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Blickwinkel des Abhörenden werden beim genaueren Blick auf die Zusammenfassungen und Kommentare immer wieder deutlich. Diszipliniert wurden Witze über die Stasisten, Bemerkungen über merkwürdige Geräusche in der Leitung oder »Grüße« an die Adresse der »Genossen in der Leitung« mit notiert. Wichtiger war es jedoch einzufangen, was sich atmosphärisch zwischen den Telefonierenden abspielte. Bei vielen Gelegenheiten schlugen die Emotionen der Telefonierenden höher, denn sie kannten sich lange genug und reagierten teilweise aufeinander wie alte Ehepaare. Dies galt es so intensiv wie möglich einzufangen, um es für die nächsten Instruktionen an die IM und die Verfeinerung der Zersetzungspläne einzusetzen. Welche Blößen gaben sich die Gesprächspartner voreinander, wie reagierten sie auf die jeweils aktuellen Konflikte und Spannungssituationen; konnte man die »Agentenführer« West nicht doch endlich gegen die »Befehlsempfänger« Ost ausspielen? Gute Beispiele liefern hier die am Telefon geführten Auseinandersetzungen um ein Treffen von CDU-Politikern mit Vertretern der IFM in Ost-Berlin im Oktober 1987, die immer wieder auftauchenden Konflikte um die Verteilung der knappen Ressourcen (Materialsendungen), bei der Lancierung von westlichen Pressemeldungen über die Aktivitäten der Gruppen, über das Verhältnis der Oppositionellen zu dem stetig wachsenden Kreis von Personen, welche die DDR für immer verlassen wollten. Diese Personen Ausreiser zu nennen, war der blanke Hohn, weil es eine normale Ausreise aus der DDR nicht gab. Ärger übereinander, Wut und Missverständnisse, Eifersüchteleien und unterdrückte Rivalitäten wurden sorgsam festgehalten. Häufig schien das psychologische Moment, schien die Möglichkeit des unmittelbaren Bezugs zur jeweiligen psychischen Verfasstheit der miteinander Kommunizierenden von größerem Wert zu sein, als der bloße Informationsgewinn aus den Gesprächen. Im Nachhinein mutet es nahezu pervers an, aber in der Situation des Abhörens entstand eine Nähe und Unmittelbarkeit, die es sonst einfach nicht geben konnte. Alle Methoden der physischen Observation durch die Angehörigen der HA VIII lieferten nur Außenbilder, der aufgezwungene direkte Kontakt bei »Zuführungen« und Verhören ließ die Zugeführten schweigen, mauern und provozieren, die zahlreichen Berichte der IM von den Gruppentreffen und Einzelgesprächen lieferten nur deren äußerst eingeschränktes Bild von uns. Lange Telefongespräche mit vertrauten Partnern, selbst wenn sie im vollen Bewusstsein der Situation des Abhörens geführt wurden, waren etwas Anderes. Um hier nicht schizophren zu werden, ließ nicht nur ich mich irgendwann los und sprach einigermaßen frei. Den meisten anderen der abgehörten und zugleich intensiv telefonierenden Freunden ging es ähnlich. Besondere Erfolgserlebnisse waren den Abhörspezialisten beschert, wenn sie die Telefonüberwachung mit den Ergebnissen der Raumüberwachung und anderen gewonnenen Informationen kombinieren konnten. Als Ralf Hirsch ein
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Telefoninterview mit Roland Jahn abkürzen wollte und das Gespräch mit der Begründung beendete, dass er gerade Besuch bei sich habe, konstatierten die Lauscher bürokratisch-befriedigt, dass »diese Aussage von Ralf H.« nicht den Tatsachen entspreche. Sie wussten über die Außenobservation und die Wanze in der Wohnung, dass er allein war. Umgekehrt konnte Ralf Hirsch die Gegenseite hereinlegen und in angespannten Aktionismus stürzen, wenn er mit seinem Westberliner Gesprächspartner Thomas Schwarz darüber witzelte, den stellvertretenden USA-Außenminister Whitehead treffen zu wollen, der im November 1987 Ost-Berlin besuchte. Obwohl die Abhörer befanden, dass der Gesprächsverlauf von »Ironie und Sarkasmus« gekennzeichnet sei und sie daher empfahlen, die Ernsthaftigkeit des Treffens anzuzweifeln, gaben sie die entsprechende Gesprächspassage »aufgrund der operativen Bedeutsamkeit« im Wortlaut wieder. Ralf Hirsch war es auch, der vor einer seiner zahlreichen gewaltsamen »Zuführungen«, als das charakteristische Wummern an der Wohnungstür ertönte, sein Gespräch unterbrach, den Hörer aber nicht auflegte und den Westberliner Telefonpartner auf diese Weise die Geräuschkulisse der Verhaftung miterleben ließ. Als Ralf Hirsch nach 1989 einen der für ihn zuständigen MfS-Offiziere aufspürte und stellte, beklagte dieser, wie viel Überstunden und Wochenendeinsätze er dessen Aktionismus verdanke: »Privatleben konnten wir uns abschminken. Immer, wenn wir frei hatten, sind Sie los, und wir mussten hinterher … Sie haben uns tyrannisiert.« Der Hass einzelner Verantwortlicher des MfS ging so weit, dass sogar Mordpläne gegen ihn geschmiedet wurden. In Ausnahmefällen konnten die Protokollmitschriften von abgehörten Telefonaten ausgesprochen literarische Qualität erlangen. Als Werner Fischer, eines der aktivsten Mitglieder der IFM, im Oktober 1988 von Ost-Berlin aus mit seiner Mutter in Potsdam telefonierte, entspann sich eine geradezu lehrbuchreife politische Auseinandersetzung. Fischer, erst kurz zuvor von einer halbjährigen Zwangsaussperrung in die Bundesrepublik zurückgekehrt und mit erneuten heftigen Repressionen konfrontiert, kochte vor Wut. Die Mutter und im Hintergrund des Gespräches der Vater waren treue SED-Genossen, die immer noch hofften, dass der verlorene Sohn auf den Weg des Glaubens und der Einordnung zurückkehre. Fischer, der aus seinem Herzen nie eine Mördergrube machte, überzog die Stasi mit allen Prädikaten, die ihr zustanden, und malte das bevorstehende Ende des DDR-Systems an die Wand. Die Mutter konnte sich gegen seine Argumente kaum noch wehren, versucht es mit Klagen und Zetern dennoch. Dem Auswerter mussten die Ohren geglüht haben; man spürt an den niedergeschriebenen Dialogen, dass sein Ehrgeiz entfacht war, die Wiedergabe in eine einwandfreie Form zu bringen. In der ebenfalls überlieferten Kurzfassung dieses Gespräches gingen Intensität und Qualität völlig verloren, Fischers Argumente wurden auf Beschimpfungen reduziert, es war nur noch von einer »Scheißpartei« und »Arschlöchern« die Rede.
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Die Abhörspezialisten der Abteilung 26 und der für die Anschlüsse im Westen zuständigen Hauptabteilung III entwickelten ein charakteristisches Konkurrenzverhältnis zueinander. Von der Ministeriumsspitze bei der Bearbeitung ausgewählter Personenkreise und der Kontrolle des grenzüberschreitenden Telefonverkehrs zur Zusammenarbeit angehalten, nahmen sie bei den Telefonkontakten Jahn – Hirsch, Jahn – Bohley, Jahn – Templin die gleichen Telefonate für längere Zeiten gleich zweifach auf und stellten dann auch jeweils verschiedene Auswertungsversionen her. Was Intelligenz und Verstehensfähigkeit betrifft, lagen dabei einmal die einen und mal die anderen vorn. Insgesamt schnitten die Auswerter der HA III dabei jedoch nicht schlecht ab. Ihr als ungeheuer ehrgeizig geltender und als »scharfer Hund« bekannter Chef, Generalmajor Männchen, zeigte unmittelbar nach 1989, was von seiner Kampfdisziplin und kommunistischen Prinzipientreue zu halten war. Er diente sich den bundesdeutschen Geheimdiensten als Überläufer an und gab zahlreiche Informationen über die Arbeitsweise, die Arbeitsergebnisse und Quellen seiner Hauptabteilung preis. Eckart Werthebach, der ab Ende Mai 1990 dem damaligen DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel als Sicherheitsberater zur Seite stand, kümmerte sich persönlich um Männchen und andere Überläufer. Später sollte Werthebach als Dank dafür den Posten des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz erhalten und noch lange von der guten Kooperation mit den ostdeutschen Kollegen schwärmen. Ex-Generalmajor Männchen war es auch, der vor den teilweise recht engen privaten Kontakten zahlreicher seiner früheren Genossen zum KGB und anderen östlichen Geheimdiensten warnte und empfahl, sie lieber in den Dienst westlicher Stellen zu nehmen. Als Spezialisten für eine aufzubauende »elektronische Kampfführung« (ELOKA) gegen die neue östliche Bedrohung könnten sie von großem Nutzen sein. Emissäre des KGB, die ihn aufsuchten und das Terrain für eine künftige Zusammenarbeit sondierten, verpetzte er sofort beim Verfassungsschutz. Wenn es um den hier vorgestellten Personenkreis geht, müssen zwei grundlegende Zwecke und Zielrichtungen des aufwendigen und ausgefeilten Systems der Telefonüberwachung im Innern der DDR und im Operationsgebiet unterschieden werden. In der angestrebten Information über und Kontrolle der Aktivitäten der wichtigsten Oppositionellen und ihrer Kommunikation untereinander nahm die Telefonüberwachung einen entscheidenden Stellenwert ein. Das gewonnene Abhörmaterial ermöglichte, die Informationen und Befunde aus den IMBerichten, offiziellen Denunziationen und Observationen zu ergänzen, zu prüfen und in ein Gesamtbild einzuordnen. Dieses Gesamtbild lag den Maßnahmeund Zersetzungsplänen zugrunde und ging in die strategischen Dokumente ein, die nach oben gelangten. Häufig lieferte der »Telefonblick« ein realistischeres Bild der Verfasstheit der Beteiligten, ihrer Diskussionen und Auseinanderset-
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zungen als andere Quellen, die dem MfS zur Verfügung standen. So grotesk die Fehlwahrnehmungen und Zuschreibungen waren, wenn es um die inneren Triebkräfte und Motive oppositionellen Handelns ging, so präzise konnten die Einzeleinschätzungen und daraus abgeleitete Empfehlungen werden. Auf der anderen Seite flossen das Aufkommen und die Ergebnisse der Telefonüberwachung in das engmaschige Netz der wechselseitigen Kontrolle und Überwachung innerhalb des MfS selbst ein. Die vorgangführenden Offiziere und ihre Vorgesetzten verfolgten die Entwicklung innerhalb der Operativen Vorgänge, verglichen die zahlreichen IM-Berichte mit den Abhörprotokollen, den Observationsergebnissen und anderen Informationsquellen, fertigten Zusammenfassungen und Verdichtungen an, erstellten Bewegungs- und Aktivitätsschemata. Ergaben sich relevante Lücken und Unstimmigkeiten, wurde nachgehakt. Jeder IM musste damit rechnen, selbst abgehört, überwacht und kontrolliert zu werden, jeder Mitarbeiter der Abteilung 26 konnte davon ausgehen, dass seine Abhörberichte und Zusammenfassungen mit anderen Quellen verglichen wurden. Pannen, die es gab, und Informationslücken, die auftraten, konnten den Regelfall einer effizienten Kontrolle nicht außer Kraft setzen. Hier zeigt auch der preisgekrönte und vieldiskutierte Film »Das Leben der Anderen«, der die Spannung des Abhörens in den Mittelpunkt rückt, seine größten Schwächen. Es ist nicht so, dass im Film die DDR-Verhältnisse offenkundig verharmlost werden oder gar eine Nostalgie entsteht, das Problem ist die Verzeichnung der Realitäten um des dramaturgischen Effektes willen. Ein MfSAbhörer, der eher als einsamer Wolf denn als Teil einer hochkomplexen Maschinerie gezeigt wird, gerät durch seine intensiven Lauschkontakte in eine immer stärkere, ungewollte Nähe zu den Ausgespähten, die als kritische Intellektuelle vorgestellt werden. Er frisiert und verfälscht seine Berichte, hält entscheidende, belastende Informationen zurück. Geschildert wird der Beginn eines Läuterungsweges, welcher den Stasioffizier auf die andere Seite führt. Nichts gegen menschliche Entwicklungsfähigkeit, kathartische Momente und Läuterungen. Im Film stimmen jedoch weder die Zeitachse des Geschehens noch die Arbeitssituation der Täter. Im Realfall war es für den einzelnen Abhörenden und Auswertenden nicht möglich, entscheidende Informationen aus seinem Material über längere Zeit zurückzuhalten oder zu verfälschen, selbst wenn er das wollte. Die Prinzipien der Arbeitsteilung, der wechselseitigen Kontrolle und das allgegenwärtige Misstrauen standen dagegen. Für die immer mit Kontrolle verbundene psychische Betreuung der Abhörspezialisten, die unter hohem Leistungsdruck und Stress standen, wurde gesorgt. Dennoch auftretende unerwünschte Reaktionen, wie erhöhter Alkoholkonsum, Probleme im familiären Bereich und andere Gefährdungsfaktoren, standen auf der Agenda der Beobachtung ganz oben. Wie eng die Grenzen des MfS-Menschenbildes auch gegenüber den eigenen Leuten waren und wie menschenverachtend die Berichte über individuelle
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Krisen sein konnten, zeigte sich, wenn über einen abgelösten und rückgestuften Offizier geschrieben wurde: »Beschäftigt sich mit suizidalen Absichten«. Für die übergroße Mehrzahl der Angehörigen des MfS und damit auch für die Offiziere der Abhörabteilungen galt das Prinzip des Funktionierens und der tschekistischen Pflichterfüllung bis zum Abschalten der Anlagen. Gipfelpunkte subjektiver Freiheiten waren hämische oder ironische Anmerkungen in ihren Auswertungen oder ein gesteigerter Ehrgeiz, wenn das mitgelauschte Gespräch sie dazu herausforderte. Auch für die Zeit nach 1989 sind kaum Zeugnisse späterer Reflektion oder Einsicht in den menschenverachtenden und -zerstörenden Charakter der eigenen Arbeit bekannt. Für die meisten von ihnen, nicht nur für den Kreis der Generalität, kann das zynische Motto Karl Eduard von Schnitzlers gelten: »Asche gehört in die Urne oder man streut sie aufs Glatteis aber nicht auf den Kopf.«
Ein Haufen disparater Individualisten – Porträt einer Gruppe Es war kein Zufall, dass die zentrale Dienstanweisung des MfS »zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit« in das Jahr 1985 fiel. Als sich die Führung der SED und das MfS in der ersten Hälfte der 1980er Jahre mit einer wachsenden Anzahl von kirchlichen Friedenskreisen konfrontiert sahen und die Abwehrstrategien des Herbstes 1983 ihr Ziel verfehlten, wurde der Druck auf die »kirchenleitenden Organe« verstärkt. Im Kern ging es um die Entpolitisierung und schärfere Kontrolle der unabhängigen Gruppen unter dem Dach der Kirche. Als Gegenleistung wurde den Kirchenvertretern eine Normalisierung des Staat-Kirche-Verhältnisses in Aussicht gestellt, was unter dem Strich Reiseprivilegien für Kirchenfunktionäre, Unterstützung bei kirchlichen Baumaßnahmen und erweiterte Möglichkeiten für das soziale Engagement der Kirche bedeutete. Der Druck und die Angebote blieben nicht ohne Wirkung. Während der thüringische Landesbischof Werner Leich erklärte, dass die Kirche offen für alle aber nicht für alles sei, verschrieben sich Berliner Kirchenfunktionäre, wie der Generalsuperintendent Günter Krusche, der Disziplinierungsarbeit gegenüber den Gruppen. In vielen der Kreise machte die Aufbruchstimmung vorangegangener Jahre einer immer stärkeren Unzufriedenheit und Resignation Platz. Auf der einen Seite stieg die Vernetzung innerhalb der Gruppen, sie fanden sich auf zentralen Koordinierungsforen, wie dem jährlich stattfindenden Seminar »Konkret für den Frieden« zusammen und setzten die Tradition der Friedenswerkstätten und anderer regionaler und überregionaler Treffen fort. Auf der anderen Seite war keiner ihrer friedenspolitischen Überlegungen und Initiativen in der Tradition »Schwerter zu Pflugscha-
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ren« Erfolg beschieden, ob es um den Sozialen Friedensdienst, die Demilitarisierung der Gesellschaft oder einseitige Abrüstungsinitiativen ging. Bereits dieses Engagement, mit dem die Mitglieder der Gruppen noch gar nicht in die Nähe politischer Opposition rücken wollten, wurde diffamiert und kriminalisiert. Im Visier der Staatssicherheit blieben die Teilnehmer an den zumeist konspirativen linken Theoriezirkeln der 1970er Jahre, von denen eine Minderheit den Weg in die Friedenskreise gefunden hatte, blieben vereinzelte intellektuelle Anhänger Rudolf Bahros, wie der Philosoph Guntolf Herzberg, und diejenigen Unangepassten, welche den offenen Kontakt zu dem Regimekritiker Robert Havemann hielten, der im April 1982 starb. Havemanns Tod war gleichbedeutend mit dem Ende der um ihn versammelten Runde. Eine ganze Reihe dieser »Feindpersonen« wurde weiter abgehört und beobachtet, weil trotz ihrer Isolation die Gefahr erneuter politischer Zusammenschlüsse bestand. Parallel zu den Aktivitäten unter dem Dach der Kirche, hatten sich ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in den verfallenen Wohnquartieren des Prenzlauer Bergs und anderer Teile der Ostberliner Innenstadt eine ganze Szene von Aussteigern und vielfältige Spielarten alternativer Kultur etabliert. Lesungen in Wohnungen, Privattheater und -Konzerte aber auch zahlreiche Diskussionsveranstaltungen zählten dazu, es wurde mit alternativen Lebensstilen experimentiert. In kleinerem Umfang gab es ähnliche Parallelszenen auch in Leipzig, Halle, Erfurt, Jena und zahlreichen weiteren Städten. Zwischen den Aktivitäten der Kirchengruppen, der alternativen Kulturszene und einzelnen politischen Exponenten waren die Grenzen fließend. Für mich wurde 1983 zum erneuten existenziellen Entscheidungsjahr. Nachdem an unserem Akademieinstitut eine Gruppe von Mitarbeitern, die sich weiter dem Marxismus verpflichtet fühlte aber einer Modernisierung der Theorie verschrieben hatte, als » Abweichler« und »Revisionisten« abgestraft wurde, sah ich mich nur noch von ideologischen Kreaturen und angepassten, gebrochenen Menschen umgeben. Meine ehemaligen Kommilitonen und Freunde aus den trotzkistischen Gruppen der 1970er Jahre, zu denen ich weiter Kontakt hielt, hatten mich wieder und wieder beschworen, den Platz in der SED und damit am Institut nicht freiwillig aufzugeben. Ihnen schwebte vor, weiter Wühlgänge innerhalb der Partei zu graben. Mir reichte es jedoch endgültig. So freiwillig ich aus naiver Verblendung in die Partei gegangen war, so freiwillig hätte ich sie längst verlassen sollen, was ich dann mit heftigem Zuschlagen der Tür auch tat. Um die Frage, ob man aus einer Partei wie der SED mit einer politischen Begründung selbstbestimmt austreten könne, gestrichen werden müsse oder nur ein Ausschluss infrage käme, entspann sich in meiner SED-Grundorganisation eine groteske Auseinandersetzung. In dieser Zeit lernte ich meine neue Lebenspartnerin Lotte kennen, verliebte mich und hatte das Gefühl eine alte Haut
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endgültig abgestreift zu haben. Mit dem definitiven Abschied von der akademischen Sphäre und den letzten beruflichen Sicherheiten begannen die neuen Lebensabenteuer. Bereits in den Jahren zuvor hatte sich der übergroße Teil meiner privaten Aufmerksamkeit und Energie auf die vielgestaltige Alternativ- und Friedensszene in Ost-Berlin und darüber hinaus gerichtet. Phasen der Euphorie und der folgenden Enttäuschungen in diesen Milieus lagen bereits hinter uns, ob es um die quälenden Auseinandersetzungen mit furchtgeschüttelten Kirchenfunktionären oder den Kampf um das Bleiberecht eines Friedenskreises in der Studentengemeinde ging. In einem internen Positionspapier aus dieser Zeit (»Arbeitsmöglichkeiten und Inhalte der Friedensarbeit zwischen Gesellschaft und Kirche«) machte ich überzogene protestantische Kompromissmentalität und geistige Selbstzensur als Gründe für die innerkirchliche Begrenzung aus. Ich kannte zahlreiche Protagonisten der Szene und hatte Kontakte zu einer Reihe von Theologen, von denen einige wie Edelbert Richter weit besser mit Marx vertraut waren als die meisten Berufsideologen der DDR. Polen blieb für einige von uns im Zentrum der Aufmerksamkeit. An einen rein friedlichen Ausgang des Ringens der Solidarność mit der kommunistischen Seite konnten wir nicht glauben, dennoch waren wir nicht bereit, die Realitäten des Kriegsrechts zu akzeptieren und erneut eine Hoffnung zu begraben. Wenige Wochen nach dem 13. Dezember 1981 konnte man erneut Hoffnung schöpfen. Die Solidarność reorganisierte sich im Untergrund – der Widerstand in Polen war nicht dauerhaft zu brechen. Spätestens die großen Demonstrationen im Mai 1982 zeigten, wie offen die weitere Entwicklung blieb und wie wenig die polnischen Kommunisten auf ihren Sieg vertrauen konnten. Aktuelle Informationen aus Polen zu beschaffen und in privaten Runden zu verbreiten, wurde zu einer meiner Hauptaktivitäten. IM-Berichte aus dieser Zeit schildern mich als einen fanatischen Agitator des zu erwartenden Überdauerns der Solidarność und weiterer bevorstehender Veränderungen. Als millionenfache politische Massenbewegung, die eine gesamte Gesellschaft erfasst hatte, war die Solidarność ein gewaltiges Symbol. Sie konnte aber niemandem unmittelbar als Vorbild dienen, der in der DDR versuchte, Bewegung in eine gelähmte Gesellschaft zu bringen. Wir mussten viel kleiner anfangen. Einer dieser Versuche, den ich selbst mit initiierte, fand in den Jahren 1984 und 1985 in einem Kreis ehemaliger SED-Mitglieder statt, die aus politischen Gründen ihre zumeist akademischen Berufschancen verspielt hatten. In speziellen Fällen konnte dies auch eine legendierte Tarnung sein, wie bei dem in die Gruppe platzierten Mario Wetzky (IMB »Martin«) oder bei der später über die »Frauen für den Frieden« zu uns stoßenden Monika Haeger (IMB »Karin Lenz«). Mit den Erfahrungen osteuropäischer Menschenrechtsgruppen im Hinterkopf schwebte mir vor, unsere offenkundige Situation von Berufsverboten
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und Bildungsverweigerung zu dokumentieren, weitere Fälle zu sammeln und damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Bei allen Pseudobegründungen für die Einschränkung und Verweigerung politischer Rechte hielt die offizielle DDR die Verwirklichung des Rechtes auf Arbeit und Bildung als ihre Errungenschaft hoch und wir wollten sie an dieser fundamentalen Heuchelei packen. Mein Pech war nur, dass in unserem Kreis linke Dogmatiker und Haarspalter wie der Ökonom Thomas Klein saßen, die sich als Oppositionelle verstanden und von Staatsseite beruflich abgestraft wurden, sich aber nicht bereit finden konnten, »bürgerliche Menschenrechtskonzeptionen« zu akzeptieren oder gar die westliche Öffentlichkeit als Verstärkungsfaktor unserer Arbeit zu nutzen. Klein konnte mehrstündige Vorträge über die Militärdoktrin des Warschauer Paktes und noch speziellere Themen halten, initiierte ein Theorieseminar nach dem anderen, stemmte sich aber vehement gegen jede politische Öffnung. Er sollte auch nach der Gründung der IFM einer unserer hartnäckigsten Kontrahenten innerhalb der Oppositionsszene bleiben. Seine Wahrnehmung der damaligen Konflikte findet sich in seinem Buch »Frieden und Gerechtigkeit. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre« (2007), bei dem sich nur schwer ausmachen lässt, ob hier der Zeitzeuge oder der Oppositionshistoriker die Feder führte. Nach monatelangen Grundsatzdebatten und Hakeleien, die der IMB »Martin« im Sinne seiner Auftraggeber beförderte und schürte, waren wir keinen Schritt weiter. Ich suchte nach besseren Verbündeten, als im Sommer des Jahres 1985 der Knoten endlich platzte. Bei der Berliner Friedenswerkstatt stellte sich eine kleine Gruppe mit dem schönen Namen »Wühlmaus« vor, die ihrerseits ein Menschenrechtsseminar organisieren wollte. Wir hatten uns gesucht und gefunden. Peter Grimm, der wegen politischer Renitenz von den Abiturprüfungen gesperrt und der Schule verwiesen wurde – er durfte dann im Betrieb Schrauben sortieren –, Peter Rölle und Ralf Hirsch suchten die Öffentlichkeit, die Vernetzung und die Chance, Leute, die handeln wollten, zusammenzubringen. An ihrem Stand lag ein »Brief an die Teilnehmer der XII. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Moskau« aus, für den sie Unterschriften sammelten. Im UNO-Jahr der Jugend 1985 wurde darin für die DDR die Durchsetzung des Rechtes auf Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Reisefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gefordert. Ich hatte die X. Weltfestspiele 1973 in Ost-Berlin als gigantisches Propagandaspektakel erlebt und konnte mir denken, wie groß die Anstrengungen sein würden, die Teilnehmer in Moskau vor diesem Gift zu behüten. Mit den Namen der Initiatoren als Erstunterzeichner wirkte der Brief als Anstoß für spätere ähnliche Dokumente und wurde in einigen westlichen Medien zitiert. Das geplante Seminar sollte Arbeitscharakter tragen, Menschenrechtsverletzungen in der DDR dokumentieren und eine wirksame Folgearbeit initiieren.
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Aus dem Gruppenkontext der Friedenswerkstatt, unserem gemeinsamen Bekannten- und Freundeskreis konnten wir weitere Personen gewinnen, welche zur Vorbereitungsrunde eines für Ende November 1985 geplanten Seminars in einer Treptower Gemeinde stießen. Mehrere hundert Einladungen wurden DDR-weit verschickt, die Vorbereitungen liefen intensiv an. Auf Hochtouren lief auch die Gegenstrategie des MfS, da die vorgangsführenden Einheiten an den Namen der Beteiligten und den Inhalten der Vorbereitungsrunde sofort die drohende Gefahr und den möglichen künftigen Sprengsatz ausmachten. Aus der inhaltlich zerfaserten, protestantisch zurückgenommenen und auf den Kirchenraum beschränkten Friedensszene drohte ein politischer Ansatz zu erwachsen, der sich mit dem Begriff der Menschenrechte und den konkreten Inhalten von Menschenrechtsarbeit zur politischen Opposition formieren konnte. Diese Entwicklung sollte auf zwei Ebenen blockiert werden. Die verantwortlichen Funktionäre der Berliner Landeskirche, der Pfarrer der Treptower Gemeinde und die Mitglieder seines Gemeindekirchenrates sahen sich zunehmendem Druck vonseiten staatlicher Stellen ausgesetzt. Dabei war von »politischen Provokateuren« und »kirchenfernen Elementen« die Rede, denen nur daran gelegen sei, das Staat-Kirche-Verhältnis zu ruinieren und sich auf Kosten der Friedensarbeit anderer Gruppen im Westen zu profilieren. Die Interventionen blieben nicht ohne Wirkungen. Als die Teilnehmer des Vorbereitungskreises nicht daran dachten, Zensur zu akzeptieren, den Teilnehmerschlüssel und die Gästeliste einseitig einzuschränken, kam es kurz vor dem geplanten Seminartermin zur Absage durch die Gemeinde. Auf einer anderen Ebene wurde über die Aktivitäten von IM und weitere Einflusskanäle der Konflikt über die Reichweite und die Konsequenzen des geplanten Seminars mitten in den Vorbereitungskreis hineingetragen. In dem weit über 20-köpfigen Gremium, das von Juli bis November 1985 häufig tagte und auch nach der Absage des Seminars noch einige Male zusammenkam, wurde die Auseinandersetzung immer heftiger. Sollte man dem Zögern der Kirchenleitung und dem spürbar wachsenden Druck der Staatsseite nachgeben und die Öffentlichkeit des Seminars einschränken? Wie sollte mit Vertretern der »Westpresse« verfahren werden, die ihr Interesse an der Teilnahme signalisierten? Wie mit Petra Kelly und anderen Grünenpolitikern, welche als Gäste dazu stoßen wollten. Den »marxistisch« orientierten Teilnehmern der Vorbereitungsrunde waren die theoretischen Grundlagen immer noch nicht klar, sie warnten vor Aktionismus und schreckten vor jeder Art westlicher Beteiligung zurück. Den Gruppenvertretern aus dem Kirchenmilieu machten bereits die Begriffe Menschenrechte und Opposition Angst, sie wollten nicht als Staatsfeinde eingestuft werden, welche wir offiziell längst waren. Eine Woche vor dem Seminar schien die Doppelstrategie des MfS aufzugehen. Auf Druck des Berliner Konsistoriums sagte der Gemeindekirchenrat die
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Veranstaltung ab. Es seien Informationen durchgesickert, dass die Gründung einer Menschenrechtsgruppe »Charta 85« geplant sei und dabei westliche Medien eingeschaltet würden. Ein Teil der Seminarinitiatoren unterschrieb eine Protestresolution, andere sahen sich in ihren Warnungen bestätigt. Im großen Vorbereitungskreis flogen die Fetzen und es regnete Schuldzuweisungen. Von den Beteiligten, die sich nicht einfach mit der Aussicht auf ein »Folgeseminar« unter den Zensurbedingungen der Kirche zufriedengeben wollten, trafen sich im November und Dezember 1985 eine Reihe von Personen immer öfter in unserer Wohnung, bei Bärbel Bohley und in der Wohnung von Ulrike und Gerd Poppe. Aus diesem Personenkreis kamen dann auch kurze Zeit später die Gründungsmitglieder der »Initiative Frieden und Menschenrechte« zusammen. Irgendwie hatten wir alle das Gefühl, einen längst überfälligen Schritt zu vollziehen. An den Runden, die der faktischen Gründung vorausgingen, eine davon wurde am 25. November 1985 als mein 37. Geburtstag begangen, nahmen wie selbstverständlich auch Vertreter der Grünen teil. Im Gegensatz zu sonst unterstellten Orgien, musste der anwesende IMB »Wolf« (Lothar Pawliczak) feststellen: »die Feier verlief fast gesittet. An Alkohol wurden nur die etwa 10 Flaschen Wein, die von den Gästen mitgebracht wurden, ausgeschenkt«. Welche Personen waren das nun, auf die sich in den folgenden Wochen und Monaten die Aufmerksamkeit und Repressionsenergie strategischer Abteilungen des MfS einschließlich der Abhöraktivitäten konzentrierte? Bärbel Bohley, die später zur »Mutter der Revolution« avancieren sollte, war der personifizierte rebellische Geist. In Ost-Berlin aufgewachsen und Absolventin der Kunsthochschule Weißensee, war sie als freischaffende Malerin und Grafikerin in den 1970er Jahren Teil einer breitgefächerten Künstlerszene. In der großen Familie ihres Mannes, die aus Halle stammte, gab es zahlreiche Beziehungen ins unabhängige Milieu. Kontakte zu Robert Havemann und die Freundschaft zu Roberts Frau, Katja Havemann, beförderten 1982 die Gründung der Gruppe »Frauen für den Frieden«. Ende 1983 wurde Bärbel Bohley zusammen mit Ulrike Poppe verhaftet; in einer harten Repressionsphase rechneten sich SED-Führung und MfS die Chance einer schnellen Abschiebung in den Westen aus. Die beiden Frauen blieben jedoch standhaft und mussten – unterstützt durch Proteste aus dem Westen – nach mehrwöchiger Untersuchungshaft im Januar 1983 in die DDR entlassen werden. Bärbel Bohley war und blieb eine hochgradige Individualistin, die Proteste und politische Aktionen immer wieder mit ihrer eigenen Handschrift versah, Emotionen, individuelle Abneigungen und Freundschaften nie versteckte. Wenn sie in der Startphase der IFM mit ihrer Freundin Birgit Voigt in Baden-Württemberg telefoniert, schlägt die ganze Euphorie eines neuen Anfangs durch. Sie lässt aber auch ihrer Wut und Verzweiflung freien Raum, als es in den nächtlichen Telefonaten mit Roland Jahn um die Zerreißproben des Januar
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1988, kurz vor ihrer Verhaftung geht und bemüht in unnachahmlicher Weise die große Geschichte: »Mensch Roland, das kocht an allen Ecken und Enden und Rosa ist weit und Karl auch.« Für alle strategischen Einschätzungen und Maßnahmepläne bleibt sie unberechenbar und wird nach ihrer Rückkehr aus dem halbjährigen Exil zu einem der wichtigsten Knotenpunkte zwischen Oppositionsmilieu und der Bürgerbewegung des Herbstes. Werner Fischer, der in der entscheidenden Gründungsphase der IFM mit Bärbel Bohley zusammenlebte, gehörte ebenfalls zum Kreis um Robert Havemann und zum Freundeskreis um Ulrike und Gerd Poppe. Er hatte enge Kontakte zu dem kritischen Philosophen Guntolf Herzberg und dessen Ehefrau Heidi, die für sich keine Perspektive mehr sahen und 1985 die DDR verließen. Zu dieser Zeit wurde Fischer bereits länger observiert und ließ am Telefon seiner Ungeduld über das Schneckentempo innerhalb der Friedensbewegung und die Unentschlossenheit der Beteiligten freien Lauf. Mit hoher Sensibilität und einer künstlerischen Ader wurde er zum »Objekt« des allerübelsten Psychoterrors, da die Verantwortlichen des MfS ihn als einen der entschiedensten und gefährlichsten politischen Widersacher identifizierten. Illegale Wohnungsdurchsuchungen, bei denen bewusst Spuren hinterlassen wurden, Drohanrufe und zahlreiche weitere Zersetzungsmaßnahmen sollten ihn in den Verfolgungswahn treiben und zum nervlichen Wrack machen. Werner Fischer spielte für die Kontakte zu den Korrespondenten, die internationalen Kontakte der IFM, die konzeptionelle Arbeit und die Herausgabe der Samisdat-Zeitschrift »Grenzfall« eine entscheidende Rolle. Als er nach der Verhaftung im Januar 1988 in die Bundesrepublik abgeschoben wurde, versuchte die DDR-Seite mit allen Mitteln seine Rückkehr zu verhindern. In der für ihn persönlich ausgesprochen harten Trennungssituation von Bärbel Bohley unterstrich Fischer in jeder öffentlichen Äußerung und allen Telefongesprächen seinen Rückkehrwillen und kehrte im August 1988 nach Ost-Berlin zurück. Er trotzte der erneuten Verfolgungsintensität und wurde zu einem der wichtigsten Koordinatoren der Januarproteste 1989 und der ansteigenden Demonstrationswelle danach. Der Physiker Gerd Poppe hatte Mitte der 1980er Jahre bereits eine längere oppositionelle »Karriere« hinter sich und war für viele Jüngere eine unbestrittene Autorität. Geprägt durch die Vorboten des »Prager Frühlings« in den 1960er Jahren und das Jahr 1968 selbst, stand er seit Ende der 1960er Jahre unter ständiger Beobachtung und Verfolgung durch das MfS. Persönliche Beziehungen zu Rudi Dutschke, Wolf Biermann und Robert Havemann beeinflussten ihn ebenso sehr wie seine zahlreichen Kontakte nach Ostmitteleuropa, zu ostmitteleuropäischen Oppositionellen und zur westlichen Friedensbewegung. Seit Ende der 1970er Jahre wurde er mit einer Reisesperre für alle osteuropäischen Länder belegt, vorher setzte ein Berufsverbot als Physiker ein. Zugleich erhöhte sich der Druck auf ihn und seine Familie, in den Westen auszureisen. Für die internatio-
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nalen Kontakte der IFM spielten Gerd Poppe und seine Frau Ulrike eine kaum zu überschätzende Rolle. In ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg fanden in den 1980er Jahren nicht nur ungezählte Lesungen und Veranstaltungen statt, hier gab sich in dieser Zeit halb Europa die Klinke in die Hand. Als sich Poppe entschloss, zu dem heterogenen Kreis zu stoßen, der zur Gründung der IFM drängte, wurde er zu einem ihrer wichtigsten Stabilitätsfaktoren. Ohne sein häufig ausgleichendes Gewicht wäre die Gefahr eines schnellen Auseinanderbrechens der Gruppe sehr viel größer gewesen. Gerd Poppes Profil und Gewicht sind in den erhaltenen Protokollen unverkennbar. Seine damalige Frau Ulrike, mehr als zehn Jahre jünger als er, brach in den 1970er Jahren ihr Lehrerstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin ab, weil sie spürte, dass sie mit ihrer kritischen Haltung dem geforderten Berufsprofil nicht entsprechen könne. In der unabhängigen Gruppenszene fand sie ihre eigentliche Heimat und lernte dort auch Gerd Poppe kennen. Sie war gemeinsam mit Bärbel Bohley in der Gruppe »Frauen für den Frieden« aktiv und wurde wie diese am 12. Dezember 1983 wegen des Verdachts auf landesverräterische Nachrichtenübermittlung inhaftiert. Eine breite Solidaritätswelle und die unbeirrbare Haltung der beiden Frauen bewirkte nach sechs Wochen ihre Freilassung in die DDR. Ulrike Poppe wurde zu den »unversöhnlichen Feinden der DDR« gezählt, obwohl sie immer wieder das Gespräch und die Diskussion mit SEDMitgliedern und Vertretern des Systems suchte und führte. Wie sehr Ralf Hirsch den »bearbeitenden Dienststellen« im Magen lag, wurde schon geschildert. Er geriet bereits als 15-jähriger Schüler in das Visier der Staatssicherheit, als er Flugblätter verteilte, in denen der Wehrdienst von Ostberlinern infrage gestellt wurde. Jugendwerkhof Hummelshain und nach Arbeitsverweigerung der berüchtigte geschlossene Jugendwerkhof Torgau waren die Quittung für solche Renitenz. Nach der Entlassung war der diskriminierende »PM 12« sein Personaldokument, ihm wurde in Ost-Berlin eine Arbeitsstelle zugewiesen. Erst nachdem er im Schutzraum der Kirche eine Stelle in der Friedhofsverwaltung bekam, war er wenigstens nach dieser Seite entlastet. Bei der Organisation der Bluesmessen in der Samariterkirche von Pfarrer Rainer Eppelmann spielte er eine wichtige Rolle. Eppelmann war nicht nur sein Freund, sondern auch eine Art väterlicher Ratgeber und – soweit es möglich war – Schutzpatron. Vorgeschichte und unbändige Energie ließen Hirsch zu einem der wichtigsten Motoren der IFM werden. Zwei blockierten oder verhinderten Aktionen setzte er drei neue Anläufe entgegen und spielte mit den MfS-Leuten Katz und Maus. Mit Werner Fischer lag er zuweilen in Konkurrenz um die besten Kontakte zu westlichen Korrespondenten, kümmerte sich um Logistik und Transportwege, sicherte die Herausgabe immer neuer Nummern des »Grenzfalls«. Er gehörte zu den intensivsten Telefonpartnern von Roland Jahn. Da in den langen Gesprächen der beiden, neben zahlreichen inhaltlichen Fra-
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gen, auch immer wieder Kontakte, Transporte und Materialaustausch erörtert wurden, bei denen Jahn und Hirsch mit Verschleierungen und Kodierungen arbeiteten, häuften sich am Rand der Telefonprotokolle die Fragezeichen und mehr oder weniger ratlosen Bemerkungen der Auswerter. Martin Böttger, wie Gerd Poppe Physiker, sammelte kritische DDRErfahrungen in den frühen 1970er Jahren als Bausoldat. Als aktiver christlicher Laie und Vater von fünf Kindern nahm er den Friedensauftrag der Kirche und die Dialogversprechen des DDR-Staates ernst und beteiligte sich immer wieder mit eigenen Transparenten und Symbolen an offiziellen Demonstrationen oder Aktionen in der Öffentlichkeit. Dies brachte ihm am 1. September 1983, dem Weltfriedenstag, eine kurzfristige Verhaftung ein. Da er als Mitglied des Gemeinderates bei dieser Verhaftung den Kirchenschlüssel bei sich trug, musste ihm der verzweifelte Pfarrer in die Haftanstalt folgen, um sein Gotteshaus aufschließen zu können. Böttger war es auch, der in Anlehnung an das Spiel Monopoly das Spiel Bürokratopoli entwickelte, dass sich in unseren Kreisen großer Beliebtheit erfreute und der Stasi natürlich nicht verborgen blieb. In der IFM waren Martin Böttger und seine Frau Antje ein ruhender Pol. In ihrer Wohnung spielte sich häufig das Leben mehrerer Familien ab, dort gingen Delegationen der Grünen wie Vertreterinnen der internationalen Friedensbewegung ein und aus. Mehrfach schafften es die zur Familie und zum Freundeskreis der Familie gehörenden couragierten Frauen, Belagerungsmannschaften des MfS, die das Wohnhaus und die Wohnung blockierten, in die Flucht zu schlagen. Der von Beginn an geplante Einbau von Abhöranlagen scheiterte in der am alten Friedrichstadtpalast und damit in unmittelbarer Grenznähe gelegenen Wohnung der Böttgers aus verschiedenen Gründen immer wieder. Selbst für die repressionsbereite MfS-Seite waren fünf Kinder offenbar ein Gegenargument, wenn es um die Realisierung von Verhaftungsszenarien ging. Aus Sachsen stammend, waren Antje und Martin Böttger nicht nur unverzichtbar für die internationalen Kontakte der IFM, sie hielten ihre Verbindungen in den Süden der DDR aufrecht und bauten sie immer weiter aus. Im Herbst 1989 wurde Martin Böttger einer der entscheidenden Initiatoren des Neuen Forums in Sachsen. Peter Grimms Jugend und sein eher zurückhaltendes Wesen täuschten nicht nur die hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter über seine tatsächliche Rolle und sein Gewicht für die Arbeit der IFM. Der ursprünglich auf Werner Fischer angesetzte Christian Borchardt (IMB »Klement«), der sich in dessen Vertrauen stahl und darüber auch Grimm kennenlernte, schätzte noch im November 1987 ein, es sei für ihn »schwer vorstellbar, dass G. selbständig Artikel für den ›Grenzfall‹ verfasst, sondern dafür mehr Aktivitäten bei den technischen Arbeiten bei der Herstellung des ›Grenzfall‹ entwickelt. Ansonsten wird G. als ›Mitmacher‹ der ›Initiative‹ eingeschätzt, der keine oder nur wenig ideologische Grundlagen für die
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Mitarbeit dabei hat.« Was auch immer der begnadete IMB »Klement« unter »ideologischen Grundlagen« verstand, er lag gründlich daneben. Peter Grimm zählte zu den aktivsten Mitgliedern der IFM und war die Seele des »Grenzfalls«. Er kümmerte sich um Inhalte, Korrespondenten und das Profil der SamisdatZeitschrift, spielte in der Zusammenarbeit mit der »Umweltbibliothek« und den anderen Gruppen eine wichtige Rolle. Die Herausforderung, nach seiner Entfernung vom Abitur in die Reihen der Staatsfeinde verwiesen zu sein, nahm er offensiv an und begleitete mit Peter Rölle und Ralf Hirsch spektakuläre öffentliche Aktionen der IFM. Spuren seiner Arbeit tauchen in den Abhörprotokollen immer wieder auf, sodass sich auch auf ihn die ganze Härte der Repression legte. Mit seiner Frau Sabine und ihren beiden kleinen Kindern bildete er eine der Familien, die das soziale Binnenklima der »Initiative« prägten. Reinhard Weißhuhn, der aus Thüringen stammende Architekt, war einer der ältesten Freunde Gerd Poppes, mit dem er auch ab 1984 im Baubüro des Diakonischen Werkes unterkam. Von den kirchlichen Mitarbeitern mit geteilter Freude begleitet, nutzten sie auch die Möglichkeiten dieses Arbeitsplatzes für oppositionelle Aktivitäten. Henne, wie Weißhuhn von uns genannt wird, hatte noch während der 1970er Jahre zahlreiche Kontakte zur ungarischen Opposition aufgebaut und übersetzte auch Texte aus dem Ungarischen. Seine pragmatische Ader ließ ihn in vielen Konflikten und Spannungsphasen zum stabilisierenden Moment innerhalb der Gruppe werden. Katja Havemann, die ebenfalls zur IFM zählte, wurde in den Jahren der Ehe mit Robert Havemann sowie während ihrer aktiven Mitarbeit bei den »Frauen für den Frieden« und in anderen Zusammenhängen mit den Observationspraktiken, Zersetzungsmethoden und dem Repressionsinstrumentarium des MfS intensiv konfrontiert. Allein die über Robert Havemann angelegten Telefonabhörprotokolle aus verschiedenen Zeiträumen und Lebenszusammenhängen füllen Dutzende von Aktenbänden. Nach seinem Tode wurde die Observation von Katja Havemann mit unverminderter Intensität fortgesetzt. Katja wollte sich nie in den Vordergrund drängen, dennoch besaßen ihre Person und ihr Wort ein großes Gewicht für die IFM. Gegenüber zahlreichen anderen Gruppen, so den männerbündischen linken Konspirationsgruppen oder dem Kreis um die »Umweltblätter« und die »Umweltbibliothek«, wurde die IFM durch die Situation von Familien mit Kindern bestimmt. Genau hier setzte auch die Strategie des MfS an, bei der versucht wurde, Partnerschafts- und Familienbeziehungen mit allen Mitteln nachhaltig zu zerstören, Kinder als Erpressungspotenzial zu missbrauchen, Konflikte in Ehen und Partnerschaften hineinzutragen, zu verschärfen und auszunutzen. Mein zum IM mutierter ehemaliger Kommilitone Lothar Pawliczak, der sich durch seinen Parteiausschluss an der Akademie der Wissenschaften in unserer Gruppe legendierte und in seinen Berichten ab und an Wert auf Höflichkeits-
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formen legte, musste jedoch konstatieren: »Herr und Frau Templin zeigen auffällig gegenüber Dritten ein Verhältnis enger Solidarität, inniger Partnerschaft und Liebesbeziehung. Inwieweit dies bewusst demonstrativ ist, ist nur sehr schwer zu beurteilen.« Demonstrativ war hier gar nichts, wenngleich es auch in der Beziehung zwischen Lotte und mir in der Folgezeit zu großen Belastungen kam. Da es keinen formellen Gründungsbeschluss für die IFM gab, die Gruppe sich über Mitgliedschaft durch Mitarbeit definierte und aus einer Reihe von Zusammenkünften heraus entstand, können sich Historiker über das genaue Gründungsdatum streiten. Bereits in den ersten Monaten des Jahres 1986 jedoch gab es einen deutlichen Konsens zu einer Reihe von Arbeitsprinzipien, die das Profil der IFM prägten und ihre Sonderstellung im Rahmen der bisherigen Gruppen ausmachten. Die Form der »Initiative« drückte die Offenheit der Gruppe aus, die Verbindung von Frieden und Menschenrechten, den gemeinsamen Boden der Mitglieder in der unabhängigen Friedensbewegung, vor allem aber die zentrale Bedeutung der Menschenrechte. Der Frage nach dem äußeren Frieden und der Notwendigkeit von Abrüstungsschritten wurde die zentrale Bedeutung des inneren Friedens, also der Gewährung resp. Durchsetzung von Freiheits- und Beteiligungsrechten an die Seite gestellt. Verweigerte Rechte einzufordern, deren Wahrnehmung auf phantasievolle Weise vorwegzunehmen, die Verletzung von Bürger- und Menschenrechten in der DDR und anderen Ostblockstaaten zu dokumentieren, wurden entscheidende Arbeitsfelder der IFM. Als kirchenunabhängige, offene Menschenrechtsinitiative, die eine eigene, auch internationale Öffentlichkeit suchte, in politischen Aktionen neue Wege beschritt, eigene Publikationen herausgab, lehnte sich die IFM an das Vorbild osteuropäischer Oppositionsgruppen, wie die tschechische »Charta 77« und das polnische KOR, an. Der Bezug auf Osteuropa bedeutete für die IFM jedoch nicht nur den Bezug auf die dortigen Oppositionsgruppen und den Kontakt zu ihnen. Osteuropa, der Ostblock, war der Horizont eines gemeinsamen Aufbruchs, der weder auf klassische Revolten noch kommunistische Reformer oder neue Führungspersonen fixiert war, sondern den Übergang von geschlossenen zu offenen Gesellschaften über massiven gesellschaftlichen Druck von unten anstrebte. Über diesen Arbeitskonsens und das gemeinsame Bekenntnis zu den Werten einer freien und zugleich solidarischen Gesellschaft hinaus strebte die IFM kein eigenständiges separates politisches Programm an. Auch in diesem Punkt orientierte sie sich am praktizierten politischen Pluralismus der demokratischen Opposition in Osteuropa.
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Jürgen Fuchs und Roland Jahn hatten die Konflikte und Spannungen, die letztlich zur Gründung der IFM beitrugen, von West-Berlin aus intensiv verfolgt und nahmen die ersten Schritte der Gruppe, die Veröffentlichung ihrer ersten Dokumente mit großer Erleichterung auf. Roland Jahn hatte nach seiner Zwangsausweisung in die Bundesrepublik im Juni 1983 auf weitere Schritte gedrängt, die den Folgsamkeitskonsens der innerkirchlichen Friedensgruppen aufsprengen könnten. Eine illegale Einreise in die DDR im April 1985 führte ihn nicht nur nach Jena, sondern ließ ihn auf der Rückreise in Ost-Berlin mit späteren Mitgliedern der IFM zusammenkommen. Wenige Monate später wurde der Telefonkontakt zwischen ihm, Ralf Hirsch, Werner Fischer und auch mir immer intensiver. Inhaltliche Debatten um die weitere Profilierung unserer Arbeit, das Für und Wider öffentlichkeitswirksamer Aktionen, den Ausbau unserer osteuropäischen Kontakte bestimmten die Gespräche. Das gleiche galt für den Kontakt zu Jürgen Fuchs. Prompt gerieten beide noch stärker in das Beobachtungsvisier des MfS. Nach innen wurde im gleichen Zeitraum gegen alle Mitglieder der IFM die Observation intensiviert und die Repressionsschraube angezogen. Wer noch nicht unter Telefonkontrolle stand, konnte von nun an mit Sicherheit damit rechnen. Für unsere Familie, wir waren kaum in Pankow angekommen, setzten die Abhörmaßnahmen im November 1985 ein. Mit einer lapidaren »Begründung« konnte die »Maßnahme A« ausgelöst werden, wie ein in unseren Akten befindliches Blatt verdeutlicht: »Templin, Wolfgang und seine Ehefrau besitzen eine feindliche Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR. Sie sind maßgebliche Organisatoren und Initiatoren politischer Untergrundtätigkeit in der DDR und wirken aktiv in verschiedenen feindlichen Gruppen und theoretischen Zirkeln mit. Beide verfügen über umfangreiche Verbindungen zu feindlichen Kräften in der DDR, in das Operationsgebiet und in das sozialistische Ausland.«
Mein sonstiges »Telefonverhalten« registrierten die MfS-Beobachtungstrupps in ihren Observationsprotokollen, bei denen ich als »Zentrale« geführt wurde und denen auch regelmäßig »Bildberichte« beigefügt sind. So wird festgehalten: »Im Beobachtungszeitraum telefonierte ›Zentrale‹ des Öfteren an öffentlichen Münzfernsprechern, wobei er bemüht war, nicht erkennen zu lassen, welche Telefonnummer er wählte.« Während einer Beobachtungseinheit wurden mehr als zehn solcher Telefonate registriert. Mit besonderer Missbilligung wurde registriert, dass ich einen nichtsahnenden Volkspolizisten nach einer weiteren Möglichkeit zum Telefonieren in einem öffentlichen Gebäude fragte, welche dieser mir auch nannte. Um die Observationsdichte zu erhöhen, stellte die Hauptabteilung XX am 14. Januar 1986 ein »operatives Unterstützungsersuchen« an die StasiKreisdienststelle Pankow. Es ging um die Wohnung im Erdgeschoss, unter uns,
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die für die »ständige operative Nutzung« bereitgestellt werden sollte. Im gleichen Schreiben wird gefordert, mir sämtliche Möglichkeiten für eine freiberufliche Tätigkeit abzuschneiden, eine Arbeitsplatzzuweisung aufzuerlegen und im Rahmen einer Einberufungsüberprüfung meinen Gesundheitszustand überprüfen zu lassen. Dabei sollten vorhandene oder fiktive Erkrankungen aufgewertet werden. Auf dem Schreiben findet sich der handschriftliche Bemerk einer höheren Ebene: »künftig solche detaillierten operativen Aufgaben persönlich absprechen und nicht in Briefen formulieren«. Besonders schmutzige Vorstöße waren nach guter Tradition mündlich zu kommunizieren, um die Spuren zu verwischen. Wie Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch »Stasi konkret« (2013) zeigt, sind nach dem Prozess gegen polnische Stasi-Mitarbeiter wegen der Ermordung von Pfarrer Popiełuszko in der ostdeutschen Stasi ganz bewusst Papiere über Zersetzungsmaßnahmen und andere Angriffe auf einzelne Oppositionelle vernichtet worden, um nicht in ähnlichen Fällen unter Umständen zur Verantwortung gezogen zu werden. Das Gleiche galt für die größte Zersetzungskampagne in der Frühphase der IFM, die von Februar bis Mai 1986 andauernde Kampagne mit fingierten Annoncen. Sie tauchte in den Maßnahmeplänen nicht auf, ihre Wirkung auf mich wurde aber sowohl über die Rückmeldungen der IM als auch die Maßnahmen der Telefonkontrolle verfolgt. Zu meinem Glück sah sich Oberst Kuschel im unmittelbaren Zeitraum des SED-Parteitages zu einer Pause genötigt, wie sein Aktenvermerk vom 11. April 1986 festhält: »Die gegen Templin eingeleiteten Zersetzungsmaßnahmen (fingierte Zuschriften auf Annoncen, Schmähbriefe) werden während der Aktion ›Kampfkurs XI‹ ausgesetzt, das heißt, es finden während dieser Zeit ab sofort keine Verbreitungen derartiger Materialien statt.«
Es war die gleiche Zeit, in der wir den Offenen Brief an den Parteitag vorbereiteten, der schließlich aus taktischen Gründen die Form einer »Eingabe« erhielt. Natürlich hatten die Zersetzungsmaßnahmen ihre Wirkung, aber sie konnten unsere und im Falle der Annoncen meine Arbeit nicht wirklich lahmlegen. Es nervte schon, wenn insgesamt Hunderte unbekannter Besucher auftauchten, die nicht bestellte Sachen brachten und nicht vorhandene Dinge abholen wollten. Bei meinen Erklärungsversuchen dominierten im ersten Moment Verärgerung und Unverständnis, bis den meisten Gästen dämmerte, auf welchem Feld sich das Geschehen wohl abspielte. Die Verabschiedung war dann sehr schnell. Am eindrucksvollsten blieb mir die Begegnung mit einem älteren bärtigen Herrn, der nach wenigen Worten verstand, worum es hier ging, als vom Schicksal gezeichneter Zeuge Jehovas die Arme aufriss und mich an sich zog: »Auch Du Bruder, ein Verfolgter«. Wenige Wochen später konstatierte ein übereifriger IM, bei mir hätten sich
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»in jüngster Vergangenheit einige charakteristische Veränderungen ergeben […] Am eindrucksvollsten zeigt sich dies in einem Verfolgungswahn, dem Templin verfallen ist. Er glaubt sich ständig beobachtet, wobei er in jedem Fall das MfS dahinter glaubt. In nahezu allen Gesprächen schildert er immer wieder, wie und von welchen Personen er verfolgt wird und deutet dabei zunehmend Angstgefühle an. In steigendem Maße offenbart Templin darüber hinaus einen krankhaften Verschwörerkomplex. Handhabungen wie besondere Klingelzeichen, teilweises Untersuchen von Räumen, wo er sich aufhält, das Herausziehen der Telefonanschlüsse und andere Abnormitäten gehen bei ihm zur Gewohnheit über.«
Das zeitgleiche Abhören und die Auswertung meiner Telefongespräche musste die Vorgangsführer allerdings davon überzeugen, wie sehr der IM daneben lag. Ich war zwar angeschlagen aber weiter Herr meiner Sinne und dachte nicht daran aufzustecken. Roland Jahn interessierte sich intensiv für die neue Zersetzungsstrategie, Jürgen Fuchs hatte eigene einschlägige Erfahrungen von solchen Aktionen und konnte mich stützen. Als wir in die Offensive gingen, das Ausmaß und widerliche Einzelheiten der Kampagne auf der Friedenswerkstatt 1986 dokumentierten, hörte der Spuk erst einmal auf. Neben der Parteitagseingabe, den einzelnen Dokumenten und Vernetzungsaktivitäten, waren es die Vorbereitungen zur Herausgabe der ersten Nummer der Zeitschrift »Grenzfall«, die das Frühjahr 1986 füllten und die Aufmerksamkeit der Lauscher beanspruchten. Bisherige Praxis war, dass, wenn es schon Druckerzeugnisse gab, die außerhalb der direkten Staatshoheit erschienen, dann sollte das im kontrollierten Kirchenraum geschehen und den Aufdruck »für den innerkirchlichen Dienstgebrauch« tragen. Der von uns beabsichtigte Verzicht darauf bedeutete – angefangen bei der Beschaffung und Sicherung der Technik, dem Druck und Vertrieb – völliges Neuland zu betreten. Das Gleiche galt für die notwendigen Informationen und Beiträge. Ein Netz von Korrespondenten, Mitarbeitern und Verteilern musste aufgebaut werden, das zugleich für die anderen Aktivitäten der IFM genutzt werden konnte. Für die Beschaffung und den sicheren Transport der Drucktechnik und des Materials sorgte vor allem Roland Jahn, dem Rüdiger Rosenthal nach seiner Ausreise 1987 tatkräftig half. Vertreter der Kirchenleitung, wie der Generalsuperintendent Krusche, sahen die IFM und ihr jüngstes Kind den »Grenzfall« nur äußerst ungern bei der Friedenswerkstatt. Sie wurden im Vorfeld mit den Informationen des MfS über unsere Arbeit gefüttert und mit den schwerwiegenden Bedenken der Staatsseite konfrontiert. Als die Redaktion des »Grenzfall« es sich dann doch nicht nehmen ließ, ihre Pilotnummer vorzustellen und während der Friedenswerkstatt auf reges Publikumsinteresse stieß, kam es zur offenen Konfrontation. Alles in allem musste das MfS nach einem guten halben Jahr konstatieren: »Feindliche Kräfte im Operationsgebiet und anderen westeuropäischen Staaten halten hartnäckig an ihrer Zielstellung fest, eine auf konterrevolutionäre Aktivitäten ausgerichtete innere Opposition in der DDR zu inspirieren, diese mit feindlichen Kräften anderer sozia-
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listischer Staaten, wie der ›Charta 77‹ und ›Solidarność‹ – und blockübergreifend mit der westeuropäischen Spalterbewegung zusammenzuführen, um dadurch die sozialistischen Staaten im Innern zu destabilisieren und so den imperialistischen Konfrontationskurs zu unterstützen. Gegenüber der DDR wird dabei insbesondere seit 1985 verstärkt versucht, diese Zielstellung über die Inspirierung innerer feindlicher Kräfte zur Etablierung einer ›Menschenrechtsbewegung‹ unter Missbrauch des KSZE-Prozesses und mittels der imperialistischen Menschenrechtsdemagogie zu verwirklichen […] Ihr von tiefem Hass auf den realen Sozialismus geprägtes Handeln zielt in illusionärer Weise auf konterrevolutionäre Veränderungen in der sozialistischen Gesellschaft ab.«
Damit stimmte die Logik wieder. Unser eigener Aufbruch musste ferngesteuert sein und die tatsächlichen Partner im Osten und Westen, die wir suchten, brauchten und fanden, wurden zu Werkzeugen, Helfershelfern und Teilen »imperialistischer Agentenzentralen«. Wie illusionär unser Handeln tatsächlich war, sollte sich rund drei Jahre später herausstellen. Rund ein Jahr nach dem gescheiterten Menschenrechtsseminar in Treptow kam es Ende November 1986 in einer Gemeinde in Berlin-Friedrichsfelde zu einem mehr oder weniger innerkirchlichen Menschenrechtsseminar, an dem wir als Gäste teilnahmen, während unsere linken Kontrahenten die Ausrichter waren. Roland Jahn hatte sich über verschiedene Informationskanäle auf dem Laufenden gehalten und wir kamen am Telefon gemeinsam zu dem Schluss, dass die Wege unwiderruflich auseinander gingen. Unsere Entscheidung zu einer offenen Oppositionsarbeit bedeutete die Abkehr von sozialistischen Wunschträumen und der Hoffnung, auf Entscheidungen der SED Einfluss nehmen zu können. Zum Berliner Gründerkern der IFM hatte sich mittlerweile eine Reihe von Mitstreitern gesellt, die aus verschiedenen Regionen der DDR kamen, dort in Friedenskreisen, Ökologiegruppen und anderen unabhängigen Zusammenhängen aktiv waren und sich mit unserem Ansatz und Tempo anfreunden konnten. Sie nahmen an den Berliner Runden der IFM teil, wenn sie gerade in Berlin waren, oder wir hielten den Kontakt auf andere Weise. Austausch und Weitergabe von Literatur und anderem Material, von aktuellen Informationen, war dabei die eine Ebene. Das inhaltliche Echo auf unsere neuesten Vorstöße, Aktionen und Dokumente war mindestens genauso wichtig. Heiko Lietz war nicht nur in den nördlichen Bezirken der DDR bekannt, er war in der ganzen DDR unterwegs. Vom Typus her eher ein Einzelkämpfer als ein Gruppenmensch, verstand er sich dennoch auf Moderation und Vernetzung und setzte sich für blockübergreifende Zusammenarbeit ein. Der Totalverweigerer und spätere Bausoldat hatte Theologie studiert und war als Pfarrer in Güstrow
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tätig gewesen, bis er 1980 wegen Konflikten mit der Kirchenleitung aus der Amtstätigkeit ausschied und fast bis zum Ende der DDR als Hauswirtschaftspfleger arbeitete. Heiko Lietz half mit seiner Präsenz in zentralen Koordinationsgremien der kirchlichen Friedensbewegung, wie dem Fortsetzungsausschuss von »Frieden konkret«, die Verbindung zwischen kirchlichen und unabhängigen Gruppen stabil zu halten. Genau auf deren Unterbrechung zielte die Strategie des MfS ab. Für die Bearbeitung von Lietz wurden Kader in der Berliner Geheimdienstzentrale freigestellt; um seine Mobilität einzuschränken, entzog man ihm die Fahrerlaubnis. Es half nichts. Einige Jahre nach 1989 musste ein damals verantwortlicher MfS-Offizier resigniert feststellen: »Keiner hat uns so beschäftigt wie der Herr Lietz. Heute war er auf einem Kirchentreffen in Güstrow, morgen sprach er schon wieder auf einer Veranstaltung in Dresden, und auf dem Rückweg traf er sich noch mit Gleichgesinnten in Berlin.« Andreas Schönfelder stammte aus dem Bergland der Oberlausitz. Tief mit dieser Region verwurzelt, baute er dort Friedens- und Ökologiekreise auf und kümmerte sich um die überregionale Vernetzung. Nach einer Ausbildung als Krankenpfleger war er in einem evangelischen Behindertenheim in Großhennersdorf tätig. Das Haus, welches er dort ausbaute, war nicht nur ein Treffpunkt für Oppositionelle, sondern wurde zum Asyl für Menschen, die sich neu orientieren wollten oder die Folgen einer Gefängnishaft zu verarbeiten hatten. Die Grenzen im Dreiländereck schafften die Möglichkeit, direkten Kontakt zu polnischen und tschechischen Oppositionellen und alternativen Künstlern aufzunehmen. Für die Vernetzungsarbeit der IFM wurde Schönfelder ein wichtiger Partner. Stephan Bickhardt kam aus einer sächsischen Pastorenfamilie. In den 1970er Jahren wurde er zum Mitbegründer einer der wichtigsten kirchlichen Friedensinitiativen, des Sozialen Friedensdienstes (SoFd) um den Dresdner Jugendpfarrer Christoph Wonneberger. Als Theologiestudent am Naumburger Katechetischen Oberseminar und später am Berliner Sprachenkonvikt, Teilnehmer des philosophischen Arbeitskreises um Edelbert Richter und zahlreichen anderen Runden, wurde er zur Integrationsfigur in den unabhängigen Milieus. Er brachte Theologen und kritische Marxisten zusammen, suchte den Kontakt zu westlichen Politikern und baute später einen eigenen Kommunikationsdraht zu Roland Jahn auf. Jedes Mal, wenn sich der Kreis der Telefonpartner von Roland Jahn in der DDR erweiterte, wurde das vom MfS elektrisiert wahrgenommen und unverzüglich ausgewertet. Stephan Bickhardt war es auch, der mit Gerd Poppe und Martin Böttger die »Kontaktgruppe zur ›Charta 77‹« aufbaute. Über die Aktion des öffentlichen Ankettens eines kirchlichen Mitarbeiters am 13. August 1986 nahe an der Mauer in Ost-Berlin (»25 Jahre sind genug«) und die daraus entstandene deutschlandpolitische Initiative »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« wurde Bickhardt gemeinsam mit seinem und unserem
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Freund Ludwig Mehlhorn auch zu einem der Mitbegründer der Bürgerbewegung »Demokratie Jetzt«. Die Schauspielerin, Regisseurin und Autorin Freya Klier gehörte zu der winzigen Minderheit von DDR-Künstlern, die sich nicht nur als kritisch und unangepasst verstanden und klammheimlich mit Teilen der Opposition sympathisierten, sondern sich ungeteilt einbrachten. Zusammen mit ihrem damaligen Ehemann, dem Liedermacher Stephan Krawczyk, zählte sie bis zu ihrer Zwangsausbürgerung im Februar 1988 zum Kern einer Opposition, die sich gerade erst formierte. In Konzerten, Lesungen und Theateraufführungen, die unter anderem auch in unserer Pankower Wohnung stattfanden, spießten sie Lüge, Heuchelei, Duckmäusertum und andere Formen realsozialistischer Doppelmoral auf. Es gab Sätze aus ihren Texten und Krawczyks Liedern, die den DDR-Untertanen ins Mark trafen, wie: »man soll zwar aufrecht stehen aber leicht geduckt« oder »Ach ich würd mir ja so gern das Hemd aufreißen, wenn mir einer die Knöpfe annäht«, und zu geflügelten Worten wurden. Dazu gehörte auch das Motto: »Wer kriecht kann nicht stolpern.« Offizielle Auftritte waren den beiden ohnehin verwehrt, Auftritte in Kirchen wurden immer schwieriger, weil zunehmend weniger Pfarrer wagten, die »Staatsfeinde unter ihr Dach zu lassen«. Riskierten sie es dennoch, mussten sie Repressionen vonseiten des Staates und den Druck kirchenleitender Stellen in Kauf nehmen. So wie Klier/Krawczyk die Angepasstheit etablierter Künstler anprangerten, verweigerten sie sich andererseits einer Attitüde unpolitischer Avantgarde, die in Teilen des Prenzlauer-Berg-Milieus grassierte und unter anderem von Bundesgenossen des MfS, wie Sascha Anderson, gepflegt wurde. Klier und Krawczyk verstanden sich in aller Eigenwilligkeit und Exzentrizität als Teil der politischen Opposition und hatten damit auch enge Kontakte zur IFM. Beide sollten im Rahmen der Aktion »Störenfried« eine zentrale Rolle spielen. Wenn jemand die Abhörspezialisten der Abteilung 26 und ihre Vorgesetzten in den Wahnsinn treiben konnte, dann war es der oppositionelle Schriftsteller Lutz Rathenow. Er war der erste, der den Spieß konsequent umdrehte, mit dem Gegenüber Katz und Maus spielte und das Medium Telefon in vielfacher Weise für sich selbst nutzte. In einem »Bearbeitungsbericht« aus dem Mai 1986 wird eine wahre Flut von telefonischen Westkontakten registriert, die der umtriebige Schriftsteller bereits seit Jahren unterhielt. Die Stasi-Abhöraktivitäten zu seinen Telefonaten füllen viele Bände. Lutz Rathenow verstand es, die westliche Öffentlichkeit nicht als Gefährdung, sondern als Schutz zu sehen, sich auf dieser Bühne souverän zu bewegen und dennoch auf seinem Verbleiben in der DDR zu beharren. Dies unterschied ihn von vielen anderen unangepassten Schriftstellern und Oppositionellen, die sich förmlich selbst isolierten. Die besonders enge Verbindung zu Jürgen Fuchs und Roland Jahn hatte für Rathenow biografische Gründe. In Jena geboren, wo er in den 1970er Jahren auch Geschichte und
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Deutsch an der Friedrich-Schiller-Universität studiert hatte, entwickelte er früh einen Sinn für Skurrilitäten. So wurde er Begründer der Black-PantherParty/Sektion Jena, der allerdings nur eine sechswöchige Existenz beschieden war. Nach der Biermann-Ausbürgerung und den folgenden Protesten, die in Jena besonders intensiv wurden und bis in die Betriebe reichten, wurde er im März 1977 von der Universität exmatrikuliert, heiratete und zog mit der Familie nach Ost-Berlin. Ein dissidentisches Schriftstellerleben folgte, in dem der intensive Bezug auf Jena und die Jenaer Freunde immer eine zentrale Rolle spielten. Im Nachhinein war es unerheblich, ob sie nun bereits ausgewiesen waren und in West-Berlin saßen oder – von der nächsten Verfolgungs- und Abschiebewelle bedroht und erfasst – noch in der Thüringer Heimat Unruhe stifteten. Publizieren konnte Rathenow fast nur im Westen und zog sich ein Verbots- und Verwarnungsverfahren nach dem anderen zu. Auftritte und Lesungen, die er immer sehr zahlreich und in der gesamten DDR hatte, konnte er nur in Kirchen und Privatwohnungen abhalten. Seine Idee war es auch, mit Westberliner Freunden und Galeristen, Telefonlesungen zu verabreden. Natürlich wusste er, dass die per Telefon geführten Vorbereitungsgespräche sofort protokolliert und weitergeleitet wurden, dass also Gegenmaßnahmen ins Haus standen. Das war ein Teil der Falle, die er den MfS-Leuten stellte. In der Westberliner Galerie, die ihn zu einem vereinbarten Lesetermin anrufen sollte, lag für alle Fälle ein Tonband bereit, das eingespielt werden sollte, falls die Leitung blockiert war. Publikumswirksam wurde beim abendlichen Lesetermin die Nummer von Rathenow angewählt, der sich nicht meldete, sodass die Tonbandstimme des Autors als Ersatz dienen musste. Natürlich war auch die »bürgerlich-imperialistische« Presse da, die darüber berichtete. Im Auswertungsbericht zu dieser Aktion wurde wutschnaubend festgehalten, dass der hinterhältige Rathenow, die in diesem Moment angeblich freie Telefonleitung absichtlich nicht genutzt habe, um das MfS und seine Methoden an den Pranger zu stellen. Auf der anderen Seite war Rathenow so geschickt und vorsichtig, dass in den zahlreichen Analysen und Auswertungen seiner Gespräche immer wieder festgestellt werden musste, dass er sich hart an der Grenze staatsfeindlicher Äußerungen bewege, diese Grenze aber nicht überschreite. Rathenow wechselte auch häufig die Telefone und wich auf öffentliche Telefonzellen aus, was erneute hektische Aktivitäten des MfS nach sich zog: »Dabei ist feststellbar, dass Rathenow bei fernmündlicher Verbindungsaufnahme zu Fuchs, Jürgen zunehmend öffentliche Fernsprecheinrichtungen nutzt. Dabei spricht Rathenow dann offener, detaillierter und personenbezogener.« Um zu dieser Einschätzung zu kommen, hatte die entsprechende Abteilung des MfS zeitweise sämtliche Telefonzellen in der näheren Umgebung Lutz Rathenows angezapft. Da auch Roland Jahn und Jürgen Fuchs in West-Berlin häufig öffentliche Telefonzellen benutzten, sind in den Akten über sie Pläne und
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Abbildungen mit zahlreichen Telefonzellen aus dem Kreuzberger Umfeld Jahns und dem Tempelhofer Wohnumfeld von Fuchs zu finden. Rathenow brachte es auch fertig, am Vormittag einer Vorladung beim Rat des Stadtbezirkes, Abteilung Kultur oder Inneres Folge zu leisten, bei der man versuchte, ihm Daumenschrauben anzulegen oder auf andere Weise weichzuklopfen, und hinterher am Telefon drei, vier oder sechs Westjournalisten darüber zu berichten. Er führte seine staatlichen und geheimpolizeilichen »Gesprächspartner« nach allen Regeln der Kunst vor und gab ihnen süffisant Zensuren. Nach der Veröffentlichung seines Buches »Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet« in einem Münchner Verlag war er verhaftet worden, was zu internationalen Protesten führte und nach zehn Tagen seine Freilassung beförderte. In der Folgezeit gab es immer wieder Verhaftungsszenarien gegen ihn, die dann fallen gelassen wurden aufgrund der befürchteten öffentlichen Reaktionen und weil Kurt Hager anmerkte, damit würde Rathenow »unverdient« weltberühmt werden. Der Biermann-Schock saß sehr tief bei den SED-Genossen. Neben Bärbel Bohley, Ralf Hirsch und mir wurde auch gegen Lutz Rathenow im Dezember 1987 die offizielle Telefonüberwachung eingeleitet, um strafrechtlich relevantes Material zu sichern. In den entscheidenden Januar- und Februartagen 1988, vor und nach unserer Verhaftung, war auch er es, der mit unglaublicher Nervenstärke die Verbindung zu Roland Jahn und Jürgen Fuchs hielt, die aktuellen Entwicklungen analysierte, gegen den Kapitulationswillen anging und zugleich versuchte, DDR-Öffentlichkeit zu mobilisieren. Die erhaltenen Telefonprotokolle sprechen hier eine deutliche Sprache. Rainer Eppelmann, der nicht direkt in der IFM mitarbeitete, war in zahlreichen unserer Arbeitszusammenhänge präsent und spielte eine entscheidende Rolle, wenn es darum ging, Ausgrenzungs- und Isolierungsstrategien vonseiten der Amtskirche abzuwehren. Er kam aus einer Arbeiterfamilie und wurde, da er in West-Berlin zur Schule ging, nach 1961 vom weiteren Schulbesuch ausgeschlossen. Später absolvierte er eine Lehre als Maurer. In der 1964 erstmalig geschaffenen Einheit von Bausoldaten, in die der Wehrdienstverweigerer Eppelmann eingerückt war, verweigerte er das vorgeschriebene Gelöbnis, was ihm acht Monate Gefängnis einbrachte – eine weitere Lektion in Sachen DDRRealität. Später studierte er an der Ostberliner Predigerschule Paulinum Theologie. Als Pastor, der seine seelsorgerliche Verantwortung für die Benachteiligten der Gesellschaft ernstnahm, kümmerte er sich um ausgegrenzte und bedrohte Jugendliche, kam unter anderem in Kontakt mit Ralf Hirsch und wurde zum wichtigsten Initiator der Bluesmessen. Dem Kontakt zu Robert Havemann und dessen Ehefrau Katja verdankte Eppelmann nicht nur einen entscheidenden Schub der Politisierung. Er nahm den Rat Havemanns sehr ernst, offensiv den Kontakt zu westlichen Journalisten und Diplomaten zu suchen, der für den
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eigenen Schutz und die Herstellung von Öffentlichkeit unerlässlich sei. Gemeinsame Initiativen von Eppelmann und Havemann, so die Offenen Briefe an Breschnew und Honecker und der gemeinsam formulierte »Berliner Appell« aus dem Jahr 1982, gaben der jungen unabhängigen Friedensbewegung entscheidende Antriebe. Eppelmann war einer der wenigen Kirchenleute, welche die Gründung der IFM, das Tempo und die Konsequenz unserer Arbeit uneingeschränkt begrüßten. Über Ralf Hirsch, der nach wie vor in der Samaritergemeinde aktiv war, hatten wir dauernden Kontakt zu ihm. Auf der einen Seite waren Ralf Hirsch und Rainer Eppelmann unzertrennlich, tüftelten auch gemeinsam Aktionen aus, auf der anderen Seite konnte sich Ralf über die Profilierungssucht seines Freundes auch ärgern. Szenen einer Ehe spielten sich ab, die sich auch in den Protokollen finden lassen. Wenn die Zersetzungsspezialisten des MfS jedoch darauf bauten, aus den erlauschten und zugetragenen Eifersüchteleien und Konflikten dauerhaften Nutzen ziehen zu können, sahen sie sich getäuscht. Nach dieser Seite konnten sie keine erfolgreiche Spaltungsstrategie entwickeln. Als es im Herbst 1987 zu den ersten Gesprächen von CDU-Politikern, Vertretern der IFM und Eppelmann kam, zeigte sich, wo die tatsächlichen Risse und Klüfte lagen, wo die Strategen auf der Gegenseite den eigentlichen Einbruch sahen. Eine Aufwertung unabhängiger oppositioneller Gruppen als selbstständige Gesprächspartner alarmierte nicht nur die Staatsseite, sondern auch zahlreiche Kirchenfunktionäre, die um ihr Verhandlungsmonopol fürchteten. Knapp ein Jahr vor diesen Gesprächen und den entscheidenden Konflikten des Herbstes 1987 musste das MfS bei seinen Versuchen, die neue Menschenrechtsgruppierung zurückzudrängen und auszuschalten, eine ernüchternde Bilanz ziehen. Trotz aller Kontrollmaßnahmen und Zersetzungsstrategien, aller »Einflussarbeit« auf der Kirchenseite und der Platzierung zahlreicher IM in unserer Nähe, wurde die Wirkung der Gruppe immer intensiver. Um den Kern der IFM herum gab es mittlerweile eine immer größere Anzahl von Personen, die in vielfältigen anderen Zusammenhängen präsent waren, engen Kontakt zu uns hielten, unsere Materialien einschließlich des »Grenzfalls« verbreiteten und uns mit Informationen versorgten. Neben den schon Genannten waren es Leute wie Carlo Jordan, Christian Halbrock oder Wolfgang Rüddenklau, die ökologische Initiativen aufbauten, bei der Gründung der Berliner »Umweltbibliothek« mitwirkten und die »Umweltblätter« herausgaben. Am Verhältnis der »Umweltbibliothek« und der IFM zeigte sich, wie erfolgreich auf der Ebene der Gruppen die Isolierungsstrategie unterlaufen werden konnte. Als 1986 die Zionskirchgemeinde in Berlin-Mitte zur Heimstatt für einen Kreis jüngerer Leute wurde, die im Keller des Gemeindegebäudes eine »Umweltbibliothek« einrichteten, war eine der wichtigsten Schaltstellen der politischen Opposition geboren. Formal unter dem Dach der Kirche angesiedelt, mit dem basisdemokratisch-
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anarchistischen Anspruch ihrer Gründer und Anhänger jedoch weit darüber hinausweisend, wurde die »Umweltbibliothek« zum Magneten für unruhige Geister aus allen Teilen der DDR. In schneller Folge entstanden kleinere Umweltbibliotheken in anderen Regionen; die IFM hielt als Gast regelmäßig Zusammenkünfte in der Berliner »Umweltbibliothek« ab, die Herausgeber des »Grenzfalls« und der mit Kirchenstempel versehenen, aber kaum weniger wichtigen Samisdat-Zeitschrift »Umweltblätter« pflegten eine enge Kooperation. Auch hier jagte das MfS jeder Spur dieser Kooperation nach und versuchte immer wieder die kirchenleitenden Organe unter Druck zu setzen, um den gefährlichen Unruheherd der Opposition aus dem Gemeindeleben zu entfernen. Als sich Wolfgang Rüddenklau, der als linker Purist gegenüber allen »falschen« Kontakten in den Westen sehr ablehnend und zögerlich war, im direkten Gespräch mit dem »Agentenführer« Roland Jahn orten ließ, setzte eine fieberhafte Auswertungstätigkeit ein. Dass der Öffnungsanspruch der IFM wirkte und an welche Grenzen er stieß, zeigte das Beispiel von Peter Eisenfeld. Die im Jahre 1941 geborenen Zwillinge Bernd und Peter Eisenfeld gehörten zum oppositionellen Urgestein der DDR nach dem Mauerbau. Beide lösten sich auf unterschiedliche Weise aus ihrer ursprünglichen Bindung an die sozialistisch-freiheitliche Zukunftshoffnung, die für sie nie eine unkritische Gefolgschaft an das System war. Bernd Eisenfeld brachte eine individuelle Flugblattaktion, bei der er sich 1968 mit einem Leninzitat gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR wandte, zwei und ein halbes Jahr Zuchthaus ein. Er strebte danach seine Übersiedlung in die Bundesrepublik an und konnte im August 1975, kurz nach Verabschiedung der KSZE-Schlussakte, die DDR verlassen. Sein Bruder Peter blieb als Einzelkämpfer zurück und versuchte mit eigenen Beiträgen und Manuskripten eine unabhängige Menschenrechtsdebatte zu befördern. Da er auch offizielle Einrichtungen und Institutionen mit seinen Texten unentwegt behelligte, geriet er immer stärker unter Druck. Eine 1984/85 an den VI. Philosophenkongress der DDR gesandte Streitschrift »Politische Macht, Demokratie und Menschenrechte im Sozialismus« verschwand in den Tiefen des mir sattsam bekannten Zentralinstituts für Philosophie, das heißt, sie wurde als »konterrevolutionäres Machwerk« durch die Sicherheitsabteilung beschlagnahmt. Als Eisenfeld, der inzwischen einen Ausreiseantrag gestellt hatte, den Kontakt zur IFM suchte und sein Manuskript zu uns gelangte, reagierte ich euphorisch und schrieb ihm: »Von Johannes Pohl hatte ich Deine Arbeiten zur Menschenrechtsfrage und zum ›Neuen Denken‹ bekommen. Unsere Bemühungen in Sachen Menschenrechte sind ja viel jüngeren Datums und ich war sehr überrascht und froh zugleich, dass in den Sachen von Dir vieles vorweggenommen und angesprochen ist, was jetzt in der Friedensbewegung insgesamt, immer noch langsam und mühsam als Erfahrung nachwächst […] Wir suchen nach Arbeitsformen, die das Vortrag-Zuhörerschema und die Isolation vieler Friedenskreise ein
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Stück überwinden und die geographische Festlegung Berlins als ein herausgehobenes Kommunikationszentrum überschreiten.«
Der Kontakt setzte sich nicht fort, weil Peter Eisenfeld mitbekommen hatte, wie stark die Vorbehalte gegenüber »Antragstellern« auch innerhalb der IFM noch waren und sich deshalb zurückzog. Uns sollte die Frage nach dem Stellenwert des Rechtes auf Freizügigkeit, nach den Motiven für das Bleiben in der DDR und das Verlassen der DDR wenig später förmlich auseinanderreißen. In einer »Übersicht zu Aktivitäten von Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit seit 1.1.1987«, die vom März 1987 stammt, lässt sich eine Auflistung meines »spontanen, fast täglichen Aktionismus« finden. Hätten die Hersteller der Übersicht alle nichterfassten Aktivitäten hinzugefügt, wäre die Liste noch viel länger geworden. Unter den Positionen befindet sich ein am 31. Dezember 1986 telefonisch an Jürgen Fuchs durchgegebenes »Grußtelegramm« an Andrej Sacharow. Gorbatschow hatte im Zuge der Perestroika die Verbannung des weltberühmten Dissidenten aufgehoben und dessen Rückkehr nach Moskau ermöglicht. Sacharow und die demokratische Opposition in Russland: darauf setzten wir, während »Glasnost und Perestroika« unter Gorbatschow den Raum des Handelns erweitern konnte. Den neuen Generalsekretär der KPdSU als Fixstern der Hoffnung zu sehen, fiel uns nicht im Traum ein. In die gleiche Zeit fiel die Grußadresse zum 10. Jahrestag der »Charta 77«, die wir in der »Umweltbibliothek« vorstellten und für die wir dort Unterschriften sammelten. Verfasst wurde auch die Solidaritätserklärung zu den »konterrevolutionären Ereignissen« in Ungarn 1956, die wir im »Grenzfall« vorstellten. Zahlreiche mittelosteuropäische Oppositionelle würdigten die Bedeutung des Ungarn-Aufstandes und wir beteiligten uns mit Dutzenden Unterschriften daran – damit war eine weitere Schallmauer durchbrochen. Schließlich zählte die Verteufelung des Aufstandes als konterrevolutionärer, faschistischer Putsch zu den zentralen Geschichtslügen der offiziellen DDR. Zusammenkünfte der DDR-Unterzeichner zu »Schulungen« über die Genesis des stalinistischen Systems in Ungarn und den Kontext des Aufstandes wurden als besondere konterrevolutionäre Perfidie bewertet. Bereits routinemäßig registriert wurde meine Beteiligung an der Vervielfältigung und Verteilung des »Grenzfalls« und an der Verbreitung von »Kassettenmitschnitten« des Piratensenders Schwarzer Kanal. In einem Telefonbeitrag für die »taz« wies ich die Formulierung Kohls vom 4. Januar 1987 zurück, in der DDR würden Konzentrationslager existieren, gab ihm ansonsten aber von der Sache her Recht, dass es politische Häftlinge in der DDR gibt. Aktivitäten zur Unterwanderung der Friedensbewegung der DDR, Vorschlagspakete zur massiven, öffentlichkeitswirksamen Störung der 750-Jahrfeierlichkeiten (Ost-)Berlins sowie regelmäßige Kommunikation mit dem »Spiegel«-Korrespondenten Ulrich Schwarz vervollständigten die Liste meiner Aktivitäten, an deren Erfassung die Abhörabteilungen ihren bedeutenden Anteil hatten. In den festgehaltenen Akti-
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vitäten wurde auch immer wieder die Handschrift Jahns vermutet und unterstellt. Tatsächlich gab es ab der ersten Hälfte des Jahres 1986 nahezu tägliche, das heißt nächtliche Telefonate zwischen uns, in denen wir uns über all diese Schwerpunkte und Aktivitäten austauschten. Aus Vorschlägen und Empfehlungen Anweisungen und Befehle zu konstruieren, blieb dabei der politkriminellen Phantasie unserer Gegenüber vorbehalten. Roland hatte im Februar 1987 neben Delegationen grüner Politiker auch den Besuch von slowenischen Friedensaktivisten vermittelt, die in der Stasi-Diktion als »jugoslawische Staatsbürger« auftauchten. Interessant ist, dass die Osteuropakontakte und -aktivitäten nicht nur auf dieser Liste ganz vornan standen. Sie nahmen in allen MfS-Übersichten zu unseren Arbeitsschwerpunkten den vordersten Platz ein. Für die Kontakte nach Osteuropa griffen unsere eigenen, teilweise langjährigen Beziehungen dorthin und die mithilfe von Jürgen und Roland geknüpften neuen Netzwerke der Emigranten und Unterstützer besonders gut ineinander. Ludwig Mehlhorn lernte ich Ende der 1970er Jahre auf meinen Wandertouren im Prenzlauer Berg kennen. Der Mathematiker arbeitete seit 1968 in der »Aktion Sühnezeichen« mit, hatte darüber einen sehr intensiven Bezug zu Polen gewonnen, beherrschte die Sprache, übersetzte aus dem Polnischen und baute zahlreiche Kontakte zur Opposition in Polen und später auch in Tschechien auf. Während ich dem Raum der Kirche erst später näher rückte und von polnischen Ex-Marxisten, wie Jaćek Kuroń, Karol Modzelewski, Adam Michnik und Leszek Kołakowski, beeinflusst war, gehörte die religiös-spirituelle Dimension widerständigen Lebens, gehörten Persönlichkeiten wie Dietrich Bonhoeffer oder Karol Wojtyla zu den entscheidenden Ausgangspunkten Ludwigs. Obwohl wir beide unter einem jahrelangen Reiseverbot in das gesamte östliche Ausland standen, rissen die Kontakte nicht ab, sondern verstärkten sich in den folgenden Jahren. Wir konnten auf zahlreiche Verbündete im unmittelbaren Bekannten- und Freundeskreis zurückgreifen, die wie der damalige Theologiestudent und spätere Pfarrer Justus Werdin die polnische Sprache beherrschten, Texte übersetzten, vervielfältigten und kolportierten, selber noch reisten und in verschiedenen Regionen ganze Polenkreise aufbauten. Für nahezu alle Länder Osteuropas gab es eigene »Spezialisten«, ob sie nun wie Reinhard Weißhuhn mit seinen UngarnErfahrungen und -Kontakten direkt zur IFM gehörten, in anderen Zusammenhängen wirkten oder eher Einzelkämpfer waren. Mithilfe von Bernd-Rainer Barth organisierten wir eine Reihe von Vorträgen zur Nachkriegsgeschichte Ungarns, in denen sich die Hintergründe der Ereignisse von 1956 und die Folgegeschichte erschlossen, es gab ganze Zyklen zur »Charta 77« und ihren Protagonisten.
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Ekkehard Maaß, der Liedermacher und Übersetzer, war ein entscheidender Mittler für andere Teile des sowjetischen Raumes, für Russland, Georgien und den Kaukasus. Seine Wohnung, ein Ort zahlloser Lesungen und Veranstaltungen, Treffpunkt von Künstlern, Literaten und Oppositionellen, war einer der Dreh- und Angelpunkte der Prenzlauer-Berg-Szene. Unsere durch Reisesperren unterbrochenen direkten Ostkontakte konnten wir häufig mithilfe westlicher Freunde fortsetzen und erneuern, die von Jürgen und Roland in West-Berlin vorbereitet wurden, bei uns vorbeikamen, häufig mehrere Wochen in verschiedenen Ländern des Ostblocks unterwegs waren, uns bei der Rückkehr mit Informationen und auf verschlungenen Kurierwegen auch mit Material versorgten. Die Verantwortlichen des MfS setzten alles daran, das immer dichtere Netz dieser vielfältigen Kontakte aufzuklären, diese Seite unserer Arbeit zu kontrollieren, zu infiltrieren und wenn möglich zu blockieren. Unter der Menge derer, die sich bei uns für Osteuropa interessierten und ihre Hilfe anboten, waren natürlich auch IM, sowohl von östlicher wie auch von westlicher Seite. Mathias Eyck – IM »Thias«, der sich als Arzt eher im Hintergrund der IFM bewegte und seine Zurückhaltung mit beruflichen Rücksichten begründete – bot sich für Polenreisen an, von denen er regelmäßig berichtete. Da wir bei der Wahrnehmung von Reisekontakten nach jedem Strohhalm griffen, konnte er mit seiner Legendierung bis zum Schluss überdauern. Werner Röhr, ein ehemaliger Kollege aus der Akademie der Wissenschaften, war noch intensiver tätig. IM »Unger«, der zum Kreis um Peter Ruben zählte und von den Verfolgungsmaßnahmen am Institut betroffen war, hatte damit die Möglichkeit, noch längere Zeit glaubwürdig meine Nähe zu suchen, um Informationen, Materialien und Manuskripte auszutauschen. Ich spürte, dass er im tiefen Innern ein linker Fundamentalist war, machte mir nur nicht klar, dass dies die Doppelrolle einschloss, als nach außen hin ausgegrenzter Historiker intensiv für das MfS zu arbeiten. Röhr konnte Polnisch und interessierte sich für die dortigen Entwicklungen. Aus seiner Optik waren jedoch die Solidarność und ihr Kurs ein kompletter Verrat an authentisch kommunistischen Revolutionswegen. Diesen Verrat sah er auch bei uns, dementsprechend abschätzig und wütend waren seine Einschätzungen und Berichte. In Röhr verbanden sich ideologische Borniertheit, persönliche Niedertracht und nahezu paranoider Größenwahn, der ihn annehmen ließ, das Profil unserer Gruppe steuern zu können. Nach 1989 suchte sich Röhr weiterhin als kritischer, verfolgter Wissenschaftler zu präsentieren und zu profilieren. Seine ungewöhnlich prall gefüllten IM-Akten ließen diesen Nimbus schnell zerbrechen. Heute wütet er gegen jeden, der seine DDR »beschmutzt«. Bei Grußadressen, gemeinsamen Briefen und Solidaritätsinitiativen, die Personen, Gruppen und Initiativen in verschiedenen Ostblockländern einschlossen, kam es auf die direkte und möglichst aktuelle Kommunikation und Abstim-
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mung an. Hier setzte dann wieder die Bedeutung des Telefons ein, hier versuchten die Abhörer und Auswerter, das bereits vorhandene Material aus IMBerichten zu komplettieren und zu verifizieren. Um die »Warschauer Erklärung« vom Mai 1987 als Teil eines internationalen Friedensseminars entbrannte ein regelrechter Telefonmarathon. Der Kontakt der IFM zu den Veranstaltern des Seminars, der polnischen Oppositionsgruppe »Wolnosc i Pokoj« (»Freiheit und Frieden«), schloss nicht nur den Austausch von Informationen und Materialien ein, sondern auch inhaltliche Zusammenarbeit und Solidaritätsaktionen bei Verhaftungen im anderen Land. Wir teilten mit den polnischen Friedensaktivisten und Wehrdienstverweigerern den blockübergreifenden Ansatz und den Versuch, Friedens- und Menschenrechtsthematik zu verbinden. Natürlich konnte niemand aus der IFM die Einladung zum Seminar wahrnehmen. Zahlreichen geladenen westlichen Teilnehmern wurde von volkspolnischer Seite die Einreise verweigert, andere schlugen sich mit Touristenvisa durch. Dank der Unterstützung von Warschauer Bischöfen konnte das Seminar in fünf Kirchen der polnischen Hauptstadt abgehalten werden. Unsere telefonische Verbindung dorthin, die immer wieder unterbrochen wurde, Rückrufe der westlichen Teilnehmer zu Roland Jahn, der wiederum uns informierte und zur wenigstens symbolischen Teilnahme antrieb, Formulierung und Übermittlung der Erklärung und der dazugehörigen Unterschriften – alles wurde labyrinthisch. Das MfS notierte und zählte penibel mit und meinte immer wieder Unkorrektheiten bei der Abstimmung der Erklärung und der angegebenen Zahl eingegangener Stimmen feststellen zu können. Letztlich wurde die Erklärung, in der wir die »gemeinsame Basisarbeit für Frieden, Menschen- und Bürgerrechte in unseren Ländern« stärken und die verfassungsmäßige Garantie des Rechtes auf Wehrdienstverweigerung und zivilen Ersatzdienst, der nicht in militärische Strukturen eingebunden ist, forderten, eines von vier Dokumenten der Konferenz. Die direkte und symbolische internationale Beteiligung, das unmittelbare Zusammenwirken von Friedensengagierten, Menschenrechtlern und Ökologen aus Ost und West ließen die Veranstaltung zu einem Durchbruch werden. Von polnischer Seite beteiligten sich neben jüngeren Oppositionellen auch bekannte Intellektuelle wie Bronisław Geremek. Wenn es um die Sowjetunion ging, richteten wir unseren Blick auf die Dissidenten um Sacharow, denen wir uns verbunden wussten, und suchten nach Signalen von neuen Gruppen. Ein solches Signal erreichte uns aus Moskau, von der gerade entstandenen »Vertrauensgruppe«. Deren Vertreter schrieben: »Es ist jetzt höchste Zeit für uns, zu euch regelmäßige Kontakte aufzubauen und durch gemeinsame Aktionen mehr zu erreichen.« Für Kontakte waren wir auch hier auf das Telefon angewiesen und konnten uns, wenn die Verbindung stand, direkt austauschen. Als mitten in der Perestroika-Phase der Moskauer Germanist, Friedensaktivist und Mitarbeiter der Vertrauens-Gruppe Sergej Swetuschkin
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wegen »parasitärer Lebensweise« vor Gericht stand, setzten wir uns für ihn ein. Die Methode, Menschen aus ihrer Berufssituation zu drängen, normaler Arbeitsverhältnisse zu berauben, um sie dann der Asozialität zu beschuldigen, kannten wir nur zu gut. Um die IM der Gruppe, die auch bei den Telefonkontakten zuweilen direkt präsent waren, so Frank Hartz bei den russischen Kontakten, rankten sich im Nachhinein zahlreiche Spekulationen und Legenden. Sie hatten sich, wie Monika Haeger und Mario Wetzky, bereits bei den »Frauen für den Frieden« und anderen Gruppen eingeführt und waren dann bei uns präsent; kamen aus dem persönlichen Umfeld einzelner Gruppenmitglieder, wie Reiner Dietrich, ein Freund von Ralf Hirsch, und Lothar Pawliczak, mein ehemaliger Kommilitone; tauchten bei späteren Gelegenheiten auf und blieben, wie Frank Hartz und Sinico Schönfeld. So verschieden die Einstiege waren, so verschieden auch die Legendierungen, welche sie mitbrachten und die Rolle, welche sie zu spielen suchten: Dem Typ des »ausgestiegenen Marxisten«, der sich wohl eher an meiner Biografie orientierte, standen der Sozialfall und der Exot gegenüber. Monika Haeger warb permanent um Aufmerksamkeit und Zuwendung, Frank Hartz, der dann auch noch in unsere Gruppe einheiratete, wollte immerzu bedauert werden, andere suchten mit Disziplin und Hilfsangeboten zu punkten. Zu den acht IM, die sich zentral in der IFM platzierten und in der Gruppe Einfluss zu gewinnen suchten, kamen weitere hinzu, die mehr oder weniger zurückgenommen am Rand oder im Umfeld agierten und partiell auftraten oder auf Einzelne von uns angesetzt waren, wie der schon erwähnte Borchardt auf Werner Fischer. Ibrahim Böhme stieß im Jahre 1987 dazu und machte aus all seinen Auftritten ein einziges Mysterienspiel. Nimmt man Information, Destruktion (Zersetzung) und versuchte Steuerung als die drei zentralen Aufgaben der eingeschleusten IM, so konnten die vorgangführenden Offiziere und ihre Vorgesetzten mit dem Verhältnis von Aufwand und Ergebnis in keiner Weise zufrieden sein. Das fing bei der Qualität der Informationen an. Lagen beispielsweise drei IM Berichte von einer Zusammenkunft der IFM oder einer größeren Veranstaltung, bei der Mitglieder von uns präsent waren, vor, konnte ein intelligenter Auswerter nur mit dem Kopf schütteln. Es wimmelte von Unter- und Übertreibungen, Fehlinterpretationen und einfachen Aussetzern des Verständnisses. Da die IM in der Regel um Korrektheit bemüht waren und beflissen ihre Berichte ablieferten oder diktierten, konnte es nur das Problem ihres beschränkten Horizontes oder anderer Blockaden sein. In zahlreichen Fällen erhielten die auswertenden Stellen ein realistischeres Bild, wenn sie den gleichen Zusammenhang oder die Argumentation dazu aus den Protokollen der zumeist nächtlichen Telefongespräche entnahmen, die wir führten.
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Noch problematischer wurde es, wenn die IM unsere jeweilige Verfasstheit, Motivlagen und zu erwartende neue Schritte einschätzen sollten. Mir wurde Verfolgungswahn attestiert, obwohl ich mich über die Verfolger lustig machte und handlungsfähig blieb. Davon konnten sich die Lauscher eindrücklich überzeugen. Regelmäßig gab es Einschätzungen der IM, dass Fischer, Poppe und wer auch immer, kurz davor stünden aufzugeben, nur noch Nervenbündel seien, die keiner mehr ernst nehmen könne. Einem strategisch geschulten MfS-Offizier konnte es nicht genügen, Leuten, die ein Konzept hatten und verfolgten, blindwütigen Amoklauf zu unterstellen. Er suchte nach dem Konzept und konnte dann in Rolands nächtlichen »Lektionen« und meinen Repliken – oder umgekehrt – einiges finden. In ihrer destruktiven, zersetzenden Rolle gelangen den IM einige Erfolge. Sie schafften es immer wieder, latente Gruppenkonflikte zu schüren, Eifersüchteleien zu entfachen und zu verstärken, in einzelnen Fällen Aktionen zu verhindern oder mindestens zu verzögern und so die Unzufriedenheit zu befördern Bei ihrer dritten und wichtigsten Aufgabe, Inhalte und Aktivitäten der Gruppe zu bestimmen, zu manipulieren und umzudrehen, versagten sie völlig. In kirchlichen Friedensgruppen konnten die dort eingesetzten IM Tendenzen der Selbstbegrenzung und Isolation, der inhaltlichen Unverbindlichkeit befördern. Bei linken Kreisen, wie dem »Friedrichsfelder Feuermelder«, vermochten IM, wie Knud Wollenberger und Wolfgang Wolf inhaltlich den Ton anzugeben, weil sie sich der sozialistischen Abgrenzungs- und Diffamierungslogik gegenüber »westlich gelenkten« Oppositionellen bedienten. Unser Konzept einer offenen, politisch pluralen, auf internationale Öffentlichkeit gerichteten und aktionsbezogenen Menschenrechtsarbeit, ließ sich weder kippen noch deformieren. Umgekehrt muss man fragen, was es bedeutete, wenn sich Mario Wetzky, Monika Haeger und Reiner Dietrich mit Namen und Adresse unter die »Warschauer Erklärung« oder den Offenen Brief an die Journalisten setzten und an den damit verbundenen Aktionen beteiligten. Dokumente und Aktionen, die wie zahlreiche andere, an denen sie notgedrungen, um die Konspiration zu wahren, beteiligt waren, staatsfeindlichen Charakter hatten und eine offene Kampfansage an das System bedeuteten. Aus welchen Gründen auch immer wurden die IM innerhalb der IFM nur äußerst selten zu grenzüberschreitenden Telefonaktivitäten angehalten. Hier bildete ein Gespräch von Monika Haeger mit Roland Jahn, vom April 1987, die Ausnahme. Deutlich wird, wie bei anderen selteneren Telefonpartnern Jahns, die Unsicherheit der Gegenseite und die stärkere Zurückhaltung Rolands. Der war durchaus daran interessiert, den Kontakt aufrechtzuerhalten, um den Kreis seiner Gesprächsteilnehmer zu erweitern, was sich jedoch nicht mit den Instruktionen für Haeger zu decken schien.
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Frank Hartz, der geläufig Russisch sprach, geriet jedes Mal ins Schwitzen, wenn ich ihn förmlich zum Telefonhörer trieb, um einen weiteren Anruf nach Moskau zu starten. Ganz wohl fühlte er sich in seiner Haut nie. Eine der wirksamsten und perfidesten Strategien des MfS bestand ohnehin darin, Verdachtsmomente und Indizien gegen Oppositionelle zu konstruieren und zu präsentieren, die deren Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst suggerieren sollten. Diese Vorhaben tauchen in zahlreichen Maßnahme- und Zersetzungsplänen auf. Mit oder ohne IM, von deren Existenz wir ausgingen, ohne perfekte Ortungsgeräte zu haben, hatten wir über ein Jahr nach Gründung der IFM ein breites Umfeld gewonnen. Der »Grenzfall« erschien regelmäßig, die Kooperation mit den »Umweltblättern« und anderen nachwachsenden Samisdat-Publikationen funktionierte. Mittlerweile existierten Unterstützergruppen in Leipzig, Halle, Dresden, Weimar und zahlreichen anderen Städten. Für Leipzig wurde auf diese Weise unsere schnelle Präsenz bei der Luxemburg-Demonstration im Januar 1989 und den nachfolgenden Verhaftungen möglich. Die Entwicklungen dort führten dann auch zur schnelleren und intensiveren Kooperation zwischen Kirchengruppen und unabhängigen Initiativen. Gruppen, die sich auf das Gehen, und Kreise, die sich auf das Bleiben orientierten, ließen sich anders als noch 1987/88 nicht mehr auseinanderdividieren. In Dresden war es die Gruppe »Wolfspelz« mit Johanna und Roman Kalex, die entnervt vom ständigen Kleinkrieg mit der Kirchenbürokratie eine stärkere überregionale Anbindung suchten und zu einer unserer wichtigsten sächsischen Verbündeten wurde. Der Name der Gruppe leitete sich von dem Vorwurf eines sächsischen Bischofs ab, dass sie Wölfe im Schafspelz seien. Sie nahmen den Vorwurf ernst und wurden zum »Wolfspelz«, der die staatlichen Organe in dauernder Anspannung hielt. Zu inhaltlichen Höhepunkten wurden im Jahre 1987 der Kirchentag in OstBerlin und der daraus entstehende »Kirchentag von Unten«. Mit den Initiativen der »Kirche von Unten« und der »Solidarischen Kirche« setzten Laien und Mitarbeiter Akzente der Selbstständigkeit gegenüber der Kirchenleitung, erklärten sich zu mündigen Christen und forderten Mitspracherechte ein. Die Perestroika nahm ihren Fortgang und Kurt Hager gab sein berühmtes Interview, in dem er jeglichen Renovierungsbedarf für die DDR zurückwies. Kein Mensch sei gehalten, nur deshalb zu tapezieren, weil dies der Nachbar tue. Damit sollte er als »Tapetenkutte« in die Geschichte eingehen. In die gleiche Zeit fiel die Vorbereitung und Übergabe unseres Briefes an Michail Gorbatschow. Wir bezogen uns positiv auf die Perestroika, blieben in Anrede und Tonfall höflich, ohne mit unseren eigenen Standpunkten hinter dem Berg zu halten, mahnten die Freilassung inhaftierter sowjetischer Friedensaktivisten und die Beteiligung unabhängiger Gruppen an einem Menschrechtsforum an, das in
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Moskau geplant war. Dies trug uns vonseiten linker Kontrahenten den Vorwurf der Andienerei ein. Ausgerechnet Leute, die sonst nicht genug damit tun konnten, der IFM einseitige Westorientierung und Provokationen vorzuhalten, wie der IM Knud Wollenberger, starteten einen derartigen Angriff. Die Strategen der SED und des MfS schienen das anders zu sehen. Mit großem Aufwand wurde jede Äußerung und jedes Telefonat registriert und ausgewertet, das sich auf den Brief, die Übergabe und die Medienreaktionen bezog. Die Führungsebene des MfS schlug vor, »die sowjetische Botschaft in der DDR in geeigneter Weise über das provokative Vorhaben zu informieren, verbunden mit dem Ersuchen, bei einer Entgegennahme des Briefes sich jeglichen Meinungsäußerungen und Reaktionen zu enthalten und die Überbringer entsprechend den gegebenen Möglichkeiten festzustellen«.
Intensive Telefonate und noch heftigere Reaktionen begleiteten eine unserer Öffentlichkeitsaktionen, die am 24. April 1987 auf dem Flughafen BerlinSchönefeld endete. Um die »stille« Repressionspraxis anhaltender Reiseverbote nach Osteuropa öffentlich anzuprangern, hatte sich eine Reihe von Gruppenmitgliedern zu einem gemeinsamen Flug nach Prag entschlossen und Tickets gekauft – ein Flug, von dem wir wussten, dass er nicht zustande kommen würde. Die Versuche, unseren Flug zu verhindern, und die letztendliche Blockade unseres Fluges, sollte ein Medienereignis werden. Wir konnten nicht davon ausgehen, die Aktion im Vorfeld geheim zu halten. Gerüchte und Informationen machten tagelang vorher die Runde, alle Ticketbesitzer wurden vorgeladen und unter Druck gesetzt, Abstand von der Reise zu nehmen. Am Tag der Reise waren die »Zuführungs«kommandos tätig. Pech für das MfS war nur, dass es einigen »Reisenden« gelang, sich dem Zugriff zu entziehen und den vereinbarten Treffpunkt bei Ralf Hirsch zu erreichen, wo bereits westliche Korrespondenten warteten. Rolands Mitarbeit hatte sich ausgezahlt, selbst wenn keiner von uns die Maschine erreichte, war die Blamage für die DDR-Seite öffentlich geworden. Eine weitere Aktion war die Verteilung von Flugblättern auf dem traditionsreichen »Solidaritätsbasar« der DDR-Journalisten auf dem Berliner Alexanderplatz im August. Wir forderten die DDR-Journalisten auf, von Lügen, Entstellungen und Halbwahrheiten Abschied zu nehmen, zu einer kritischen und auf die Entwicklung von Öffentlichkeit gerichteten Tätigkeit zu finden und empfahlen ihnen den Verband der Journalisten in der UdSSR als Vorbild. Ohne die Anwesenheit westlicher Korrespondenten hätten wir keine zwei Minuten auf dem Platz gestanden. Von ähnlicher Brisanz, nur ohne die Gefahr der Verhaftung, waren die Auftritte der IFM auf dem erwähnten Kirchentag und dem »Kirchentag von Unten«. Auf diesem Feld sollte sich mit Unterbrechungen bis zum Sommer 1989 eine Art Katz-und-Maus-Spiel wiederholen. Dort, wo die
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Informationslage des MfS gut genug war und es die Einflusskanäle zu Kirchenfunktionären nutzen konnte, gelang es, die Präsenz oppositioneller Kräfte zu begrenzen. Gegenüber der IFM und weiteren nachwachsenden Ansätzen politischer Opposition gab es eine Doppelstrategie. Sie sollten von den gemäßigten und kirchenbezogenen Teilen des unabhängigen Spektrums isoliert und als westlich gesteuerte Provokateure hingestellt werden. Unabhängige und offen politische Künstler, wie Freya Klier und Stephan Krawczyk, die mit ihren Theaterstücken und Liederabenden immer populärer wurden, sollten aus dem Kirchenraum verbannt werden. Eine hohe Repressionsdichte gegenüber Oppositionellen zeigte den Graben zu Gemäßigten an, die mit Duldung rechnen konnten. Umgekehrt gab es im Vorfeld des Honecker-Besuches in Bonn im September 1987 Gesten, die Offenheit und Gesprächsbereitschaft suggerieren sollten. Dazu gehörten die öffentliche Vorstellung des SED/SPD-Papiers im August 1987 und der »Olof-Palme-Friedensmarsch« im September. Mit unserer Skepsis gegenüber derlei Manövern, standen wir wieder ziemlich allein da. Sozialdemokratische Blauäugigkeit angesichts der Natur ihres Gegenübers, der Versuch in der Deutschlandpolitik eigenen Boden zu gewinnen und protestantisch-unkritische Friedfertigkeit erzeugten in Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit eine Stimmung, als sei in der DDR die Perestroika ausgebrochen. Die Wochen nach dem Honecker-Besuch in Bonn zeigten sehr schnell, dass dem nicht so war und wir mit unserer Skepsis Recht behielten. Uns gegenüber wurde die tägliche und nächtliche Beobachtung intensiviert und die Repressionen noch schärfer, zeitgleich lief in West-Berlin und der Bundesrepublik eine verdeckte HV A-gesteuerte Diffamierungskampagne gegen Roland Jahn an. Die grenzüberschreitende Verbindung hatte sich als so dicht und tragfähig erwiesen, dass man Jahn mit Recht als Spiritus Rector zahlreicher unserer Initiativen identifizieren wollte. Dieser Draht sollte um jeden Preis gekappt werden. Rolands Vorarbeit und Präsenz in der alternativen »taz« machte es auch möglich, dass die Zeitung in dieser Zeit für ein Wochenende von Gastredakteuren gestaltet wurde, unter denen sich Dissidenten und politische Emigranten aus Mittelosteuropa befanden. So konnte György Dalos in aller Seelenruhe aus den Redaktionsräumen der »taz« anrufen und Artikel bestellen. Im Sommer 1987 nahmen wir neue politische West-Kontakte auf, die heftigste Kontroversen innerhalb der DDR-Gruppen auslösten und den Handlungsdruck auf die Führungsebenen der SED und des MfS verstärkten. Den Abhörabteilungen und den Auswertenden wurden noch größere Arbeitsleistungen abverlangt. Vermittelt über Rainer Eppelmann und über Kontakte von Ralf Hirsch wurde ein Treffen von Vertretern der IFM mit Bundestagsabgeordneten der CDU vorbereitet. Bislang hatten wir bei den bundesdeutschen Parlamentariern lediglich Vertreter der Grünen als Partner, denen sich in wenigen Fällen ein
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vereinzelter Emissär der SPD anschloss. Von offizieller sozialdemokratischer Seite wurden wir nicht wahrgenommen, weil wir ähnlich wie andere Oppositionsgruppierungen im Mittelosteuropa nicht in das regierungsfixierte Konzept der späten Entspannungspolitik passten. Als jetzt eine Delegation der CDU kam und die Gespräche mit Vertretern der IFM stattfanden, mussten sich Gerd Poppe und andere Mitglieder der IFM gegen den Vorwurf des Paktierens mit den Konservativen wehren. Sie verteidigten die Gespräche und verwiesen auf die unübersehbare Distanz unserer Konzepte zu zahlreichen Positionen der CDU. Sollte es bei diesen Kontakten bleiben und sollten andere bundesdeutsche Parteien wie die FDP nachziehen, würde auch die SPD nicht umhin können, uns früher oder später als Gesprächspartner ernst zu nehmen. Damit stellten wir das Gesprächsmonopol des Staates infrage und untergruben die Sonderstellung der Kirchen bei Gesprächen und Verhandlungen. Strategiepapiere des MfS zeigen, dass sich bereits im Sommer 1987 an der Spitze der SED eine Entscheidung anbahnte, die dann bald fallen sollte – die Verhaftung eines Teils der IFMMitglieder. Generalprobe dafür sollte die Aktion »Falle« werden.
Schritte und Sprünge – auf dem Weg zum Finale Mein Anteil an den Texten und Aktionen der Gruppe, vor allem aber der intensive Kontakt zu Roland Jahn, ließ das MfS im Sommer 1987 die abenteuerliche Theorie aufstellen, ich solle zur »oppositionellen Führungsperson« aufgebaut werden. Auch hierfür musste Roland als Strippenzieher herhalten. In Wirklichkeit brauchte ich Geld und eine Auszeit, das heißt, ich ging für mehrere Wochen als Tannenschneider in die brandenburgischen Wälder. Der Kontakt zur Gruppe und zu Roland blieb auf die Wochenenden beschränkt, sodass ich auch die Auseinandersetzung um die Gespräche mit den CDU-Vertretern nur aus der Entfernung mitbekam. Am Abend des 24. November 1987 war ich bereits nach Berlin zurückgekehrt, um den Geburtstag zu Hause zu verbringen. Als nach Mitternacht das Telefon klingelte, dachte ich an einen ersten witzigen Geburtstagsgratulanten. Es war jedoch Roland mit der Nachricht, dass gerade die »Umweltbibliothek« gestürmt würde. In dieser Nacht jagten die Anrufe in jede Richtung. Detaillierte Rekonstruktionen der ersten Stunden und der folgenden Tage durch die Auswertungsabteilungen des MfS hielten fest, wer wen benachrichtigte, alarmierte und ab wann sich die internationale Presse einschaltete. Bei der als »Sturm auf die ›Umweltbibliothek‹« bekannt gewordenen und vom MfS selbst so benannten Aktion »Falle« kam es zu mehreren folgenreichen Pannen. Hintergrund war der Versuch, Mitglieder der IFM beim Drucken des
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»Grenzfalls« auf dem Vervielfältigungsgerät der »Umweltbibliothek« zu stellen. Beschlagnahme und Verhaftung hätten dann zwar Proteste ausgelöst, Kirchenleitung und kirchennahe Gruppen dennoch in Distanz zu uns gebracht. Unser Anspruch selbstverantworteter Arbeit außerhalb des Daches der Kirche hätte sich als Zweckpropaganda erwiesen. Obwohl die Redaktion der »Umweltblätter« und des »Grenzfalls« eng zusammenarbeiteten, wurden bei der nächtlichen Durchsuchung der »Umweltbibliothek« nur Personen angetroffen und verhaftet, die gerade eine Nummer der »Umweltblätter« druckten. Kurz nach Beginn der Durchsuchung konnten zudem Familienangehörige des Gemeindepfarrers die Information über den Überfall verbreiten, sodass sie letzlich auch Roland Jahn in West-Berlin erreichte. Damit war das Überraschungsmoment des Überfalls hinfällig. Bis zum Morgen waren die wichtigsten Agenturen unterrichtet, in den Frühnachrichten kamen die Meldungen in westlichen Radio- und Fernsehsendern. Seit vielen Jahren war erstmals wieder eine Kirche bzw. ihre Gemeinderäume vom SED-Staat besetzt worden. In Ost-Berlin lief die Informationskette schnell an. Die verhafteten sieben Personen waren junge Mitglieder der »Umweltbibliothek« und konnten nicht der IFM zugerechnet werden, sodass sich die Aktion als Schlag ins Wasser erwies. SED und Stasi saßen in einer selbstgebauten »Falle«, die sie eigentlich uns stellen wollten – der interne Codename »Falle« erwies sich in der Rückschau als doppeldeutig. Nach erstem Zögern stellte sich die Kirchenleitung auf die Seite ihrer Gemeindegruppe, verurteilte den Überfall und verlangte die Freilassung der Verhafteten. Was die Staatsseite am meisten schockierte waren Intensität und Breite der Proteste. Zwei »Instrumente« oppositionellen Handelns, die bis in den Herbst 1989 hinein immer wieder wirksam wurden, entstanden in diesen Tagen. Es waren die Mahnwachen, die sich in zahlreichen Kirchen spontan bildeten und anhielten, und es war das Krisen-, später Kontakttelefon als ständige Einrichtung, dessen Installation und Betrieb in Räumen der Kirche durchgesetzt wurde. Mit höchster Nervosität registrierte das MfS, dass sich den Protesten der Gruppen, die schon am Abend des 25. November 1987 in der Zionskirche zusammenströmten, zunehmend Menschen aus der Nachbarschaft anschlossen. Sie drückten ihre Solidarität aus, versorgten die Mahnwachen mit Lebensmitteln, beförderten Informationen. Statt die politischen Spitzen der Opposition zu isolieren, kam es zu einer breiten Solidarisierung, die weit über das Spektrum der Gruppen hinausreichte. Ungewissheit, Hektik und Euphorie dieser Tage sind in einer Reihe von Telefonprotokollen eingefangen. Erleichterung, ja Jubel kam auf, als die Verhafteten in die DDR freigelassen und die Ermittlungsverfahren eingestellt werden mussten. Konfrontiert mit der Schlappe und den Folgereaktionen, die über Berlin hinausgingen, da die Solidaritätswelle weite Teile der DDR erfasste, bereiteten SED/MfS ein neues Szenario vor. Über den gesamten Dezember hinweg wan-
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derten Berichte, Analysen und Vorschläge in die Kommandoebenen des MfS, um von dort aus die Spitzen der SED zu erreichen. Der entscheidende Inhalt dieser Papiere kreiste um folgende Fragen und anstehende Entscheidungen: Da die bisherigen Isolierungsstrategien und punktuelle Zugriffe gescheitert waren, blieb als letztes Mittel nur die gezielte Verhaftung von Köpfen der Opposition. An diesem Punkt setzten sich schließlich die Hardliner innerhalb der SED-Spitze und des MfS durch. Welchen Personenkreis mussten diese Verhaftungen erfassen, um die Opposition wirksam zu lähmen? Wie konnte man die zu erwartenden Reaktionen und Proteste innerhalb der DDR und auf der internationalen Ebene begrenzen? Bis Mitte 1987 hatte es den Anschein, als könne man eine Gruppe wie die IFM ob ihres Aktionismus und ihrer offenen Westkontakte von den »friedlicheren« Teilen des Gruppenspektrums isolieren und dafür sogar die Kirchenleitungen einspannen. Der Schulterschluss der Gruppen setzte ein, als die Aktion »Falle« zeigte, dass die politischen Entspannungsgesten vor dem Honecker-Besuch reine Taktik waren. Aktionen zum internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1987 machten das gewachsene Selbstbewusstsein in diesem Spektrum deutlich. Sie wurden mit »Zuführungen« beantwortet, die im Gefängnis Rummelsburg endeten. Mitglieder der IFM stellten am Abend des Tages in der Gethsemanekirche ihr Selbstverständnis vor, in dem Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung als zentrale Forderungen standen. Indem wir die Akzeptanz eines in der Gesellschaft tatsächlich existierenden Pluralismus einforderten, stießen wir eine weitere Tür auf. IM-Berichte und die Protokolle nachfolgender Gespräche zeigten den MfS-Organen deutlich, dass sich unsere Stellung innerhalb der Gruppen gefestigt hatte und wir nicht mehr als Außenseiter galten. Zur Achillesferse der IFM sollte die Haltung im Konflikt zwischen Bleiben und Gehen werden, der sich durch die gesamte DDR-Gesellschaft zog. Die eigene Entscheidung war dabei für alle von uns klar. Es ging nicht um das duldende Ausharren und die Hoffnung auf allmähliche Besserung. Gewaltlos gegen eine Diktatur anzugehen, um sie zu überwinden, die geschlossene Gesellschaft in eine offene zu verwandeln, »bleiben und kämpfen«, so konnte man unser Credo formulieren. Wie sollten wir uns dann aber gegenüber Menschen verhalten, die Diktatur und Unfreiheit genauso ablehnten, aber eine andere Entscheidung trafen? Die nicht daran dachten, ihre Familien und Kinder unerträglichen Verhältnissen auszusetzen? Die den Weggang wählten? Private Konflikte, die daraus erwuchsen, schier unendliche Auseinandersetzungen im Bekannten- und Freundeskreis schufen hier genug Zerreißproben. Alle Versuche der SED, den wachsenden Ausreisedruck aufzufangen, zeigten nur eine begrenzte Wirkung. Für Rentner war es schon lange einfacher geworden, das Land zu verlassen, ab Mitte der 1970er Jahre existierte zudem die Möglichkeit der Familienzusammenführung
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und der »Solidaritätsheiraten«. Dennoch gab es keine freie Wahl zwischen Gehen und Bleiben, normalisierte sich nichts auf dem Feld der »Ausreise«. Erniedrigende Prozeduren bei der »Antragstellung«, soziale Ausgrenzung und Kriminalisierung, Schikanen und Repressionen, jahrelanges Warten mit ungewissem Ausgang oder Gefängnishaft mit nachfolgendem Freikauf und Abschiebung schufen eine anormale Situation. Kein Wunder, dass immer mehr »Antragsteller« den Weg in die Kirchen suchten und auch mit Mitgliedern der IFM in Kontakt kamen, um ihr Recht auf Freizügigkeit durchzusetzen. Daraus erwuchs ein Dilemma, das die Gruppe fast auseinanderriss. Mein Entschluss, die DDR nicht zu verlassen, hatte mittlerweile nichts mehr mit Reformhoffnungen oder Gedanken an einen alternativen Sozialismus zu tun. Ich blieb, weil ich das Ende des Zwangssystems in der DDR befördern wollte. Diese Entscheidung teilte ich mit Lotte und sie gehörte zum Gruppenkonsens. Mit der Menschenrechtsorientierung der IFM schien es uns beiden aber unvereinbar, das Recht auf Freizügigkeit quasi-privat zu sehen und hinter die politischen Rechte einzustufen, für die wir gemeinsam eintraten. Wenn wir dieses Recht für alle forderten, mussten wir auch diejenigen unterstützen, die es unmittelbar wahrnehmen wollten. Die Mitbegründung einer AG »Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR« im Frühherbst 1987 durch Lotte und mich, unser Versuch sie zum Teil der Gruppenarbeit zu machen, führte zu Spannungen, Konflikten und Zerwürfnissen. Natürlich gab es zwischen den Leuten, die mit dem Ausreiseantrag in der Tasche politisch dachten und argumentierten, und denjenigen, denen so etwas wie Widerstand völlig fremd war, die um jeden Preis so schnell wie möglich einfach nur raus wollten, große Unterschiede. Letztere strömten in die Kirchen, heizten im Handumdrehen die Atmosphäre an, selbst wenn sie am Tage vorher noch lammfromme und hochkonforme Bürger waren. Im Zustrom der Antragsteller gab es zudem auch MfS-gesteuerte Provokateure. Wie sollten wir die einen von den anderen unterscheiden? Wo sollte die Grenze zwischen Kontakten, getrennter/gemeinsamer Präsenz auf Veranstaltungen und politischer Zusammenarbeit gezogen werden? Diese Fragen konnten wir diskutieren, sie spielten in allen Gesprächen und Telefonaten der folgenden Wochen eine zentrale Rolle, aber wir kamen nicht weiter. Das MfS hatte einen Konfliktherd gefunden, der uns beschäftigt hielt und die Solidarität untereinander schwächte. Die geplanten Aktionen im Umfeld der Luxemburg-LiebknechtDemonstration im Januar 1988, bei denen sich die Interessenlagen von Antragstellern und Oppositionellen zugleich trafen und überkreuzten, boten einen hervorragenden Anlass, um zuzuschlagen. Außerdem konnte man mit dem Verweis auf die Instrumentalisierung und Schändung kommunistischer Säulenheiliger auch noch Teile der westlichen Linken beeindrucken. Der Personenkreis, dem das im Detail vorbereitete Verhaftungsszenario galt, zählte zum Kern der IFM. Mit den Verhaftungen wurden nicht in erster Linie
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Prozesse, Urteile und lange Haftstrafen angestrebt. Wirksam damit zu drohen, bei den Inhaftierten Schock und Druck zu erzeugen, um sie in kürzester Zeit außer Landes zu bringen, darauf beruhte die Strategie. Zusätzlich bereiteten sich die zuständigen MfS-Abteilungen auf ein pseudo-justizielles Vorgehen vor. Gewonnene Erkenntnisse aus der umfassenden Telefon- und Raumüberwachung, aus IM-Berichten und weiteren »inoffiziellen« Quellen durften offiziell nicht verwendet werden und waren im Untersuchungsverfahren durch prozesstaugliche Beweismittel und Belastungszeugnisse zu ersetzen. Am 20. Dezember 1987 erfolgte die Anordnung zur offiziellen Telefonüberwachung für den bereits genannten Personenkreis. Der im Januar 1988 dann formulierte Strafvorwurf landesverräterischer Agententätigkeit und Nachrichtenübermittlung zum Schaden der DDR stützte sich wesentlich auf den Inhalt der Gespräche und die darin enthaltenen Informationen. Dahinter stand der gesamte Inhalt unserer Arbeit in den letzten Jahren. In der zweiten Dezemberhälfte wurde die Diskussion um die Aktionen der Antragsteller, unsere mögliche oder auszuschließende Zusammenarbeit mit ihnen immer heftiger. Ein Monatsbericht über die Aktivitäten von Roland Jahn im Dezember 1987 spiegelt seine Rolle bei der Koordination der Proteste nach der Aktion »Falle« und während der Aktivitäten zum Tag der Menschenrechte wider. Im gleichen Monat wird seine Verbindung zu Wolfgang Rüddenklau und Reinhard Schult dokumentiert. Beide hatten vorher starke Bedenken, den direkten Kontakt zu Roland Jahn aufzunehmen. Das MfS stellt die Annäherung fest. Die Gesprächsprotokolle aus diesen Wochen machen deutlich, in welcher Zwickmühle sich Jahn sah angesichts der hochbrandenden Auseinandersetzung um die Antragsteller. Wie Jürgen Fuchs, dem der Weggang einige Jahre zuvor aufgezwungen wurde, sah er sich als politischer Emigrant, der seine Energie darauf verwandte, in der DDR eine handlungsfähige Opposition zu unterstützen. Auf der anderen Seite hatten ihn die Jahre in der Bundesrepublik realistisch werden lassen und mit einer Vielzahl von Fluchtmotiven und Biografien konfrontiert, in denen sich eigene Entscheidungen, Nonkonformismus und Widerstand nicht in das Schema Gehen oder Bleiben pressen ließen. Ihm wurde immer klarer, dass der gesellschaftliche Druck auf das marode DDR-System von beiden Seiten kommen musste und zusammengehörte. Von denen, die bleiben wollten, um zu verändern, und denen, die sich zum Gehen entschieden, um des Anderen willen. Die Gespräche dieser Wochen drücken das verzweifelte Suchen nach dem möglichen Weg dafür aus. Ich fühlte mich Roland im Überlegen und Argumentieren nahe, aber in Ost-Berlin standen wir mit Lotte in unserer Unterstützung der Antragsteller ziemlich allein da und hatten das Gefühl, immer isolierter zu werden. Daraus erwuchsen Fehler und zusätzliche Verletzungen. Ralf war hin und her gerissen, Lutz versuchte abzuwägen und Bärbel schilderte die Überforderungssituation auf den Treffen und Veranstaltungen in drastischen
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Farben. Auf jeden von uns versuchte Roland einzugehen und musste spüren, dass wir insgesamt noch nicht so weit waren, gemeinsam damit umgehen zu können. Der 17. Januar 1988, die offizielle Luxemburg-Liebknecht-Demonstration, die Blockade unserer Wohnungen, die Verhaftungswelle gegen unabhängige Teilnehmer – ab diesem Datum überschlugen sich die Ereignisse. Auf der einen Seite zeigte sich, wie sehr Bärbel Recht hatte, dass zahlreiche Antragsteller nicht ein Minimum an Solidarität aufbrachten, uns in den Verhören förmlich denunzierten oder demonstrativ von uns abrückten. Ein festgenommener Demonstrationsteilnehmer haschte nach der Märtyrerkrone und verblüffte die Vernehmer mit der Ankündigung: »mein Herr und Meister hat mir noch eine Prüfung zugedacht«, womit er sich auf das Schicksal des polnischen Priesters Jerzy Popiełuszko bezog, der von Offizieren des polnischen Sicherheitsdienstes auf bestialische Weise ermordet wurde. Kurze Zeit später bezichtigte er sich und die Mitglieder der Vorbereitungsgruppe aller nur möglichen Vergehen und wollte kooperieren. Es gab aber auch zahlreiche Beispiele gemeinsamen Widerstandes und solidarischen Verhaltens. Sicher war es Wunschdenken, bereits jetzt an die mögliche Brücke zwischen Gehenden und Bleibenden zu glauben. Diese Brücke konnte erst 1989 gebaut werden und vervielfachte in Leipzig und anderen Städten die Kraft der Proteste und Demonstrationen. Nach der ersten Verhaftungswelle wurden die Debatten am Telefon immer heftiger und drängender. Roland war Tag und Nacht auf den Beinen und versuchte zu retten, was zu retten war; wir waren mit der Festnahme von Dutzenden Demonstrationsteilnehmern konfrontiert, darüber hinaus mit der Verhaftung von Stephan Krawczyk, Vera Wollenberger, Herbert Mißlitz, Till Böttcher, Andreas Kalk und Bert Schlegel. Bis zu unserer eigenen Verhaftung am 25. Januar gab es fieberhafte Anstrengungen, auf einen anderen Ausgang hinzuarbeiten. Auf der Kommandoebene des MfS war das Szenario des weiteren Vorgehens jedoch bereits festgelegt, einschließlich der genauen Vorgaben, wie die Verhafteten zu bearbeiten seien, um die Ausreise zu erzwingen. Das entscheidende Erpressungspotenzial gegen Lotte und mich war die Situation unserer Kinder, außerdem spielte man jedem von uns vor, der Entschluss zum Gehen würde die Situation der Anderen erleichtern und ihr Bleiben ermöglichen. Die beteiligten Rechtsanwälte befolgten ihre Instruktionen und spielten wie Wolfgang Schnur (IM des MfS) darüber hinaus ihr eigenes Spiel. Als unsere einzigen Gesprächspartner verschwiegen sie das tatsächliche Ausmaß der Proteste, übertrieben die Konflikte und Auseinandersetzungen, die es gab, ins Maßlose und drängten auf vermeintliche Kompromisslösungen, zuletzt die Passvariante. Bis heute sind wichtige Entscheidungsabläufe dieser Tage, die unter Einbezug von Kirchenvertretern hinter mehreren Vorhängen abliefen, nicht restlos aufgeklärt.
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Ich bekam in der zentralen Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen jeden Morgen das »Neue Deutschland« in die Zelle, war mit der Wut und dem Hohn meiner Vernehmer konfrontiert, spürte aber auch deren wachsende Unsicherheit und rätselte, was sich draußen tatsächlich abspielte. Nach unserer Verhaftung hatten Roland und Jürgen intensiven Kontakt mit Lutz Rathenow, der sie über das Geschehen in Ost-Berlin und an anderen Orten informierte. Lutz zeigte sich dabei als souveräner Analytiker, der in jeder Phase die Nerven behielt. Welchen Flächenbrand an Protesten unsere Inhaftierung ausgelöst hatte, erfuhren wir später, auch von der Erklärung aus fünf Ländern Mittel- und Osteuropas: »Solidarisch mit allen, die wegen ihrer demokratischen Gesinnung verfolgt werden.« Als wir am 5. Februar 1988 im Autokonvoi an den Grenzbahnhof Schwanheide gelangten und am Abend des Tages in Bielefeld mit den anderen Ausgewiesenen zusammentrafen, hatte die SED/MfS-Seite erst einen Teilerfolg errungen. Ziel war es, uns dauerhaft außer Landes zu bringen, die DDR-Kontakte von Roland Jahn und Jürgen Fuchs stillzulegen und die Aktivitäten der wichtigsten Gruppen, vor allem der IFM, zu lähmen. Im Strudel der ersten Schuldzuweisungen, Verteidigungen und Polemiken schien es so, als ginge die MfSStrategie nach dieser Seite auf. So kann eine »Einschätzung« der Hauptabteilung XX/9 vom 19. Februar 1988 festhalten: »Nicht ohne Wirkung blieb die in der Presse veröffentlichte Aufdeckung der Rolle westlicher Geheimdienste, deren feindlichen Einrichtungen und Hintermänner. Im kleineren Kreis wurden Zweifel an der ›Aufrichtigkeit‹ vor allem von Roland Jahn geäußert und die Pressekampagne westlicher Medien als Grund für das Reagieren der staatlichen Organe der DDR auf die feindlichen Aktivitäten der Personen des politischen Untergrunds angesehen.«
Am gleichen Tag kam es zu einem Spitzengespräch von SED-Politbüromitglied Werner Jarowinsky mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen, Bischof Leich, in dem der SED-Vertreter vor einem Missbrauch der Kirche als trojanisches Pferd warnte. Das Gespräch diente der Vorbereitung eines Treffens mit Erich Honecker Anfang März. An die Legende von den Geheimdienstaktivitäten und der fremdgesteuerten Presse werden nicht allzu viel Personen geglaubt haben. Dennoch gab es in den Debatten und Gruppenpapieren dieser Wochen Unverständnis für das Weggehen der Verhafteten, überwogen Ratlosigkeit und Resignation. Es war Jürgen Fuchs, der im Februar und März in der »taz« und der »Zeit« festhielt, dass es hinter Gefängnismauern keine freie Entscheidung geben könne. Ausgehend von seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen formulierte er eine Gewissheit, an der wir während unserer Monate in der Bundesrepublik festhielten: »Der Wechsel der Zeiten ist sicher. Das ist vielleicht ein Trost. Unabhängig vom Aufenthaltsort. Aber nicht unabhängig von dem, was wir tun.«
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Unabhängig vom Aufenthaltsort machten wir weiter, erlebten uns auf der anderen Seite des Telefons, sprachen und wirkten nun vom Westen in die DDR hinein und konnten uns plötzlich in die Situation von Roland, Jürgen und den anderen Emigranten versetzen. Roland galt als entscheidende Schaltstelle; wie viel Ermittlungs- und Verfolgungsintensität sich auf ihn und Jürgen konzentrierte, merkte ich eindringlich in meinen Vernehmungen. Das MfS versuchte die Wirkung der Verhaftungen auf seine Situation und Stellung innerhalb der Gruppen zu analysieren und gab sich zunächst optimistisch. Man konnte einen Rückgang der Aktivitäten und des Einflusses von Jahn konstatieren, die vorangegangene Desinformationskampagne hatte Wirkungen gezeigt, Kontaktpersonen zogen sich zurück, auf einige wirkte sogar der Agentenvorwurf. Bereits auf den ersten Bildern in der Bundesrepublik hatten wir mit dem hilflos-demonstrativen Hochhalten der DDR-Pässe unsere Rückkehrabsicht unmissverständlich ausgedrückt. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit bekräftigten wir sie. Hier rätselte die DDR-Seite herum, ob und wie lange es uns damit ernst sein könne, ob nicht doch bald andere Lebenspläne in den Vordergrund rückten. Wie verunsichert die dortigen Funktionäre über die Folgen und den Charakter der Aussperrung waren, zeigt eine »Information zu Stimmungen und Meinungen in Rechtskreisen der DDR« vom März 1988. Auf einer Veranstaltung mit dem Minister für Justiz, dem Generalstaatsanwalt, Mitarbeitern des Obersten Gerichts und Rechtsanwälten geriet der zuständige Sektorenleiter beim ZK der SED in Erklärungsnot. Auf die Frage, was denn nun passiere, wenn wir wieder in die DDR zurückwollten, konnte er nur feststellen: »Die Rechtslage (Urteile) sei gegenwärtig ungeklärt, aber diese Personen würden schon nicht zurückwollen.« Noch im Juni 1989 wurde in einer Konzeption über das Vorgehen gegenüber uns die Möglichkeit der Ausbürgerung ins Auge gefasst, da wir mit unseren Aktivitäten »die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR angreifen«. Nur das Risiko noch stärkerer Interventionen und Proteste hielt die DDR-Seite letztlich davon ab. Zur Vorbereitung einer solchen Maßnahme wurden jedoch alle zugänglichen Interviews, Auftritte und Veranstaltungen, die wir besuchten, erfasst und ein neues Netz von IM im »Operationsgebiet« geknüpft. Die dichte Telefonüberwachung sollte dieses Material ergänzen und eine Feinanalyse ermöglichen. Monate vor den Verhaftungen hatte ein besonders ungeduldiger Funktionär den Vorschlag unterbreitet, uns doch bei politischer Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit aus der Staatsbürgerschaft der DDR zu entlassen und in den Westen auszuweisen. Da die DDR in Mitteleuropa lag und nicht völlig zur Bananenrepublik werden konnte, mussten DDR-Rechtsexperten an dieser Stelle Nachhilfeunterricht erteilen und erklären, dass die Ausbürgerung von Personen, die keinen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gestellt hatten und sich nicht im Ausland aufhielten, nicht möglich sei.
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Vor allem Bärbel und Werner wurden zum Problem für die DDR-Seite, lag doch deren vereinbarter Rückkehrtermin bereits im August 1988. Um Werner Fischers persönliche Situation aufzuklären, wurde der IM »Klement« eingespannt, zu dem Werner eine private Beziehung unterhielt und mit dem er ab Februar 1988 regelmäßig telefonierte. IM »Klement« merkte eifrig an, dass Werner dabei private Probleme zur Sprache brächte, die er selbst vor den Leuten der IFM verheimliche. Dennoch lag er mit seiner Prognose völlig daneben, dass der zunehmend haltlose Fischer dem Alkohol verfiele und sich dem politischen Geschehen entfremde. Die Telefonprotokolle zeigten hier etwas anderes und die Aktivitäten Werners nach seiner Rückkehr bestätigten das Gegenteil. Sie zerstörten alle Illusionen über die erfolgreiche Wirkung der Zersetzungskampagne. Unsere ersten direkten Kontakte mit den Mitgliedern der IFM wurden mit ziemlichem Aufwand festgehalten und analysiert. Ab dem ersten Tag gingen Briefe und Mitteilungen über die Kurierpost hin und her, aber das dauerte ziemlich lange und konnte den unmittelbaren Austausch nicht ersetzen. So entschlossen wir uns zu Telefonkonferenzen, das heißt zu vereinbarten Tagen und Uhrzeiten, an denen sich Mitglieder der IFM in Ost-Berlin trafen, riefen die Ausgesperrten dort an. Von diesen zumeist langen Gesprächen gibt es Mitschnitte und Protokolle, darüber hinaus die Berichte der IM, die an den Sitzungen teilnahmen. Interessant für das MfS war der Inhalt der Gespräche, aber auch die Verteilung der Telefonierenden: Wer sprach mit welcher Intensität oder hielt sich zurück, welche Themen wurden angesprochen, passten die Einschätzungen in den Berichten zu den Mitschnitten? In einem langen handschriftlichen Brief hielt Lotte die Einzelheiten unserer Verhaftung fest, schilderte ihre Verhöre, den Kontakt zu den Rechtsanwälten, die Einzelheiten der Vereinbarungen und unsere ersten Schritte im Westen. Der Text war für die IFM-Runde bestimmt und gelangte auf sicheren Wegen nach Ost-Berlin. Dort schaffte es IM »Karin Lenz« alias Monika Haeger an den Brief zu kommen, sodass sich die wahrscheinlich einzige erhaltene Kopie des Schreibens in den MfS-Akten findet. Spätestens im Frühjahr 1988 wurde klar, dass unser Rückkehrwille anhielt, sich die Gruppensituation der IFM wieder stabilisierte und auch die Beziehungen zu Roland Jahn nicht dauerhaft unterbrochen werden konnten. Um die Zusammenarbeit mit ihm zu erschweren, belegte man neue Kontaktpartner von ihm in West-Berlin – häufig bereits nach dem ersten identifizierten Anruf – mit einer Einreisesperre. Zu dem immer noch hochumstrittenen Problem der Antragsteller formulierten Mitglieder der IFM, hier Reinhard Weißhuhn, bereits im März einen Standpunkt, den sie in Koordinierungsrunden der Gruppenszene einzubringen versuchten, damit jedoch scheiterten:
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»Der Wunsch nach dem Verlassen des Landes – für Reisen, für eine gewisse Dauer oder auch endgültig – ist ein legitimer Anspruch für jeden Bürger eines jeden Landes. Das Recht darauf ist ein Menschenrecht. Von daher ist jeder politisch Denkende verpflichtet, für dieses Recht und seine Verwirklichung einzutreten und mit jenen solidarisch zu sein, denen es verwehrt wird. Diese Solidarität ist unabhängig vom politischen Standort, unabhängig von den eigenen Entscheidungen und unabhängig von der Entscheidung derer, die solche Rechte in Anspruch nehmen wollen, ebenso von den verschiedenen Motivationen dafür.«
Immer noch gab es Abwehr gegen eine derart klare und solidarische Haltung, aber es zeigte sich von Monat zu Monat, dass die alten Trennungslinien nur mit dieser Konsequenz zu überwinden waren. Die zuständigen MfS-Abteilungen hatten die mit den Verhaftungen im Januar 1989 verbundenen Kontaktversuche Roland Jahns in die DDR-Provinz genutzt, um einen Telefon-IM in seiner Nähe zu platzieren. IM »Raffelt« (Manfred Rinke), der als Dresdner Kontaktstelle galt, war beauftragt, den telefonischen Kontakt zu Roland zu halten und auszubauen, um auf diese Weise zusätzliche Informationen über dessen Absichten und Lebensumstände zu gewinnen. »Raffelt«, der Roland bereits vorher kannte, aber erst ab dieser Phase sein regelmäßiger Gesprächspartner wurde, nahm sich des Auftrags mit Engagement an. Für die MfS-Verantwortlichen war er ein unsicherer Kantonist, dessen Berichte, die er auf der Grundlage der Telefongespräche fertigte, ständig mit den Abhörprotokollen abgeglichen wurden. »Raffelts« erhalten gebliebene IM-Akte ist ein gutes Beispiel für den operativen Stellenwert, den die Protokolle beim Verdichten der Informationen und der Festlegung weiterer Maßnahmen und Strategien gewinnen konnten. Für Außenstehende musste es schwierig sein, die stetigen Umschwünge in unserer neuen Situation nachzuvollziehen. Bärbel Bohley und Werner Fischer hatten sich ab Mitte April 1988 mehr oder weniger in England verbarrikadiert, um dort die Sperrfrist auszusitzen; wir hatten uns als Familie für eine Wohnung in Bochum entschieden, waren aber viel unterwegs und kamen auch öfter nach West-Berlin. Vera Wollenberger, ebenfalls mit der Passvariante ausgestattet, hatte einen Studienaufenthalt in England angetreten. Ralf litt unter seiner noch einmal anderen Situation, schaffte es aber, den zwischenzeitlich problematischen Kontakt zu Roland wieder aufzubauen und stellte sich in West-Berlin auf eigene Füße. Die beiden trugen, gemeinsam mit Jürgen und einer Reihe weiterer Unterstützer, die Hauptlast der nahezu täglichen Kontakt- und Kurierarbeit in den Osten. Zu Freya und Stephan hatten wir nur sporadischen Kontakt. Wir pendelten in den ersten Wochen unseres Westaufenthaltes zwischen Nordrhein-Westfalen als Ankunftsland und West-Berlin. Kurz nach der unmittelbaren Ankunft, Anfang Februar, suchten uns noch in Bielefeld viele Freunde und Vertraute auf, die in den letzten Jahren Kontakte zu uns aufgebaut hatten –
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Petra Kelly und Gert Bastian, Christian Semler und Ruth Hennig, der Historiker Martin Jander, der im nahen Bochum wohnte und uns das Ruhrgebiet nahe brachte. Zu anderen Westfreunden hatten wir schnell telefonischen Kontakt und bekamen Hilfsangebote von vielen Seiten. Wir fielen in kein Loch und spürten sehr schnell die alltäglichen Lebenserleichterungen in der Bundesrepublik. Dennoch konnten und wollten wir uns nur als Gäste auf Zeit verstehen und fieberten dem Ende der zwei Jahre entgegen. Je näher der Augusttermin 1988 rückte, zu dem Bärbel Bohley und Werner Fischer in die DDR zurückkehren sollten und wollten, umso größer wurde unsere Nervosität. Bei den Rechtsanwälten, zu denen sich der Kontakt schwierig genug gestaltete, versuchten wir herauszubekommen, wie tragfähig die jeweiligen »Fristenregelungen« seien und wurden an die Kirchenvertreter verwiesen, welche für die Einhaltung der Vereinbarung stünden. Von denen, ob es nun Bischof Forck oder seine Amtskollegen waren, kamen höchstens Empfehlungen, uns so zu verhalten, dass wir die Wiedereinreise nicht unnötig gefährdeten. Damit hätten wir jedoch unseren politischen Anspruch aufgegeben. Ohne zu überziehen, agierten wir in der Öffentlichkeit, traten in Veranstaltungen auf, gaben Interviews und schrieben Texte. In den regelmäßigen Aktivitäts-Analysen, die über alle ausgesperrten Personen angefertigt wurden, stapelten sich die Informationen und Befunde. Andererseits wusste die SED, dass jeder Versuch unsere Wiedereinreise nach einer vereinbarten Zeit frontal zu verhindern, ein hohes Risiko barg. Bereits die Tatsache unserer Aussperrung innerhalb dieser Zeit war schwer zu vermitteln. Bei einem unserer Besuche in der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn fragten Lotte und ich hartnäckig nach, auf welcher rechtlichen Grundlage es denn möglich sei, DDR-Bürger mit Reisepässen zu versehen, um sie dann vom Territorium ihres eigenen Staates auszusperren. Daraufhin geriet unser Gegenüber in Erklärungsnot: »Ja wissen Sie ... ja wissen Sie .... das ist faktisch so.« Auf seinem Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab, weil er endlich ein Wort gefunden hatte, um eine völlig absurde Situation zu benennen. Unter den Besuchern, die bald bei uns vorbeikamen (aus der DDR, weil sie die neuen Reisemöglichkeiten nutzen konnten; aus der Bundesrepublik und anderen Ländern kommend, weil sie sich für unsere Situation interessierten), befanden sich auch IM und Personen, die auf spezifische Weise mit der DDR verbunden waren. Bereits damals hatten wir Hinweise, später zeugte der Inhalt der Akten davon. Die Informationen dieser Besucher wurden genutzt, um Gerüchte zu streuen, dass wir uns schon perfekt eingerichtet hätten, es den Kindern unvergleichbar besser ginge, dass ich bereits eine akademische Karriere in der Bundesrepublik anstrebe. Je mehr wir von solchen Manövern mitbekamen, umso lauter und unausgesetzter erklärten wir unseren Rückkehrwillen. Die Wiedereinreise von Bärbel und Werner im August 1988 würde die Vorentschei-
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dung für unsere weitere Situation bringen, von der Gesamtwirkung dieses bislang einmaligen Schrittes gar nicht zu reden. Als Bärbel, wenige Wochen vor dem Termin, noch einmal dringlich nachhakte, kam von offizieller Seite die dürre Reaktion: »Ja, denken Sie denn, Frau Bohley, dass bei Ihrer bekannten staatsfeindlichen Haltung die DDR ihre Türen wirklich wieder für Sie öffnen wird?« Das Ganze war ein Nervenspiel, denn im Hintergrund gab es immer noch Leute, die darauf setzten, dass sich Bärbel und Werner von ihrer Absicht abbringen ließen. Selbst den entscheidenden Kirchenfunktionären wäre dies wahrscheinlich recht gewesen. Sie hätten ihre ehrliche und aufopferungsvolle Vermittlertätigkeit hochgehalten, heftig bedauert, dass die Betroffenen auf die Rückkehr verzichteten, und wären insgeheim froh gewesen, das Potenzial erneuter Unruhe und Unsicherheit vom Halse zu haben. Vollends in der Klemme hätten damit wir gesessen. Die beiden waren entschlossen, es darauf ankommen zu lassen und dementsprechend war auch Bärbels Antwort, von der sie wusste, dass sie nach oben dringen würde: »Wenn mir nach der vereinbarten Frist die Wiedereinreise verwehrt wird, setze ich mich auf die Westseite des Checkpoint Charlie und bleibe dort sitzen. Ich werde jeden Tag die Weltpresse zusammentrommeln und bin gespannt, wie lange Sie das aushalten.«
Diese Deutlichkeit wirkte, von höchster Ebene kam die Weisung, der Wiedereinreise stattzugeben, aber für eine möglichst geräuschlose Rücknahme zu sorgen. Mit Gregor Gysi und Manfred Stolpe wurden zwei gewiefte Spieler und Unterhändler beauftragt, Bohley und Fischer über Prag in die DDR zurückzuholen und dabei möglichst vor der Öffentlichkeit abzuschotten. Im Hintergrund stand die Absicht, den Rückkehrenden binnen kurzer Zeit das Leben so schwer zu machen, dass die positive Westerfahrung ihre Wirkung täte und sie das Land endgültig freiwillig verließen. Werner Fischer schätzte man gegenüber Bärbel Bohley als isolierter und instabiler ein, sodass sich Druck und erneute Repressionen auf ihn konzentrierten. Alle seine Bemühungen um berufliche Reintegration wurden blockiert, zahlreiche Gerüchte über den Aufenthalt im Westen und baldige Rückkehrabsichten wurden gestreut, Vorladungen und »Zuführungen« häuften sich; er war erneut verdecktem Psychoterror unterworfen. In den Telefonaten, die wir in dieser Zeit mit Werner, aber auch mit Bärbel führten, drückte sich eine neue Erfahrungssituation aus. Sie war mit dem »doppelten Blick« verbunden, den wir mittlerweile angenommen hatten. Eine, wenn auch eingeschränkte, Erfahrung des Westens hinter uns, voll auf die DDR und alles was sich dort tat fixiert, tauschten wir uns mit denjenigen aus, die unsere Westerfahrung teilen konnten, jetzt aber wieder in die Lebenssituation der DDR
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eintauchten. Vor allem Werner war jetzt eher von kalter Wut, als von hilfloser Empörung ergriffen und signalisierte die Vorzeichen des Kommenden. Ein exemplarisches Dokument ist das bereits erwähnte Telefonat Werner Fischers mit seiner Mutter in Potsdam. Während die dürre Zusammenfassung wesentliche Elemente der Unterhaltung wiedergibt und immer wieder in den SED-Jargon des Protokollierenden verfällt, könnte man das mit stilistischem Ehrgeiz angefertigte Wortprotokoll im Schulunterricht verwenden. Werners Mutter sorgt sich um den Sohn, ist froh, dass der wieder in der DDR ist, und fleht ihn an, endlich Ruhe zu geben. Sie ist eine immer noch überzeugte Genossin, die dennoch ihre Augen nicht völlig vor der Wirklichkeit verschließen kann. Der noch parteitreuere Vater im Hintergrund ist indirekt in das Gespräch einbezogen. Werner macht der Mutter klar, warum er den ganzen Laden am Ende sieht, wer nach seiner Meinung die Verantwortung dafür trägt und fragt, warum sich immer noch so viele SED-Mitglieder vor diesen Karren spannen lassen. Die Mutter wehrt ab, lamentiert, versucht den Sohn in alter Manier zu überzeugen. Werner wird noch deutlicher, beschreibt, welcher Hass sich auf ihn richtet, und dass er kurz vor Tores Schluss nicht aufgeben wird. Auf einen anderen Ausschnitt der neuen Situation wurde ich zur gleichen Zeit im nordrhein-westfälischen Bochum gestoßen. Dort fand im Vorfeld des 75. Geburtstags von Willy Brandt ein Ehren-Kolloquium an der dortigen Universität statt, das sich mit Rosa Luxemburg beschäftigte. Für den Abend des 25. November 1988 war in Anwesenheit von Willy Brandt und Johannes Rau ein Empfang im Bochumer Parkhotel geplant. Zu beiden Anlässen waren offizielle DDR-Vertreter eingeladen – Luxemburg-Spezialisten für das Kolloquium und für den Empfang Otto Reinhold von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Reinhold wurde seit dem SED/SPD-Papier in der Bundesrepublik als angeblicher Reformer gehandelt, reiste als politischer Emissär herum, verließ bei zahlreichen dieser Anlässe dennoch nie die ideologische Deckung. Peter Brandt, den ich von seinen Besuchen in Ost-Berlin kannte, schaffte es, mich zu diesen Veranstaltungen hereinzuschmuggeln. Jede offizielle Einladung an mich hätte die DDR-Delegation zur Abreise bewegt. Im Laufe der Tagung kamen private Gespräche zwischen den DDR-Vertretern und mir zustande und ich merkte, wie dünn der Boden war, auf dem sie sich mittlerweile bewegten. Sie waren auf der einen Seite hofierte Gäste, denen der ausgesperrte Dissident gegenübersaß, mit dem sich auch ein Teil der Sozialdemokraten schwer tat – auf der anderen Seite spürten sie die Zeichen der Veränderung und wurden immer defensiver, je länger wir diskutierten. »Warum ich denn nicht besser doch geblieben sei?«, fragten sie mich absurderweise zum Schluss fast. Ironischerweise deckte sich der Festempfang für Willy Brandt mit meinem 40. Geburtstag und ich konnte am Telefon erzählen, dass mir zum Schluss sogar Otto Reinhold gratuliert habe. In den Novembergesprächen zwischen Bochum
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Erfahrungen, Einsichten und Erinnerungen eines Abgehörten
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und Ost-Berlin merkte ich immer stärker, dass der Faden zwischen uns nicht zerrissen war, dass die ungewöhnliche Wanderung Ost – West – Ost für die verschiedenen Beteiligten nicht als Niederlage oder nutzloser Umweg endete, sondern neue Erfahrungen brachte und das Selbstbewusstsein wieder stärker wurde. In einer Aktivitätsanalyse zum OV »Verräter« musste das MfS resignierend festhalten, dass die gegen die DDR und ihre sozialistische Gesellschaftsordnung gerichteten Aktivitäten Templins unabhängig vom Aufenthaltsort andauerten und eher intensiver wurden. Zahlreiche meiner Beiträge und Interviews in dieser Zeit bezogen sich auf das Erdbeben, welches im Herbst die DDR erschütterte. Noch im September 1988 hatte Honecker in Moskau vergeblich Unterstützung für seinen Abschottungskurs gesucht. Wenig später zogen er und seine führenden Mitgenossen die ideologische Notbremse. Die Entfernung der populären sowjetischen Zeitschrift »Sputnik« von der Liste des Postzeitungsvertriebs kam einem Verbot gleich und schlug gerade in Kreisen der SED-Mitglieder ein wie eine Bombe. Zur gleichen Zeit wurden fünf sowjetische Filme vor ihrem Start in den Kinos der DDR aus dem Verkehr gezogen. Jetzt protestierten selbst Leute, die noch im Januar die Verhaftung und Aussperrung der »Landesverräter« begrüßt hatten. An der Pankower Ossietzky-Oberschule wurden mehrere aufmüpfige Schüler relegiert, darunter ein Sohn von Vera Wollenberger, der in der DDR zurückgeblieben war, um dort sein Abitur zu machen. Da ein Sohn von Egon Krenz in die gleiche Klasse ging, wurden die Relegierung und der Kampf um die Rücknahme zur Kraftprobe und Staatsaktion. Auf einer anderen Ebene dachte man bereits an den Ernstfall. Eine Liste mit 86 000 Personen, darunter viele in der DDR zeitweilig lebende Ausländer, die zur Festnahme und Einweisung in Isolierungslager vorgesehen waren, war im MfS schon lange vorbereitet worden, an der Logistik der Isolierungslager wurde seit Jahren intensiv gearbeitet. Das Jahresende 1988 war gespenstisch. Während in Polen die Vorbereitungen zum Runden Tisch auf Hochtouren liefen und in Ungarn unabhängige Parteien zugelassen wurden, kreierte Erich Honecker Ende Dezember einen »Sozialismus in den Farben der DDR«. Zuvor hatte ein ZK-Plenum die Ablehnung der Reformpolitik nach sowjetischem Muster bekräftigt. Kurz darauf brach für den ersten sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat das letzte Jahr seiner Existenz an. Honecker sollte anlässlich des Thomas-Müntzer-Jubiläums am 18. Januar 1989 feststellen: »Die Mauer wird noch 50 oder hundert Jahre stehen, solange wie die Bedingungen noch existieren, die zu ihrer Errichtung geführt haben.« Wie sehr er mit dem letzten Teil des Satzes ungewollt Recht hatte, sollte sich wenige Monate später erweisen.
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Der erneute Anlauf zu einer unabhängigen Luxemburg-Demonstration und zur Erinnerung an die Verhaftungen des Vorjahres zeigte, wie entscheidend der Sprung von 1988 zu 1989 war. Der Aufruf ging dieses Mal von einer Leipziger »Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft« aus, in der sich verschiedene Basisgruppen zusammengeschlossen hatten. Sie forderten Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungs- sowie Pressefreiheit ein und protestierten gegen das Verbot der Zeitschrift »Sputnik« und die Unterdrückung kritischer sowjetischer Filme. Damit knüpften sie an die Proteste des Herbstes an. Hunderte Teilnehmer erschienen zur Kundgebung und trotz des massiven Einsatzes von Sicherheitskräften konnte sich ein Demonstrationszug bilden, der später aufgelöst wurde. Es kam zu »Zuführungen« und einer ganzen Reihe Verhaftungen. Unter den Initiatoren und Teilnehmern der Kundgebung waren zahlreiche Jüngere, aber auch Personen, die wir schon länger kannten und zu denen Kontakt existierte. Würde sich mit den Verhaftungen das Szenario vom Januar 1988 wiederholen oder gab es diesmal die Chance auf einen anderen Ausgang? Werner Fischer, der schon vorher Kontakte dorthin hatte, löste die internationalen Proteste aus und stand in ständiger Verbindung mit Roland Jahn und mir. Wir telefonierten in dieser Zeit teilweise im Stundentakt und wussten, dass es diesmal wirklich darauf ankam. Werner hatte sofort die »Charta 77« informiert, womit die mittelosteuropäische Telefonkette stand und die Ereignisse auf der Folgesitzung der KSZE in Wien präsent wurden. Endlich sahen wir die Möglichkeit, die Kette von Repression, Verhaftung und Abschiebung zu unterbrechen und mit gemeinsamem Tag- und Nachteinsatz Informationen, Proteste und Interventionen so zu bündeln, dass die Verhafteten freigelassen wurden. Werner drohte an der Naivität jüngerer Beteiligter zu verzweifeln, sah allerorten Chaos und machte dennoch weiter, weil er erkannte, dass jetzt endlich der Funke übersprang. Die Verhafteten bestanden auf ihrer Freilassung in die DDR und es gelang. Knapp einen Monat später protestierten 19 DDR-Oppositionsgruppen öffentlich gegen die Verhaftung und Aburteilung von Václav Havel und anderen tschechischen Oppositionellen. Bei der Initiierung dieses Protestes spielte die IFM wiederum eine wichtige Rolle. Es war nicht gelungen, Werner Fischer und Bärbel Bohley zur freiwilligen Rückkehr in den Westen zu bewegen, die Stellung von Werner im Milieu der Gruppen hatte sich durch die Januar-Ereignisse noch mehr gefestigt. Was in den Strategiepapieren des MfS und den Berichten besonders rühriger IM, wie Mario Wetzky, als Inaktivität und Zerfallsprozesse innerhalb der IFM beschrieben wurde, war ein in Wirklichkeit komplizierterer Prozess, der die neue Situation anzeigte. Signale und Initiativen, die seit geraumer Zeit vom Kern der Gruppe und ihren Unterstützern ausgingen, hatten längst andere Gruppen erreicht und Neugründungen befördert. Das dadurch breitere
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Erfahrungen, Einsichten und Erinnerungen eines Abgehörten
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Feld war aber immer noch zu schmal, schuf eine Art »erweiterter Isolation«, bei der aus wenigen Hundert Beteiligten, Tausende wurden, größere Teile der Gesellschaft aber noch lange nicht zu erreichen waren. Ein »Öffnungsaufruf« der »Initiative« vom 11. März 1989 versuchte hier den nächsten Schritt. Der Aufruf und seine Folgen konnten in zweifacher Weise verstanden werden. Wer ihn als Bemühen einer Gruppe las, den eigenen Wirkungsradius zu erhöhen und die zahlenmäßige Stärke der IFM zu verstärken, musste vom letztendlichen Scheitern sprechen. Wer darin die Absicht erblickte, Anstöße über sich selbst hinaus zu geben und zum Teil des Aufbruchs zu werden, der endlich die Gesellschaft erreichte, konnte den durchgreifenden Erfolg konstatieren. Im Grunde nahm der Öffnungsaufruf im März den Gründungsaufruf des Neuen Forums vom September vorweg. Die IFM betonte, weder eine Partei noch eine Organisation zu sein und beschränkte sich im Öffnungsaufruf auf breit gefasste Ziele einer Öffnung und Demokratisierung der Gesellschaft. Kritiker beider Dokumente vermissten im Nachhinein eine deutlichere Programmatik und Profilierung. Genau darum konnte und sollte es in diesem Moment noch gar nicht gehen. In den Folgemonaten waren Mitglieder der IFM an so gut wie allen Ansätzen neuer politischer Kräfte, einschließlich des Neuen Forums, beteiligt. Die »disparaten Individualisten« ließen sich weder in das Korsett einer Kleingruppe noch einer Partei pressen. Die erfolgreichen Bemühungen um die Kontrolle der Kommunalwahlen im Mai 1989 zeigten den gewachsenen Vernetzungsgrad der Gruppen, ihr Selbstbewusstsein und die beinahe schon selbstverständliche Politisierung. 25 Gruppen beteiligten sich an einer Protesterklärung zu den Ereignissen in China, es kam zur Demonstration vor der chinesischen Botschaft und zahlreichen weiteren öffentlichen Aktionen. In Leipzig fanden im Anschluss an die montäglichen Friedensgebete nahezu wöchentliche Demonstrationen statt, auf denen sich die Zahl der Teilnehmer vervielfachte. Auf dem Berliner Alexanderplatz erinnerten am 7. Tag jeden Monats Demonstrationen an die Fälschung der Kommunalwahlen. Der Herbst brachte den Durchbruch zu friedlichen Massenprotesten und einer politischen Bürgerbewegung. Damit gerieten entscheidende Kräfte des DDR-Sicherheitsapparates in eine neue Situation. Während ihre Kollegen und Genossen sich noch in Prügelorgien übten und von der gewaltsamen Lösung träumten, wurden sie zu Chronisten des eigenen Unterganges. Sie mussten mit Hochdruck arbeiten, um die Flut staatsfeindlichen Materials, von Resolutionen, Proklamationen, Gründungsaufrufen und Unterstützerschreiben zu erfassen und ungewollt der Nachwelt zu erhalten. Hilflose Versuche einer Gegenstrategie griffen zu kurz und liefen dem Tempo der Entwicklungen hoffnungslos hinterher. Es wurde völlig normal, westliche Gäste zu empfangen, mit politischen Delegationen zu sprechen, Interviews in mündlicher, schriftlicher, telefonischer
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Wolfgang Templin
Form zu geben. Allein die Telefoninterviews von Bärbel Bohley und anderen Oppositionellen aus dieser Zeit füllen ganze Bände und müssen die Abhörenden überzeugt haben, dass es Zeit war, sich nach einem neuen Arbeitsplatz umzusehen. Was bis zum Fall der Mauer und kurze Zeit darüber hinaus noch hielt, waren die Grenzkontrollen und die physische Aussperrung der Emigranten, Ausgebürgerten und mit ihnen Verbundener. Noch am 14. November wurden Wolf Biermann und Ralf Hirsch an der Einreise in die DDR gehindert. Am 28. November 1989 passierte ich den Grenzkontrollpunkt Bornholmer Straße in östlicher Richtung. Die kaum noch existierende DDR hatte mich wieder.
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Editorische Vorbemerkung Auch an dieser Stelle ist erneut zu betonen, dass die nachfolgend abgedruckten und wissenschaftlich kommentierten 151 Dokumente, sofern es sich nicht um wortgetreue Abhörprotokolle handelt, überwiegend Sprache und ideologische Interpretation von SED und MfS spiegeln. Dies kann nicht häufig genug unterstrichen werden! Ebenso muss daran erinnert werden, dass die Freigabe dieser Dokumente durch die angefragten Personen alles andere als selbstverständlich war, nicht zuletzt weil die freie Rede am Telefon, wenn sie verschriftlicht wurde, immer einen ganz eigentümlichen Charakter annimmt, sodass die Sprache – zumal unter diesen Bedingungen – nicht als charakteristische für die abgehörten Personen fehlgedeutet werden sollte.
Aufbau der Dokumente Die Dokumente sind einheitlich gegliedert worden. Der Kopf enthält die zugewiesene Dokumentennummer, ein Datum, Absender, Adressat, Titel und Quelle. Die Dokumentennummer ist nach dem Ereignisdatum chronologisch vergeben worden. Das Datum im Dokumentenkopf gibt hingegen das Erstellungsdatum durch MfS-Mitarbeiter wieder. Da dieses nicht immer auf den Dokumenten enthalten ist, sind gerade bei Abhörmaßnamen die Daten aus den MfS-internen Kennziffern, die das Datum der Abhörmaßnahme enthalten, als Dokumentendatum herangezogen worden. Dies ist kenntlich gemacht. Absender und Adressat sind ebenfalls nicht immer auf den Originalen enthalten. Sofern wir stichhaltige Anhaltspunkte dafür hatten, haben wir Absender bzw. Adressaten aufgenommen und ebenfalls kenntlich gemacht. Da uns oft nur Durchschläge zur Verfügung standen, sind Differenzen zwischen der uns vorliegenden Quelle, die wir ebenfalls im Kopf angeben, und anderen Überlieferungen möglich. Viele Dokumente tragen Stasi-interne Titel, die wir nur dann übernommen haben, wenn sie mehr als einen Namen und/oder ein Stasiinternes Aktenzeichen, eine Tonbandnummer o. Ä. trugen. In diesem Fall sind die Bezeichnungen mit »Originaltitel« erkennbar. In allen anderen Fällen ist der Titel eine Bezeichnung, die die Herausgeber vergeben haben. Stasi-interne Aktenzeichen, Tonbandnummern u.a. haben wir in den Titeln nicht belassen, sie kommen lediglich in Fußnoten vor. Auf die Erarbeitung von Regesten haben wir verzichtet. Da die Dokumentation einen historisch relativ kleinen Zeitraum betrifft und sich dabei auf einige, eng zusammenhängende Aktivitäten kon-
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Ilko-Sascha Kowalczuk/Arno Polzin
zentriert, ergibt sich der Sachzusammenhang überwiegend aus dem Datum sowie in einigen Fällen aus den »Originaltiteln«. Weggefallen sind ebenfalls Informationen wie »streng vertraulich«, weil dies praktisch für alle hier abgedruckten Dokumente galt. Ebenfalls nicht aufgenommen wurden die Kürzel der Bearbeiter. MfS-Mitarbeiter sind als Absender und Adressaten vermerkt, sofern sie ausgewiesen sind oder eindeutig zugeordnet werden können. In einigen Fällen gehört zum Dokumentenkopf noch eine Bemerkung, in der auf Besonderheiten, Anlagen u. Ä. hingewiesen wird.
Der Text Die Dokumente werden durchgehend nach der neuen Rechtschreibung wiedergegeben. Offenkundige orthographische und grammatikalische Fehler sind stillschweigend bereinigt worden. In einigen Fällen wird in einer Fußnote darauf hingewiesen, was im Original steht, dies betrifft vor allem die Schreibweise von Eigennamen, die, was in der Natur der Sache bei Abhöraktionen liegt, besonders viele Fehler aufweisen. Runde Klammern finden sich so in den Originalen. Eckige Klammern sind ausnahmslos von den Herausgebern eingefügt worden und verweisen auf Kürzungen, Streichungen, erklärende Einschiebungen oder Wortergänzungen. Die Formatierung der Dokumente wurde vereinheitlicht und entspricht nicht den Originalen, dies betrifft auch Absatzeinfügungen oder -herausnahmen. Sind handschriftliche Vermerke der MfS-Bearbeiter übernommen worden, so sind diese als solche im Text oder in einer Fußnote kenntlich gemacht worden. In einigen Dokumenten haben wir vorsichtig sprachliche Glättungen vorgenommen. Das ist in einer Bemerkung dem entsprechenden Dokument zu entnehmen und im Dokument selbst durch […] jeweils kenntlich gemacht. D.h. hier sind Füllwörter, Doppelungen etc. sichtbar gestrichen worden. Zur Vereinheitlichung gehört auch, dass wir durchgehend Jahreszahlen komplettiert haben (z. B. statt »88« dann »1988«) und bei Uhrzeiten ebenfalls eine einheitliche Schreibweise wählten (z. B. statt »02.00 Uhr« dann »2.00 Uhr«). Anders verfuhren wir im Fall der unterschiedlichen Schreibweisen von West- und Ost-Berlin. Wir selbst bevorzugen die in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik übliche Bindestrich-Form. Dies wird in den einleitenden Texten ebenso wie in den Anmerkungen sichtbar. In den Dokumenten selbst haben wir die dort verwendeten Schreibweisen jeweils belassen, weil hier ein Eingriff die Authentizität der politischen Sprache beeinträchtigt hätte. Steht im Titel »Telefongespräch« so handelt es sich um eine wortgetreue Wiedergabe. Der Begriff »Telefonat« weist auf eine Zusammenfassung eines Telefongesprächs hin, die MfS-Mitarbeiter vornahmen.
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Editorische Vorbemerkung
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Anonymisierungen Anonymisiert wurden Personen (und u. U. Sachzusammenhänge), wenn ihre Einwilligung für eine Veröffentlichung nach dem StUG notwendig ist, diese uns aber nicht vorlag. Dafür kann es verschiedene Gründe geben, nicht zuletzt die, dass wir gar nicht um eine Einwilligung baten oder trotz intensiver Recherchen keine Postadresse ermitteln konnten, auf unsere Post trotz mehrfachen Nachfragens keine Reaktionen erfolgten oder uns eine Einwilligung nicht gegeben worden ist. Telefonnummern wurden bis auf wenige Ausnahmen ebenso unkenntlich gemacht wie Autonummern. Fallweise anonymisiert wurden Adressen oder präzise Geburtsdaten.
Fußnoten in den Dokumenten Die Fußnoten in den Dokumenten sollen das Verständnis dieser erleichtern, Zusammenhänge offenlegen, Kontexte beleuchten, Sachverhalte und unklare Kontexte aufklären. Dies konnte uns nicht in jedem Einzelfall gelingen, was wir auch vermerkten. Da jedes Dokument für sich stehen soll, haben wir jedes Dokument für sich stehend wissenschaftlich kommentiert, um die Benutzerfreundlichkeit zu erhöhen, aber zugleich aus einfachen Platzgründen in einigen Fällen, vor allem wenn die Dokumente zeitlich eng zusammen hängen, auf Anmerkungen in zuvor wiedergegebenen Dokumenten verwiesen. Zu handelnden Personen sind kontextabhängig biografische Informationen eingefügt worden. Zu jenen Personen aber, die in mehr als drei Dokumenten vorkommen und keine »absoluten Personen der Zeitgeschichte« sind, finden sich in dem Abschnitt »Kurzbiografien« wesentliche Angaben. Das Personenregister lässt zudem einen personalen Zugang zu den Dokumenten zu, zumal die biografischen Informationen variieren können. In den Dokumenten sind häufig vorkommende Begriffe, Organisationen, Gruppen oder MfS-Bezeichnungen in Fußnoten nicht erläutert worden. Dazu finden sich in einem Glossar knappe und wesentliche, auf die Inhalte der Dokumentation abzielende Ausführungen. Kursiv gesetzte Passagen in den Fußnoten kennzeichnen Anmerkungen einer in dem Dokument erwähnten Person aus heutiger Sicht. Mit der Bitte um Zustimmung für die Veröffentlichung räumten wir allen angefragten Personen ein, selbst Bemerkungen anzubringen, wenn dies für notwendig erachtet wird.
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Ilko-Sascha Kowalczuk/Arno Polzin
Inoffizielle Mitarbeiter des MfS In den Dokumenten tauchen Personen auf, die vom MfS als inoffizielle Mitarbeiter geführt werden. Der Umgang mit dieser Tatsache erwies sich als komplizierter, als wir zunächst annahmen. Zunächst glaubten wir, dass wir mit der Aufnahme dieser Personen in den Abschnitt »Kurzbiografien« diese hinreichend kenntlich machen würden, zumal eine ganze Reihe von ihnen im Kontext der hier zur Rede stehenden historischen Vorgänge wichtige Rollen für das MfS spielten. Aber aus vielen Reaktionen von Personen, die die Dokumente zur Publikation freigeben sollten, ergab sich, dass dieser Weg nicht ausreicht. Denn wir müssen davon ausgehen, dass auch dieses Buch von vielen Leserinnen und Lesern nur ausschnittsweise zur Kenntnis genommen wird und die meisten von ihnen sich nur mit einzelnen Dokumenten auseinandersetzen und nicht regelmäßig in den Anhängen nachlesen werden. Daher haben wir uns entschieden, die vom MfS als IM geführten Personen in den Dokumenten jeweils einmal als solche kenntlich zu machen. Allerdings haben wir hier nur jene erfasst, die uns erstens bekannt, die zweitens nach Aktenlage eindeutig zu bewerten sind und die drittens, in einigen Fällen besonders relevant, auch juristisch unumstritten sind.
Überlieferung Alle abgedruckten Dokumente stammen aus dem Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Die Abkürzungen in den Quellenangaben für diese ebenso wie für Angaben aus anderen Archiven lassen sich über das Abkürzungsverzeichnis entschlüsseln. Ilko-Sascha Kowalczuk/Arno Polzin
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Dokumentenverzeichnis 1
Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
1
24.9.1985
Telefonat von Lutz Rathenow mit Lilo und Jürgen Fuchs
285
2
6.3.1986
Telefongespräch zwischen Bärbel Bohley/Werner Fischer und Birgit Voigt
286
3
2.5.1986
Wesentliche Ergebnisse der Bearbeitung des Operativ-Vorganges »Assistent« gegen Lutz Rathenow seit Januar 1986
297
4
23.7.1986
Aktenvermerk zur Bearbeitung von Jürgen Fuchs und Roland Jahn durch die HA III
315
5
20.10.1986
Information zu Wolfgang Templin
317
6
20.11.1986
Information über den bevorstehenden Besuch einer Delegation der Alternativen Liste in Ost-Berlin
318
7
23.11.1986
Information zu Reaktionen auf das »Menschenrechtsseminar« vom 22./23. November 1986 in Berlin-Friedrichsfelde
322
8
13.1.1987
Provokatorische Erklärung feindlich-negativer Kräfte der DDR anlässlich des zehnjährigen Bestehens der »Charta 77«
324
9
24.1.1987
Reaktion Roland Jahns auf einen anonymen Brief
326
10
12.3.1987
Aktenvermerk über Absprache in der Hauptabteilung III/1
329
1 Die Dokumente sind chronologisch nach den zugrunde liegenden Ereignissen sortiert. Das beschriebene Ereignis kann vom Datum der Verschriftung abweichen. Bei Ereigniszeiträumen gilt das Enddatum. In die Kolumnentitel der einzelnen Dokumente sind die Daten der Erstellung der Dokumente aufgenommen worden.
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Dokumentenverzeichnis
Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
11
17.3.1987
Erkenntnisse zu Aktivitäten des in der DDR akkreditierten ständigen Korrespondenten des BRD-Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«, Ulrich Schwarz
331
12
26.3.1987
Vorstellungen eines ehemaligen DDR-Bürgers zur Gestaltung politischer Untergrundtätigkeit gegen die DDR
339
13
31.3.1987
Analyse der festgestellten fernmündlichen Kontakte des ehemaligen DDR-Bürgers Roland Jahn
344
14
27.4.1987
Organisierung und Inspirierung feindlich-negativer Aktivitäten durch den Roland Jahn
350
15
28.4.1987
Telefonat zwischen Roland Jahn und Bärbel Bohley
354
16
29.4.1987
Hinweise im Zusammenhang mit einer Aktion 359 feindlich-negativer DDR-Bürger am 24. April 1987
17
6.5.1987
Information über feindliche Pläne und Absichten im Zusammenhang mit dem in Warschau am 9. Mai 1987 vorgesehenen Kongress polnischer oppositioneller Gruppen
361
18
8.5.1987
Telefonate von Wolfgang Templin
365
19
18.5.1987
Gespräche von Roland Jahn mit Regina Templin am 17. Mai 1987 und Wolfgang Templin am 18. Mai 1987
369
20
27.5.1987
Einflussnahme des Roland Jahn auf eine »Friedensgruppe« in der DDR
372
21
27.5.1987
Verbindungsaufnahmen der sogenannten »Initiative 375 Frieden und Menschenrechte« (Wolfgang Templin) nach der UdSSR und der VR Polen
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273
Dokumentenverzeichnis Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
22
9.6.1987
Anforderung von Stimmkonserven der im OV »Weinberg« der Hauptabteilung XX/5 erfassten bzw. operativ angefallenen Personen
379
23
8.7.1987
IM-Bericht »Raffelt«
381
24
1.9.1987
Telefonate von Roland Jahn u. a. mit Wolfgang Templin am 1. September 1987
384
25
2.10.1987
Gedankliche und konzeptionelle Vorstellungen zur Schaffung einer »inneren Opposition« in der DDR
387
26
6.10.1987
Geplante gemeinsame Aktionen zwischen inneren und äußeren Feinden
392
27
6.10.1987
Gespräch zwischen György Dalos (VR Ungarn) und 396 Wolfgang Templin am 6. Oktober 1987
28
20.10.1987
Telefonat zwischen Ralf Hirsch und Roland Jahn
400
29
23.10.1987
Telefoninterview von Roland Jahn mit Ralf Hirsch für »Radio Glasnost – außer Kontrolle«
405
30
28.10.1987
Information zum Aufklärungsauftrag »Opponent« in Westberlin
408
31
30.10.1987
Aktivitäten der feindlich-negativen Gruppierung »Initiative Frieden und Menschenrechte« Berlin und der oppositionellen Gruppe »Zur Schaffung von Vertrauen zwischen Ost und West« Moskau
409
32
10.11.1987
Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte im Zusammenhang mit dem Besuch des stellvertretenden Außenministers der USA in der DDR
412
33
12.11.1987
Hinweise zu einem Telefoninterview mit dem Pfarrer [Rainer] Eppelmann
414
34
24.11.1987
Mitteilung des Lageoffiziers der Abt. 26 zur Aktion »Falle«
415
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Dokumentenverzeichnis
Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
35
25.11.1987
Reaktionen auf eine Aktion in der »Umweltbibliothek«
417
36
25.11.1987
Dringendes Selbstbedienungstelegramm
422
37
26.11.1987
Interview mit Lutz Rathenow, SFB II, 16.25 Uhr
423
38
26.11.1987
Telefoninterview mit Eduard Lintner, SFB II, 16.31 Uhr
425
39
27.11.1987
Telefonat von Roland Jahn mit Bärbel Bohley, Till Böttcher sowie Wolfgang Templin
427
40
27.11.1987
Telefoninterview mit Lutz Rathenow, RIAS II, 12.19 Uhr
433
41
28.11.1987
Telefonate von Wolfgang Templin am 28. November 1987
437
42
29.11.1987
Telefonat zwischen Ralf Hirsch und Roland Jahn
440
43
30.11.1987
Inhalte der 4. Sendung von »Radio Glasnost – außer Kontrolle« am 30. November 1987, 21.00– 22.00 Uhr
448
44
11.12.1987
Telefonate von Wolfgang Templin
456
45
17.12.1987
Telefonische Verbindungsaufnahme von Vertretern der »Initiative Frieden und Menschenrechte« Berlin mit der Gruppe »Vertrauen« Moskau
460
46
20.12.1987
Aktuelle Hinweise zu Aktivitäten innerer und äußerer Feinde
462
47
21.12.1987
Aktuelle Hinweise zum Zusammenwirken innerer und äußerer Feinde
464
48
22.12.1987
Telefongespräch zwischen Roland Jahn und Wolfgang Templin
466
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Dokumentenverzeichnis Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
49
29.12.1987
Telefongespräch zwischen Roland Jahn und Ralf Hirsch
476
50
30.12.1987
Konzeptionelle Vorstellungen zur weiteren Gestaltung der Vorgehensweise feindlich-negativer DDRBürger im Zusammenwirken mit äußeren Feinden
487
51
30.12.1987
Aktivitäten innerer und äußerer Feinde
503
52
30.12.1987
Telefonische Mitteilung des IMB »Karin Lenz«
510
53
3.1.1988
Telefonat zwischen Ralf Hirsch und Roland Jahn
512
54
16.1.1988
Telefongespräch zwischen Roland Jahn und Wolfgang Templin
519
55
17.1.1988
Telefongespräch zwischen Roland Jahn und Wolfgang Templin
539
56
17.1.1988
Telefongespräch zwischen Bärbel Bohley und Roland Jahn
544
57
18.1.1988
Telefonat zwischen Wolfgang Templin und Jürgen Fuchs
553
58
19.1.1988
Telefongespräch zwischen Bärbel Bohley und Roland Jahn
556
59
19.1.1988
Telefonate Lutz Rathenow
562
60
20.1.1988
Telefongespräch zwischen Roland Jahn und Ralf Hirsch
564
61
22.1.1988
Telefonat zwischen Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs
581
62
24.1.1988
Telefonat zwischen Wolfgang Templin und Roland Jahn
582
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351154 — ISBN E-Book: 9783647351155 Persönliches Exemplar für Ilko-Sascha Kowalczuk
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276
Dokumentenverzeichnis
Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
63
27.1.1988
Telefonat zwischen Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs
583
64
27.1.1988
Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Wolfgang Templin
587
65
28.1.1988
Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Wolfgang Templin
592
66
28.1.1988
Operative Kurzauskunft zum Entstehen der Kontaktnummer in Verbindung mit IMB »Raffelt«
595
67
30.1.1988
Kontakte des IMB »Raffelt«
597
68
3.2.1988
Telefoninterview von Lutz Rathenow
599
69
4.2.1988
Telefongespräch zwischen Lutz Rathenow und Roland Jahn
604
70
5.2.1988
Telefongespräch zwischen Bettina Rathenow und Roland Jahn
609
71
9.2.1988
Anforderung eines Gutachtens
613
72
12.2.1988
Gutachten im Verfahren gegen Ralf Hirsch, Wolfgang und Regina Templin, Bärbel Bohley
615
73
28.2.1988
Aktivitäten und Meinungsäußerungen von Lutz Rathenow im Zusammenhang mit den Ereignissen nach dem 17.1.1988
631
74
29.2.1988
Stilllegung des Fernsprechanschlusses von Wolfgang 634 und Regina Templin
75
29.2.1988
Zusammenkunft der »Initiative Frieden und Menschenrechte« in der Wohnung Poppe
635
76
1.3.1988
Reaktionen zum Auftreten der DDR-Bürger [Regina und Wolfgang] Templin in Westberlin
642
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277
Dokumentenverzeichnis Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
77
1.3.1988
Monatsbericht über die im Februar 1988 von der Feindperson Roland Jahn (ZOV »Weinberg«) entwickelten feindlichen Aktivitäten
645
78
13.3.1988
Telefonische Verbindungsaufnahmen der Bärbel Bohley mit Vertretern der »Initiative Frieden und Menschenrechte«
649
79
17.4.1988
Gespräch von Wolfgang Templin mit Gerd Poppe
655
80
18.4.1988
Ausgangshinweise für die Einleitung operativer Maßnahmen der Zersetzung und Verunsicherung der im ZOV »Heuchler« erfassten Personen
659
81
23.4.1988
Gespräch zwischen Gert Bastian, Partei »Die Grünen« der BRD, und Gerd sowie Ulrike Poppe
666
82
26.4.1988
Telefonat zwischen Gert Bastian und Gerd und Ulrike Poppe
668
83
2.5.1988
1. Ergänzung der Ausgangshinweise vom 18.4.1988 670 für die Einleitung operativer Maßnahmen der Zersetzung und Verunsicherung der im ZOV »Heuchler« erfassten Personen
84
11.5.1988
2. Ergänzung der Ausgangshinweise für die Einleitung operativer Maßnahmen der Zersetzung und Verunsicherung der im ZOV »Heuchler« erfassten Personen
674
85
11.6.1988
Gespräch von Petr Uhl (»Charta 77«, ČSSR) mit Gerd und Ulrike Poppe
678
86
13.6.1988
Geplantes Seminar der »Charta 77« vom 17. bis 681 19. Juni 1988 in Prag unter Beteiligung von Vertretern oppositioneller Gruppierungen der sozialistischen Länder und westlichen Friedensbewegungen
87
19.6.1988
Information zu Generalmajor a. D. Gert Bastian
684
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Dokumentenverzeichnis
Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
88
20.6.1988
Gespräch von Wolfgang Templin mit Gerd Poppe
685
89
23.6.1988
Telefonat zwischen Katja Havemann und Bärbel Bohley
687
90
28.6.1988
Telefonat zwischen Wolfgang Schnur/Rainer Eppelmann und Bärbel Bohley/Werner Fischer
689
91
30.6.1988
Lagebericht zur Aktion »Störenfried«
692
92
7.7.1988
Monatsbericht über die im Juni 1988 von der Feindperson Roland Jahn (ZOV »Weinberg«) entwickelten feindlichen Aktivitäten
695
93
7.7.1988
Vorschlag für eine weitere Maßnahme der Zersetzung und Verunsicherung gegen Roland Jahn und feindlich-negative Kräfte in der DDR
702
94
20.8.1988
Telefonat zwischen Werner Fischer und Ralf Hirsch 705
95
10.9.1988
Meinungsaustausch zwischen Freya Klier und Ulrike Poppe
96
18.9.1988
Telefonat zwischen Werner Fischer und Ralf Hirsch 714
97
19.9.1988
Telefonat zwischen Regina Templin und Bärbel Bohley
720
98
12.10.1988
Telefonat zwischen Werner Fischer und Frieder Wolf
724
99
21.10.1988
Telefonate von Werner Fischer
727
100
27.10.1988
Telefonat zwischen Werner Fischer und Birgit Voigt
732
101
29.10.1988
Telefonat von Werner Fischer mit seiner Mutter
735
102
29.10.1988
Telefongespräch von Werner Fischer mit seiner Mutter
738
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710
279
Dokumentenverzeichnis Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
103
04.11.1988
RIAS-Telefoninterview mit Werner Fischer
752
104
15.11.1988
Telefonat zwischen Werner Fischer und Gerd Poppe
756
105
15.11.1988
Telefonate von Werner Fischer mit Marianne Birthler und Ralf Hirsch
757
106
16.11.1988
Telefonat zwischen Werner Fischer und Ralf Hirsch 758
107
22.11.1988
Telefonat zwischen Werner Fischer und Wolfgang Templin
759
108
25.11.1988
Telefonate von Gerd Poppe mit Heiko Lietz und Wolfgang Templin
766
109
26.11.1988
Telefonate von Werner Fischer
769
110
27.11.1988
Telefonat zwischen Bärbel Bohley und Wolfgang und Regina Templin
773
111
7.1.1989
Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch
777
112
12.1.1989
Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Manfred Stolpe
785
113
14.1.1989
Telefonate von Werner Fischer
788
114
15.1.1989
Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch
791
115
16.1.1989
Telefonat zwischen Werner Fischer und Anna Šabatová und Petr Uhl
795
116
19.1.1989
Telefonate von Werner Fischer
803
117
19.1.1989
Telefonate von Werner Fischer
808
118
19.1.1989
Telefonate von Werner Fischer
813
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Dokumentenverzeichnis
Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
119
19.1.1989
Telefonat zwischen Werner Fischer und Kontakttelefon Leipzig
815
120
22.1.1989
Prüfung der Anwendung der Möglichkeit des »Widerrufs von Anschlussgenehmigungen für Fernsprechanschlüsse« durch die Deutsche Post in Bezug auf sogenannte Kontakttelefone in kirchlichen Einrichtungen
818
121
23.1.1989
Telefonat zwischen Werner Fischer und Wolfgang Templin
820
122
26.1.1989
Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch
828
123
26.1.1989
Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch
830
124
27.1.1989
Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Martin-Michael Passauer
838
125
29.1.1989
Telefonat zwischen Katharina Harich und Marianne Birthler
840
126
30.1.1989
Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch
842
127
6.2.1989
Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch
849
128
6.2.1989
Telefonat zwischen Marianne Birthler und Wolfram Hülsemann
857
129
14.2.1989
Information über den in der Untersuchung festgestellten Missbrauch von Telefonen in kirchlichen Einrichtungen
859
130
8.5.1989
Telefonat von Lutz Rathenow
863
131
29.5.1989
Telefonate von Lutz Rathenow
866
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281
Dokumentenverzeichnis Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
132
25.9.1989
Telefonat von Werner Fischer
869
133
26.9.1989
Telefonat zwischen Lutz Rathenow und Roland Jahn
875
134
30.9.1989
Telefonate von Werner Fischer
879
135
3.10.1989
Telefonat von Werner Fischer und Wolfgang Templin
884
136
4.10.1989
Kontakttelefon Gethsemanekirche
890
137
4.10.1989
Rechtliche Stellungnahme zu einem Telefoninterview des Lutz Rathenow vom 11. September 1989
892
138
6.10.1989
Telefonat zwischen Werner Fischer und einer Journalistin aus West-Berlin
896
139
7.10.1989
Telefonat von Werner Fischer mit Gert Bastian und 898 Petra Kelly
140
8.10.1989
Telefonate von Werner Fischer und Marianne Birthler
902
141
8.10.1989
Telefonate von Lutz Rathenow
904
142
8.10.1989
Telefonate von Lutz Rathenow
910
143
8.10.1989
Telefonate von Lutz Rathenow
917
144
12.10.1989
Telefonate von Werner Fischer
920
145
24.10.1989
Telefongespräch zwischen Bärbel Bohley und Wolf Biermann
923
146
27.10.1989
Aktivitäten einer Mitbegründerin des Neuen Forums
929
147
3.11.1989
Telefonat zwischen Marianne Birthler und Wolfram Hülsemann
932
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282
Dokumentenverzeichnis
Dok.-Nr.
Datum
Titel
Seite
148
4.11.1989
Gespräch zwischen Wolfgang Templin und Gerd Poppe
935
149
4.11.1989
Reaktionen und Meinungsäußerungen feindlichnegativer Kräfte im Zusammenhang mit der Demonstration am 4.11.1989 in Berlin
938
150
17.11.1989
Entwicklungstendenzen innerhalb des Neuen Forums
940
151
19.11.1989
Telefonat Werner Fischer mit seinen Eltern
943
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Dokumente
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Dokument 1 Telefonat von Lutz Rathenow mit Lilo und Jürgen Fuchs 24. September 1985 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Günther] Heimann Quelle: BStU, MfS, HA XX/9 1876, Bl. 35
Lutz Rathenow informiert Lilo Fuchs, Westberlin, dass er wieder von seinem Apparat aus anruft. R[athenow] telefonierte heute den ganzen Tag mit dem Störungsdienst. Irgendjemand hat die Abstellung des Anschlusses verfügt. Heute früh ist er beim Nachfragedienst gewesen, die wussten von nichts. Er ist an die Störungsstelle zurückgewiesen worden mit der Bemerkung, es handele sich nur um eine Störung des Anschlusses. Bei der Störungsstelle ist ihm gesagt worden, das Telefon sei abgemeldet. Aber nun funktioniert es wieder unter der gleichen Nummer. Es muss also jemand dazwischengefunkt haben. Die Mitarbeiter der Störungsstelle oder des Fernsprechamtes waren selbst entrüstet, dass er laufend hin- und hergeschickt wurde. R[athenow] bittet, Jürgen [Fuchs] kann ja heute Abend mal anrufen, um zu testen, ob es funktioniert. 17.54 Uhr 1
1 Um 22.00 Uhr telefonierten Jürgen Fuchs und Lutz Rathenow miteinander. Rathenow schilderte erneut, dass ihm sein Anschluss gesperrt worden sei und dass er sich deshalb an mehrere offizielle Stellen gewandt habe (BStU, MfS, HA XX/9 1876, Bl. 36).
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Dokument 2 Telefongespräch zwischen Bärbel Bohley/Werner Fischer und Birgit Voigt 7. März 1986 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, Leiter HA XX/9 Quelle: BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 1a, Bl. 18–22 Anmerkung: Das Telefongespräch fand am späten Abend des 6. März 1986 statt.
Birgit Voigt (7505 Ettlingen […]; Mitglied des Landesverbandes der Grünen in Baden-Württemberg) nimmt Kontakt auf zu Bärbel Bohley und Werner Fischer. Es kommt zu folgendem Dialog: B[irgit] V[oigt]: Hallo, Bärbel? Birgit. B[ärbel] B[ohley]: Das gibt es nicht. Du alte Hexe, immer rufst du um Mitternacht an. Du hast Schwein, dass wir hier noch herumsitzen. Werner (Fischer) brüllt gerade aus der Küche Birgit. B[irgit] V[oigt]: Ja, das ist meine unkonventionelle Art. B[ärbel] B[ohley]: Die ist doch auch sehr schön. B[irgit] V[oigt]: Wie geht es dir Bärbel? B[ärbel] B[ohley]: Wir hatten heute wieder hier heiße Diskussionen und große Streitereien und große Klärungen. 1 Und jetzt sitzt noch die Katja (Havemann) 1 Am 6.3.1986 trafen sich zwischen 20.00 und 22.00 Uhr in der Wohnung von Regina und Wolfgang Templin 23 bis 28 Personen. Darunter waren neben den bereits erwähnten u. a. Ralf Hirsch, Reinhard Schult, Vera Wollenberger, Thomas Klein, Silvia Müller, Carlo Jordan, Ulrike Poppe, Peter Grimm, Martin Böttger sowie die IM des MfS Mario Wetzky, Lutz Nagorski, Monika Haeger, Knud Wollenberger und Lothar Pawliczak. Auf dieser Sitzung wurden Differenzen in der Opposition, zum Teil sehr emotional, ausgetragen. Im Kern ging es um die Frage, was unter »Menschenrechtsarbeit« zu verstehen sei, wie man sich künftig organisieren wolle und ob es zulässig sei, Informationen und Aufrufe gezielt über Westmedien verbreiten zu lassen. Es kam in Folge dieser Debatte zu einer faktischen Spaltung der Ostberliner Opposition. Knud und Vera Wollenberger, Thomas Klein, Reinhard Schult, Silvia Müller und Mario Wetzky wurden aufgefordert, das Treffen zu verlassen, was sie taten. Im Kern blieb die jüngst gebildete und von den Genannten kritisierte »Initiative Frieden und Menschenrechte« zurück. Die anderen (ohne Wetzky, der als IM bei der IFM mitarbeitete) bildeten die marxistisch orientierte Oppositionsgruppe »Gegenstimmen«. Über das Treffen am 6.3.1986 liegt u. a. vor: MfS, HA XX/2, Bericht des IMB »Martin« zum Treffen des Vorbereitungskreises für das Menschenrechtsseminar, 7.3.1986. BStU, MfS, AOP 1078/91, Bd. 7, Bl. 304–306; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 7. März 1986, 7.3.1986. BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 6, Bl. 29–31; MfS, HA XX/2, Bericht des IMB »Wolf« zum Vorbereitungskreis Menschenrechtsseminar, 10.3.1986. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 5, Bl. 68–70; MfS, HA XX/2, Information über eine Zusammenkunft des Vorbereitungskreises Menschenrechtsseminar am 6.3.1986 in der Wohnung des Templin, Wolfgang, 11.3.1986. Ebenda, Bl. 43–56; MfS,
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Dokument 2 vom 7. März 1986
287
und Werner [Fischer] in der Küche und wir diskutieren gerade. Werner [Fischer] hat deinen Pullover an und fühlt sich sehr wohl, sehr warm und frisch. Und, also, du wirst sicher in der nächsten Zeit von einigen Leuten hören, die sich für »euer Problem« interessieren. B[irgit] V[oigt]: Aha?! B[ärbel] B[ohley]: Die auch sicher ein bisschen wichtig sind, vom Namen. B[irgit] V[oigt]: Aha, ja prima. B[ärbel] B[ohley]: Also, ich habe »das« versucht und ich habe auch deine Adresse angegeben. Ich hoffe, dass das dir recht ist. B[irgit] V[oigt]: Ja, natürlich, selbstverständlich. B[ärbel] B[ohley]: Weil das natürlich die Möglichkeit, dass wir uns in der nächsten Zeit wiedersehen, etwas verringert. 2 Also denke ich schon und das weißt du auch. Aber irgendwann sehe ich dich ja wieder. B[irgit] V[oigt]: Auf keinen Fall. [… im Original nicht lesbar] ich bin unheimlich erkältet. Ich lag auch eine Woche am Boden. Ich hatte noch mal versucht anzurufen, aber irgendwie hat das nicht geklappt. Dann wart ihr nicht da und dann hatte ich wieder ein schlechtes Gewissen, weil ich euch nicht erwischt habe. Ich hoffe, dass du nicht sauer warst. B[ärbel] B[ohley]: Überhaupt nicht. Also, Birgit, überhaupt nicht! B[irgit] V[oigt]: Ich bin da ein bisschen komisch, weißt du. B[ärbel] B[ohley]: Ach, du bist ganz lieb! B[irgit] V[oigt]: Bärbelchen, wie geht es dir sonst? B[ärbel] B[ohley]: Eigentlich geht es mir ganz gut. Ich hatte bloß schrecklich viel zu arbeiten gehabt. Wir hatten am letzten Wochenende »Friedensseminar«
HA XX/2, Zusammenkunft der Vorbereitungsgruppe Menschenrechtsseminar am 6.3.1986 in der Wohnung des Templin, Wolfgang, 12.3.1986 (IMB »Christian«). BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 9, Bl. 148–152; MfS, HA XX/4, Information Zusammenkunft der »Vorbereitungsgruppe« Menschenrechtsseminar am 6.3.1986, 12.3.1986. BStU, MfS, BV Berlin, AIM 7651/91, Bd. II/1, Bl. 246–248; MfS, BV Berlin, KD Prenzlauer Berg, Operativinformation Nr. 20/86 zum Treffen feindlichnegativer Personenkreise, 13.3.1986 (IMB »Rudolf Ritter«). BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 5, Bl. 92–94. Aus der Literatur siehe zu diesen Vorgängen, die zur Bildung der IFM und zur faktischen Spaltung der Ostberliner Opposition führten u. a. Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 235–246; Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949– 1989. 3., durchges. u. korrig. Aufl., Berlin 2000, S. 592–604; Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. DDR-Opposition 1986–1989. Berlin 1992, S. 51–60; Wolfgang Templin, Reinhard Weißhuhn: Initiative Frieden und Menschenrechte. Die erste unabhängige DDR-Oppositionsgruppe, in: Helmut Müller-Enbergs, Marianne Schulz, Jan Wielgohs (Hg.): Von der Illegalität ins Parlament. Werdegang und Konzepte der neuen Bürgerbewegungen. Berlin 1992, S. 148–165; dies.: Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 171–211. 2 Birgit Voigt hatte seit 1985 Einreiseverbot in die DDR (MfS, HA XX/5, Kurzauskunft zu Voigt, Birgit, 2.10.1989. BStU, MfS, HA XX 6313, Bl. 42–43).
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in Stendal 3 und das findet einmal im Jahr statt. Und ich war in diesem Vorbereitungskreis und hatte viel zu tun und es trat das historische Ereignis ein, dass zum ersten Mal überhaupt ein Problem, was es gibt, und zwar also, nur das Reiseproblem der DDR-Leute in die Richtung ČSSR oder sozialistisches Ausland, direkt an [Horst] Sindermann 4 delegiert wurde. Und nicht an irgendwelche Bischöfe oder so. Und da kannst du dir vorstellen, dass es sehr anstrengend und schwierig und, naja, mit emotionalen Brüchen und mit allem möglichen Drum- und Dran. Aber der Brief ist jedenfalls abgegangen. 5 B[irgit] V[oigt]: Das ist ja prima! B[ärbel] B[ohley]: Und ich glaube, dass das schon ganz gut ist. B[irgit] V[oigt]: Ich hoffe, dass »der« 6 das dann auch irgendwie kriegen wird. B[ärbel] B[ohley]: Ja. Konntest du denn etwas mit den »anderen Briefen« anfangen? 7 B[irgit] V[oigt]: Ja, du, ich habe die weitergereicht. Ich weiß jetzt nicht genau, ob irgendwie etwas veröffentlicht wird. Die eine Geschichte müsstet ihr aber haben. B[ärbel] B[ohley]: Was? B[irgit] V[oigt]: Diesen Brief an mich. Habt ihr den noch nicht als Kopie? 8 3 »Konkret für den Frieden IV« fand vom 27.2. bis 1.3.1986 in Stendal mit rd. 200 Vertreterinnen und Vertretern von 145 Basisgruppen statt. U. a. wurde gefordert, die Friedens- und Menschenrechtsarbeit stärker von den Kirchen zu lösen und direkt in die Gesellschaft einfließen zu lassen und den Staat direkter anzusprechen. Zu diesem Treffen vgl. Neubert: Geschichte der Opposition, S. 623–625. 4 Horst Sindermann (1915–1990) war von 1933 bis 1945 mit einer kurzen Ausnahme ununterbrochen in Haft, seit 1958 Kandidat und seit 1963 Mitglied des ZK der SED, 1967–1989 Mitglied des Politbüros des ZK der SED, 1976–1989 Präsident der Volkskammer und stellv. Vors. des Staatsrates. 5 In dem Brief wird gegen die Praxis protestiert, bundesdeutschen Gesprächspartnern der ostdeutschen Opposition die Einreise in die DDR zu verweigern und ebenso wird dagegen protestiert, Oppositionellen die besuchsweise Ausreise in die ČSSR zu verweigern. Nach einer längeren und kontroversen Debatte ist schließlich entschieden worden, Sindermann den Brief über die Konferenz der Kirchenleitungen zustellen zu lassen (MfS, BV Magdeburg, Abt. 26/2 an Leiter Abt. XX, Information B »Mobil«, 2.3.1986. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 9, Bl. 128–131). 6 Gemeint ist Horst Sindermann. 7 Am 20.1.1986 schrieben Werner Fischer und am 21.1.1986 Bärbel Bohley an die Fraktion der Grünen im Bundestag längere Briefe, die über Birgit Voigt der Fraktion zugestellt wurden. Darin kritisieren sie, ausgehend von einem Bericht von Jürgen Schnappertz über ein »deutsch-deutsches Friedensseminar« in der Ostberliner Samaritergemeinde von Rainer Eppelmann, die unterschiedlichen Politikbegriffe und –vorstellungen. Kopien der Briefe stellte freundlicherweise Birgit Voigt zur Verfügung (Archiv Birgit Voigt). 8 Es ist ein Brief von Bärbel Bohley und Werner Fischer an Birgit Voigt vom 30.11.1985 gemeint (Archiv Birgit Voigt). Der Inhalt korrespondiert mit dem in Anm. 9 genannten Text. Zu diesem Brief liegt auch vor: MfS, BV Berlin, Abt. XV, stellv. Leiter Major Harald Niederländer an BV Berlin, Abt. XX/2, Information zu der für Ihre Diensteinheit erfassten Person Bärbel Bohley, 11.2.1986. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 9, Bl. 57 (Niederländer, geb. 1936 und seit 1962 im MfS tätig, weist darauf hin, dass der Brief von Bohley und Fischer von »antisozialistischen und DDRfeindlichen Kräften der Alternativen Liste« ausgenutzt würde).
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B[ärbel] B[ohley]: Nein! B[irgit] V[oigt]: Frage einmal beim Ralf (Hirsch) nach. B[ärbel] B[ohley]: Ja. Glaube ich nicht, hätte er mir gegeben. Ich habe ihn vorhin gesehen. B[irgit] V[oigt]: Den habe ich schon lange vor Berlin abgeschickt. B[ärbel] B[ohley]: Ja, nein. Glaube ich nicht, weil Ralf [Hirsch] in dieser Hinsicht sehr zuverlässig ist. B[irgit] V[oigt]: Das wollte ich damit auch nicht sagen. Also, der »Ausschnitt« ist veröffentlicht worden, in der Zeitung »Kommune«. 9 B[ärbel] B[ohley]: Hast du denn die »taz« von der letzten Woche gelesen? B[irgit] V[oigt]: Ja. B[ärbel] B[ohley]: Da stand doch auch etwas drin. B[irgit] V[oigt]: Ja. B[ärbel] B[ohley]: Und ich habe versucht, da drauf zu reagieren, weil es ja irgendwelche »Friedenskreise« gibt, die sich nicht zu entdecken geben, die solche Mitteilungen an die »taz« geben. Und leider war es spät und ich war müde. Und ich habe noch ganz schnell etwas zusammengeschrieben. Aber, das ging also so in die Richtung, wenn du das noch einmal so für dich aufnehmen könntest? B[irgit] V[oigt]: Ja. B[ärbel] B[ohley]: Dass ich also, das sehr richtig finde, dass der Brief erschienen ist. 10 Und dass ich den natürlich sofort unterschrieben hätte, wenn mich je9 Unter der Überschrift »Ein- und Ausreiseverbote« ist ein längerer Briefausschnitt von Bärbel Bohley und Werner Fischer veröffentlicht. Vgl. Kommune 4 (1986) 1–2, S. 81. Darin kritisierten sie die Reiseverbote, auch für bundesdeutsche Freunde in die DDR. Sie schlugen vor, alle Personen, die von Reiseverboten betroffen sind, zu erfassen, um so die Dimension zu verdeutlichen. Politiker könnten dann nicht mehr behaupten, es handele sich um wenige Einzelschicksale. Außerdem könnte man dann auch Druck auf internationale Gremien wie die KSZE oder die UNO ausüben. Solche Listen sind dann auch erarbeitet worden. Mit Datum vom 7.9.1987, pünktlich zum Beginn des BonnBesuches von Erich Honecker, übersandten Petra Kelly und Gert Bastian Erich Honecker eine Liste mit 107 Namen von Personen, die aus politischen Gründen nicht in die DDR einreisen durften. Dabei handelte es sich überwiegend um Sympathisanten der Grünen. Eine Kopie des Briefes stellte freundlicherweise Gerd Poppe zur Verfügung (Archiv Gerd Poppe). Die Grünen, die IFM und die UB stellten auch in den nächsten Jahren mehrfach solche Listen zusammen, z. B.: Christian Halbrock, Carlo Jordan, Siegbert Schefke für die UB an das DDR-Komitee für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit, Offenes Dialogangebot zum Tag der Menschenrechte, 10.12.1987. BStU, MfS, HA XX 2105, Bl. 112–114. Zu den Reiseverboten gegenüber Politikern der Grünen siehe Regina Wick: Die Mauer muss weg – Die DDR soll bleiben. Die Deutschlandpolitik der Grünen von 1979 bis 1990. Stuttgart 2012, spez. S. 162–215, 235–242. 10 Am 24.1.1986 schickten Rainer Eppelmann, Peter Grimm, Ralf Hirsch und Wolfgang Templin einen Brief »An die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik«. Darin forderten sie u. a. Reisefreiheit, demokratische Mitbestimmung, für nach politischen Strafrechtsparagrafen Verurteilte eine Amnestie sowie generell die Einhaltung der Menschenrechte (u. a. Wahlen, Versammlungs-, Vereinigungs- und Redefreiheit). Dieser Brief ist komplett u. a. im »Spiegel« (Nr. 10/1986 vom 3.3.1986, S. 78, 80) abgedruckt worden. Andere Zeitungen wie der »Tagesspiegel«, die »Berliner Morgenpost«, die »Frankfurter Rundschau«, die »Süddeutsche Zeitung« oder die »Frankfurter Allge-
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mand gefragt hätte. Aber, dass ich das natürlich überhaupt nicht kritisieren kann, dass den viele Leute unterschreiben, weil wir hier alles Individualisten sind und selbstständig und eigenständig. Und so im Rahmen der blockübergreifenden »Friedensbewegung« finde ich es ganz wichtig, dass jeder weiß, was der andere macht. Und deshalb finde ich es auch ganz richtig, dass der »dort« erschienen ist. Und ich hätte mich natürlich noch viel mehr gefreut, der wäre im »N[euen] D[eutschland]« erschienen. Ist er leider nicht. B[irgit] V[oigt]: (lacht darüber) Das weiß ich inzwischen schon, dass also dieser Bericht von der »taz« keineswegs eure Meinung widerspiegelt. 11 B[ärbel] B[ohley]: Ja, aber es wäre ganz [gut] zu erfahren, wie dieser Bericht dort hineingekommen ist. B[irgit] V[oigt]: Ja, da diskutiere ich auch schon, weil ich mir das auch nicht erklären konnte. Da habe ich schon mit unserem »gemeinsamen Freund« 12 in West-Berlin darüber gesprochen. B[ärbel] B[ohley]: Und »der« muss das unbedingt herauskriegen, weil das wirklich ganz wichtig ist. Da passiert hier nämlich so eine Art, naja, wirklich Spaltung kann man sagen.
meine Zeitung« berichteten ebenfalls darüber und druckten den Brief ganz oder teilweise ab. Siehe auch unten Anm. 13. Im Frühsommer 1986 erklärten die Unterzeichner, dass sie keine Antwort vom Staat erhalten hätten. Vgl. Rainer Eppelmann, Peter Grimm, Ralf Hirsch, Wolfgang Templin: Appell zum UNO-Jahr des Friedens, in: »Grenzfall« vom 29.6.1986 (1. Ausgabe), nachgedruckt in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 1–2. Von der Stasi ist aufmerksam registriert worden, wie der Brief im Westen wahrgenommen wurde (z. B.: BStU, MfS, ZAIG 22511, Bl. 308–321). Die SED-Führung erhielt eine eigene Meldung zu dem Brief (BStU, MfS, ZAIG 3505). 11 In der »taz« erschien unter der Überschrift »Friedensappell zu früh gedruckt« ein Artikel, in dem u. a. berichtet wurde, dass einige Gruppen in der DDR verärgert seien, dass der erwähnte Offene Brief an die DDR-Regierung ohne Abstimmung mit ihnen im »Spiegel« publiziert worden sei. In dem Artikel wurden wesentliche Inhalte des Appells wiedergegeben. Und es hieß u. a.: »Viele Friedensbewegte der DDR wollen ihre Diskussionen untereinander und mit der Staatsführung nicht über westliche Medien führen. […] Die Verärgerung von Friedensaktivisten der DDR über die Veröffentlichung ihres Appells im Westen weist hin auf lebhafte, interne Diskussionen der Friedensgruppen. Es sei nicht so sehr das Problem, dass jemand nicht dichtgehalten habe, so eine Meinung. Vielmehr könnten nun Thesen und Gedankenspiele, die Gegenstand der Diskussion sind, als »Endresultat« erscheinen. Das Dokument sei von einigen »Ungeduldigen« herausgegeben worden, ohne den Meinungsbildungsprozess in allen Gruppen abzuwarten. In der DDR-Friedensbewegung wird seit November letzten Jahres intensiv an dem Themenkomplex Frieden und Menschenrechte gearbeitet.« Außerdem erwähnte der Beitrag Kritik aus Ost-Berlin, die sich darauf bezog, dass sich der Appell nur an die DDR-Regierung und nicht auch an den Westen richte, der genauso kritikwürdig sei. Und schließlich fehle ein Wort zu den deutsch-deutschen Beziehungen (Friedensappell zu früh gedruckt. DDR-Friedensgruppen über »Spiegel«-Abdruck verärgert, in: taz vom 3.3.1986). Siehe auch: MfS, HA XX/2, Information über ein Gespräch zwischen Roland Jahn und Ulrike Poppe, 6.3.1986. BStU, MfS, AOP 1011/91, Bd. 2, Bl. 184. (Jahn las ihr offenbar u. a. den »taz«-Artikel vor. Ulrike Poppe kritisierte dann, dass einige tatsächlich auf die Verbreitung über Westmedien verzichten wollen.) 12 Gemeint ist Roland Jahn.
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B[irgit] V[oigt]: Ja, und ich interpretiere das auch so. In der »FR« ist aber am gleichen Tag ein Brief erschienen. 13 B[ärbel] B[ohley]: Wie heißt die? B[irgit] V[oigt]: »FR«, »Frankfurter Rundschau«. Und die Kopien von allen drei Sachen sind schon weg, auf den Weg zu euch. 14 B[ärbel] B[ohley]: Sehr gut! B[irgit] V[oigt]: Und der Bericht in der »FR« ist sehr gut. Und er erwähnt den Aspekt, der in der »taz« drin ist, überhaupt nicht. 15 Und ich war im ersten 13 Es ging um folgendes Dokument, das mehr als 100 Personen unterschrieben haben: »Peter Grimm, Ralf Hirsch, Rainer Eppelmann, Wolfgang Templin (Erstunterzeichner): Appell zum UNOJahr des Friedens. Offener Brief an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 24. Januar 1986«. Darin hieß es u. a.: »Die UNO hat das Jahr 1986 zum Jahr des Friedens erklärt. […] Wir möchten in unserem Appell auf den inneren Frieden eingehen, da nach unserer Meinung nur ein innenpolitisch friedlicher Staat auch nach außen wirklich überzeugend für den Frieden wirken kann. Innerer Frieden bedeutet für uns, die Garantie und praktische Durchsetzung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegten Grundrechte zu vervollkommnen. […] Als erste Schritte zur vollen Durchsetzung der Menschenrechte sind nach unserer Meinung folgende Maßnahmen notwendig und in diesem Jahr auch realisierbar. Alle Vorschläge sollten in öffentlicher, gesellschaftlicher Diskussion behandelt und geprüft werden. 1. Die Einschränkungen der Reisefreiheit empfinden wir als Misstrauen der Regierung gegenüber den Bürgern. Reisen in das westliche Ausland sind noch immer nur in Ausnahmefällen (und wirken oft als Belobigung für gesellschaftliches Wohlverhalten) und für Rentner und Invalidenrentner möglich. Auch die Reisemöglichkeiten in das sozialistische Ausland wurden in Einzelfällen ohne Begründung eingeschränkt oder vollständig verwehrt, wie es im Jahr 1985 auffallend häufig geschah. a. Die uneingeschränkte Reisefreiheit aller Bürger steht als gesellschaftliches Ziel. […] 2. Die §§ 99 (Landesverräterische Nachrichtenübermittlung), 106 (Staatsfeindliche Hetze), 107 (Verfassungsfeindlicher Zusammenschluss) und 218 (Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele) u. a. können so ausgelegt werden, dass sie elementare Menschenrechte einschränken. Die Praxis der juristischen Verfolgung politischen Engagements ist insgesamt fragwürdig. Daher ist folgendes nach unserer Meinung unumgänglich: a. Eine Amnestie für alle nach § 99, § 107, § 106, § 218 u. a. Verurteilten sowie die Einstellung aller aufgrund dieser Paragrafen laufenden Ermittlungsverfahren. […] 3. Als vertrauensbildende Maßnahme und als Schritt zur Erweiterung der Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung halten wir die Aufstellung unabhängiger Kandidaten zu Kommunal- und Volkskammerwahlen für unerlässlich. […] 4. Die Versammlungs-, Kundgebungs- und Vereinigungsfreiheit wird stark eingeschränkt durch die Möglichkeit und Praxis der Ablehnung von Anträgen auf Genehmigung von Versammlungen, Kundgebungen und Gründung von Vereinigungen. […] 5. Die Legalisierung der Wehrdienstverweigerung durch die Schaffung eines von jeglichen militärischen Strukturen unabhängigen zivilen Ersatzdienstes wäre besonders im UNO-Jahr des Friedens ein deutliches Zeichen des Friedenswillens, sowohl für den inneren als auch den äußeren Frieden. […] 6. Für eine Grundvoraussetzung des inneren Friedens halten wir die Bereitschaft der Regierung der DDR zum Dialog auch mit Andersdenkenden. […]« Der Brief ist vollständig u. a. abgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 153–155. 14 Am 4.3.1986 schrieb Birgit Voigt an Roland Jahn, dass sie die entsprechenden Kopien abgeschickt habe (Brief in: Archiv Birgit Voigt). 15 Erweiterung der bürgerlichen Freiheiten in der DDR gefordert. Appell kirchlicher Friedenskreise in Ost-Berlin an die Regierung/Recht auf Reisen und Mitbestimmung angemahnt, in: Frankfur-
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Moment –, habe mich gefragt, was ist denn jetzt los? Und habe dann aber auch gleich mit Berlin telefoniert und bin da auch aufgeklärt worden. Aber warum willst du denn das herauskriegen? B[ärbel] B[ohley]: Ich finde das ganz wichtig für uns hier vor allen Dingen, weil natürlich die Kritiker, die es ja gibt, und das ist ja auch richtig. Aber die sollen sich doch an die Personen wenden, die »das« verzapft haben. Und da sie das nicht machen, denke ich, dass da mehr dahintersteckt. Und deshalb muss man das wirklich herausbekommen, wer dahinter steckt. Für mich ist es eigentlich klar. Bloß, es wäre schön, das bestätigt zu bekommen. 16 B[irgit] V[oigt]: Doch, also, da müssen wir einmal gucken, ob ich da etwas erreiche. Aber ansonsten, ich fand diesen Brief wirklich sehr gut. B[ärbel] B[ohley]: Na, der ist ausgezeichnet! B[irgit] V[oigt]: Ich habe schon unwahrscheinlich damit gearbeitet, in meinem Kreis, in meinem Beruf. 17 Ich habe das gestern, oder vorgestern schon alles abgeschickt. B[ärbel] B[ohley]: Ach, Birgit, dass du jetzt anrufst, das ist herrlich. B[irgit] V[oigt]: Wieso gerade jetzt? B[ärbel] B[ohley]: Irgendwie war es jetzt nötig, eine gute Stimme zu hören, weißt du? B[irgit] V[oigt]: Schön (lacht), ganz toll. Hör’ mal Bärbel, hat »der« –, also jetzt ganz vorsichtig. Hat der Ralf [Hirsch] schon Post von mir bekommen? 18 ter Rundschau vom 3.3.1986. Im Gegensatz zu dem erwähnten »taz«-Artikel (siehe Anm. 11) berichtete dieser Beitrag ausführlich über die Inhalte und Forderungen des Offenen Briefes. 16 Auf Nachfragen konnte sich kein Befragter genau erinnern, wen Bärbel Bohley gemeint haben könnte. Sie spielte auf die Äußerungen aus Ost-Berlin in dem »taz«-Artikel an (siehe Anm. 11). Aber eigentlich kann sie nur jene Gruppe im Blick gehabt haben, die am 6.3.1986 das erwähnte Treffen verließ (siehe Anm. 1). Auch deren etwa in dieser Zeit entstandene »Erklärung zur Vorbereitung eines Seminars ›Frieden und Menschenrechte‹« (Vera Wollenberger, Silvia Müller, Thomas Klein, Reinhard Schult sowie die IM des MfS Knud Wollenberger und Wolfgang Wolf) legt diesen Schluss nahe, da sich die Argumente hier sehr präzise wiederfinden (abgedruckt in: Rüddenklau: Störenfried, S. 56–60). 17 Birgit Voigt war politisch bei den Grünen engagiert und arbeitete als Gymnasiallehrerin (siehe Biografien). 18 Solche Post ist über verschiedene Kurierwege in die DDR bzw. aus der DDR geschmuggelt worden. Vgl. dazu den Text von Kowalczuk in diesem Band, S. 143–145. Hier handelt sich um einen Brief von Birgit Voigt an Ralf Hirsch vom 24.2.1986 (Archiv Birgit Voigt). Darin schlägt sie ein Treffen Mitte März 1986 in Leipzig während der Leipziger Messe vor, zu dem sie mit dem Flugzeug aus Frankfurt/M. anreisen würde. Zur Messe mit dem Flugzeug anreisende Gäste würden nicht zurückgewiesen werden, schrieb sie noch, sich dabei auf Roland Jahn berufend. Am 4.3.1986 (Brief Brigit Voigt an Ralf Hirsch) sowie am 9.3.1986 (Brief Ralf Hirsch an Birgit Voigt) war noch nicht entschieden, ob es zu dem Treffen kommt. Aus einem Brief von Ralf Hirsch an Birgit Voigt vom 29.3.1986 wird dann ersichtlich, dass das Treffen in Leipzig stattfand (alles: Archiv Birgit Voigt). Der Stasi war nicht entgangen, wie sie auf der Grundlage eines Telefonmitschnitts zwischen Voigt und Bohley vom 22.3.1986 herausfand, wobei hier nur eine Kurzzusammenfassung vorliegt, dass es zu den Treffen mit Hirsch und Fischer kam: BStU, MfS, AOP 17793/91, Bd. 1, Bl. 142. Das Treffen am 21.3.1986 ist von SED und MfS nicht verhindert worden, obwohl mindestens einen Tag zuvor
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B[ärbel] B[ohley]: Hat er mir nicht gesagt. Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. B[irgit] V[oigt]: Ich habe etwas geschrieben, was ihr schnell entscheiden solltet. B[ärbel] B[ohley]: Nein, dann nicht! Dann hat er keine Post gekriegt. B[irgit] V[oigt]: Nun muss er sie ja bald kriegen. Das muss bald da sein. Und –, na gut, also mehr reden wir nicht darüber. B[ärbel] B[ohley]: Okay, ich werde –. B[irgit] V[oigt]: (fällt ins Wort) Weil, wenn ihr »das« gelesen habt –. Ich rufe in den nächsten eineinhalb Wochen öfters an und dann reicht mir ein Ja oder ein Nein. B[ärbel] B[ohley]: Okay. B[irgit] V[oigt]: Ja, gut, mehr sagen wir jetzt nicht. B[ärbel] B[ohley]: Wie geht es denn deinem Herzen? Ist dein Herz wieder froh? B[irgit] V[oigt]: Ja, es ist alles so lustig. Ich erzähle es dir bald ganz ausführlich, weil es mittlerweile so Formen der Groteske annimmt. Aber, also, irgendwo auch wieder unheimlich liebenswürdig ist. B[ärbel] B[ohley]: Also Birgit, wenn das Herz irgendwo weh tut, weiß man wenigstens, dass man eins hat. B[irgit] V[oigt]: Das ist ganz wichtig. B[ärbel] B[ohley]: Das denke ich auch. Ich meine, du kennst doch das mit diesen idiotischen Pessimisten, die sich letzten Endes immer trösten müssen, dass es so pessimistisch ist. Und da finde ich –, wenn man noch eins hat, dann ist es gut. B[irgit] V[oigt]: Meine Selbstdefinition besteht darin, dass ich ein pessimistischer Optimist bin. B[ärbel] B[ohley]: Ein hoffnungsloser Optimist! Danach übergibt Bärbel B[ohley] an Werner Fischer, der sich zunächst für den Pullover bei Birgit Voigt bedankt. Danach wird der Dialog fortgesetzt: W[erner] F[ischer]: Sag mal, kannst du einmal ein paar Andeutungen machen, was aus unseren Briefen geworden ist? Ach, Bärbel [Bohley] sagt, das kann sie mir gleich sagen. B[irgit] V[oigt]: Ich habe vergessen, Bärbel [Bohley] noch etwas zu sagen. Der Brief, den ihr an mich geschrieben habt, ist auch in England erschienen. 19 bekannt war, dass Voigt »unter Ausnutzung des Messeflugverkehrs … einreisen will«. Die HA XX schlug die Aufrechterhaltung des Einreiseverbots vor. Von der MfS-Leitung oder der SED-Führung wurde das entweder zeitweise aufgehoben oder der Vorschlag war schlichtweg zu spät eingegangen: MfS, HA XX, Information, 20.3.1986. BStU, MfS, HA XX 20968, Bl. 24. 19 Siehe Anm. 7–9. Es handelt sich u. a. um die dort erwähnten Briefe. In London erschienen in »East European Reporter« regelmäßig auch in englischer Übersetzung Texte und Aufrufe aus der DDR-Opposition. Diese Zeitschrift berichtete über oppositionelle Aktivitäten im kommunistischen Osteuropa, wobei der Schwerpunkt auf Polen und der ČSSR lag. Aber auch aus den anderen Ländern
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W[erner] F[ischer]: Kannst du uns das einmal zukommen lassen? B[irgit] V[oigt]: Das englische Ding habe ich noch nicht, aber das deutsche habe ich schon abgeschickt. W[erner] F[ischer]: Aha, okay. B[irgit] V[oigt]: Und also, was euch auch erzählt worden ist, also, was wir so projektieren, da muss ich jetzt sagen, dass ich nun endlich den »Aufruf« schreiben muss. Mache ich auch demnächst. Aber insgesamt ist das alles erst einmal positiv aufgenommen worden. Und es [… im Original nicht lesbar] bisschen, weil ich krank war. Aber ich lebe noch. W[erner] F[ischer]: Schön, dass du dich meldest, bald bin ich ohne Telefon. Hast du meine neue Adresse? B[irgit] V[oigt]: [… im Original nicht lesbar] W[erner] F[ischer]: Ja. B[irgit] V[oigt]: Und Telefon bekommst du ja auch bald. W[erner] F[ischer]: Da ist ein Anschluss drin, aber ich hoffe ja, dass ich es bald kriege. Es dauert bei uns sonst Jahre. 20 B[irgit] V[oigt]: Ja, aber du bist doch eine Persönlichkeit von besonderem Interesse. W[erner] F[ischer]: Hoffentlich wissen »die« das! Sag’ das noch einmal, damit »die« das richtig mitschreiben können! (lacht) B[irgit] V[oigt]: Vorhin haben »die« schon dauernd geknackt. W[erner] F[ischer]: Also, bei uns in Berlin ist hier die Hölle los, muss ich dir sagen. Ganz klar, »die« versuchen mit ihren miesen Methoden alles zu spalten und ziehen damit so ein paar ganz Ahnungslose, die aber aus einer ganz anderen Motivation, nicht unserer Meinung sind, mit. Und im Moment ist es hier ganz schön wild, aber ich denke, wir haben es im Griff. B[irgit] V[oigt]: Prima! Das hoffe ich auch, also. W[erner] F[ischer]: Wir haben einen tollen Erfolg in Stendal 21 gehabt, aber das hat dir Bärbel [Bohley] bestimmt erzählt, denn ich hatte nicht hingehört. B[irgit] V[oigt]: Ja, hat sie mir erzählt. Das finde ich ganz toll, aber sorgt dafür, dass »es« auch hier »rüber« kommt! W[erner] F[ischer]: Ja, wobei, es ist ja bloß –. Es gibt ganz bestimmte Dinge, die sollen nicht rüber im Interesse unserer Arbeit hier, weißt du? kamen Beiträge zum Abdruck, darunter auch aus der DDR. Für diese war u. a. Roland Jahn in dem Herausgeberkreis um Jan Kavan zuständig. Es gab daneben zahlreiche »Honorary Editors«, u. a. Václav Havel, Petr Uhl, Jiří Dienstbier, János Kis, Miklós Haraszti, Adam Michnik oder Jaćek Kuroń, aus der DDR waren das Ralf Hirsch und Wolfgang Templin. 20 Ende der 1980er Jahre galten weit über eine Million Anträge auf einen Telefonanschluss als nicht realisierbar. Die Wartezeit betrug, regional verschieden, zwischen 5 und 15 Jahren. Einige Berufsgruppen sind bevorzugt behandelt worden. Zu den Telefonanschlüssen von Oppositionellen siehe im vorliegenden Band die Einleitung, S. 115–116. 21 Siehe oben Anm. 3 und 5.
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B[irgit] V[oigt]: Okay, ich verstehe das. Ich begreife das auch nicht so, weißt du, dass das dann immer gleich an die große Glocke gehängt wird. W[erner] F[ischer]: Öffentlichkeit da, wo sie uns nützt und ansonsten geht es ja um Informationen, die können wir intern machen und so. B[irgit] V[oigt]: Genau! Unter dem Aspekt habe ich das auch gesehen. Pass auf, ich habe Bärbel [Bohley] schon gesagt, sie soll [bei] einem Vorschlag, den ich an Ralf [Hirsch] geschrieben habe, darauf achten. Und ziemlich schnell. Ich hoffe, dass »das« bald da ist und dann werden wir sehen. W[erner] F[ischer]: Okay. Bist du über das Sindermann-Gespräch 22 informiert? B[irgit] V[oigt]: Ganz wenig. Aber ich kann mich dahinterklemmen. W[erner] F[ischer]: Das wäre uns wichtig, weil wir vorher ein Anliegen haben rüberkommen lassen, als Uli Fischer hier war. 23 B[irgit] V[oigt]: Den habe ich übrigens gesehen. W[erner] F[ischer]: Weißt du wenigstens, wer dabei war? B[irgit] V[oigt]: Nein. Alles weiß ich nicht, aber ich kann das herauskriegen. W[erner] F[ischer]: Okay. B[irgit] V[oigt]: Ich mache das ganz einfach. »Die« sollen euch einen Bericht schicken. W[erner] F[ischer]: Genau, ganz klar. B[irgit] V[oigt]: Ich sorge dafür, Werner. 24 22 Auf Einladung der SPD-Bundestagsfraktion weilte vom 19. bis 22.2.1986 Volkskammerpräsident Horst Sindermann in der Bundesrepublik. Er sprach u. a. mit Bundeskanzler Helmut Kohl, Bundestagspräsident Philipp Jenninger sowie den Fraktionsvorsitzenden, darunter auch mit denen der Grünen. Der Besuch galt der Vorbereitung und als »Testlauf« des lange geplanten und dann 1987 durchgeführten Honecker-Besuches in der Bundesrepublik; es ging u. a. um Reiseerleichterungen im deutschen-deutschen Besuchsverkehr. Vgl. zum Besuch u. a.: Frage der Fragen, in: Der Spiegel Nr. 9 vom 24.2.1986; Carl-Christian Kaiser: Zusammenspiel mit verteilten Rollen, in: Die Zeit vom 28.2.1986, Nr. 10. 23 Ulrich Fischer (geb. 1942, 1986/87 MdB) zählte zu den wichtigsten bundesdeutschen Unterstützern der DDR-Opposition. Er nahm auch »an der Gründungsversammlung der IFM am 23. November 1985 teil« (Reinhard Weißhuhn: Der Einfluss der bundesdeutschen Parteien auf die Entwicklung widerständigen Verhaltens in der DDR der achtziger Jahre. Parteien in der Bundesrepublik aus der Sicht der Opposition in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. VII/2, S. 1892). 24 Laut Protokoll der 66. Fraktionsvorstandssitzung der Grünen am 17.2.1986 sollten an dem Gespräch am 21.2.1986 »Annemarie Borgmann, Hannegret Hönes, Henning Schierholz, Lothar Probst, Jürgen Schnappertz und evtl. weitere Mitglieder der Fraktion teilnehmen« (Josef Boyer, Helge Heidemeyer (Bearb.): Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1983–1987. Zweiter Halbband: März 1984–Januar1987. Düsseldorf 2008, S. 873). Schnappertz fertigte von dem Gespräch Aufzeichnungen an, die als Teilnehmer auch Otto Schily, Antje Vollmer und Uli Fischer ausweisen (ebenda, S. 892–894). In dem Gespräch ging es laut dieser Notizen v. a. um Friedens- und Umweltfragen sowie darum, dass eine Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung stehe. Schily bezeichnete die Geraer Forderungen von Honecker an die Bundesrepublik – Auflösung der Erfassungsstelle Salzgitter, Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften sowie die Elbgrenze in der Strommitte festzulegen (vgl. Neues Deutschland
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Dokument 2 vom 7. März 1986
W[erner] F[ischer]: Ja, das ist schön. Eine Information über –, ja. Lass es dir gut gehen. B[irgit] V[oigt]: Grüße ganz lieb und drücke mir meinen kleinen Ralf [Hirsch], tschüss. W[erner] F[ischer]: Tschüß. 0.19 Uhr
vom 14.10.1980) – als akzeptabel. Für ihn gelte zudem, »dass zwei deutsche Staaten in Europa besser seien als einer, egal unter welchen Vorzeichen« (Boyer; Heidemeyer (Bearb.): Die Grünen im Bundestag, S. 893). Antje Vollmer fragte nach Gesprächspartnern in der DDR unterhalb der staatlichen und institutionellen Ebene. Uli Fischer kritisierte, dass die DDR die Beschneidung des bundesdeutschen Asylrechts aktiv mit Abkommen unterstütze. Zur SED-Berichterstattung siehe Volkskammer und Fraktion der SPD im Bundestag vertiefen Zusammenarbeit, in: ND vom 22./23.2.1986, S. 1; Meinungsaustausch mit der Fraktion der Grünen, in: ebenda, S. 2.
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Dokument 3 Wesentliche Ergebnisse der Bearbeitung des Operativ-Vorganges »Assistent« gegen Lutz Rathenow seit Januar 1986 gemäß §§ 99, 100 und 219 StGB 1 2. Mai 1986 Von: MfS, HA XX/9, Oberleutnant [Manfred] Klein 2 Quelle: BStU, MfS, AOP 1076/91, Beifügung Bd. 2, Bl. 148–163
I. Kontakte von Rathenow zu Korrespondenten aus dem NSW, die in der DDR akkreditiert sind bzw. zeitweilig in der DDR tätig waren 1. Hinze, Albrecht, 3 akkreditierter Korrespondent der »Süddeutschen Zeitung« in der DDR Nach wie vor stellt H[inze] eine enge Verbindungsperson von Rathenow dar. Überwiegend auf Initiative von Rathenow und im Büro von Hinze fanden folgende Treffen bzw. Treffvereinbarungen statt: 27.1.1986, 10.2.1986, 18.2.1986 (im Französischen Kulturzentrum in der DDR) 4, 25.2.1986, 14.4.1986, 22.4.1986, 24.4.1986. Am 29.1.1986 hinterließ Rathenow auf dem Anrufbeantworter von Hinze die Nachricht, dass er den Martin Hofmeister nicht erreicht hätte und Hinze solle sich bei einer Verbindungsaufnahme zu H[ofmeister] auf Rathenow berufen. Hofmeister ist Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde BerlinHohenschönhausen und unterhielt bereits Verbindungen zu dem Vorgänger von Hinze, [Helmut] Lölhöffel. 5 Die Treffen zwischen Rathenow und Hinze im Februar 1986 stehen offensichtlich im Zusammenhang mit dem am 1 Dokumentation der Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch der DDR in der Fassung vom 28.6.1979 auf Seite 317 f. 2 Manfred Klein (geb. 1955), Kfz-Schlosser, 1973 SED, seit 1973 MfS, BV Magdeburg, ab 1975 Abt. XX der BV Magdeburg, ab 1977 HA XX, 1988 Beförderung zum Hauptmann; Entlassung zum 31.12.1989. 3 Jahrgang 1937; seit Oktober 1984 in Ost-Berlin; zuvor tätig für den »Tagesspiegel«, AP bzw. als Reuter-Korrespondent in Bonn. 4 1984 eröffnete das Centre Culturel Français in Ost-Berlin in der Straße Unter den Linden. Es war das einzige westliche Kulturzentrum in der DDR. Vor allem die Bibliothek, die Sprachkurse und die vielfältigen Kulturangebote waren in Ost-Berlin außerordentlich beliebt und sind stark frequentiert worden. Zugleich eröffnete im Gegenzug in Paris ein DDR-Kulturzentrum. Vgl. Ulrich Pfeil: Die »anderen« deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949–1990. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 508–566. 5 Martin Hofmeister (geb. 1940) teilte dazu am 29.9.2011 mit: »Der Vorgänger von Albrecht Hinze, Helmut Lölhöffel, ist mir nicht bekannt.« Helmut Lölhöffel (geb. 1944) war von 1979 bis 1984 ständiger Pressekorrespondent für die »Süddeutsche Zeitung« in der DDR.
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Dokument 3 vom 2. Mai 1986
22./23.3.1986 in der Wochenendausgabe der »Süddeutschen Zeitung« erschienenen Machwerk von Rathenow »Die Sechzehnte Eingabe«. (Anlage 1) 6 2. XXX, Presseagentur Reuters Ltd. Vorliegenden inoffiziellen Hinweisen zufolge trafen Rathenow und XXX am 21.3.1986 zusammen. Dabei äußerte Rathenow zur Vorbereitung des XI. Parteitages der SED und zur Auswertung des XXVII. Parteitages der KPdSU seine Meinung, 7 zur geplanten Verlegung der Arbeitsräume der Nachrichtenagentur »Reuters« sowie zu persönlichen Angelegenheiten. So ist Rathenow der Ansicht, dass die im Politischen Bericht des ZK der KPdSU getroffenen Festlegungen zur Kulturpolitik keine einschneidenden »Veränderungen« in der Kulturpolitik der SED bewirken würden. Nach seiner Einschätzung werden auf dem XI. Parteitag der SED neue Entscheidungen hinsichtlich des ökonomischen Bereiches und zu den Beziehungen DDR–BRD getroffen. Im Zusammenhang mit der geplanten Verlegung der Arbeitsräume von »Reuters« in das Internationale Pressezentrum 8 würden nach Auffassung von Rathenow für DDR-Bürger weitere Probleme beim Betreten von Korrespondentenbüros aus dem kapitalistischen Ausland entstehen. Hinsichtlich seiner beabsichtigten und beantragten USA-Reise setzte Rathenow den XXX in Kenntnis, dass er von den zuständigen Organen der DDR noch keine Stellungnahme bekommen habe, einen Zwischenbescheid erhielt er bereits im Juli 1985. 9 3. Röder, Hans-Jürgen, Evangelischer Pressedienst Keine Hinweise auf Treffen bzw. Treffvereinbarungen im Berichtszeitraum.
6 Nachgedruckt in: Lutz Rathenow: Die lautere Bosheit. Satiren. Faststücke. Prosa. Remchingen 1992, S. 85–90. Die Anlage ist hier nicht abgedruckt worden. Die »Sechzehnte Eingabe« ist mehrfach nachgedruckt worden (u. a. in: Kommune 4 (1986) 6, S. 68–69). Rathenow las sie auch für Rundfunksendungen vor, so strahlte der RIAS z. B. solche Lesungen aus, was den Verbreitungsgrad der Arbeit erheblich ausweitete. 7 Der XXVII. Parteitag der KPdSU fand vom 25.2. bis 6.3.1986 in Moskau statt und sollte die Politik von Glasnost und Perestroika u. a. durch Personalveränderungen und programmatische Beschlüsse bekräftigen bzw. ihr entscheidende Schübe verleihen. Der XI. Parteitag der SED fand vom 17. bis 21.4.1986 in Ost-Berlin statt. Trotz einer Ansprache von Michail S. Gorbatschow verzichtete die SED-Führung auf jegliche Veränderung ihrer bisherigen Politik. 8 Das Internationale Pressezentrum befand sich in Berlin-Mitte in der Mohrenstr. 36/37. Weltweit bekannt wurde es am Abend des 9. November 1989 als Günter Schabowski hier auf einer Pressekonferenz die Medien von unmittelbar bevorstehenden Änderungen in der DDR-Reisepraxis unterrichtete und es anschließend zum Fall der Mauer kam. Heute befindet sich in dem Haus der Hauptsitz des Bundesjustizministeriums. 9 Er durfte nicht fahren.
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Dokument 3 vom 2. Mai 1986
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4. Röntgen, Robert, 10 ARD-Hörfunk Streng vertraulichen Hinweisen zufolge setzte Rathenow den Röntgen während eines Zusammentreffens am 13.1.1986 davon in Kenntnis, dass er erhebliche Probleme im Zusammenhang mit der Genehmigung seiner beabsichtigten Reise nach Münster/BRD hätte. Er letztlich nicht reiste, da er seine Ausbürgerung befürchtete. Aktuell informierte Rathenow über Pläne, Absichten und Aktivitäten der operativ bekannten Kolbe, Uwe; Hilbig, Wolfgang und Endler, Adolf. 11 5. Jennerjahn, Hartmut, 12 dpa Am 9.4.1986 trafen Rathenow und Jennerjahn in dessen Büro zusammen. Zum Inhalt des Gespräches konnten keine Hinweise erarbeitet werden. 6. Merseburger, Peter; 13 Klein, Wolfgang, 14 ARD-Fernsehen Inoffiziell wurde bekannt, dass Rathenow am 14.3.1986 zum Zwecke der Verbindungsaufnahme zu Klein mit dem ARD-Studio in der Hauptstadt der DDR, Berlin, vereinbarte, dem Klein mitzuteilen, dass Rathenow im Rahmen der Leipziger Frühjahrsmesse am 15. bzw. 16.3.1986 ihn vor der Buchmesse bzw. dem Pressezentrum erwartet. Über die Realisierung der Vereinbarung liegen keine Hinweise vor.
10 Robert Röntgen (1930–2013), Journalist, Gründungsmitglied des NWDR, u. a. seit 1981 ständiger Hörfunkkorrespondent in Ost-Berlin. 11 Die Schriftsteller Adolf Endler (1930–2009), Wolfgang Hilbig (1941–2007) und Uwe Kolbe (geb. 1957) konnten in den 1980er Jahren in der DDR offiziell kaum publizieren, veröffentlichten daher fast ausschließlich in der Bundesrepublik sowie in inoffiziellen Zeitschriften (Samisdat) in der DDR, die sie selbst auch herausgaben. Sie beteiligten sich an illegalen Lesungen in Privatwohnungen und wurden jahrelang vom MfS verfolgt und überwacht. Hilbig lebte seit 1985 und Kolbe seit 1987 in der Bundesrepublik. 12 Hartmut Jennerjahn (geb. 1944) war 1980–1988 akkreditierter Korrespondent der dpa in Ost-Berlin. 13 Peter Merseburger (geb. 1928) war u. a. 1967–1975 Moderator des Fernsehmagazins Panorama sowie ARD-Korrespondent in Washington (1977–1982), Ost-Berlin (1982–1987) und London (1987–1991). Seither hat er als Publizist mehrere vielbeachtete Biografien u. a. über Kurt Schumacher (1995), Willy Brandt (2002), Rudolf Augstein (2007) und Theodor Heuss (2012) vorgelegt. 14 Wolfgang Klein (geb. 1946) war seit 1983 Korrespondent im ARD-Studio in Ost-Berlin.
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7. Pragal, Peter, 15 »stern« Zwischen Rathenow und Pragal wurden im Zeitraum der Berichterstattung keine Treffen bzw. Treffvereinbarungen festgestellt. 8. Schwarz, Ulrich, »Spiegel« Bereits im September 1985 erkundigte sich Rathenow bei der »Spiegel«Redaktion in Westberlin, inoffiziellen Hinweisen zufolge, ob Schwarz in der DDR akkreditiert wurde und wie er zu ihm in postalischen Kontakt treten kann. 16 Am 23.4.1986 und am 29.4.1986 vereinbarten Schwarz und Rathenow Treffen im Büro des »Spiegel«-Korrespondenten. Hinweise zum Inhalt konnten nicht erarbeitet werden. Außerdem wurde durch eine zuverlässige inoffizielle Quelle bekannt, dass Rathenow Ende 1985 im Zusammenhang mit seiner beabsichtigten Reise nach Münster/BRD den Schwarz wegen Durchsetzung und Unterstützung seines Reisevorhabens aufgesucht hat. In diesem Zusammenhang äußerte Schwarz gegenüber der Quelle, dass er vorerst kein Interesse hat, sich für Rathenow einzusetzen. 9. XXX, AP Neben [Albrecht] Hinze von der »Süddeutschen Zeitung« war XXX im Zeitraum der Berichterstattung der engste Kontaktpartner von Rathenow. 17 Es 15 Peter Pragal (geb. 1939), Journalist, seit 1965 bei der »Süddeutschen Zeitung«, lebte ab Januar 1974 als einer der ersten bundesdeutschen Korrespondenten in Ost-Berlin; ab 1979 beim »Stern« tätig, ab 1984 wiederum in Ost-Berlin als Korrespondent; 1991 bis 2004 bei der »Berliner Zeitung«; vgl. Peter Pragal: Der geduldete Klassenfeind. Als West-Korrespondent in der DDR. Berlin 2008. 16 Ulrich Schwarz (geb. 1936) ist 1978 von der DDR die Akkreditierung als Korrespondent entzogen worden, das »Spiegel«-Büro musste geschlossen werden. 1985 ist es wiedereröffnet und Schwarz erneut akkreditiert worden. Zu den Hintergründen vgl. Dominik Geppert: Störmanöver. Das »Manifest der Opposition« und die Schließung des Ostberliner »Spiegel«-Büros im Januar 1978. Berlin 1996. 17 Dazu stellte Lutz Rathenow in einem Brief vom 2.12.2011 fest: »Aber diese ganze Liste der Kontaktpersonen hat gezeigt, dass ich im Wesentlichen 3 Jahre lang an ihnen vorbei offenbar den intensivsten Kontakt gepflegt habe. Man könnte fast soweit gehen, all diese Kontakte waren die öffentlich betriebene Tarnung eines Intensivkontaktes zu einem Journalisten, von dem ich den Schlüssel hatte zur Wohnung, die er nicht benutzte, in der Rudolf-Seiffert-Straße [in Ost-Berlin]. Da musste ich durch den langen Fußgängertunnel [S-Bahnhof Storkower Straße] und da war ich fast jede 2. Nacht und holte Pakete ab mit den Büchern, tausende von Büchern sind über diese Wohnung von Peter Jochen Winters [ständiger Korrespondent für die ›FAZ‹ in der DDR] in Paketen hinterlegt worden, die ich dort gleich abarbeitete, manches verbrannte, vorvernichtete, zusammenklumpte.« Siehe auch Lutz Rathenow: Die Auflösung der DDR vor ihrem Ende. Beobachtungen und Erfahrungen eines Dissidenten, in: FAZ vom 8.5.2000, S. 10; Udo Scheer: Lutz Rathenow zum 60. – Stachel im Fleisch des DDR-Systems, in: Thüringische Landeszeitung vom 20.9.2012. Dass solche Nichtwahrnehmungen seitens der Stasi längst kein Einzelfall waren, berichtet der akkreditierte DDR-Korrespondent Karl-Heinz Baum (Frankfurter Rund-
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konnte durch eine zuverlässige Quelle erarbeitet werden, dass XXX von seiner Redaktion beauftragt worden sei, sich für solche Personen wie Rathenow vordergründig einzusetzen und diese zu unterstützen. XXX ist, so wurde deutlich, aktuell informiert über Pläne, Absichten und Aktivitäten von Rathenow und versucht, weitere Kontakte in der sogenannten Szene auszubauen. Folgende konkrete Treffvereinbarungen konnten festgestellt werden: 10.1.1986, 14.1.1986, 16.1.1986, 6.2.1986, 21.2.1986, 25.2.1986, 14.4.1986. Ersichtlich wurde dabei, dass Rathenow selbst bestrebt ist, XXX mit weiteren Personen des politischen Untergrundes zusammenzuführen u. a. mit dem operativ bearbeiteten Rosenthal, Rüdiger. Bei der Gestaltung der Kontakte zu den genannten Personen ist davon auszugehen, dass Rathenow vordergründig eigene Interessen in den Mittelpunkt stellt. Nach wie vor informiert er aber auch über: – Aktivitäten, Pläne und Absichten von negativ-feindlichen Personen, die dem Umgangskreis von Rathenow zuzuordnen sind, – Maßnahmen der staatlichen und Sicherheitsorgane der DDR gegen negativfeindliche Personen und Personenkreise, – angebliche Repressalien, wobei er Tatsachen entstellt, mit Halbwahrheiten vermischt und teilweise Lügen verbreitet. Dazu liegen jedoch lediglich inoffizielle Hinweise und Informationen vor. Neben den genannten Verbindungen unterhält Rathenow meist sporadische Beziehungen zu folgenden Vertretern westlicher Massenmedien: – Baum, Karl-Heinz, »Frankfurter Rundschau«, – Dr. Corino, Karl, 18 »Hessischer Rundfunk«, – XXX, »Rheinische Post«, »Weser Kurier«, »Saarbrücker Zeitung«, »Badische Neueste Nachrichten«, – XXX, »ORF«, – XXX, »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, – XXX, »De Volkskrant«, – Köpke, Horst, 19 »Frankfurter Rundschau«, – XXX, NDR-Hannover, – Mehr, Max Thomas, 20 »taz«, schau). Zwischen ihm und Martin Böttger bestand bis zum Herbst 1989 eine sehr enge, 12-jährige Verbindung, die sie aber abschirmten. Böttger kommt in den Stasi-Akten über Baum nicht vor, Baum in denen über Böttger nur einmal als »Unbekannt«: auf einem Foto vom 24.7.1987, als Oppositionelle vergeblich versuchten, nach Prag zu reisen (siehe dazu Dok. 15 und 16). Vgl. Karl-Heinz Baum, Roland Walter (Hg.): »… ehrlich und gewissenhaft …« Mielkes Mannen gegen das Neue Forum. Berlin 2008, S. 27–28. 18 Der Journalist Karl Corino (geb. 1942) profilierte sich als Experte für DDR-Literatur und ist in den 1980er Jahren von der Stasi beobachtet worden. 19 Horst Köpke (1926–2000) flüchtete 1949 in die Westzonen und war seit 1964 bei der »Frankfurter Rundschau« tätig, 1971–1992 als Chef des Feuilletons, vgl. auch Hartwig Bernitt, Horst Köpke, Friedrich-Franz Wiese: Arno Esch. Mein Vaterland ist die Freiheit. Dannenberg 2010.
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XXX, »Tagesspiegel«, XXX, »Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt«, Rothschild, Thomas, »Frankfurter Rundschau« 21, Seul, Arnold, »Zitty«. 22
II. Kontakte von Rathenow zu diplomatischen Vertretungen des NSW in der Hauptstadt der DDR, Berlin 1. Botschaft der USA in der DDR 23 Besonders enge Beziehungen prägten sich in der Vergangenheit zwischen Rathenow und dem Botschaftsrat für Presse und Kultur, Cynthia J. Miller, 24 erf. HA II, aus. Nach vorliegenden inoffiziellen Hinweisen erhofft sich Rathenow Unterstützung bei der Durchsetzung seines Reiseantrages für eine Gastdozentur in den USA. So soll sowohl die USA-Botschaft in der DDR als auch das PEN-Zentrum USA entsprechende Hilfe zugesichert haben. Rathenow vereinbarte mit der Miller für den 30.1. und 17.3.1986 Treffen, zu deren Inhalten keine Hinweise erarbeitet werden konnten. Durch eine zuverlässige inoffizielle Quelle wurde bekannt, dass die Miller in einem Gespräch mit Rathenow am 11.4.1986 äußerte, dass sie persönlich im Ministerium für Kultur nachgefragt hätte, ob eine Entscheidung hinsichtlich seiner USA-Reise getroffen wurde. 25 Da sich bisher noch nichts Konkretes ergab, wollen beide Personen erst den XI. Parteitag der SED abwarten 26 und sich wieder verständigen, wenn sich eine neue Sachlage ergibt. Auf Einladung der Miller nahm Rathenow am 17.1.1986 an einer Filmveranstaltung (»Cotton-Club«) 27 in der 20 Max Thomas Mehr (geb. 1953) war 1978 Mitbegründer der »taz« und dort bis 1991 tätig. 21 Thomas Rothschild (geb. 1942), britisch-österreichischer Literaturwissenschaftler (Germanistik und Slawistik) und Publizist in Stuttgart; vgl. z. B. von ihm als Herausgeber: Wolf Biermann. Liedermacher und Sozialist. Reinbek b. Hamburg 1976. Bei der »Frankfurter Rundschau« war er freier Mitarbeiter. 22 Arnold Seul (geb. 1953), freiberuflicher Journalist und Kritiker, u. a. als freier Mitarbeiter für das (West-)Berliner Stadtmagazin »Zitty«. 23 Im September 1974 kam es zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen, was auch einen Botschafteraustausch einschloss. Die USA-Botschaft hieß »Botschaft bei der DDR«, womit die USA deutlich machte, weder den Vier-Mächte-Status Berlins infrage zu stellen noch Ost-Berlin als DDRHauptstadt anzuerkennen. Vgl. Christian M. Ostermann: Die USA und die DDR (1949–1989), in: Ulrich Pfeil (Hg.): Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen 1949–1989. Berlin 2001, S. 177; Uta Balbier, Christiane Rösch (Hg.): Umworbener Klassenfeind. Das Verhältnis der DDR zu den USA. Berlin 2006. 24 Sie war Kulturattaché. 25 Siehe Anm. 53. 26 Er endete am 21.4.1986. 27 Der Spielfilm in der Regie von Francis Ford Coppola kam 1984 heraus, u. a. spielten Richard Gere, Gregory Hines und Nicolas Cage mit.
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Botschaft der USA teil. Rathenow selbst strebte diesen Termin an, da er an der offiziell beim MfAA der DDR gemeldeten Veranstaltung vom 21.1.1986 nicht teilnehmen wollte. Während der Filmveranstaltung trat Rathenow in operativer Hinsicht nicht in Erscheinung. Es wurden keine Kontaktbestrebungen seinerseits zu Angehörigen der Einrichtung festgestellt. 2. Botschaft der Republik Frankreich in der DDR 28 Erstmals wurden Kontakte von Rathenow zur genannten Einrichtung im Januar 1985 festgestellt. In der Folgezeit prägten sich engere Beziehungen zu dem Kulturattaché der Botschaft Leprêtre, Jean-Louis, 29 erf. HA II, aus. Rathenow erhielt von L[eprêtre] im Februar 1985 eine Einladung zu einer Ausstellungseröffnung im Französischen Kulturzentrum in der DDR. Hinweise über Aktivitäten und Auftreten von Rathenow konnten nicht erarbeitet werden. Durch eine zuverlässige inoffizielle Quelle wurde erarbeitet, dass Leprêtre den Rathenow von der Veranstaltung im Café des Palastes der Republik in der Hauptstadt mit einer zu diesem Zeitpunkt in der DDR aufhältigen Journalistin der französischen Zeitung »Le Monde« bekannt machte. Vermutlich stehen diese Aktivitäten im Zusammenhang mit der geplanten Herausgabe eines Buches von Rathenow durch den französischen Verlag Seuil. (noch keine weiteren Hinweise) 30 Außerdem konnte erarbeitet werden, dass Rathenow am 17.4.1986 im Café »Arkade« am Platz der Akademie 31 für ca. eine halbe Stunde mit Leprêtre zusammentraf. Zum Inhalt der angeregten Unterhaltung zwischen beiden Personen konnten jedoch keine Hinweise erarbeitet werden. Für den Weg zum Treff nutzte Leprêtre ein Diplomatenfahrzeug der Botschaft der Republik Frankreich.
28 Offizielle diplomatische Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR gab es seit 1973. 29 Ein französischer Germanist (geb. 1946), u. a. Experte für DDR-Literatur, der 1983–1988 Kulturattaché bei der Botschaft Frankreichs in Ost-Berlin war. Das MfS bearbeitete ihn im OV »Germanist«. 30 Von Lutz Rathenow erschien bereits 1983 »Le Pire est déjà prévu« (Éditions du Seuil, Paris), die französische Übersetzung von »Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet« (Ullstein Verlag, Berlin, Frankfurt/M., Wien 1980). Ein Gutachter kam am 4.11.1980 zu der abschließenden Feststellung zu diesem Buch: »Der Anarchismus ist nur Hülle für die rechtsextremistische, faschistische Grundhaltung.« (Es ist nicht klar, von wem das Gutachten stammt: Gutachten vom 4.11.1980. BStU, MfS, AOP 22047/91, Beifügung Bd. 4, Bl. 96–99, hier 99.) 31 Im Zentrum Berlins gelegener Platz, markant durch das Schauspielhaus sowie den Deutschen und Französischen Dom. Er hieß zwischen 1946 und 1991 »Platz der Akademie« – der Hauptsitz der DAW/AdW lag in der Nähe –, ehe er seinen seit 1799 gebräuchlichen Namen »Gendarmenmarkt« zurückerhielt.
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III. Kontakte und Verbindungen von Rathenow zu operativ interessanten Personen aus dem NSW, besonders der BRD und Berlin (West) 1. XXX, geb. XXX 1957, nicht erfasst [vom MfS] Die XXX suchte entsprechend vorliegender inoffizieller Hinweise den Rathenow am 31.1.1986 auf, um sich mit ihm über Fragen der »jungen Literatur« in der DDR auszutauschen. Hierüber soll sie bereits einen Artikel für die französische Zeitung »Le Monde« geschrieben haben. Während des Gespräches äußerte sich Rathenow nach vorliegenden inoffiziellen Hinweisen zu folgenden Fragen: – der sogenannten Literaturzeitschrift »Mikado«, die in einer Auflagenhöhe von 300 Exemplaren verteilt werde und nicht offiziell zugelassen, jedoch von den staatlichen Organen der DDR geduldet werde, 32 – seinen bekannten Positionen zu einem Kulturabkommen zwischen der DDR und der BRD, 33 – den Möglichkeiten für Lesungen sogenannter Nachwuchsautoren in kirchlichen Einrichtungen und Privatwohnungen sowie der finanziellen Situation dieser Personenkreise. Über Aktivitäten der französischen Staatsbürgerin wurde bekannt, dass sie einen Verlag in Frankreich für die Veröffentlichung literarischer Arbeiten von Rathenow gewinnen will. Es wurde vereinbart, dass Rathenow ihr verschiedene Arbeiten zukommen lassen will. 2. Håstad, Disa, geb. XXX 1940 in Stockholm. erf. HA II/13 Die H[åstad] hielt sich in der Zeit vom 2.2. bis 8.2.1986 in der Hauptstadt der DDR auf und traf am 5.2.1986 mit Rathenow zusammen. Nach eigenen Angaben ist die H[åstad] in Schweden journalistisch tätig und befasst sich überwiegend mit Fragen und Problemen der VR Polen. 34 Im Verlauf des Gespräches informierte Rathenow über 32 »Mikado« kam zwischen 1984 und 1987 im Samisdat in bis zu 100 Exemplaren heraus und wurde von Uwe Kolbe, Lothar Trolle und Bernd Wagner herausgegeben. Einen Überblick enthält: Uwe Kolbe, Lothar Trolle und Bernd Wagner (Hg.): Mikado oder Der Kaiser ist nackt. Selbstverlegte Literatur in der DDR. Darmstadt 1988. Die Ausgaben sind online abrufbar unter: Künstlerzeitschriften der DDR: http://141.30.104.61/tud/templates/index.html. 33 Am 6.5.1986 wurde das Kulturabkommen zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. 34 Die schwedische Journalistin Disa Håstad, die sich an dieses konkrete Gespräch nicht genau erinnern kann, traf sich mehrfach mit Lutz Rathenow und berichtete auch mehrfach über seine Aktivitäten. Sie war Osteuropakorrespondentin für die Tageszeitung »Dagens Nyheter« und berichtete aus 8 Ländern (einschließlich Albanien). Neben Rathenow hatte sie u. a. auch Kontakte zu Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Ralf Hirsch sowie Gerd und Ulrike Poppe (E-Mail von Disa Håstad vom 30.9.2011). Zu dem erwähnten Besuch in der DDR und dem Treffen mit Rathenow liegt auch vor:
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– das »Berlin-Buch«-Projekt, das er gemeinsam mit dem operativ bekannten Fotografen [Harald] Hauswald für den Piper-Verlag München zusammenstellt, 35 – die Reiseangelegenheit Münster/BRD Ende 1985 und schildert ausführlich seine entsprechenden Aktivitäten sowie die Reaktionen der staatlichen Organe der DDR, – Aktivitäten der sogenannten staatlich unabhängigen Friedensbewegung der DDR, dabei besonders des Kreises um [Rainer] Eppelmann sowie der »Friedenskreise Friedrichsfelde und Pankow«, – Umfang, Herstellung und Vertrieb sogenannter Untergrundzeitschriften, wie »Mikado«, »Schaden« und »Entwerter oder«, 36 – seine beabsichtigte Gastdozentur in den USA, wozu er bisher keine Reaktion der zuständigen Organe der DDR erhielt. 37 Im Verlauf der Zusammenkunft wurde vereinbart, dass Rathenow für die Veröffentlichung in schwedischen Zeitungen und Zeitschriften der Håstad auf dem Postweg entsprechende Arbeiten zuschicken will. 3. XXX, geb. XXX 1954 in XXX, Reisekorrespondent »De Volkskrant« (Niederlande), erf. HA II/13 XXX hielt sich in der Zeit vom 9.2. bis 12.2.1986 im Rahmen eines offiziellen journalistischen Vorhabens in der Hauptstadt der DDR, Berlin, auf und führte Gespräche mit den Schriftstellern Kant, Hermann; Braun, Volker 38 und Hein, Christoph. Dazu im Gegensatz traf er mit den operativ bekannten und
MfS, HA XX/9, Information (Nr. 119/86) über Aktivitäten westlicher Journalisten im Zusammenhang mit Personen des politischen Untergrundes der DDR, 18.2.1986. BStU, MfS, HA XX/9 1500, Bl. 540–542. 35 Vgl. Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ostberlin. Die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern. München, Zürich 1987. Das Buch erfuhr mehrere Auflagen. Zur Editionsgeschichte und den Reaktionen von SED und Staatssicherheit auf das Buch siehe jetzt das Vorwort zur jüngsten Neuausgabe von: Ilko-Sascha Kowalczuk: Ein Buch und seine Geschichten. Erinnerungen und Akteneinsichten, in: Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall. 6., erw. Aufl., Berlin 2014, S. 5–31. 36 Vgl. dazu u. a. Ilona Schäkel: Sudelblatt und Edelfeder. Über den Wandel der Öffentlichkeit am Beispiel der offiziell und inoffiziell publizierten künstlerisch-literarischen Zeitschriften aus der DDR (1979–1989). Berlin 2003; Klaus Michael, Thomas Wohlfahrt (Hg.): Vogel oder Käfig sein. Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften der DDR 1979–1989. Berlin 1992, sowie generell mit weiterführender Literatur: Ilko-Sascha Kowalczuk: Von »aktuell« bis »Zwischenruf«. Politischer Samisdat in der DDR, in: ders. (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 21–104. 37 Zu der Reise kam es nicht. 38 Volker Braun (geb. 1939) ist ein bekannter Schriftsteller, Essayist und Dramatiker. Er konnte zwar in der DDR publizieren, aber vieles nur mit Zeitverzögerung und gegen Widerstände; vom MfS ist er, das SED-Mitglied, spätestens seit 1975 intensiv in einem OV beobachtet worden.
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bearbeiteten negativ-feindlichen Personen Anderson, Alexander; 39 Rosenthal, Rüdiger und Rathenow, Lutz zusammen. 40 In einem interviewähnlichen Gespräch äußerte Rathenow nach vorliegenden inoffiziellen Hinweisen folgende wesentlichen Standpunkte: – Es bestehe ein Widerspruch zwischen dem offiziellen Eindruck und den realen Problemen der Kulturpolitik der DDR. – Nach wie vor werde in der DDR der Versuch unternommen, die Literatur in ein bestimmtes politisches Konzept zu pressen. Das wird besonders deutlich in einem Beitrag des Genossen [Kurt] Hager in der Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur« Nr. 1/86. 41 – Ein bedeutendes und von den westlichen Massenmedien kaum noch zur Kenntnis genommenes Problem bestehe in der Übersiedlung vieler Autoren in die BRD bzw. nach Berlin (West). Rathenow behauptete, dass etwa alle zwei bis drei Monate ein Autor aus der DDR übersiedeln würde. 42 – Rathenow selbst wolle in der DDR leben und seine Literatur hier durch Lesungen u. Ä. verbreiten. Um Veröffentlichungen in DDR-Verlagen bemühe er sich nicht besonders, da die Auseinandersetzungen mit diesen Einrichtungen »zu viel Energie« erfordern, außerdem sei für ihn die »Kulturbürokratie« nicht oder nur schwer durchschaubar. 4. Piper, Ernst, geb. am XXX 1952 in München, Verleger, Piper-Verlag München, erf.: HA XX/9; Heldt, Uwe, geb. am XXX 1948 in Ludwigsburg, Verlagslektor, nicht erfasst [vom MfS] Während der Leipziger Frühjahrsmesse 1986 traf Rathenow mit beiden Personen in Leipzig zusammen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit bildete das »Berlin39 IM des MfS. Bekannt unter dem Vornamen Sascha, der russischen Koseform von Alexander. 40 Zu dem erwähnten Besuch in der DDR und dem Treffen mit Rathenow liegt auch vor: MfS, HA XX/9, Information (Nr. 119/86) über Aktivitäten westlicher Journalisten im Zusammenhang mit Personen des politischen Untergrundes der DDR, 18.2.1986. BStU, MfS, HA XX/9 1500, Bl. 540– 542. 41 Vgl. Kurt Hager: Probleme der Kulturpolitik vor dem XI. Parteitag der SED. Rede im Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR, 26. September 1985, in: Neue Deutsche Literatur 34 (1986) 1, S. 5–27. Die Rede enthielt nichts, was hätte aufhorchen lassen können oder eine von bisherigen Bewertungen abweichende Linie angedeutet hätte. 42 Emmerich führt bis 1976 32 Namen geflohener und ausgebürgerter Schriftsteller auf und von 1976 bis 1989, nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, weitere 58. Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausg., Leipzig 1996, S. 256–257. Zu diesen kommen noch Flüchtlinge hinzu, die erst in der Bundesrepublik mit dem Schreiben begannen. Andrea Jäger führt 97 Schriftsteller auf, die von 1961 bis 1989 in die Bundesrepublik gingen. Vgl. Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen und Übersiedlungen von 1961 bis 1989. Autorenlexikon. Frankfurt/M. 1995; dies.: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen und Übersiedlungen von 1961 bis 1989. Studie, Frankfurt/M. 1995; Werner Schmidt nennt 665 Künstler, darunter auch bildende Künstler, die zwischen 1949 und 1989 in den Westen gegangen sind. Vgl. Werner Schmidt (Hg.): Künstler aus der DDR 1949–1989. Ausgebürgert. Katalog, Dresden 1990, S. 8.
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Buch«-Projekt – Texte von Rathenow und Fotos von Harald Hauswald – Hauptinhalt des geführten Gespräches. Überprüfungen haben ergeben, dass unter dem Titel »Ostberlin – die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern« im Herbst 1986 der Band im Piper-Verlag erscheinen soll. 43 Außerdem wurde bekannt, dass Heldt die Herausgabe der in Berlin (West) erscheinenden Zeitschrift für Literatur »Litfaß« 44 übernehmen soll. Rathenow unterhält seit Jahren intensive Kontakte zu den verantwortlichen Herausgebern von »Litfaß« wie Assenov, Assen, 45 Märtin, Ralf-Peter 46 [und] Strube, Rolf 47. Zwischen den genannten M[ärtin] und St[rube] und Rathenow kam es in der Vergangenheit wiederholt zu Treffen in der Hauptstadt der DDR, Berlin. 5. XXX 48, geb. am XXX 1960, erf.: HA II/AGA Durch eingeleitete Kontroll- und Überprüfungsmaßnahmen wurde erarbeitet, dass XXX am 27.2.1986 gemeinsam mit den französischen Staatsbürgern XXX, geb. am XXX 1949, nicht erfasst [vom MfS] und XXX, geb. am XXX 1953, nicht erfasst [vom MfS] in dem Pkw BMW, Polizeiliches Kennzeichen XXX, in die Hauptstadt der DDR einreisten und mehrere Stunden mit Rathenow zusammentrafen. Während der geführten Gespräche äußerte Rathenow, entsprechend vorliegender inoffizieller Hinweise, seine hinlänglich bekannten Standpunkte und Meinungen zu Fragen – der Kulturpolitik der DDR, – der Pläne, Absichten und Aktivitäten von Personen aus der sogenannten staatlich unabhängigen Friedensbewegung der DDR, – seiner eigenen literarischen Arbeit und Veröffentlichungsbestrebungen im NSW, – Maßnahmen der staatlichen und Sicherheitsorgane gegen negativ-feindliche Personen und Personenkreise. Zu XXX ist bekannt, dass er bis zum Sommer 1985 ein Gastlektorat an der Humboldt-Universität [zu] Berlin – Romanistik – ausübte und umfangreiche Kontakte zu negativ-feindlichen Kulturschaffenden, insbesondere der Hauptstadt, aufnahm. 49 Zu diesem Zeitpunkt soll er freischaffend für die französische Zeitung »Liberation« tätig gewesen sein. Im April 1986 reiste XXX wiederum 43 Vgl. Hauswald; Rathenow: Ostberlin (Anm. 35). 44 Seit 1976 herausgegebene Zeitschrift, begründet von Assen Assenov. Heldt gab mehrere Hefte heraus. 45 Assen Assenov, bulgarischer Germanist (geb. 1942), der emigrierte und die erwähnte Zeitschrift in West-Berlin begründete. 46 Ralf-Peter Märtin (geb. 1951) studierte Alte Geschichte und Germanistik. 47 Rolf Strube (geb. 1948) arbeitete als Kulturjournalist, Autor und Literaturkritiker. 48 Es handelt sich um einen französischen Staatsbürger. 49 Neben Kontakten zu Rathenow oder Wolfgang Templin unterhielt er auch Kontakte etwa zu Ulrich Plenzdorf, Christa Wolf oder Stephan Hermlin.
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in die DDR ein. Konkrete Feststellungen über den Aufenthalt und damit im Zusammenhang stehende Aktivitäten XXX liegen der HA II vor. 50 Nach wie vor steht Rathenow in enger postalischer und fernmündlicher und zum Teil konspirativer Verbindung zu den hinlänglich bekannten Feindpersonen Fuchs, Jürgen und Jahn, Roland u. a. in Berlin (West). Im Mittelpunkt der Informationsübermittlung stehen – Aktivitäten der sogenannten staatlich unabhängigen Friedensbewegung in der DDR sowie weitere negativ-feindliche Personen und Personenkreise, – Maßnahmen der staatlichen und Sicherheitsorgane der DDR gegen die genannten Personen, – Pläne und Absichten von Rathenow selbst sowie ihm nahestehender Personen, – Entscheidungen staatlicher bzw. gesellschaftlicher Einrichtungen und Institutionen besonders in kulturpolitischer Hinsicht, – eigene Publikationsbestrebungen im NSW sowie – seine eigene Profilierung als von staatlichen Organen behinderter Schriftsteller über westliche Massenmedien. – Rathenow lässt sich von oben Genannten umfassend informieren über die aktuelle Situation von nach Berlin (West) übergesiedelten ehemaligen DDR-Bürgern, – bestehende Pläne und Absichten zur weiteren Organisierung und Inspirierung von politischer Untergrundtätigkeit in der DDR. Der Nachweis für den Charakter der Beziehungen kann jedoch überwiegend nur inoffiziell geführt werden. IV. Politisch-operativ bedeutsame Aktivitäten von Rathenow innerhalb der DDR Die im Zeitraum der Berichterstattung erarbeiteten Hinweise und Informationen über Pläne, Absichten und Aktivitäten von Rathenow unterstreichen nachhaltig, dass er im engen Zusammenwirken mit vorgenannten Personen politische Untergrundtätigkeit in der DDR inspiriert und organisiert, dabei zum eigenen Schutz mit westlichen Massenmedien bzw. deren Vertretern in enger, zum Teil konspirativer Verbindung steht und Nachrichten zur Interessenschädigung der DDR übergibt. Aufgrund des Umfanges seines engeren Bekannten- und Umgangskreises in der Hauptstadt der DDR, Berlin, ist Rathenow stets informiert über bedeutsame Pläne, Absichten und Aktivitäten. Dabei wird seine inspirierende und organisierende Rolle deutlich. 50 BStU, MfS, AKK 7684/87. Hier sind eine ganze Reihe seiner Aktivitäten in der DDR dokumentiert, was zugleich zeigt, dass er von 1984 bis 1986/87 in der DDR intensiv vom MfS beobachtet wurde.
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Rathenow wertet die ihm bekanntwerdenden negativ-feindlichen Aktivitäten aus, zieht Schlussfolgerungen aus den Maßnahmen der Sicherheitsorgane und informiert bei besonderen Aktivitäten seine hinlänglich bekannten Verbindungspersonen im NSW, dabei besonders nach Berlin (West), um Pressekampagnen bzw. Presse- oder Rundfunknotizen zu erreichen. Es wurde im Berichtszeitraum sichtbar, dass Rathenow diese Aktivitäten noch forciert, wenn es um die Durchsetzung seiner eigenen Interessen geht (Reise nach Münster/BRD, 51 Wohnungsangelegenheit, USA-Gastdozentur). Weiterhin ist feststellbar, dass Rathenow verstärkt mit provokatorischen, erpresserischen »Eingaben« in Erscheinung getreten ist bzw. tritt und staatliche Organe unter Druck setzt (Wohnungsangelegenheit, NSW-Reisen). Dabei benutzt er auch unsachliche und unrichtige Darstellungen. Wie bisher festgestellt, wurde auch im Zeitraum der Berichterstattung erkennbar, dass sich Rathenow zurückhält bei der Unterzeichnung sogenannter Positionspapiere oder als Eingaben deklarierter Pamphlete (»Menschenrechtskampagne«). 52 Inoffiziellen Hinweisen zufolge besitzt er jedoch Kenntnis von derartigen Aktivitäten und Ausarbeitungen. Rathenow übernahm in diesem Zusammenhang die Aufgabe, bei Maßnahmen und Reaktionen der Sicherheitsorgane, wie Festnahmen, »Zuführungen« und Befragungen, westliche Massenmedien und Korrespondenten in Kenntnis zu setzen und massive Hetzkampagnen auszulösen. Zur Durchsetzung von Reisen in das NSW u. a. USA, Schweden, Frankreich nutzt Rathenow ebenfalls die bestehenden Verbindungen zu den Botschaften der USA und der Republik Frankreich aus. Der Auftrag für die Reise in die USA wurde von ihm mit dem Hinweis vermerkt: »[…] Da die amerikanische Botschaft bei mir nachfragte, hätte ich doch gern recht rasch eine Antwort […] Mit dieser würden weitere Aktionen […] unterbleiben.« 53 Über 51 Die Reise wurde am 1.11.1985 für den Zeitraum vom 15. bis 25.11.1985 genehmigt (Vermerk über ein Gespräch. BStU, MfS, AOP 1076/91, Bd. 12, Bl. 80–81), Rathenow aber trat sie nicht an, weil er befürchtete, ausgebürgert zu werden (Schreiben an den Minister für Kultur vom 15.11.1985 (Kopie). Ebenda, Bl. 96–97). Diese Annahme war nicht unbegründet, aber etwa ein Jahr später meinte Hager, man solle Rathenow einfach nicht mehr beachten, wenn man ihn ausbürgere, bekäme er weltweite Beachtung, »die er auf keinen Fall verdient hat« (Kurt Hager an Erich Mielke, 10.10.1986. Ebenda, Bl. 359–360). 52 Hier wird v. a. Bezug genommen auf die verschiedenen Papiere, die 1985/Anfang 1986 aus der IFM bzw. deren Umfeld herausgegeben wurden. Vgl. Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. 53 Lutz Rathenow schrieb viele Eingaben an die SED-Führung, das Ministerium für Kultur, den Schriftstellerverband u. a. Reiseanträge wurden (mit o. g. Ausnahme) bis zum Mai 1989, als er erstmals und einmalig nach Österreich fahren durfte, immer abgelehnt (vgl. dazu ausführlicher Kowalczuk: Ein Buch und seine Geschichten). Viele dieser Eingaben von Rathenow sind in seinem Privatarchiv, im Bundesarchiv, in der SAPMO und im Archiv des BStU überliefert (z. B. BStU, MfS, AOP 1076/91, Beifügung Bd. 2), die hier zitierte aber ließ sich bislang nicht auffinden. Die Reise in
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französische oder schwedische Kontaktpartner veranlasste Rathenow Einladungen in die entsprechenden Länder. Im Zeitraum der Berichterstattung konnten folgende Leseveranstaltungen von Rathenow bzw. seine Teilnahme an derartigen Veranstaltungen in Privatwohnungen festgestellt werden: 26.1.1986 Ort: Wohnung der operativ bekannten Poppe, Ulrike 54 Anwesende: neben Rathenows 55; Bohley, Bärbel; Metz, Gisela; Schedlinski, Rainer 56; Rosenthal, Rüdiger; Havemann, Annedore Inhalt: Keine operativ relevanten Vorkommnisse, Probleme. Rathenow zeigte sich belustigt über den Erfolg seiner Eingabe an den 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Berlin, seine Wohnungsangelegenheit betreffend. 57 Ließ sich darüber aus, dass er auf einen entsprechenden Antrag für alle Räume seiner Wohnung Telefon bekommen würde, damit man ihn überall abhören könne. 21.1.1986 Ort: Jugendclubhaus »Arthur Hoffmann« Leipzig Anwesende: ca. 80 bis 90 Personen im Alter von 20 bis 40 Jahren Inhalt: »Einsteins Hirn« und »Einsteins Asche« von Rathenow 58 – surrealistisches Stück mit nahezu chaotischen Zügen, – keine offenen Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung. Gegenwartsbezüge ließen sich kaum herstellen. die USA wurde mit dem Argument vom Kulturministerium im Mai 1986 abgelehnt, dass die SED nur daran interessiert sei, solche Künstler ins Ausland reisen zu lassen, die »die Politik und die Kulturpolitik unseres Staates anerkennen und respektieren und sich mit persönlichem Engagement für das Ansehen der DDR einsetzen«. In einem Fernsehbeitrag des Politmagazins »kontraste« ist dies am 9.9.1986 ebenso zitiert worden wie in einem Beitrag von Walter D. Wetzels: Protest aus Texas, in: Die Zeit vom 10.10.1986, S. 58. 54 Wohnung von Gerd und Ulrike Poppe, die solche Lesungen, bei denen bis zu 150 Personen anwesend waren, auch gemeinsam organisierten. Am 26.1. hat Ulrike Poppe Geburtstag – in diesem Fall handelte es sich um ihre Geburtstagsfeier und nicht um eine Dichterlesung. 55 Lutz und Bettina Rathenow. 56 Rainer Schedlinski (geb. 1956), tätig als Heizer, Hausmeister und Schriftsteller; seit 1984 Texte im Samisdat; 1979–1989 als IM »Gerhard« für das MfS aktiv, einer der wichtigsten Stasi-Spitzel in der Subkultur-Szene. 57 Die Eingabe ließ sich bislang nicht auffinden. Aber im Ergebnis bekamen er und seine Frau Bettina eine neue Wohnung. In der alten Wohnung hingen dann noch monatelang von der Staatssicherheit unbemerkt die Fotos an den Wänden, die Hauswald und Rathenow für die engere Auswahl für ihr »Ost-Berlin-Buch« ausgewählt hatten (mündliche Mitteilung von Lutz Rathenow im Juli 2013; Kowalczuk: Ein Buch und seine Geschichten). 58 Beide Stücke blieben Fragmente. Sie sind verstreut bzw. auszugsweise mehrfach in kleineren Zeitschriften veröffentlicht worden. Siehe z. B. die künstlerische Samisdat-Zeitschrift: Schaden 10 (1986).
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11.3.1986 Ort: Evangelische Studentengemeinde Erfurt Organisator: Staemmler, Johannes, Studentenpfarrer, 59 erf.: BV Erfurt Anwesende: ca. 45 Personen Inhalt: In lyrischer Form gefasste »Eingaben«, in denen mit gesellschaftskritischem Bezug auf »soziale Missstände« aufmerksam gemacht wird, wie Probleme des Umweltschutzes, »monotone Erscheinungen« des Lebens in der sozialistischen Gesellschaft, der sozialistischen Bürokratie sowie bestehenden generellen zwischenmenschlichen Aggressionen. Zum Abschluss trug Rathenow »Die sechzehnte Eingabe« 60 vor. In der anschließenden Diskussion ging Rathenow auf eine entsprechende Fragestellung reagierend auf seinen persönlichen Werdegang ein. Er hob hervor, dass er aus politischen Gründen exmatrikuliert wurde (Sympathisant von [Wolf] Biermann) 61 und seit dieser Zeit fortwährend vom Staat in seiner persönlichen Entwicklung beschnitten wird. Auf kritische Anmerkungen reagierend äußerte Rathenow wiederholt, nicht Veränderungen unmittelbar anzustreben, sondern vielmehr Denkanstöße zu geben. V. Veröffentlichungen über und von Rathenow in westlichen Massenmedien Am 5.1.1986 um 13.30 Uhr sendete der Westberliner Rundfunksender SFB I innerhalb der Sendereihe »Das politische Buch« ein Porträt von Rathenow. Der Autor Lehmann-Brauns, Uwe 62 traf entsprechend vorliegender inoffizieller Hinweise Ende 1985 mit Rathenow telefonische Vereinbarungen. Außerdem
59 Johannes Staemmler (geb. 1951) war seit 1984 Studentenpfarrer in Erfurt und 1990–2011 Pfarrer in der Predigerkirche in Erfurt. 60 In: Rathenow: Die lautere Bosheit, S. 85–90. 61 Lutz Rathenow ist am 30.3.1977 von der Universität Jena aus politischen Gründen exmatrikuliert worden. Er hatte seit September 1973 Geschichte/Deutsch (Lehrer) studiert. Vgl. dazu Udo Scheer: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. Berlin 1999, spez. S. 192–202; ders.: Kritisches oder oppositionelles Verhalten? Die politischen Exmatrikulationen von Siegfried Reiprich, Roland Jahn und Lutz Rathenow, in: Uwe Hoßfeld, Tobias Kaiser, Heinz Mestrup (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-SchillerUniversität Jena (1945–1990). Köln, Weimar, Wien 2007, Bd. 2, spez. S. 2211–2217; Lutz Rathenow: Echos aus einer überwundenen Zeit, in: ebenda, S. 2221–2239; ders: Teile zu keinem Bild, oder: Das Puzzle von der geheimen Macht, in: Hans Joachim Schädlich (Hg.): Aktenkundig. Berlin 1992, S. 62–90; ders.: Akteneinsicht: Der Blick hinter die Kulissen und die persönlichen Erinnerungen, in: Siegfried Suckut, Jürgen Weber (Hg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz. München 2003, S. 153–166. 62 Uwe Lehmann-Brauns (geb. 1938), Rechtsanwalt, CDU seit 1966, 1979–2001 und seit 2004 MdA, 2006–2011 Vizepräsident des Berliner Abgeordnetenhauses, Kulturpolitiker, vgl. Uwe Lehmann-Brauns: Die verschmähte Nation. Berliner Begegnungen. Stuttgart, Leipzig 2005.
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wurde das Stück »Boden 411« 63 von Rathenow vorgestellt. In der Wochenendausgabe der »Süddeutschen Zeitung« vom 22./23.3.1986 wurde »Die sechzehnte Eingabe« von Rathenow veröffentlicht. 64 Darin verunglimpft Rathenow die Einweihung des Thälmann-Parkes in der Hauptstadt 65 und greift massiv Traditionen der Arbeiterbewegung an. In folgenden Passagen werden die sozialismusfeindlichen Aussagen von Rathenow besonders deutlich. »Der real existierende Sozialismus muss sich Denkmäler setzen, damit man nach seiner Zeit an ihn denkt.« 66 Oder: »Die Idee Thälmann auf dem Gasbehälter sitzend zu präsentieren …, gewissermaßen über der Arbeiterklasse wachend, war so gut nicht, wie Sie rechtzeitig erkannten.« 67; »Rücken Sie es (Thälmann-Denkmal) doch direkt an die Protokollstrecke heran. Aber auch so erzwingt die ohnehin geplante Nähe zu ihr die Idee, Thälmann mit austauschbarem Kopf zu projektieren. Ein einmaliger Service für Staatsbesuche bietet sich an: Jedem Landesführer offerieren Sie beim Vorbeifahren das eigene Standbild! Eine Palette der regierenden Häupter lässt sich rasch anlegen …« 68 Der Westberliner Rundfunksender RIAS II strahlte am 19.4.1986, nach der Einweihung des Parkes und des Denkmals, das Machwerk von Rathenow aus. Dabei wurde eine von Rathenow selbst besprochene Tonbandaufzeichnung verwendet. Im Vorfeld des Sendetermins versuchte Rathenow konkrete Abstimmungen mit den Redakteuren des genannten Senders Wenderoth, Horst 69 und Soldat, Hans-Georg 70 zu treffen. Eine Sendeerlaubnis erteilte die Redaktion der »Süddeutschen Zeitung« dem Wenderoth entsprechend vorliegender inoffizieller Hinweise.
63 Vgl. Theater heute 22 (1981), S. 41–45; nachgedruckt in: Lutz Rathenow: Boden 411. Stücke zum Lesen und Texte zum Spielen. München 1984, S. 55–76. 64 Siehe auch oben Anm. 6. 65 Zum 100. Geburtstag Ernst Thälmanns wurde am 16.4.1986 der Ernst-Thälmann-Park im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg eingeweiht. Auf dem Gelände befand sich zwischen 1874 und 1981 ein Gaswerk. Gegen den Abriss der Gasometer hatten sich 1982/84 vielfältige Proteste entwickelt. Der Park, der auch heute noch nach dem mehrheitlichen Willen der dortigen Bewohner so heißt, umfasst Wohnungen für etwa 4 000 Menschen, eine Schwimmhalle, ein Planetarium, einen Spielplatz sowie Grünanlagen. Namensgeber des Parks ist ein monumentales, vom sowjetischen Bildhauer Lew J. Kerbel (1917–2003) geschaffenes Thälmann-Denkmal, das 14 m hoch und 15 m breit ist und am Rand des Parks, an der angrenzenden Greifswalder Straße steht. 66 Rathenow: Die lautere Bosheit, S. 85. 67 Ebenda, S. 85–86. 68 Ebenda, S. 87. 69 Horst Wenderoth (geb. 1926) war jahrzehntelang RIAS-Mitarbeiter und beschäftigte sich u. a. mit der DDR-Kulturpolitik. 70 Hans-Georg Soldat (1935–2012) flüchtete 1958 aus der DDR, um einer bevorstehenden Verhaftung zu entgehen. Er arbeitete bald als Journalist, von 1967–1993 beim RIAS als Literaturredakteur, wo die DDR-Diktatur einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildete.
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Unter Umgehung einer staatlichen Zustimmung führte der operativ bearbeitete Pantomime Hoch, Ulrich 71 im Rahmen einer Pantomimenwerkstatt in Dresden (Studiotheater des Kulturpalastes) das Stück »Keine Tragödie« 72 von Rathenow auf. Dazu erfolgte keine Vorankündigung, und die Benennung des Rathenow als Autor des Stückes wurde ebenfalls unterlassen. Dieser Sachverhalt wurde im April 1986 von der BRD-Nachrichten-Agentur DPA für eine hetzerische Meldung aufgegriffen. Übernommen wurde die von der Westberliner Tageszeitung »Berliner Morgenpost« am 10.4.1986 sowie der BRDZeitung »Frankfurter Rundschau« am 14.4.1986. Dazu konnte erarbeitet werden, dass Rathenow im März und April 1986 versuchte, mit dem Korrespondenten der Nachrichtenagentur DPA Jennerjahn, Hartmut, zusammenzutreffen. Konkret bekannt wurde eine Treffvereinbarung zwischen beiden Personen am 9.4.1986. Inwieweit die vorgenannte Agenturmeldung Inhalt der Zusammenkunft bildete, kann nicht konkret eingeschätzt werden. [Dokumentation der §§ 99, 100 und 219 aus dem StGB in der Fassung vom 28.6.1979 § 99. Landesverräterische Nachrichtenübermittlung. (1) Wer der Geheimhaltung nicht unterliegende Nachrichten zum Nachteil der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik an die im § 97 genannten Stellen oder Personen übergibt, für diese sammelt oder ihnen zugänglich macht, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zwölf Jahren bestraft. (2) Vorbereitung und Versuch sind strafbar. § 100. Landesverräterische Agententätigkeit. (1) Wer zu den im § 97 genannten Stellen oder Personen Verbindung aufnimmt oder sich zur Mitarbeit anbietet oder diese Stellen oder Personen in sonstiger Weise unterstützt, um die Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schädigen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Vorbereitung und Versuch sind strafbar. § 219. Ungesetzliche Verbindungsaufnahme. (1) Wer zu Organisationen, Einrichtungen oder Personen, die sich eine gegen die staatliche Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik gerichtete Tätigkeit zum Ziele setzen, in Kenntnis dieser Ziele oder Tätigkeit in Verbindung tritt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, Verurteilung auf Bewährung oder mit Geldstrafe bestraft. 71 Uli Hoch (geb. 1950), Studium der Kunstgeschichte in Leipzig und Ausbildung Schauspiel, Pantomime und Puppenspiel, seit 1977 folgen Engagements im Pantomimeensemble des Deutschen Theaters, an der Volksbühne Berlin und als Choreograph am Landestheater Halle; 1979 Gründung des Pantomimestudios am Poetischen Theater »Louis Fürnberg« in Leipzig; seit 1984 Lehrtätigkeit an verschiedenen Hochschulen. 72 Vgl. Theater heute 22 (1981); nachgedruckt in Rathenow: Boden 411, S. 99–102.
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Dokument 3 vom 2. Mai 1986
(2) Ebenso wird bestraft 1. wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik Nachrichten, die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden, im Ausland verbreitet oder verbreiten lässt oder zu diesem Zweck Aufzeichnungen herstellt oder herstellen lässt; 2. wer Schriften, Manuskripte oder andere Materialien, die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden, unter Umgehung von Rechtsvorschriften an Organisationen, Einrichtungen oder Personen im Ausland übergibt oder übergeben lässt. (3) Der Versuch ist im Falle des Absatzes 2 Ziffer 2 strafbar.]
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Dokument 4 Aktenvermerk zur Bearbeitung von Jürgen Fuchs und Roland Jahn durch die HA III 28. Juli 1986 Von: MfS, HA XX/5, Hauptmann [Helmar] Vogel 1 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 11, Bl. 122–123 Anmerkung: Dokument enthält handschriftliche Notiz: »Gen. Major Graupner 2 zur Veranlassung, Termin 30.8.1986«
Am 23.7.1986 erfolgte auf der Grundlage des Schreibens des Leiters der HA XX, Gen. Generalmajor [Paul] Kienberg vom 10.7.1986 an die HA III durch die Genossen OSL [Werner] Fleischhauer und Hptm. [Helmar] Vogel mit dem Abteilungsleiter der HA III, Gen. OSL [Herbert] Vogel, 3 App. 66601/66101, Zi. 325 bis 327 eine Absprache mit dem Ziel statt, – die Möglichkeiten der HA III zu beraten, um die HA XX/5 auch weiterhin bei der Bearbeitung der Feinde [Jürgen] Fuchs und [Roland] Jahn zu unterstützen und – in Erfahrung zu bringen, welche Erkenntnisse der HA III durch die HA XX/5 zur noch gezielteren Durchführung der Fahndungsmaßnahmen übermittelt werden müssten. Während der Absprache wurden folgende Festlegungen bzw. Feststellungen getroffen: 1. Gen. OSL Vogel versicherte, dass beide Personen in Zielkontrolle 4 gestellt sind und weitgehend gewährleistet wird, dass alle Informationen im grenzüberschreitenden Verkehr (DDR – Westberlin/BRD) innerhalb Westberlins und der BRD sowie zwischen der BRD und Westberlin aufbereitet und der HA XX/5 zugänglich gemacht werden. 1 Helmar Vogel (geb. 1945), 1964 Facharbeiter als Maschinenschlosser, anschließend Funktionär im FDJ-Zentralrat, SED 1967, 1971–1974 NVA, Mai 1974 Eintritt ins MfS, zunächst HA XX/2, ab 1981 HA XX/5, 1985 Beförderung zum Hauptmann; Entlassung zum 28.2.1990. 2 Horst Graupner (geb. 1930) war seit 7.1.1950 MfS-Mitarbeiter, seit 1963 operativer Mitarbeiter der HA V, seit 1965 Referatsleiter der HA XX/5/2; 1989 zum Oberstleutnant befördert; Entlassung zum 15.3.1990. 3 Herbert Vogel (geb. 1946), 1966 Möbelfacharbeiter mit Abitur; 1966–1970 MfSWachregiment, SED 1967; April 1970 AG III in der BV Suhl, 1972 Versetzung zur Abt. III der BV Berlin, 1981 Referatsleiter der Abt. (ab 1983: HA) III/1/3 im MfS, 1985 Referatsleiter der HA III/1/6, 1985 stellv. Abteilungsleiter der HA III/1; letzter Dienstrang Oberstleutnant; Entlassung zum 31.3.1990. 4 Damit war eine umfassende und komplexe Überwachung, die auch lückenlose Telefonabhörmaßnahmen beinhaltete, gemeint.
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Dokument 4 vom 28. Juli 1986
2. Um die Zielkontrolle effektiv und möglichst umfassend organisieren zu können, benötigt die HA III Angaben über – die Telefonanschlüsse der operativ bearbeiteten Personen bzw. deren wichtigste Verbindungen (Operationsgebiet und DDR), – den Personenkreis, auf den die Zielfahndung in erster Linie konzentriert werden soll (Operationsgebiet und DDR), – Personen, die zentral bzw. dezentral bearbeitet werden, um den Informationsfluss unmittelbar zu gewährleisten, – die Erfassungsverhältnisse zu bearbeitender Personen. 3. Gen. OSL Vogel hält es für zweckmäßig – durch entsprechenden Rücklauf und Reaktionen auf gegebene Informationen falsch getroffene Wertungen bzw. falsche Interpretationen zu berichtigen und – über bekannt werdende Veranstaltungen, Aktionen usw. dieses Personenkreises zu informieren. 4. Es wurde vereinbart, die Zusammenarbeit zwischen beiden Diensteinheiten auf Referatsleiterebene aufzunehmen. Maßnahmen: Auflistung aller aktuell bearbeiteten Personen für die HA III mit Angabe des jeweiligen Erfassungsverhältnisses und ob zentral bzw. dezentral bearbeitet.
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Dokument 5 Information zu Wolfgang Templin (Originaltitel) 20. Oktober 1986 Von: MfS, HA XX/2, Oberleutnant [Norbert] Wetzel 1 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 7, Bl. 253
Durch eine überprüfte und zuverlässige Quelle wurde bekannt, dass der [Wolfgang] Templin, wenn sein Telefon gestört ist, eine Telefonzelle in der Neuen Schönhauser Straße 2 in der Nähe seiner Wohnung benutzt. Es könnte sich hierbei um die Telefonzelle handeln, die drei Häuser weiter von der Wohnung des Templin entfernt ist. Es wurde bekannt, dass er diese Zelle in der vergangenen Woche häufig benutzt hat, zumal der Einwurf- und Geldmechanismus defekt war und man unentgeltlich telefonieren konnte. 3 Von dieser Zelle hat er auch versucht Prag anzurufen, hat aber nicht den richtigen Teilnehmer erreicht. Weitere Telefonzellen in unmittelbarer Nähe sind vor dem Rat des Stadtbezirkes, in der Florastraße und in der Wollankstraße. 4
1 Norbert Wetzel (geb. 1952), Betriebsschlosser, SED 1972, Eintritt ins MfS 1975 als Wachposten der KD Merseburg, 1978 Versetzung zur Abt. XX der BV Halle, 1985 Versetzung zur HA XX, 1988 Beförderung zum Hauptmann; Entlassung zum 28.2.1990. 2 Hier unterlief dem MfS eine falsche Zuordnung: Gemeint ist offenbar die Neue Schönholzer Straße, denn diese befindet sich in der Nähe des damaligen Wohnortes wie auch der anderen genannten Straßen. Die Neue Schönhauser Straße dagegen liegt ca. 4–5 km Luftlinie entfernt. 3 Das war nicht untypisch in den 1980er Jahren. Manche Telefonzellen hatten dafür geradezu einen legendären Ruf, sodass sich längere Schlangen bildeten und von hier aus oft auch Gespräche nach West-Berlin, in die Bundesrepublik oder ins Ausland geführt wurden, was neben der Geldersparnis auch den Vorteil hatte, dass die Anrufer sich sicher waren, nicht vom MfS zielgerichtet abgehört werden zu können bzw. das MfS die Anrufer kaum identifizieren konnte. 4 Alle genannten Straßen befinden sich im Berliner Stadtbezirk Pankow in der damaligen Ostberliner Bezirkseinteilung.
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Dokument 6 Information über den bevorstehenden Besuch einer Delegation der Alternativen Liste in Ost-Berlin 20. November 1986 Von: MfS, HA XX/2 Quelle: BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 10, Bl. 230–231
Zu dem Besuch der Westberliner »AL«-Delegation am 8./9.12.1986 in der DDR konnten inoffiziell folgende Hinweise erarbeitet werden: 1 – Roland Jahn (WB) informierte am 16.11.1986 Gerd Poppe vom Ergebnis der Tagung des Delegiertenrates der »AL« am 12.11.1986. Nach Jahn sei entschieden worden, die Gesamtanzahl der Delegation auf fünf Personen zu verkleinern. Ausscheiden sollen die Personen, welche dem extremen Flügel zugeordnet sind (vermutlich »Deutschland- und Berlin-AG«). Poppe interessiert hierzu, ob denn der »gemäßigte Flügel« noch an einem Treffen mit Personen des politischen Untergrundes der DDR interessiert sei und inwieweit diese Personen noch an den Positionen festhalten, die sie am 3.10.1986 bei einer Zusammenkunft bei Poppe äußerten (siehe Information der HA XX/2 vom 6.10.1986). 2 Poppe fand es besonders wichtig, sich vorher bei »ihnen« zu informieren, sobald das Programm festliege. Jahn stimmte dem zu und versicherte, dass man sich bei Poppe vonseiten der 1 Die geplante Reise ist einen Tag nach diesem Telefonat von der AL abgesagt worden, weil Michael Wendt und Renate Künast keine Einreisegenehmigung nach Ost-Berlin erhielten. Als Grund wurde vermutet, dass Teile der AL bereits im Vorfeld erklärten, auch mit Oppositionellen in OstBerlin zusammentreffen zu wollen (AL ließ DDR-Reise platzen, in: taz vom 22.11.1986; siehe auch Kotau gegenüber dem Umfeld der DDR, in: taz vom 5.12.1986). Grüne um Petra Kelly in Bonn führten Listen über Personen, die nicht in die DDR einreisen durften (am 7.9.1987 schickte sie Honecker eine Liste mit 107 Namen), wie auch Oppositionelle in Ost-Berlin solche Listen über Personen anfertigten, die nicht aus der DDR besuchsweise ausreisen duften. Das MfS wiederum hatte zu solchen Personen umfangreiche eigene Listen, die es ständig aktualisierte, z. B.: BStU, HA XX 6313. 2 Am 3.10.1986 waren von 19.30 bis 23.30 Uhr Michael Wendt, Renate Künast und Christine Dörner (geb. 1953, Soziologin, seit 1981 in der AL) in der Wohnung von Gerd und Ulrike Poppe zu Gast. Außerdem waren Bärbel Bohley, Werner Fischer, Regina und Wolfgang Templin, Peter Grimm und Lutz Nagorski anwesend. Die AL-Vertreter hatten zuvor ein Treffen mit Gunter Rettner (1942–1998), Abteilungsleiter im ZK-Apparat und zuständig für »Westpolitik«. Dieses Gespräch diente der Vorbereitung eines offiziellen AL-Besuches in Ost-Berlin. Das Treffen mit Mitgliedern der IFM bei Poppes diente der inhaltlichen Vorbereitung und entsprang dem Wunsch der AL, die Opposition in der DDR besser kennenzulernen. Als »Hauptthema« der Gespräche mit der SED wurde die »Demokratisierung in der DDR« sowie weiterhin »die Mauer« und ökologische Fragen von der IFM empfohlen (MfS, HA XX/2, Information über Gespräche von Vertretern der AL Westberlin in der Hauptstadt der DDR, 6.12.1986. BStU, MfS, AOP 17375/91, Bd. 22, Bl. 229–231).
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Dokument 6 vom 20. November 1986
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»AL« melden wird. Er, Jahn, habe in dieser Richtung einen Kontakt. Es handele sich um die Person, welche am 3.10.1986 schon mit dabei war (einzige männliche Person von der »AL« war Michael Wendt) 3. Nach Jahn sollen der Delegation jetzt angehören: – ein Jochen 4 – eine Renate (wahrscheinlich Renate Künast) 5 – ein Martin Jänicke (ph.) 6 – und der deutschlandpolitische Sprecher im Abgeordnetenhaus. 7 – Nachdem sich Roland Jahn (WB) am 18.11.1986 bei Wolfgang Templin meldete, informierte ihn Templin, dass er am 13.11.1986 auf der Veranstaltung in der Samariterkirche (»Theateraufführung« [Freya] Klier [Stephan] Krawczyk) sich auch mit dem »Spiegel«-Korrespondenten Ulrich Schwarz getroffen habe und sich mit diesem über den Besuch der »AL«Delegation am 8./9.12.1986 unterhalten habe. Daraufhin informierte Jahn den Templin über eine am Freitag, den 21.11.1986 abends bei Poppe stattfindende Zusammenkunft. Dort soll über den aktuellen Stand der »Querelen« 8 gesprochen werden. (Da Jahn Templin bittet, den Poppe betreffs des 3 Michael Wendt (1955–2011), Maschinenbauingenieur, 1978 Gründungsmitglied der AL in West-Berlin, 1981–1983 MdA, seit 1987 dauerhaft schwer erkrankt engagierte er sich in der Partei und bekleidete neben verschiedenen Berliner Stadtratsposten auch mehrere Ehrenämter. 4 Wahrscheinlich handelt es sich um den Wissenschaftler Jochen Lorentzen. 5 Renate Künast (geb. 1955), Rechtsanwältin, trat 1979 der AL bei, 1985–87, 1989–2000 MdA, 2001–2005 war sie Bundesministerin, seit 2002 MdB. 6 Martin Jänicke (geb. 1937) war von 1971 bis 2002 als Politikwissenschaftler Professor an der FU Berlin und 1981–1983 für die AL MdA, in den letzten Jahrzehnten Beschäftigung vor allem mit Umwelt- und Energiefragen. In seinen ersten Büchern hat er sich mit totalitärer Herrschaft und Systemkrisen auseinandergesetzt (1969, 1971, 1973). Seine Dissertation ist auch heute noch lesenswert: Der dritte Weg. Die antistalinistische Opposition gegen Ulbricht seit 1953. Köln 1964. 7 Wahrscheinlich ist Dirk Schneider (1939–2002; IM des MfS) gemeint. Allerdings war er nur bis 30.3.1985 Mitglied des Bundestages und dort deutschlandpolitischer Sprecher der Fraktion der Grünen. Er ist von der AL-Mitgliederbasis als erster Berliner AL-MdB gewählt und vom Abgeordnetenhaus – wie alle anderen MdB aus West-Berlin – nach Bonn entsandt worden. Innerhalb der AL gehörte zu einem seiner Themenfelder auch die Deutschlandpolitik, die er im Sinne der SED betrieb. Vgl. auch Elisabeth Weber: Stasi-Einflussagent mit Einfluss bei den Grünen?, in: Kommune 10 (1992) 2, S. 35–39. 8 »Renate Künast war durch Vermittlung von Roland Jahn mit Ulrike und Gerd Poppe in Verbindung getreten. Sie bemühte sich um Parallelgespräche zwischen AL und SED und der Gruppe um das Ehepaar Poppe. […] Im Dezember 1986 sollte eine offizielle Delegation der AL zu Gesprächen mit der SED einreisen. Als im Vormonat die Einreise von Renate Künast und Michael Wendt zu einem Vorbereitungstreffen mit dem Ehepaar Poppe von der DDR verhindert wurde, hat die AL diesen Besuch abgesagt.« (Wilhelm Knabe: Westparteien und DDR-Opposition. Der Einfluss der westdeutschen Parteien in den achtziger Jahren auf unabhängige politische Bestrebungen in der ehemaligen DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. VII/2, S. 1159). »Für Ende 1986 plante die AL ihrerseits einen offiziellen DDR-Besuch, nachdem bereits im November 1985 und im Mai 1986 drei offizielle Delegationen in Ost-Berlin gewesen waren, ohne einen Versuch zur Kontaktaufnahme mit
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Dokument 6 vom 20. November 1986
Freitagabends zu informieren, falls er ihn nicht mehr erreichen könnte, ist anzunehmen, dass an der Zusammenkunft auch Vertreter der »AL« teilnehmen werden.) Nach Jahn sei die Stimmung in der »AL« (offensichtlich ist hier der »extreme Flügel« – die »Deutschland- und Berlin-AG« gemeint) so, dass man es nicht so einfach hinnehmen werde (gemeint wahrscheinlich das Abstimmungsergebnis hinsichtlich der Delegationszusammensetzung). So werde gegenwärtig über die Massenmedien die Basis der »AL« auf Schwung gebracht. Eine Entscheidung sei jedoch bis zum nächsten Delegiertenrat in 14 Tagen noch vollkommen offen. 9 Der Höhepunkt der Delegiertenratstagung am Mittwoch bestand darin, dass ein für die Delegation Nominierter sagte (es handelt sich dabei um Rupert unabhängigen Gruppen zu machen. Zu diesem Zweck stattete eine Vorbereitungsgruppe der IFM einen Besuch ab, um sich über Gesprächsthemen abzustimmen und geeignete Partner dafür zu finden. Nachdem den AL-Delegierten Renate Künast und Michael Wendt eine weitere Einreise zu Treffen mit der IFM verweigert worden war, sagte die AL die offizielle Reise ab. Zuvor allerdings hatte es eine Mehrheit der Delegiertenversammlung abgelehnt, Wolfgang Schenk in die Delegation für die DDRReise aufzunehmen, der als einziges Delegationsmitglied über längere Kontakte zur dortigen Opposition verfügt hätte. Ein knappes Jahr später erfüllte sich die Prognose des MfS: Rupert Schröter und Wolfgang Schenk traten aus der AL aus, die AG Deutschland stellte ihre Arbeit ein.« (Reinhard Weißhuhn: Der Einfluss der bundesdeutschen Parteien auf die Entwicklung widerständigen Verhaltens in der DDR der achtziger Jahre. Parteien in der Bundesrepublik aus der Sicht der Opposition in der DDR, in: ebenda, S. 1896–1897). 9 In der AL gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen scharfen DDR-Kritikern und Mitgliedern, die auf eine Verständigungspolitik mit der SED-Führung setzten und die Opposition eher zu meiden suchten, wie Dirk Schneider, der als IM für das MfS tätig war und SED-Politik betrieb. Vgl. das von Helmut Lippelt, Ursula Jaerisch, Gerd Poppe und Elisabeth Weber im September 1994 herausgegebene Konvolut über die DDR- und Deutschlandpolitik der Grünen in den 1980er Jahren, Bonn (als Kopie verteilt; im Archiv des Autors). 1988 ist deshalb auch ein Teil der AL-Mitglieder (»Deutschland- und Berlin-AG«) aus der AL ausgetreten. Zum historischen Kontext siehe Udo Baron: Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei »Die Grünen«. Münster, Hamburg 2003, sowie Knabe: Westparteien und DDR-Opposition; Weißhuhn: Der Einfluss der bundesdeutschen Parteien. Vor allem folgender Beitrag führte innerhalb der AL, der Grünen und der DDR-Opposition zu heftigen Debatten: Klaus Croissant, Benno Hopmann, Barbara Lütkecosman, Angela Schäfers, Dirk Schneider: Zur Verknüpfung von Friedensund Menschenrechtsfragen, in: Kommune 4 (1986) 5, S. 82–84 (Den Artikel zeichneten weitere Personen mit, u. a. Anne Borgmann, Rainer Trampert, Frieder O. Wolf. Neben Schneider war auch Croissant IM des MfS). Im Kern ging es darum, die Menschenrechtsfrage von der Friedensfrage zu lösen, die Menschenrechte in Osteuropa nicht zu thematisieren, sich stattdessen auf die in Westeuropa zu konzentrieren und mit den kommunistischen Staaten zu sprechen, aber nicht mit der illegalen Opposition. Darauf gab es mehrere Repliken, u. a. Uli Fischer, Milan Horaček, Petra Kelly, Elisabeth Weber: Was soll das Geholze. Croissant und andere gefährden leichtsinnig einen grünen Grundkonsens, in: ebenda 4 (1986) 6, S. 58–60, die betonten, die o. g. Autoren hätten damit den grünen Grundkonsens aufgegeben bzw. verlassen. Weiterhin neben anderen Peter Sellin: Menschenrechte im Kern der Frage des Friedens, in: ebenda 4 (1986) 7, S. 55–56; Leserbriefe von Jürgen Fuchs, György Dalos, Jakob von Uexküll, Ralf Hirsch, in: ebenda, S. 80–81; Gerd Poppe: Croissant und die vielbeschworene Objektivität, in: ebenda 4 (1986) 8, S. 59–60; Bärbel Bohley: Worte, die vom Zynismus getragen sind, in: ebenda 4 (1986) 9, S. 79–80.
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Dokument 6 vom 20. November 1986
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Schröter-Chetrit) 10, er könne auch nicht mitkommen, aber darum bat, seinen Platz für ihn, Roland Jahn, zur Verfügung zu stellen. Reaktion darauf sei gewesen, dass von vielen dahinter eine Provokation gesehen wird, da dann nämlich die Reise nicht stattfinden würde. 11 Aus dieser Tatsache schloss Jahn, den diese Reaktion persönlich sehr verärgert zu haben scheint, dass er dann seine Konsequenzen ziehen müsse, da er nicht in einer Partei bleiben könne, die nicht fähig sei, sich mit ihren Mitgliedern zu identifizieren. 12 Gleichzeitig sehe Jahn darin eine Distanzierung gegenüber den Kreisen von [Wolfgang] Templin. Er bat Templin, dass auf der Zusammenkunft am Freitag, den 21.11.1986 bei Poppe von den Vertretern des politischen Untergrundes der DDR gegenüber den »AL«-Vertretern vorgeschlagen werden soll, dass er mit für die Delegation nominiert werde. Jahn würde darin ein »symbolisches Zeichen« sehen und es würde damit jede »Vereinnahmung« der Delegation durch die DDR von vornherein wegfallen. Templin und die anderen Vertreter des politischen Untergrundes sollten sich auf den Freitag gut vorbereiten. Templin erklärte dazu, dass er am 18.11.1986 mit [Gerd] Poppe darüber bereits gesprochen habe. Jahn orientierte Templin darauf, am Freitag auch die anderen »Strömungen« mit einzubeziehen (vermutlich sind hiermit Vertreter der »Öko«-Kreise, negative Kulturszene und der Friedenskreise gemeint). Er wäre sonst auch eigentlich nicht dafür, aber in einem solchen Fall wäre es wichtig, die verschiedenartigsten »Strömungen« dabei zu haben, da man auch aufpassen müsse, damit es nicht zu eingleisig werde. Inhaltlich werden wahrscheinlich auf der Zusammenkunft am 21.11.1986 bei Poppe Diskussionen und konkrete Fakten zur Ökologie und zur Friedenspolitik eine Rolle spielen. Das ist aus den von Roland Jahn mit Poppe, Ulrike sowie mit Wolfgang Templin vorher geführten Gesprächen bereits bekannt (siehe Information vom 17.11.1986 der HA XX/2 13). 10 Rupert Schröter-Chetrit (geb. 1949), 1967–1971 SED (Ausschluss), ab 1973 oppositionell engagiert, im September 1976 verhaftet und im Frühjahr 1977 wg. »staatsfeindlicher Hetze« zu 4 Jahren Haft verurteilt; im Dezember 1977 nach West-Berlin ausgebürgert; 1978–1985 SPD, 1985– 1987 AL, dann wieder SPD; engagiert für politisch Verfolgte in der DDR und Osteuropa in verschiedenen Vereinen und Initiativen; ab November 1989 Mitarbeiter beim »telegraph« der »Umweltbibliothek«; 1990–1991 Journalist bei der »anderen«; 1991–1999 Pressesprecher des Brandenburger Arbeitsund Sozialministerium, anschließend bis 2003 Referent für die EU-Osterweiterung in der Landesregierung Brandenburgs. 11 Roland Jahn hatte Einreiseverbot in die DDR. 12 Er war seit 1985 Mitglied der AL. 13 Das Dokument fasst Telefongespräche von Roland Jahn mit Ulrike Poppe (8.11.1986), Regina und Wolfgang Templin (10.11.1986) und Gerd Poppe (14.11.1986) zusammen. Es ging u. a. um den geplanten Besuch der AL-Delegation, um Aktivitäten der Opposition sowie um den bevorstehenden 10. Jahrestag der Ausbürgerung Wolf Biermanns sowie dessen 50. Geburtstag (MfS, HA XX/2, Information über Kontaktaufnahmen des Roland Jahn (WB) zu führenden Vertretern des politischen Untergrundes, 17.11.1986. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 7, Bl. 368–370).
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Dokument 7 Information zu Reaktionen auf das »Menschenrechtsseminar« vom 22./23. November 1986 in Berlin-Friedrichsfelde (Originaltitel) 26. November 1986 Von: MfS, HA XX/2 Quelle: BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 10, Bl. 241–242
Streng intern wurde bekannt, dass sich am 23.11.1986 Roland Jahn (WB) nach Beendigung des »Menschenrechtsseminars« 1 mit führenden Vertretern des politischen Untergrundes in Verbindung setzte, um Informationen über Inhalt, Verlauf sowie Bewertungen bzw. Einschätzungen dieser Personen zu erhalten. Gegen 16.15 Uhr erkundigte sich Jahn bei Gerd Poppe, ob dessen Frau Ulrike schon vom Seminar zurück sei. Poppe teilte Jahn mit, dass seine Frau am 23.11.1986 gar nicht mehr teilnahm, da das Seminar nicht ergiebig genug sei. Er habe auch von anderen Personen erfahren, dass die Referate nicht sehr gut waren und es sich im Endeffekt nicht gelohnt habe. Gegen 18.45 Uhr nimmt Jahn Kontakt zu Wolfgang Templin auf. Templin ist gerade vom Seminar zurück, das etwas chaotisch endete. In der Vorbereitung war das Seminar so angelegt, dass man nicht nach den Möglichkeiten einer gemeinsamen Arbeit fragte, sondern Grundsatzprobleme voranstellte. Man kann es als »marxistisches Zirkelwesen« bezeichnen, was da betrieben wurde. Die Teilnehmer hörten sich mit einer Gutartigkeit und Geduld diese langen Referate an. Durch die Länge der Referate war natürlich wenig Zeit, sich in den Arbeitsgruppen zu unterhalten. Die Veranstalter hatten sich selbst eine Reihe von Auflagen gegeben, zum Beispiel, dass kein Text zu verabschieden und zu unterzeichnen sei. Es lief alles nach Regie ab. Templin und Personen seines Verbindungskreises haben von vornherein gesagt, dass sie mit dieser Vorbereitung nicht konform gehen würden und sie auch nicht mittragen wollen. Sie hätten also von ihrer Seite her deutlich ihre Meinung dargelegt. Es sei allerdings vieles auf der Strecke geblieben. Vor allem kam es zum Schluss zu keiner gemeinsamen Überlegung der weiteren Arbeit. Trotzdem sei er aber der Meinung, dass diese Veranstaltung Impulse geben 1 Das Seminar fand in der Friedrichsfelder Gemeinde unter dem Titel »Menschenrechte – der Einzelne und die Gesellschaft« statt. Unter den 4 Hauptreferenten befanden sich auch 2 IM des MfS. Daneben tagten Arbeitsgruppen. Das Seminar offenbarte scharfe politische Gegensätze innerhalb der Opposition. Vgl. dazu mit Zeitzeugensicht Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 235–243.
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Dokument 7 vom 26. November 1986
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werde, auch wenn sie nach Regie ablief. Von ihrer Seite wurde dort die »Initiative Menschenrechte und Frieden« vorgestellt, wie sie jetzt arbeite. Es gab auch wieder idiotische Vorwürfe gegen Leute, die nur in den Medien »herumgeistern«, die mit »Roten«, »Grünen« und »Gelben« kooperierten und korrespondierten. Es fehlte nur noch der Hinweis auf den »CIA-Residenten für Mitteleuropa, mit dem sie immer frühstücken würden«. Das sei aber nicht die Haltung der Leute. Die seien doch eher daran interessiert, solche Kontakte aufaufrechtzuerhalten. Jahn erläuterte Templin, er habe geäußert, dass er wieder zurückkommen müsse. Er finde, gewisse Formen der Auseinandersetzung sollte man überdenken. Man brauche sich ja nicht immer in den gleichen Kreisen mit solchen Themen zu beschäftigen. Templin bemerkte, was er Jahn für Mitte nächsten Jahres aufgeschrieben habe (offensichtlich ist der Kirchentag 1987 gemeint) 2, gehöre zu solchen, von ihm geforderten Überlegungen. Bisher habe sich eigentlich deutlich abgezeichnet, dass der für Mitte 1987 geplante Versuch tragfähig sei (Näheres darüber ist nicht bekannt). 3 Templin meinte, dass das Seminar doch eine Erfahrung mehr sei, wie so etwas ablaufen kann. Man kann es auch als Erfahrung nehmen, was mit der Kirche gehe und was nicht. Er habe das Gefühl, dass man mit weniger Leuten stärker und auch länger an der Sache sein kann. Man fahre damit bestimmt besser als mit einer euphorischen Masse.
2 Vom 24. bis 28.6.1987 fand erstmals seit 1951 wieder ein Evangelischer Kirchentag in OstBerlin statt. Vgl. zu den Auseinandersetzungen im Vorfeld sowie auf dem Kirchentag knapp IlkoSascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 209–212. 3 Nach Erinnerungen von Roland Jahn und Wolfgang Templin (mündliche Mitteilungen 2012) ging es bei diesen Überlegungen darum, die Opposition zu öffnen und vor allem die engen Räume zu überwinden, um den Aktionsradius zu erweitern und die Gesellschaft stärker zu erreichen.
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Dokument 8 Information [über] Provokatorische Erklärung feindlich-negativer Kräfte der DDR anlässlich des zehnjährigen Bestehens der »Charta 77« (Originaltitel) 13. Januar 1987 Von: MfS, HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 508–509
Streng vertraulich wurde bekannt, dass der hinlänglich als Inspirator politischer Untergrundtätigkeit bekannte Jahn, Roland/Westberlin am 6.1.1987 dem operativ bekannten Templin, Wolfgang telefonisch den Auftrag gab zu organisieren, dass sich »Kräfte der unabhängigen Friedensbewegung« der DDR in Form eines »Dialogs« zum 10. Jahrestag der »Charta 77« äußern. Dieser »Dialog« solle in westlichen Massenmedien publiziert werden. Templin gab zu diesem Vorhaben seine Zustimmung und trat während einer Zusammenkunft der »Initiative Frieden und Menschenrechte« vom 10.1.1987 in der »Öko-Bibliothek« der Zionskirchgemeinde Berlin mit einem vorbereiteten Text in Erscheinung, den er mit dem Ziel der [… im Original nicht lesbar] vortrug. An dieser Zusammenkunft nahmen ca. 30 Personen vorwiegend aus der Hauptstadt der DDR sowie aus den Bezirken Halle, Dresden, Gera und Leipzig teil. Noch am gleichen Tag übermittelte Templin telefonisch an Jahn den Wortlaut der »Solidaritätserklärung« und gab ihm die Namen von 25 Unterzeichnern der »Erklärung« bekannt/siehe Anlage. 1 Durch Jahn wurden der Text 1 Der »Brief an die ›Charta 77‹« ist im Grenzfall 2/1987 abgedruckt worden (vgl. Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 29–30). Darin hieß es nach einer prinzipiellen Würdigung der »Charta 77« u. a.: »Für uns war und ist die Existenz der Charta und anderer Menschenrechtsbewegungen in Osteuropa eine Ermutigung und eine Quelle der Inspiration … In der DDR ist die Menschenrechtsarbeit als Bestandteil einer breiten und unabhängigen Friedensbewegung gewachsen. Viele Gemeinsamkeiten unserer Länder machen jedoch die Aufnahme wichtiger Arbeitsprinzipien und Erfahrungen möglich. Zu den wichtigsten gehören für uns: – die unbedingte Offenheit und Öffentlichkeit der Arbeit. Menschenrechte können nicht erhandelt oder zum Gegenstand diplomatischen Schacherns in Geheimverhandlungen gemacht werden. Die Entwicklung der Selbsthilfe und die Solidarität der Betroffenen wird die alte Stellvertreterpolitik überwinden. Der nationalen und internationalen Öffentlichkeit, darunter auch den Medien, kommt eine große Bedeutung dabei zu. – Der Pluralismus als übergreifender Wert. Für die Durchsetzung grundlegender Menschenrechte engagieren sich auch bei uns Menschen mit unterschiedlicher Weltanschauung und politischen Haltungen. Die Spannungen zwischen verschiedenen Ansätzen in der Menschenrechtsfrage sind dabei produktiv und sollten nicht durch Grundsatzdebatten mit dem Ziel der Ver-
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und die Namen der Unterzeichner auf Tonband aufgezeichnet. Templin teilte des Weiteren mit, dass der Text auf einem anderen Weg »schon unterwegs« und am 12.1.1987 freigegeben sei. Die Unterzeichnung mit »Mitglieder der Initiative [Frieden und Menschenrechte] und Freunde der Friedensbewegung« sei gewählt worden, weil die Unterzeichner aus »verschiedenen Kreisen« stammen. Am 12.1.1987 wurden Auszüge der »Erklärung« erstmals durch die amerikanische Nachrichtenagentur AP publiziert. Danach wurden durch die Westberliner Rundfunksender RIAS sowie SFB und am 13.1.1987 u. a. durch die Westberliner »Morgenpost« weitere Veröffentlichungen vorgenommen, die sich im Wesentlichen an der AP-Meldung orientieren und diese gekürzt wiedergeben. Teilweise verwandte Zahlen von bis zu 30 Unterzeichnern sind nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht zutreffend. Der vollständige Text wurde bisher nicht publiziert. 2 Bei den Unterzeichnern handelt es sich überwiegend um operativ bekannte Personen. Die weitere Aufklärung und Bearbeitung der Unterzeichner, vor allem der bisher noch nicht angefallenen Personen, wird in Koordinierung mit den zuständigen Diensteinheiten organisiert. Der Text der »Erklärung« wird der Hauptabteilung IX zur Einschätzung übergeben. 3
einheitlichung zerstört werden. Die Demokratisierung unserer Gesellschaften wird ein Weg des gemeinsamen Suchens und Lernens sein, für den es keine Modelle und Rezepturen gibt. Wir wünschen Euch Kraft für die weitere Arbeit und ein engeres und solidarischeres Zusammengehen, trotz der für uns fast geschlossenen Grenzen. Für Eure und unsere Freiheit. Mitglieder der ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹ und Engagierte in der Friedensbewegung.« Den Brief unterzeichneten 28 Personen (darunter mindestens 5 IM des MfS – ein Exemplar ist u. a. enthalten in: BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 11, Bl. 13–14), Erstunterzeichner waren Wolfgang Templin, Ralf Hirsch und Peter Grimm. Er ist abgedruckt u. a. in: Ralf Hirsch: Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Ferdinand Kroh (Hg.): »Freiheit ist immer Freiheit …« Die Andersdenkenden in der DDR. Frankfurt/M., Berlin 1988, S. 225–226. 2 In der »taz« erschien am 13.1.1987 (S. 6) ein längerer Auszug. 3 Auf den Abdruck der Erklärung, die dem Dokument als Anlage beigefügt war (BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 510–511), ist hier verzichtet worden.
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Dokument 9 Reaktion Roland Jahns auf einen anonymen Brief (Originaltitel) 24. Januar 1987 Von: MfS, HA III Quelle: BStU, MfS, HA XX/4 31, Bl. 437–438
Durch Verbindungen einer inoffiziellen Quelle 1 wurden zuverlässig Hinweise erarbeitet, nach denen in Westberlin und der BRD anonyme Briefe verschickt wurden, in denen umfangreiche Angaben zu dem in Westberlin lebenden Organisator und Inspirator politischer Untergrundtätigkeit in der DDR Jahn, Roland gemacht werden. 2 Diese Briefe sollen in Bonn aufgegeben worden sein und neben Jahn auch weiteren Personen, wie den Vertretern der Grünen Schierholz, Henning und Probst, Lothar, 3 sowie der Ehefrau des Korrespondenten der XXX zugestellt worden sein. Während XXX diesem Brief, in dem
1 Die äußere Gestaltung des Dokuments lässt in Analogie zu vergleichbaren Dokumenten die Herkunft der Informationen aus abgehörten Telefonaten erkennen. 2 Solche anonymen Briefe sind 1987 mehrfach verschickt worden. Sie versuchten, Roland Jahn als Person zu diskreditieren, seinen politischen Einfluss zurückzudrängen und ihn – was einem Kainsmal gleichkam – als Mitarbeiter von westlichen Geheimdiensten hinzustellen. Die Autorschaft ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt, aber dass das MfS dabei eine oder die entscheidende Rolle spielte, scheint klar zu sein. Wahrscheinlich waren auch IM des MfS, die in West-Berlin lebten, aktiv einbezogen. Bei dem hier interessierenden, siebenseitigen maschinenschriftlich verfassten, undatierten Brief »Diener mehrerer Herrn vertieft Graben durch die Partei. Wer Roland Jahn benutzt, schadet grünem Schulterschluss« (RHG, RJ 03) ist auch nicht zweifelsfrei klar, wer ihn verfasste. Ein besonders perfider anonymer Brief erreichte die Eltern von Roland Jahn im Juni 1987 in Jena. Ein Faksimile davon ist abgedruckt bei Sandra Pingel-Schliemann: Zersetzen. Strategie einer Diktatur. Berlin 2002, S. 333. Siehe auch eine Collage, die Jahn als geldgierig verleumdete (ebenda, S. 334). Zu diesen und anderen MfS-Aktionen gegen Jahn vgl. auch Hubertus Knabe: Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen. Berlin 1999, S. 315–318. Bei einer späteren »Briefaktion« ist die MfS-Urheberschaft ganz zweifelsfrei belegt. In einem Dokument vom 20.10.1987 heißt es: »Der operativ bekannte Jahn, Roland zeigte erste Reaktionen auf eine gemeinsam mit der HV A X und der HA XX/5 durchgeführten politischoperativen Maßnahme. Streng vertraulich wurde bekannt, dass sich Jahn im Rahmen eines Informationsaustausches mit seinem engsten Kontaktpartner in der DDR, Templin, Wolfgang, über anonyme Briefe, die u. a. beim Büro der Alternativen Liste Westberlin eingegangen wären, beklagt. Dadurch würden für ihn noch nicht näher bekannt gewordene Probleme entstehen.« (BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 197). Im Juni 1988 sind auch solche anonymen Briefe zur Verunsicherung und Diskreditierung Ralf Hirschs in etwa 80 Exemplaren in Umlauf gebracht worden (DDR intrigiert, in: taz vom 15.6.1988). 3 Lothar Probst (geb. 1952), Lehrer, Politikwissenschaftler, gehörte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu jenen Grünen, die Kontakte zur DDR-Opposition pflegten; arbeitet seit 1989 an der Universität Bremen, promovierte 1993 mit einer Studie über die ostdeutsche Bürgerbewegung, 2007 erfolgte nach verschiedenen akademischen Stationen die Ernennung zum Professor in Bremen.
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Dokument 9 vom 24. Januar 1987
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ihr auch ein Intimverhältnis zu Jahn unterstellt worden sein soll, 4 keine Bedeutung beimisst, hat er Jahn doch erheblich beeindruckt. Er schätzt diesen Brief als psychologisch gut aufgebaut ein und geht davon aus, dass er zu Verunsicherungen in seinem Umfeld führen wird. Jahn selbst gab gegenüber XXX zu, verunsichert zu sein, da er einen Zusammenhang zwischen diesen Briefen und Angriffen in der DDR-Kirchenzeitung »Weißenseer Blätter« gegen die Unterzeichner des »Ungarnaufrufes« sieht. 5 Jahn und XXX sind sich darüber einig, dass die in dem Brief verarbeitete Vielzahl von Informationen, die noch dazu aus unterschiedlichen Richtungen kommen, unmöglich von einer Einzelperson zusammengestellt worden sein könne. Sie sind der Meinung, dass es sich um das Werk »einer ganz bestimmten Firma« handelt, was natürlich auch ihre Reaktion darauf bestimmen muss. Wenn sich die von ihnen vermutete Richtung bestätigen sollte, wäre ein Reagieren auf diesen Brief nicht nur falsch, sondern auch absolut sinnlos, »weil man ja nichts machen könne«. Aus diesem Grund will man den Brief nicht veröffentlichen, aber persönliche Freunde, vor allem bei den Grünen und der Alternativen Liste (AL), davon in Kenntnis 4 Das ist nicht zutreffend. In dem »Brief« wird lediglich festgestellt, dass sich beide bereits vor 1983 in Jena kennenlernten (o. Verf.: Diener mehrerer Herrn vertieft Graben durch die Partei. Wer Roland Jahn benutzt, schadet grünem Schulterschluss, o. D. RHG, RJ 03). 5 Im Oktober 1986 hatten 58 ungarische, 24 tschechische und slowakische, 28 polnische und 16 ostdeutsche Oppositionelle eine gemeinsame Erklärung zum 30. Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956 veröffentlicht (abgedruckt u. a. in: Grenzfall 2/1986, in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 14). Am Zustandekommen der Erklärung war u. a. Roland Jahn beteiligt. Der Theologe Hanfried Müller (1925– 2009; IM des MfS 1954–1989), seit 1964 Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat daraufhin in den »Weißenseer Blättern« – einem von SED-treuen Theologen herausgegebenen Periodikum, das als Gegenpol zu innerkirchlichen und oppositionellen Publikationen im Rahmen der staatlichen »Differenzierungspolitik« mit maßgeblicher MfS-Unterstützung seit 1982 herauskam – zwei Artikel publiziert, in denen er die ungarische Revolution als faschistischen Putschversuch kennzeichnet, die Unterzeichner in die Nähe von Faschisten rückt und sie zugleich als Wegbereiter für politischen Terrorismus brandmarkt (vgl. Weißenseer Blätter 6/1986 sowie dann nochmals ebenda 1/1987). Mehrere Unterzeichner (u. a. Martin Böttger, Bärbel Bohley, Regina und Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Gerd Poppe) haben deshalb im Januar 1987 beim DDR-Generalstaatsanwalt einzeln Strafanzeige gegen H. Müller wegen Verleumdung gestellt (z. B. Gerd Poppe, An den Generalstaatsanwalt, Anzeige, 20.1.1987. BStU, MfS, AOP 17375/91, Bd. 23, Bl. 29–31). Innerhalb des MfS ist entschieden worden, jedem einzelnen Anzeigenden eine Antwort, unterzeichnet von einem dem Generalstaatsanwalt untergeordneten Staatsanwalt, zukommen zu lassen. Darin wies dieser darauf hin, dass es zu keiner Strafverfolgung von H. Müller komme, da er lediglich das in der DDR-Verfassung verbriefte Recht auf freie und öffentliche Meinungsäußerung in Anspruch nehme (MfS, HA IX/2, Vorschlag zur Zurückweisung einer von Exponenten politischer Untergrundtätigkeit inszenierten Aktion zur Erstattung von Strafanzeigen, 3.2.1987. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 9, Bl. 21–24). Gerd Poppe wiederum schrieb daraufhin einen Offenen Brief (»Artikel 27«), der im »Grenzfall« 3/1987 abgedruckt wurde, nachgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 200–204. Über den Brief ist in westlichen Medien berichtet worden, er wurde auch nachgedruckt, u. a. als längerer Auszug in englischer Übersetzung mit einem Vorwort von Roland Jahn in: East European Reporter 1987, S. 53–54.
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setzen. Jahn beunruhigt am meisten die letzte Seite dieses 7-seitigen Briefes, 6 die XXX offenbar nicht erhalten hat. Diese letzte Seite soll folgenden Wortlaut haben: »Und noch eins sollten diejenigen Leute zur Kenntnis nehmen, die Leute wie Jahn für sich agieren lassen: Seine oftmals dubiose Geschäftigkeit über die deutsch-deutsche Grenze hinweg lässt den Eindruck entstehen, dass hier – von wem auch immer – der Versuch unternommen wird, gewisse Elemente sozialdemokratischer Ostbüro-Arbeit der 50er 7 Jahre wiederzubeleben. Die endete aber bekanntlich damals mit einem Desaster für eine ganze Reihe von Sozialdemokraten in der DDR und brachte der SPD politisch mehr Schaden als Nutzen. Wenn sich die Grünen auf dieses Feld treiben lassen, demontieren sie ihr Ansehen bei ihren Anhängern auf lange Sicht. Allein die Vertreter des Hauses Windelen 8 und ihrer Stahlhelm-Freunde 9 dürften sich über eine solche Entwicklung die Hände reiben.« 10 Jahn betrachtet dies als klare Drohung gegen seine Kontaktpartner in der DDR und fürchtet offenbar auch, dass diese Argumentation dazu führen könnte, dass die Grünen in Zukunft auf eine größere Distanz zu ihm achten werden. Bemerkung: Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz erforderlich.
6 Der gesamte Brief arbeitet mit Unterstellungen und Behauptungen und dient einerseits dem Ziel, Roland Jahn soweit politisch und persönlich zu diskreditieren, dass er seinen Einfluss innerhalb der Grünen/AL verliert. Er wurde, was schon die Überschrift anzeigt, als Diener von westlichen Geheimdiensten hingestellt. Andererseits ist die Absicht unverkennbar, jenen Flügel der Grünen/AL weiter zu stärken, der jede Konfrontation mit der SED zu vermeiden suchte (o. Verf.: Diener mehrerer Herrn vertieft Graben durch die Partei. Wer Roland Jahn benutzt, schadet grünem Schulterschluss, o. D. RHG, RJ 03). 7 Das 1946 gebildete SPD-Ostbüro diente im Westen der Aufklärung über die kommunistische Diktatur und unterstützte im Osten aktiv den Widerstand und half verfolgten Sozialdemokraten. Vgl. Wolfgang Buschfort: Das Ostbüro der SPD. Von der Gründung bis zur Berlin-Krise. München 1991; ders.: Parteien im kalten Krieg. Die Ostbüros von SPD, CDU und FDP, Berlin 2000; Helmut Bärwald: Das Ostbüro der SPD. 1946–1971 Kampf und Niedergang. Krefeld, 1999. 8 Gemeint ist das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen. 1983–1987 war Heinrich Windelen (geb. 1921, CDU, MdB 1957–1990) Minister, ein bis 1990 die Oder-Neiße-Grenze entschieden ablehnender Politiker, der deswegen auch dem Einigungsvertrag nicht zustimmte. 9 Damit sind offenbar jene Personen gemeint, die eine Anerkennung der DDRStaatsbürgerschaft u. a. Forderungen der SED-Führung ablehnten. 10 O. Verf.: Diener mehrerer Herrn vertieft Graben durch die Partei. Wer Roland Jahn benutzt, schadet grünem Schulterschluss, o. D. RHG, RJ 03.
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Dokument 10 Aktenvermerk über Absprache in der Hauptabteilung III/1 am 12. März 1987 (Originaltitel) 13. März 1987 Von: MfS, HA XX/5, Hauptmann [Wolfgang] Rudolph 1 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 11, Bl. 125
Teilnehmer: Gen. [Wolfram] Laukner – Ref. Ltr. HA III/1, 2 Gen. [Manfred] Orth – Mitarbeiter HA III/1, 3 Gen. [Wolfgang] Rudolph – Mitarbeiter HA XX/5 Die Absprache erfolgte auf Grundlage der im Operativplan zum ZOV »Weinberg« formulierten operativen Maßnahme zur Herstellung und Gewährleistung kontinuierlicher Informationsbeziehungen zwischen der HA XX/5 und der HA III sowie einer abgestimmten und effektiven Zusammenarbeit. 4 Seitens der HA III/1 wurde vorgeschlagen, der HA XX/5 wöchentlich einen zusammenfassenden Bericht über erarbeitete Informationen zu überstellen, aus denen Hinweise über Aktivitäten des Jahn, Roland hervorgehen, welche jedoch als Einzelinformationen an andere erfassende DE gehen.
1 Wolfgang Rudolph (geb. 1936), 1954 SED und Mitarbeiter der Staatssicherheit, ab 1955 HA V, 1962–1974 OibE in der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei, Abt. Erlaubniswesen, ab 1974 HA XX/2, 1980 Referatsleiter, 1988 stellv. Abteilungsleiter der HA XX/5, 1988 Beförderung zum Oberstleutnant; Entlassung zum 31.1.1990. 2 Wolfram Laukner (geb. 1950), Bäcker; ab 1969 im MfS, zunächst als Soldat im Wachregiment; SED 1970; ab 1971 in der Abt. III, dann ab 1983 in der HA III tätig; 1984 Fachschuljurist (MfS); ab 1984 stellv. Referatsleiter; im Oktober 1989 zum Offizier für Information und Auswertung ernannt, letzter Dienstrang Hauptmann; Entlassung zum 31.3.1990. 3 Manfred Orth (geb. 1950) trat nach einer Berufsausbildung 1969 ins Wachregiment des MfS ein und wurde SED-Mitglied; seit 1970 Mitarbeiter in der Abt. F(unkabwehr) und ab 1983 HA III; 1983 Beförderung zum Hauptmann, Entlassung zum 31.3.1990. 4 Wenige Tage zuvor fand bereits eine ähnliche Besprechung statt. Das Protokoll vermerkte: »Die HA XX/5 erarbeitete kurzfristig eine Übersicht zu bekannten Verbindungen des [Roland] Jahn, um der HA III/1 die personelle Zuordnung erarbeiteter Informationen zu erleichtern. Die HA III/1 wird bis Dezember 1986 rückwirkend eine Zeitanalyse über die Aufenthalte bzw. Abwesenheiten des Jahn in der Wohnung in 1 Berlin 36, Görlitzer Str. 66 [Jahns Wohnung seit 1986] erarbeiten, mit dem Ziel, festzustellen, welche zeitlichen Regelmäßigkeiten es gibt, um daraus u. a. auf eine berufliche Tätigkeit schließen zu können. Durch die HA XX/5 wird eine Sichtung der vorliegenden Informationen zu Jahn und dessen Verbindungspersonen in der HA III/1 durchgeführt, zwecks Erarbeitung weiterer Erkenntnisse zu J[ahn].« MfS, HA XX/5, Hauptmann Wolfgang Rudolph, Aktenvermerk über die am 23.2.1987 durchgeführte Absprache in der Hauptabteilung III/1, 2.3.1987. BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 11, Bl. 124.
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Dokument 10 vom 13. März 1987
Gegenwärtig wird durch die HA III/1 eine Übersicht bzw. Analyse über die täglichen Zeiträume, in denen Jahn Telefongespräche führt, erarbeitet. Die Zielstellung besteht in der Dokumentierung eines regelmäßigen Tagesablaufs, um evtl. Schlussfolgerungen zu feststehenden terminlichen bzw. beruflichen Verpflichtungen ziehen zu können. Weiterhin wird eine Analyse über die Gesprächspartner des Jahn und die Häufigkeit seiner Kontakte (seit Dez[ember] 1986) erarbeitet. Durch Unterzeichneten wurde Gen. Laukner eine namentliche Aufstellung (kleine Personalien) über Verbindungspersonen des Jahn übergeben, um der HA III/1 eine konkretere Zuordnung einzelner Informationen zu Personen zu ermöglichen. Durch die Gesprächsteilnehmer wurde eingeschätzt, dass durch diese konkrete Form von Absprachen eine konkretere und effektivere Unterstützung der operativen Bearbeitung des ZOV »Weinberg« durch die HA XX/5 möglich ist. Es wurde vereinbart, diese Form der Zusammenarbeit auch zukünftig (1x pro Monat, bei op[erativer] Notwendigkeit sofort) beizubehalten. 5 Abschließend wurden Unterzeichnetem Informationen zu Jahn von 1986 übergeben, welche der HA XX/5 bisher nicht vorlagen.
5 Einige Wochen später hieß es in einem Vermerk: »Als sehr wertvoll erwiesen sich auch die der Hauptabteilung XX/5 übergebenen Zusammenfassungen von Sachverhalten und Erkenntnissen in Form von Auskunftsberichten durch die Hauptabteilung III/1. […] Die erfolgten Absprachen bestätigten, dass die auf der Grundlage des übergebenen Informationsbedarfs der Hauptabteilung XX/5 erarbeiteten Informationen die jeweiligen Sachverhalte in Art, Inhalt und Umfang real widerspiegeln und vorliegende eigene Erkenntnisse bekräftigen. Es erscheint zweckmäßig, operativ bedeutsame Informationen auszugsweise wörtlich wiederzugeben.« MfS, HA XX/5, Leiter, Oberstleutnant [Hans] Buhl, an MfS, HA III/1, Leiter, Einschätzung der bisherigen Zusammenarbeit zwischen der Hauptabteilung XX/5 und der Hauptabteilung III/1 bei der Bearbeitung des Operativvorganges »Weinberg«, 28.4.1987. BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 11, Bl. 126.
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Dokument 11 Information über Erkenntnisse zu Aktivitäten des in der DDR akkreditierten ständigen Korrespondenten des BRD-Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«, Ulrich Schwarz (Originaltitel) 17. März 1987 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 9, Bl. 329–333 Anmerkung: Es handelt sich um ein nicht abgezeichnetes Durchschlagsexemplar, der Absender ist in der Regel auf der ersten Seite des Informationsberichtes aufgedruckt und geht deshalb aus dem vorliegenden Durchschlag nicht hervor.
Der zum zweiten Mal als ständiger Korrespondent des BRD-Journals »Der Spiegel« in der DDR akkreditierte Journalist Schwarz, Ulrich 1 intensiviert seit dem 2. Halbjahr 1986 in hohem Maße seine Kontakte zu Vertretern der politischen Untergrundtätigkeit in der DDR und hat mit den durch ihn realisierten Materialschleusungen nach und von Westberlin Anteil an den in letzter Zeit entwickelten stabilen Beziehungen dieser Personen zu dem ehemaligen DDR-Bürger Roland Jahn, der gegenwärtig eine Schlüsselfunktion bei der Inspirierung und Organisierung dieser Form der Feindeinwirkung einnimmt. Mithilfe der Kurier- und Schleusertätigkeit des Schwarz erfolgen mindestens wöchentliche Materialtransporte von und zu Roland Jahn, der den feindlich-negativen Kräften in der DDR vor allem über seine Verbindungen zu der sogenannten alternativen »tageszeitung« (»taz«) regelmäßig Möglichkeiten verschafft, sich in der Öffentlichkeit darzustellen. Seit Ende des Jahres veröffentlicht die »taz« wöchentlich eine spezielle »Ost-Berlin-Seite« mit Beiträgen dieser Personen. 2 Zu den ständigen Kontaktpartnern des Schwarz in der Hauptstadt der DDR, Berlin, gehören hinlänglich bekannte Vertreter der politischen Untergrundtätigkeit, darunter vor allem Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Werner Fischer, Rainer Eppelmann und Lutz Rathenow. Die politisch-operative Bedeutsamkeit der Verbindungen des Schwarz im Sinne der Unterstützung politischer Untergrundtätigkeit ergibt sich neben der Gewährleistung von stabilen Verbindungen Hauptstadt der DDR – Berlin (West) auch aus seiner beraten1 Ulrich Schwarz ist 1978 von der DDR die Akkreditierung als Korrespondent entzogen worden, das »Spiegel«-Büro musste geschlossen werden. 1985 ist es wiedereröffnet und Schwarz erneut akkreditiert worden. Zu den Hintergründen vgl. Dominik Geppert: Störmanöver. Das »Manifest der Opposition« und die Schließung des Ostberliner »Spiegel«-Büros im Januar 1978. Berlin 1996. 2 Auf der »Ost-Berlin-Seite« der »taz« erschienen Berichte über oppositionelle Aktivitäten, über andere Vorgänge in der DDR sowie – das war das eigentliche Novum – regelmäßig Berichte, Interviews und Kommentare von Oppositionellen aus Ost-Berlin und der DDR. Oftmals sind diese unter Kürzeln oder Pseudonymen publiziert worden, aber auch unter den richtigen Namen.
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Dokument 11 vom 17. März 1987
den Einflussnahme zur Taktik der feindlich-negativen Aktivitäten sowie der mehrfach erklärten und bewiesenen Bereitschaft, über spektakuläre, provokative Aktionen u. a. mit der Zielstellung Artikel zu veröffentlichen, im Fall nachfolgender »Repressalien« der Organe der DDR gegen die Urheber und Beteiligten an derartigen Aktionen, Druck auf die DDR auszuüben. So veröffentlichte der »Spiegel« am 4.8.1986 einen Artikel über angebliche Eingaben an die Wahlkommission der DDR, in der auch Bezug auf die provokative »Eingabe« des Hirsch, Ralf genommen wurde. 3 Hirsch ließ sich daraufhin stündlich von Personen seines Verbindungskreises telefonisch anrufen, um gegebenenfalls die Mitteilung seiner Inhaftierung umgehend dem Schwarz übermitteln zu lassen.
3 In dem Artikel hieß es u. a. zu der am 8.6.1986 erfolgten »Volkskammerwahl«: »Das DDRWahlgesetz legt in Paragraph 43 unmissverständlich fest: ›Gegen die Gültigkeit der Wahl in einem Wahlkreis oder zu einer Volksvertretung kann binnen 14 Tagen [...] Einspruch eingelegt werden.‹ […] am 19. Juni und mithin rechtzeitig, ging beim Vorsitzenden der Wahlkommission Egon Krenz, Mitglied im SED-Politbüro und Kronprinz des Parteichefs Erich Honecker, ein Brief des DDRBürgers Ralf Hirsch ein. Der 26-jährige […] teilte dem ›sehr geehrten Herrn Krenz‹ mit, ›als wahlberechtigter Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und der Stadt Berlin sehe ich mich gezwungen, die Richtigkeit der Wahl... infrage zu stellen‹. Seine Begründung: Er, Hirsch, habe keine schriftliche Benachrichtigung über die Eintragung in die Wählerliste bekommen. Das aber sei ein ›grober Verstoß gegen das Wahlgesetz‹, das Abstimmungsergebnis in seinem Wahlkreis BerlinFriedrichshain ›somit nicht korrekt‹. Bürger Hirsch an den Genossen Krenz: ›Ich bitte hiermit um eine Wiederholung der Wahl in meinem Wahlkreis, so wie es das Wahlgesetz für diesen Fall vorschreibt.‹ Das Ansinnen verschlug dem Wahlkommissar Krenz offenbar die Sprache, bis heute blieb er dem Petenten die Antwort schuldig – und verstieß damit gegen ein Gesetz, das der Abgeordnete Krenz 1975 mit beschlossen hat. Nach DDR-Recht handelte Hirsch völlig korrekt. […] Der einzelne Bürger hat […] nach dem ›Gesetz über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger‹ aus dem Jahr 1975 das Recht, sich mit seinen Beschwernissen und Beschwerden an die jeweils zuständigen Behörden oder Funktionäre zu wenden. Die sind, bis hinauf zum Staatsratsvorsitzenden, verpflichtet, jede Eingabe binnen vier Wochen zu beantworten. […] Ralf Hirsch, aktives Mitglied der autonomen ostdeutschen Friedensbewegung, ist nicht der einzige wahlberechtigte Ostdeutsche, der keine Wahlbenachrichtigung erhielt mithin nicht wählen konnte. In Ost-Berlin ignorierte die Wahlkommission mindestens sieben unbequeme Friedensfreunde. […] In Berlin, so stellten Beobachter aus der Friedensbewegung bei der öffentlichen Auszählung fest, wurden selbst Wahlzettel als Ja-Stimmen gewertet, auf denen die Kandidaten der Einheitsliste als ›Idioten‹ apostrophiert waren. Begründung: Das Votum sei positiv, da der Wähler die Namen der Bewerber nicht durchgestrichen habe. Bürger Hirsch glaubt nicht mehr, dass er aus purer Bürokratenschlamperei bei der Volkskammerwahl übersehen wurde. Doch er will, ein Michael Kohlhaas der DDR, weiter für Recht und Gesetz kämpfen – streng legal. Als er einen Monat nach Eingang seiner Eingabe bei Krenz – den er sich von der Post schriftlich bestätigen ließ – noch keine Antwort hatte, schickte Hirsch am 19. Juli einen ›offenen Brief‹ an Erich Honecker, an den Generalstaatsanwalt der DDR und an die Ostberliner Presse, von der Nachrichtenagentur ADN bis zum SED-Zentralorgan ›Neues Deutschland‹. Darin beschrieb er seinen Fall und den Verstoß des Genossen Krenz gegen das Eingabengesetz. Nun wartet er wieder auf Antwort.« (Wohlbefinden der Bürger. Ein DDR-Bürger versucht, die jüngsten Wahlen zur Ostberliner Volkskammer anzufechten, in: Der Spiegel Nr. 32 vom 4.8.1986, S. 48.) Die Eingaben liegen vor in: BStU, MfS, AU 131/90, Bd. 7, Bl. 77–80.
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Ähnlich ging Wolfgang Templin am 29.8.1986 bei einer geplanten Provokation während des Solidaritätsbasars des Berliner Journalistenverbandes auf dem Berliner Alexanderplatz vor. 4 Internen Erkenntnissen zufolge hatte Schwarz zumindest auch Kenntnis von der Erarbeitung und Übergabe des als »Parteitagseingabe« deklarierten feindlichen Pamphlets, das mit 21 Unterschriften versehen am 3.4.1986 dem ZK der SED bzw. dem »Neuen Deutschland« zugestellt wurde. 5 Wie festgestellt wurde, war Schwarz am Tag der Übergabe in Besitz des feindlichen Machwerkes. In Übereinkunft mit den beteiligten Personen aus der DDR vereinbarten er sowie weitere einbezogene Journalisten und andere Personen aus der BRD und Westberlin eine Sperrfrist für die Veröffentlichung. In diesem Zusammenhang kritisierte Schwarz die »Parteitagseingabe« bezüglich der inhaltlichen Gestaltung. Die »große Politik« der sogenannten DDROpposition sei hierin nicht zum Tragen gekommen. Aber gerade so etwas wie Schicksale von politisch Verfolgten in der DDR oder staatliche Repressalien gegen »Bürgerrechtler« in der DDR würde die Leute in der BRD interessieren. 6 Dagegen bezeichnete Schwarz die »Gemeinsame Erklärung« oppositioneller Kräfte der sozialistischen Länder (VRP, UVR, ČSSR, DDR) anlässlich des 30. Jahrestages der konterrevolutionären Ereignisse in der UVR als »eine gute Sache« und »gelungen«. 7 Diese »Erklärung« wurde am 20. Oktober 1986 im 4 Jedes Jahr fand auf dem Alexanderplatz ein sog. »Solidaritätsbasar« des Journalistenverbandes der DDR statt, auf dem zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller anwesend waren, ihre Bücher verkauften und signierten. Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Peter Rölle u. a. von der IFM versuchten 1986 wie 1987 Aufrufe gegen Zensur und für Presse- und Meinungsfreiheit zu verteilen. Ein Großaufgebot von MfS-Mitarbeitern verhinderte letztlich, dass die Aktion größere öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr. Die »Erklärung zur Arbeit der Massenmedien« vom 16.8.1987 findet sich in: BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 2, Bl. 258. 5 Die »Offene Eingabe an die SED vom 2. April 1986« stellte eine scharfe Kritik an der SEDHerrschaft dar. Sie ist komplett veröffentlicht in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 189–200. Die Liste der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner findet sich ebenda. Sie ist in westlichen Medien ausführlich behandelt und z. T. auszugsweise nachgedruckt worden (vgl. ebenda, S. 189, Anm.). Innerhalb der Opposition kam es im Anschluss zu heftigen Debatten (siehe ebenda). Thomas Klein hat diese Debatten als Beteiligter und Kritiker dieser Eingabe dargestellt. Vgl. Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 251–257. Drei Exemplare der Eingabe übergaben Bärbel Bohley und Monika Haeger (IM des MfS) um 8.45 Uhr am 3.4.1986 am ZK-Gebäude. Honecker wurde davon um 11.50 Uhr informiert (Aktenvermerke, Anschreiben und Eingabentext: BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 1–18). 6 Das ist allerdings sehr wohl direkt angesprochen worden. Vgl. Offene Eingabe an die SED vom 2. April 1986, in: Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit, v. a. S. 199–200. 7 Im Oktober 1986 hatten 58 ungarische, 24 tschechische und slowakische, 28 polnische und 16 ostdeutsche Oppositionelle eine gemeinsame Erklärung zum 30. Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956 veröffentlicht (abgedruckt u. a. in: Grenzfall 2/1986, in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 14). Darin hieß
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»Spiegel« Nr. 43 veröffentlicht. 8 Schwarz äußerte, dass sich dieses »Papier« gut in den BRD-Medien vermarkten ließ, da das die Leute in der BRD interessiert. Zum Vorgehen des Schwarz liegen darüber hinaus folgende Erkenntnisse vor: Im April 1986 kam es zur Kontaktaufnahme zwischen Schwarz und Lutz Rathenow. Rathenow bat Schwarz um Unterstützung im Zusammenhang seiner geplanten Reise nach Münster/BRD in Form entsprechender Veröffentlichungen in Medien der BRD. Im weiteren Verlauf kam es internen Feststellungen zufolge zu acht Treffen zwischen Rathenow und Schwarz. Im Inhalt der Gespräche wurden u. a. Probleme der Veröffentlichung des Buches »Ostberlin – die andere Seite einer Stadt« von Rathenow/Hauswald im PiperVerlag München/BRD, 9 eine von Rathenow beantragte Reise nach Schweden sowie Reiseabsichten anderer sogenannter Nachwuchsliteraten behandelt. 10 Hierbei brachte Schwarz zum Ausdruck, dass seine Arbeitsmöglichkeiten als Korrespondent in der DDR sehr eingeschränkt seien. Er sei außerdem sehr misstrauisch und würde genau abwägen, welche Probleme er für den »Spiegel« aufgreift, da ihm »das MfS sicher einiges zurückzahlen wolle« und er nicht über notwendige Möglichkeiten für Recherchen verfüge. Aus diesen Gründen hätte er u. a. auch über den U-Bahn-Brand 11 und den Fall »Meißner« 12 nichts veröffentlicht. es u. a., dass der Ereignisse erinnert werden müsse, dass die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen für Demokratie, Selbstbestimmung, Freiheit und die Überwindung der Teilung Europas eintreten und dass »die Erfahrungen der ungarischen Revolution von 1956 für uns ein bleibendes Erbe und eine Quelle der Inspiration« darstellen. 8 Vgl. Kampf für ein besseres, freieres Leben, in: Der Spiegel Nr. 43 vom 20.10.1986, S. 16. 9 Das Buch erschien erstmals 1987. Vgl. Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ostberlin. Die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern. München, Zürich 1987. Nach mehreren Auflagen erschien jüngst eine Neuausgabe: Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall. Mit einer Einleitung von Ilko-Sascha Kowalczuk. Berlin 2014. 10 Lutz Rathenow konnte aufgrund von Ablehnungen seitens SED/MfS keine dieser beantragten Reisen durchführen. Im Mai 1989 fuhr er erstmals nach Wien, anschließend unterlag er wieder einer generellen Reisesperre. 11 Am 7.5.1986 kam es zwischen den U-Bahnstationen Alexanderplatz und Klosterstraße in einem für den Fahrgastverkehr nicht genutzten Tunnel zu einem größeren Brand, über den die DDRMedien – weil Zehntausende wegen der zeitweiligen Sperrung des Abschnitts betroffen waren – am nächsten Tag berichteten. In den nachfolgenden Wochen und Monaten ist in bundesdeutschen Medien spekuliert worden, ob es sich nicht tatsächlich um einen Massenfluchtversuch gehandelt habe, der blutig vereitelt worden sei. Auch der »Spiegel« berichtete später darüber, verwies solche Behauptungen aber ins Reich der Legenden. Vgl. Recht auf Neugier. Feuer im Ostberliner U-Bahn-Tunnel – ein Unfall oder ein Flüchtlingsdrama?, in: Der Spiegel Nr. 28 vom 28.7.1986, S. 83–84. 12 Am 9.7.1986 wurde der Wirtschaftswissenschaftler, Professor, Akademiemitglied und stellv. Generalsekretär der AdW, Herbert Meißner (geb. 1927), in West-Berlin beim Kaufhausdiebstahl erwischt. Anschließend entwickelte sich daraus eine deutsch-deutsche Staats- und Geheimdienstaffäre u. a. deswegen, weil Meißner zunächst mit bundesdeutschen Diensten zusammenarbeitete und offenbar suggerierte, er wolle in der Bundesrepublik bleiben. Vgl. dazu Karl Wilhelm Fricke: Die Affäre Meißner – ein Fall MfS (1986), in: ders.: Der Wahrheit verpflichtet. Texte aus fünf Jahrzehnten zur
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Am 15. Mai 1986 lud Schwarz den Hirsch, Ralf (Abt. XII: BV Berlin XX) 13 zu einem Abendessen in das Hotel »Metropol« ein, wo er erklärte, dass er auch zukünftig alle Aktionen der sogenannten DDR-Opposition unterstützen werde. Im Mittelpunkt dieser Aktivitäten des Schwarz steht gegenwärtig die Person Templin, Wolfgang (Abt. XII: HA XX/2), zu dem Schwarz operativ nachweisbar seit dem 29. Mai 1986 persönlichen Kontakt unterhält und diesen ständig intensiviert. Im Rahmen der Verbindung zu Templin sind nachstehende Aktivitäten des Schwarz erkennbar: – sicherte Templin seine volle Unterstützung bei dessen negativ-feindlichen Handlungen zu, – führt mit Templin konkrete Absprachen über Aktivitäten feindlichnegativer DDR-Personen im Sinne politischer Untergrundtätigkeit, – lässt sich von Templin stets über alle geplanten und laufenden Aktivitäten informieren, um diese Informationen dann journalistisch verwerten zu können, – unterstützt Templin unter Ausnutzung seines Korrespondentenstatus bei der Informationsbeschaffung zu interessierenden Problemen. Schwarz inspirierte Templin zur Erarbeitung eines Artikels über den ehemaligen DDR-Bürger von Berg, Hermann. 14 Zu diesem Zweck stellte er Templin von Bergs Veröffentlichungen in der BRD zur Verfügung und beriet ihn bei der Abfassung des Artikels. Zur Veröffentlichung (»Spiegel« Nr. 38 vom 15.9.1986) fügte Schwarz einen kurzen Lebenslauf über Templin sowie Fotografien bei, 15 die er bei einem Besuch bei Templin am 20.8.1986 gefertigt hatte. Templin wurde von Schwarz für den Artikel ein Honorar von Geschichte der DDR. Wiss. Bearbeiter: Ilko-Sascha Kowalczuk. 2. Aufl., Berlin 2000, S. 486–492. Allerdings erschien auch im »Spiegel« zeitnah ein Bericht. Vgl. Wie auf einer Bühne. Staatsaffäre um einen geklauten Brauseschlauch: Ein DDR-Professor wollte westwärts und wieder zurück, in: Der Spiegel Nr. 30 vom 21.7.1986, S. 76–78. In der DDR ist erklärt worden, Meißner sei vom bundesdeutschen Geheimdienst entführt worden (ND vom 16.7.1986; 17.7.1986; 19.7.1986). Er kehrte am 21.7.1986 nach Ost-Berlin zurück (ND vom 22.7.1986). Nach seiner Rückkehr in die DDR verblieb er an der AdW, wurde aber de facto seiner Ämter enthoben. 13 Der Hinweis in Klammern bezieht sich auf die Zuständigkeit der damals für die »Bearbeitung« der vorher genannten Person verantwortlichen MfS-Diensteinheit. 14 Hermann von Berg (geb. 1933) war in den 1960er/1970er Jahren von der DDR-Seite als Unterhändler an Verhandlungen mit der Bundesregierung beteiligt. Neben Funktionen im Staatsapparat war er seit 1972 Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1959–1980 war er als IM der HV A erfasst. 1978 kam er wegen des »Manifests der SED-Opposition« (vgl. Dominik Geppert: Störmanöver. Das »Manifest der Opposition« und die Schließung des Ostberliner »Spiegel«-Büros im Januar 1978. Berlin 1996) für 3 Monate in Stasi-Untersuchungshaft. Im Mai 1986 reiste er in die Bundesrepublik aus, nachdem er 2 Buchmanuskripte mit scharfer Kritik an den DDR-Verhältnissen in die Bundesrepublik geschmuggelt hatte. 15 Vgl. Wolfgang Templin: Ausreise ist kein aktiver Widerstand. Der DDR-Regimekritiker Wolfgang Templin über Hermann von Bergs »Marxismus-Leninismus«, in: Der Spiegel Nr. 38 vom 15.9.1986, S. 57–60. Dieser Text stellte eine scharfe Kritik an den Thesen von Bergs dar.
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2 000 DM übergeben. Während einer Geburtstagsfeier am 25.11.1986 bei Wolfgang Templin trat Schwarz mit solchen Verhaltensweisen auf, dass bei den anwesenden Personen der Eindruck entstehen musste, dass er für jeden von ihnen als Helfer und Unterstützer infrage käme. Schwarz verteilte großzügig seine Adresse und Telefonnummer für den Fall, seine Hilfe würde benötigt. In mehreren Gesprächen legte er detailliert dar, welche Art Aktionen von Personen der politischen Untergrundtätigkeit sich für die Berichterstattung in den westlichen Medien besonders eignen würden. Im Vorfeld der gerichtlichen Verhandlungen gegen XXX informierte Schwarz den Templin über die Ergebnisse seiner Recherchen aus den von ihm geführten Gesprächen mit dem Konsistorialpräsidenten [Manfred] Stolpe und dem Rechtsanwalt [Gregor] Gysi. Zu der am XXX stattgefundenen Gerichtsverhandlung gegen XXX erschien Schwarz gemeinsam mit Vertretern politischer Untergrundtätigkeit in der Absicht, an der Verhandlung teilzunehmen. Sie wurden am Stadtgericht Berlin-Pankow abgewiesen. 16 Bei einer Zusammenkunft am 3.2.1987 in der Wohnung des Templin äußerte Schwarz die Absicht, einmal aufzuzeigen, wie der »Sicherheitsapparat« und die Regierung der DDR die eigenen Gesetze in Bezug auf die Menschenrechte handhabt. Er habe zu der Problematik ein paar Beispiele. Weiterhin äußerte Schwarz, dass nach seiner Meinung die Haltung des Genossen [Michael S.] Gorbatschow die Nachfolge des Genossen [Erich] Honecker beeinflussen werde. Schwarz habe sich bereits in Hamburg (vermutlich »Spiegel«-Redaktion) zu diesem Thema geäußert und erklärte gegenüber dem Templin, er wolle nur beschreiben, wie das alles auf die DDR wirke. Seiner Meinung nach beinhalte die gesamte Problematik eine Brisanz, die überhaupt noch nicht abzusehen sei. Nach der Übersiedlung des operativ bekannten ehemaligen DDR-Bürgers Alexander Anderson 17 in die BRD (August 1986) führte Schwarz am 22.8.1986 in der Filiale des »Spiegel«-Büros in Westberlin das bereits vor der Übersiedlung mit ihm vereinbarte Interview. Während dieses Gesprächs ver16 Zum Hintergrund: Öffentlichkeitswirksam hatte eine Person in Ost-Berlin in unmittelbarer Nähe der Mauer gegen diese einfallsreich protestiert. Westliche Journalisten dokumentierten die Aktion. Aber auch das MfS war zugegen und nahm die Person fest. In der Gerichtsverhandlung wurde ein Strafmaß von einem Jahr und 9 Monaten Gefängnis verhängt. Oppositionelle protestierten dagegen (Brief vom 1.11.1986 an Erich Honecker, unterzeichnet u. a. von Ludwig Mehlhorn, Stephan Bickhardt, Ulrich Stockmann, Reiner Flügge, Rainer Eppelmann, Lutz Rathenow, Martin Böttger, Gerd Poppe, Peter Grimm, Carlo Jordan, Wolfgang Templin, Ulrike Poppe, Siegbert Schefke, Gerold Hildebrand. BStU, MfS, AOP 17375/91, Bd. 23, Bl. 11–13). Bischof Forck sicherte zu, dass er sich nach einer Entlassung auf Bewährung um die Person kümmern würde. Sie kam deshalb unmittelbar nach der Gerichtsverhandlung auf Bewährung frei. Sie hat zudem den Protest gegen die Mauer in einer theologischen Examensarbeit erneuert. Diese ist teilweise veröffentlicht worden. Eine Nennung des Namens erfolgt aufgrund einer Bitte der betroffenen Person nicht. 17 IM des MfS. Bekannt unter dem Vornamen Sascha, der russischen Koseform von Alexander.
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suchte Schwarz, den Anderson durch einen Vergleich mit [Wolf] Biermann aufzuwerten. Das »Interview« erschien am 25.8.1986 im »Spiegel«. 18 Neben den engen Kontakten zu Hirsch und Templin bestehen stabile Verbindungen zu Pfarrer [Rainer] Eppelmann, den Schwarz einerseits zur Informationsgewinnung über kirchliche Probleme nutzt und andererseits aber auch zu feindlich-negativen Aktivitäten inspiriert. So stand beim Gespräch am 19.12.1986 von Eppelmann und Schwarz u. a. der Aufbau einer »Gesprächsreihe« zwischen Vertretern der Kirchenleitung der evangelischen Kirche sowie Vertretern der »Basis« mit westlichen Journalisten [im Mittelpunkt]. Nach Vorstellungen von Eppelmann soll diese »Gesprächsrunde« ab 1987 durchgeführt werden. Schwarz sagte seine Unterstützung zu und erklärte sich bereit, die Leitung dieser »Gesprächsrunde« zu übernehmen. Er tue es jedoch ungern, weil man bei ihm »sehr viel skeptischer« sein wird. Sollte der ARDKorrespondent [Hans-Jürgen] Börner die Leitung nicht übernehmen, wolle 18 Das Interview erschien tatsächlich erst am 1.9.1986 im »Spiegel« Nr. 36, S. 74–78, unter der Überschrift »Die Generation nach uns ist freier. Der DDR-Lyriker und Liedermacher Sascha Anderson über die ostdeutsche Kulturszene«. Anderson arbeitete seit 1975 unter mehreren Decknamen als IM für das MfS, auch nach seiner fingierten Übersiedlung im August 1986 nach West-Berlin. Er zählte zu den wichtigsten IM des MfS innerhalb der Kunst- und Oppositionsszene. Wolf Biermann brachte die IM-Tätigkeit öffentlichkeitswirksam ans Tageslicht. Vgl. Wolf Biermann: Der Lichtblick im grässlichen Fatalismus der Geschichte. Büchner-Preis-Rede, in: ders.: Der Sturz des Dädalus. Köln 1992, S. 48–63, spez. S. 56. Anderson hat sich mehrfach zu seiner IM-Tätigkeit geäußert, fast immer abwiegelnd, siehe nur seine »Autobiographie«: Sascha Anderson. Köln 2002. In dem Interview, das sich unter dem Eindruck seiner 15-jährigen aktiven und überaus umfangreichen IM-Tätigkeit interpretieren lässt, hieß es u. a.: »Anderson: Ich habe Mitte Juni einen Ausreiseantrag gestellt, nach sechs Wochen wurde er genehmigt, nach acht Wochen war ich ausgereist. Spiegel: ›Normale‹ DDR-Bürger träumen von solchen Fristen. Anderson: Ja. Ich war, kurz gesagt, nicht normal. Spiegel: Die DDR war froh, Sie loszuwerden? Anderson: Ja, weil die DDR auch nicht normal ist.« Weitere Passagen bezogen sich auf seine Sicht auf das Künstlerleben in der DDR, seine Verweigerung gegenüber dem dortigen offiziellen Kunstbetrieb und seine Wahrnehmung des kaputten DDRSystems. Darunter fiel die These von den »Funktionären im Widerstand«, die er auch als Rock-Text verarbeitete, der im gleichen Heft des »Spiegels« abgedruckt wurde sowie eine Passage, die zwar auf seine künstlerische Arbeit bezogen war, sich aber angesichts der erst Jahre später wieder zusammengepuzzelten IM-Akten ganz eigen interpretieren lässt: »Anderson: Mir ging’s nicht darum, dass mich Leute kennen. Mir ging’s darum, dass ich Leute kenne, mit denen ich zusammenarbeiten kann, und dass diese Zusammenarbeit auch dokumentiert wird. Ich bin mehr ein archivarischer Typ. Ich ging davon aus, dass die Arbeit, die ich mache, in Archivform vorhanden ist als Angebot an die Gesellschaft, aber nie ein großes Publikum erreicht.« Letztlich endet das Interview mit folgender Prognose zur eigenen Rolle im Westen: »Spiegel: Was erwarten Sie eigentlich im Westen? Anderson: Ich glaube nicht, dass es hier so anders ist. Ich kann mir vorstellen, dass ich hier genauso frei arbeiten kann wie im Osten, vielleicht unter anderen ökonomischen Bedingungen – das ist mir klar. Wenn die ersten Wochen Medienboom vorbei sind, dann bin ich niemand. Und mit dem ›niemand‹ möchte ich ganz glücklich leben. Zehn Tage Rummel, und dann die Anonymität. Diese Anonymität brauche ich, um zu arbeiten. Die hatte ich im Osten verloren.«
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Schwarz die Frage der Verantwortlichkeit für die »Gesprächsführung« an den epd-Korrespondenten [Hans-Jürgen] Röder herantragen. Nach Meinung von Schwarz sei es dem Röder als epd-Vertreter unauffälliger möglich, solche Gespräche zu führen. Schwarz wäre unbedingt für eine solche »Gesprächsrunde« und würde jederzeit seine Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Während eines Gesprächs am 30.1.1987 zwischen Schwarz und Eppelmann standen solche Themen im Mittelpunkt wie – eine angebliche Anweisung an sämtliche DDR-Presseorgane zur Verfahrensweise bezüglich der Berichterstattung über die Entwicklung in der UdSSR, – die Vorbereitung eines Interviews von Schwarz mit Bischof [Gottfried] Forck zur Thematik »Funktion der evangelischen Kirche in der DDR« 19, – der angebliche Zusammenbruch der Währung der DDR. Dabei berichtete Schwarz, dass er am 29.1.1987 eine Unterredung mit Konsistorialpräsident Manfred Stolpe zu dem geplanten Interview zu o. g. Thematik mit Bischof Forck hatte. Zentraler Punkt des geplanten Interviews soll die »Funktion der Kirche« sein. Schwarz äußerte, dass es ihm darum gehe, die Frage zu behandeln, inwieweit die evangelische Kirche in der Lage ist, die »Herausforderung anzunehmen, als einzige Institution für Menschen, die keine Christen sind, aber eine gesellschaftskritische Funktion hier (in der DDR) einnehmen, einen Raum bieten zu können«. Hinsichtlich der Realisierbarkeit des Vorhabens zeigte er sich optimistisch, da man das Gespräch »wohl im Moment nicht verbieten kann«. Schwarz machte Eppelmann darauf aufmerksam, den Fakt des geplanten Interviews nicht herumzutragen, weil er – nicht will, dass seine »Presse«-Kollegen davon erfahren und – die Befürchtung hat, dass zum Beispiel der Vorsitzende des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Bischof Werner Leich, »unter Umständen versucht, das Interview kaputtzumachen, falls er zu früh davon erfährt«. Schwarz unterstrich, er wolle aber nicht mit Leich, sondern mit Forck reden, weil er sich davon mehr verspreche. Im weiteren Gesprächsverlauf übergab Schwarz dem Eppelmann eine Geldsumme als »Spende für Hungrige« und meinte, er habe genug Geld. Eppelmanns könnten mehr damit anfangen und weshalb solle immer die Staatsbank der DDR das »Westgeld« erhalten.
19 Vgl. das bemerkenswerte Interview: Wir sind eine unabhängige Vertrauensinstanz. Der Ostberliner evangelische Bischof Gottfried Forck über Staat und Kirche in der DDR, in: Der Spiegel Nr. 21 vom 18.5.1987, S. 76–92.
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Dokument 12 Bericht zu den Vorstellungen eines ehemaligen DDR-Bürgers zur Gestaltung politischer Untergrundtätigkeit gegen die DDR (Originaltitel) 26. März 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/5 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 7a, Bl. 213–217
Durch den gezielten Einsatz inoffizieller Quellen wurden Hinweise erarbeitet, wie sich der in Westberlin lebende und als Exponent politischer Untergrundtätigkeit in der DDR bekannte Jahn, Roland, geb. 14.7.1953, wh.: 1000 Berlin 36, Görlitzer Str. 66, Tel.: 618XXX, die Aktivitäten feindlich-negativer Gruppierungen in der DDR vorstellt. Die vorliegenden Hinweise basieren in ihrer Gesamtheit ausschließlich auf Aussagen von Jahn selbst und bedürfen deshalb des unbedingten Quellenschutzes. 1 Im Rahmen seiner Vorstellungen offenbarte sich Jahn im Beisein einer inoffiziellen Quelle 2 zu folgenden Details: – Wie kann man eine Opposition gegen den Staat schaffen? – Wie muss die »Öffentlichkeitsarbeit« aussehen? – Welche Themen sind für die Schaffung eines »wirklichen Untergrundes« notwendig? – Wer sind geeignete Zielgruppen für diese Aktivitäten? – Welche Fehler wurden durch Vertreter der »unabhängigen Friedensbewegung« in der DDR in der Vergangenheit begangen? Diese konzeptionellen grundsätzlichen Vorstellungen Jahns sind den maßgeblichen Vertretern feindlich-negativer Gruppierungen der DDR, insbesondere in der Hauptstadt der DDR, vollinhaltlich bekannt. Es kann jedoch nicht eingeschätzt werden, welche Resonanz sie in diesen Kreisen finden. Es ist lediglich bekannt, dass sie offenbar diskutiert und unterschiedlich bewertet werden. Prinzipiell geht Jahn davon aus, dass die im Monat Januar 1987 entwickelten Aktivitäten der feindlich-negativen Gruppierungen »Charta 77« in der ČSSR und die dazu veröffentlichten Schriften speziell für alle feindlichnegativen Kräfte in der DDR eine Art Anleitung zum Handeln darstellen. 3 1 Es handelt sich hier um Informationen, die aus Abhörmaßnahmen gewonnen wurden. 2 Auch diese Formulierung ist eine Umschreibung dafür, dass die Erkenntnisse aus den Abhöraktionen gewonnen wurden. 3 Mit Datum vom 1.1.1987 veröffentlichte die »Charta 77« »Ein Wort an die Mitbürger«. Darin forderten die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, sich »endlich von unserer bequemen Ergebenheit an das Schicksal« zu befreien. »Wozu wir hier aufrufen,
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Von diesen Aktivitäten müssen die vergleichbaren Kräfte in der DDR »unbedingt lernen«. 4 In ihrem »Appell« hätten die Mitglieder der »Charta 77« eine Frage und einen Ton gefunden, die sich direkt an die eigene Bevölkerung wenden und nicht, wie in der DDR häufig der Fall, von dieser abheben. Es sei durch die Vertreter der »Charta 77« eine Sprache gefunden worden, die einerseits das Anliegen der »Charta 77« verdeutlicht und andererseits die Probleme der ČSSR-Bevölkerung genau treffen. Damit werde erreicht, dass gezielt die Frage nach gesellschaftlichen Veränderungen gestellt wird. Genau um diese Frage geht es Jahn bei künftigen Aktivitäten der »Untergrundgruppen« in der DDR. Bisher wäre durch die entsprechenden Kräfte in der DDR diese Frage in keiner Weise aufgeworfen, geschweige denn konkret gestellt worden. Obwohl Jahn in Rechnung stellt, dass es für ihn von Westberlin aus schwierig ist, in dieser Richtung etwas zu unternehmen bzw. entsprechende Aktivitäten »sachkundig« zu beeinflussen, müssten die Aktivitäten und Maßnahmen der feindlich-negativen Kräfte in der DDR auf die Schaffung von Ansatzpunkten für eine gezielte Einwirkung auf die Bevölkerung der DDR, zumindest bestimmter Teile, ausgerichtet werden. Es gäbe zwar ein paar gute Ansätze. Jedoch würden nicht alle Möglichkeiten »zur gesellschaftlichen Einwirkung« gesucht. Es sei dabei nicht so sehr die Frage, ob es welche gibt, sondern vielmehr deren Suchen, dem sich gezieltes Probieren und Erzwingen (gesellschaftlicher Veränderungen) anschließen müsse. Es sollte sich genau überlegt werden, welche Wege gegangen werden können in Richtung eines »Demokratisierungsprozesses«. Nicht eines »Demokratisierungsprozesses«, der von irgendwo verordnet wird, sondern um Aktivitäten, in deren Rahmen die Bevölkerung des Landes diesen »Demokratisierungsprozess« erlernen muss. Als Beispiel sieht Jahn dabei die Vorgänge in der VR Polen an, in denen die Menschen über einen längeren Zeitraum »gelernt« haben, sich zu artikulieren. 5 Genau dort sieht Jahn den entscheidenden Ansatzpunkt sowohl der Beispielwirkung als auch für die Thematisierung von Problemen. ist nichts anderes und nicht mehr als der Mut, zum Bürger im vollen, schöpferischen und stärksten Sinne des Wortes zu werden. Ohne die Bürger gibt es keine Demokratie und wird es sie nie geben.« Das umfangreiche Papier enthielt eine Reihe von ganz konkreten Möglichkeiten, in der Diktatur wahrhaftig und aufrecht zu leben. Vgl. das komplette Dokument »Ein Wort an die Mitbürger« der Charta 77 in: FAZ vom 7.1.1987, S. 4. Im »Grenzfall« ist das Dokument auszugsweise abgedruckt worden. Vgl. Grenzfall 1/1987, in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 25. 4 In einem Brief an die »Charta 77« bekannten sich Mitglieder der IFM sowie »Engagierte in der Friedensbewegung« dazu, dass die Charta »Ermutigung und Quelle der Inspiration« darstellte und darstelle. Vgl. Brief an die Charta 77, in: Grenzfall 2/1987, in: Hirsch; Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall, S. 29–30; teilweise abgedruckt in: taz vom 13.1.1987, S. 6. 5 Aus der umfangreichen Literatur siehe den verlässlichen und umfangreichen Überblick bei Wlodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010.
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Dokument 12 vom 26. März 1987
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In der Vergangenheit sei es in der DDR doch so gewesen, dass derartige Probleme nur in »Insiderkreisen« diskutiert wurden und die Frage der Öffentlichkeit in der DDR völlig ausgeklammert war. Man müsse einmal überlegen, ob in den Fragen der »Öffentlichkeitsarbeit« überhaupt alle Möglichkeiten gesucht und genutzt würden. Besonders deutlich sei die fehlende Basis in der Öffentlichkeit bei der Eingabe feindlich-negativer Kräfte an den XI. Parteitag der SED geworden. 6 Auch sie wurde nur im kleinen Kreis diskutiert, obwohl gerade sie eine Basis in der Öffentlichkeit hätte bieten können. Die entsprechenden Foren lägen natürlich nicht auf der Straße, sondern müssten geschaffen werden. Deshalb geht Jahn von der Grundposition aus, dass man sich dabei völlig von den Strukturen des Staates distanziert, da der Staat mit seinen Strukturen bereits selbst die entsprechenden Foren bietet. Nach Ansicht Jahns müsse man sich, um eine bestimmte Unabhängigkeit zu wahren, von SED und FDJ sowie anderen eng mit Partei und Staat verbundenen Organisationen lösen. Es gebe genug andere Foren, die zwar auch von SED und FDJ beeinflusst seien, aber für jedermann »offen« sind und die Möglichkeit bieten, sich zu artikulieren. Dort werde auch wahrgenommen, was es an Diskussionen u. Ä. gibt und wo die Menschen auch bereit sind umzudenken. Am deutlichsten sei dies in der Umweltproblematik am Beispiel Tschernobyl 7 geworden. In diesem konkreten Fall hätten sich Menschen aus den ver6 Die »Offene Eingabe an die SED vom 2. April 1986« stellte eine scharfe Kritik an der SEDHerrschaft dar. Sie ist komplett veröffentlicht in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 189–200. Die Liste der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner findet sich ebendort. Sie ist in westlichen Medien ausführlich behandelt und z. T. auszugsweise nachgedruckt worden (vgl. ebenda, S. 189, Anm.). Innerhalb der Opposition kam es im Anschluss zu heftigen Debatten (siehe ebenda). Thomas Klein hat diese Debatten als Beteiligter und Kritiker dieser Eingabe dargestellt. Vgl. Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 251–257. 7 Am 26.4.1986 kam es im Reaktorblock 4 des ukrainischen Atomkraftwerks Tschernobyl zum Super-Gau. Daraufhin kam es auch in der DDR – obwohl die SED-Führung den Unfall bagatellisierte und zugleich die Gefahren für die ostdeutsche Gesellschaft herunterspielte – zu vielen nichtöffentlichen Debatten über die aktuellen sowie die prinzipiellen Gefahren der Atomenergie. Die kleine Antiatomkraftbewegung in der DDR, vor allem in Stendal um Erika Drees (1935–2009, vgl. zu der vielschichtigen Biografie: Edda Ahrberg: Erika Drees. Ein politischer Lebensweg. Halle/S. 2012) erhielt nun spürbaren Rückenwind durch breitere gesellschaftliche Kreise. Es sind zudem mehrere oppositionelle Aufrufe und Eingaben gegen die Atomenergie an staatliche und Parteistellen gerichtet worden, so z. B. eine »Willenserklärung« mit der Forderung nach einer Volksabstimmung aus dem Umfeld der IFM (vgl. Grenzfall 1/1986, in: Hirsch; Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall, S. 4) oder der Aufruf »Tschernobyl wirkt überall. Appell aus der unabhängigen Friedens- und Ökobewegung und anderer betroffener Bürger an die Regierung und Bevölkerung der DDR« aus dem Umfeld der »Gegenstimmen« (das Dokument in: BStU, MfS, HA XX/AKG 156, Bl. 120–127; vgl. dazu u.a. Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«, S. 261–267). Die öffentliche, kritische Debatte über die Folgen von Tschernobyl in der DDR ist vor allem – abgesehen von den bundesdeutschen Medien – durch belletristische Werke befördert worden. Vgl. u. a. Christa Wolf: Störfall.
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Dokument 12 vom 26. März 1987
schiedensten Bereichen an Diskussionen und Aktivitäten beteiligt. Jahn stellt in Rechnung, dass diese breite Resonanz der Thematik »Tschernobyl« vor allem dadurch erreicht wurde, weil alle selbst davon betroffen waren und dies bei einem angestrebten »Demokratisierungsprozess mit gesellschaftlichen Veränderungen« nicht so ist bzw. bewertet wird. Er geht aber davon aus, dass es der völlig falsche Weg ist, anzufangen die Menschenrechtsproblematik abgehoben von der Realität zu zitieren. Die Menschenrechtsproblematik muss, so Jahn, im Zusammenhang mit den realen Problemen, die existieren, diskutiert werden. Wenn Umwelt und Menschenrechte zusammengenommen werden, dann könne auch den Menschen klar gemacht werden, um was es eigentlich geht. Bei der »Friedensproblematik« sei das schon immer deutlich gewesen, nur wäre dieser Weg nie richtig beschritten worden. Es dürfe auf keinen Fall der Fehler begangen werden, den Begriff Menschenrechte vordergründig zu verwenden. Dieser Begriff sei abgedroschen und wirke für viele schon abschreckend (deshalb verwende Jahn selbst diesen Begriff überhaupt nicht). Gerade wenn man Bündnisse suche, müsse man sagen: Es existieren Probleme in der Welt oder in diesem Staat; wir wollen nach Möglichkeiten suchen, diese zu bewältigen – dazu müssen wir das und das einfordern, da es ein Menschenrecht ist. Man brauche nicht jeden Tag den Begriff Menschenrechte zu betonen, wenn man über Informationen zu bestimmten Vorgängen verfügt oder solche erhalten will, sondern man muss betonen, dass – man etwas weiß oder etwas wissen will, – man etwas dazu sagen will, – man sich diesbezüglich zusammenfinden will u. Ä. Damit würden die Vorstellungen klarer und man erreiche die Menschen und diese würden »bewusster«. Dies sei am Aufgreifen der gesamten »Reiseproblematik« in der jüngsten Vergangenheit sehr deutlich geworden. Es ist nach der Auffassung Jahns ein unbedingtes Erfordernis, die in der Gesellschaft der DDR wirkenden Mechanismen genau zu analysieren. Wenn man weiß, wie diese Mechanismen funktionieren, muss man sich diese bewusst machen und sie verändern. Unabdingbare Voraussetzung dafür sei, in den Mechanismus und Strukturen des Staates und im Rahmen eines langen Prozesses in diesem Sinne zu wirken. Es nütze keinem etwas, als »Gärtner« zu arbeiten und dadurch abseits jeder »Struktur« Veränderungen herbeiführen zu wollen. Es könne zwar durchaus diese »Gärtner« geben, die Zeit haben, was anderes zu machen – es müssen aber Einzelerscheinungen bleiben. 8 Jahn legte Nachrichten eines Tages. Berlin, Weimar 1987; Hanns Cibulka: Wegscheide. Tagebucherzählung. Halle, Leipzig 1988 sowie dessen frühere Bücher: Swantow. Die Aufzeichnungen des Andreas Flemming. Halle, Leipzig 1982; Seedorn. Tagebucherzählung. Halle, Leipzig 1985. 8 Es war in der DDR in systemkritischen Kreisen verbreitet, entweder in kirchlichen Strukturen zu arbeiten oder aber Jobs wie Gärtner, Essensausträger, Nachtwächter, Friedhofsarbeiter, Pförtner etc. anzunehmen, um damit einerseits in der offiziellen Hierarchie in der niedrigsten Stufe zu arbeiten
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Dokument 12 vom 26. März 1987
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bei diesen Vorstellungen Wert darauf, nicht missverstanden zu werden, indem er dazu auffordere, der SED beizutreten. Vielmehr geht es ihm darum klarzumachen, dass außerhalb der SED eine politische Kraft geschaffen werden muss, die wahr und ernst genommen wird. Es ist nach Auffassung Jahns auch in der DDR eine solche »moralische Institution« zu schaffen, wie sie die »Charta 77« in der ČSSR bereits darstellt. Diese »moralische Institution« habe sich als eine Autorität zu profilieren, deren aufgegriffene und thematisierten Probleme auch vom Staat aufgenommen werden müssen. Dies sei jedoch nicht über die »moralischen Institutionen« von Schriftstellern, in Insiderkreisen oder geschlossenen Kirchenräumen möglich. Durch eine solche »Institution« müssten nicht zuletzt auch solche Möglichkeiten und Bedingungen geschaffen werden, dass auch Jahn wieder in die DDR zurückkehren kann. Jahn liegt viel daran, gegenüber jedermann zu verdeutlichen, dass sich nicht auf den innenpolitischen Kurs des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Michail Gorbatschow, festgelegt wird und damit große Hoffnungen für politische Veränderungen in der DDR verbunden werden. Eine solche Orientierung berge latent die Gefahr in sich, dass gewartet werde, ob von irgendwoher, irgendetwas kommt. Man müsse jedoch in jedem Fall erst einmal selbst Forderungen formulieren und kann dann (vielleicht) auf die Entwicklung in der Sowjetunion verweisen. Auch der neue politische Kurs in der UdSSR, so sehr ihn Jahn auch begrüße, habe in keiner Weise die Entscheidungskompetenz des sowjetischen Staates infrage gestellt. Das sollten sich auch die vergegenwärtigen, die »Selbstverwaltungsmodelle« (Jahn begrüßt diese) entwickeln, aber nicht die Frage stellen, ob die Menschen das überhaupt wollen oder wie man die Menschen dazu bringen kann, dass sie es wollen. Vor der Klärung dieser letzteren Frage stünden auch die »Gruppierungen« in der DDR. Für Jahn ist es unverständlich, wenn sich aktive und führende Mitglieder feindlich-negativer DDR-Gruppierungen 9 aus welchen Gründen auch immer aus diesen zurückziehen wollen oder eine Übersiedlung ins westliche Ausland in Erwägung ziehen. Dies schade der gesamten »Bewegung« und trage zu deren Zerfall, zumindest aber Zersplitterung bei. Dem gelte es deshalb in jedem Fall entgegenzuwirken. und so die größtmögliche offizielle Distanz zum Staat anzuzeigen und andererseits einer Verfolgung nach § 249 StGB (»asoziales Verhalten«) zu entgehen. Vgl. etwa Danuta Kneipp: Im Abseits. Berufliche Diskriminierung und politische Dissidenz in der Honecker-DDR. Köln, Weimar, Wien 2009; Sven Korzilius: »Asoziale« und »Parasiten« im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung. Köln, Weimar, Wien 2005; Dirk Moldt: Nein, das mache ich nicht! Selbstbestimmte Arbeitsbiografien in der DDR. Berlin 2010; Verena Zimmermann: Den neuen Menschen schaffen. Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945–1990). Köln, Weimar, Wien 2004. 9 Das war nicht die Sprache von Roland Jahn.
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Dokument 13 Analyse der festgestellten fernmündlichen Kontakte des ehemaligen DDR-Bürgers Roland Jahn (Originaltitel) 27. April 1987 Von: MfS, HA III Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 431–438
Im Zeitraum vom 1.1.1987 bis 31.3.1987 wurde eine Analyse der fernmündlichen Kontakte des ehemaligen DDR-Bürgers, Jahn, Roland, geb. 14.7.1953, wh.: 1000 Berlin 36, Görlitzer Str. 66, Tel.: 618XXX, vorgenommen. Diese Analyse beinhaltet im Wesentlichen alle Kontakte aus der Hauptstadt der DDR zu Jahn bzw. aus der BRD zu Jahn sowie Verbindungen des Jahn zu seinen ständigen Kontaktpartnern Templin, Wolfgang; Rathenow, Lutz; Hirsch, Ralf; XXX; Teichert, Rüdiger geb. Rosenthal 1; Suhr, Heinz; XXX; Eckart, Gabriele;2 Schwarz, Ulrich; Poppe, Gerd; Poppe, Ulrike; Rinke, Manfred; 3 Schnappertz, Jürgen; 4 Wolf, Frieder; Rölle, Peter; Horáček, Milan; Krenkers, Brigitte;5 Brückner, Reinhard 6. Bei diesen aufgeführten Personen handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nur um einen Teil der Personen, zu denen Jahn Verbindungen unterhält, sodass aus den gewonnenen Angaben keine absolute Aussage über den personellen oder quantitativen Umfang seiner Kontakte zu treffen ist. Erkennbar ist jedoch, dass seine Kontakte relativ kontinuierlich über alle Wochentage verteilt sind, wobei bei der Abforderung be1 D.i. Rüdiger Rosenthal, verh. Teichert. 2 Gabriele Eckart (geb. 1954), studierte Philosophie an der HUB, war vom MfS als IM »Hölderlin« erfasst, dekonspirierte sich, wurde anschließend von der Stasi in einer OPK und einem OV verfolgt. 1984 erschien ihr aufsehenerregendes Buch: So sehe ick die Sache. Protokolle aus der DDR. Leben im Havelländischen Obstanbaugebiet. Köln 1984. Einen Besuch der Frankfurter Buchmesse 1987 nutzte sie zum Daueraufenthalt im Westen (die DDR-Staatsbürgerschaft wurde ihr nicht aberkannt). 1988 ging sie in die USA, wo sie die akademischen Titel M.A. und Ph.D. erlangte und seither neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit als Hochschuldozentin tätig ist. 3 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 4 Jürgen Schnappertz (geb. 1949), Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der Grünen, u. a. mit dem Themengebiet Deutschlandpolitik, unterhielt Kontakte zur Opposition in der DDR; nach 1989 u. a. Mitarbeiter in der SPD-Bundestagsfraktion und ab 2002 stellv. Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium. 5 Brigitte Krenkers (geb. 1956), engagiert im »Initiativkreis Volksentscheid gegen Atomanlagen« und Mitbegründerin des »Omnibus für direkte Demokratie«. 6 D. i. Reinhard Schult – er telefonierte mit Roland Jahn vom Telefonanschluss seiner Mutter, die zu diesem Zeitpunkt Brückner hieß. Hier wird beispielhaft deutlich, dass die Erkenntnisse des MfS gerade im Zusammenhang mit Abhöraktionen nicht immer zusammen passten: Die Kombination des Zunamens der Anschlussinhaberin mit dem Vornamen der über diesen Anschluss telefonierenden Person führte zu nicht zutreffenden Annahmen bzw. Rückschlüssen.
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Dokument 13 vom 27. April 1987
stimmter Materialien durch Jahn von DDR-Bürgern und im Zusammenhang mit laufenden Aktionen eine Häufung von Kontakten zu einzelnen, für ihn wichtigen Kontaktpartnern, zu verzeichnen ist. Weiterhin wird deutlich, dass er an Wochentagen den größten Teil seiner Kontakte zwischen 11.00–14.00 Uhr und 17.00–00.00 Uhr abwickelt. Außerhalb dieser Zeiten ist er jedoch gleichfalls häufig in seiner Wohnung erreichbar, was dafür spricht, dass er in seiner eigenen Wohnung »arbeitet« und sich dabei ein relativ festes Zeitregime zugelegt hat. Aus dem Inhalt der in der Anlage aufgeführten Kontakte wird gleichzeitig ersichtlich, dass Jahn neben diesen dort aufgeführten Kontakten auch noch Verbindungen zu einer nicht unbeträchtlichen Zahl von DDR-Bürgern unterhalten muss, die bisher personell nicht aufgeklärt werden konnten. Auffällig ist auch, dass bei Jahn, welcher für ein Hamburger Sozialforschungsinstitut tätig sein will, 7 im gesamten Analysezeitraum nicht ein einziger Kontakt nachgewiesen werden konnte, der einen Bezugspunkt zu einer möglichen beruflichen Tätigkeit Jahns beinhaltet. 8 Anlage Datum
Wochentag Uhrzeit
Aufenthaltsort des Jahn
Kontakt zu/von
2.1.1987
Freitag
22.28
WB
zu Templin, Wolfgang
4.1.1987
Sonntag
21.16
WB
zu Rathenow, Lutz
7.1.1987
Mittwoch
14.39
WB
zu Schwarz, Ulrich
7.1.1987
Mittwoch
23.33
WB
zu Templin
8.1.1987
Donnerstag 13.24
WB
zu Templin
8.1.1987
Donnerstag 21.29
WB
zu Templin
8.1.1987
Donnerstag 23.18
WB
zu Templin
9.1.1987
Freitag
WB
zu Hirsch, Ralf
09.43
7 Von 1985 bis 1987 erhielt Roland Jahn vom Hamburger Institut für Sozialforschung (gegründet 1984) ein Stipendium für das Forschungsprojekt »Opposition in der DDR«. Tatsächlich unterstützte das Institut damit Jahns politische Aktivitäten. 8 Aus dieser Passage wird deutlich, dass das MfS den Anschluss Jahns rund um die Uhr unter Kontrolle gehabt haben muss. Aus der tabellarischen Anlage wird zudem ersichtlich, dass neben dem Anschluss von Jahn bei einem Teil der Anrufe die angerufenen Nummern (z. B. »zu Templin«) in Ost- und West-Berlin sowie Bonn unter Stasi-Kontrolle standen.
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346 Datum
Dokument 13 vom 27. April 1987
Wochentag Uhrzeit
Aufenthaltsort des Jahn
Kontakt zu/von
12.1.1987 Montag
15.58
WB
zu Rathenow
13.1.1987 Dienstag
14.29
WB
zu Hirsch
13.1.1987 Dienstag
17.19
WB
zu Poppe, Ulrike
14.1.1987 Mittwoch
17.08
14.1.1987 Mittwoch
18.20
WB eigene Wohnung WB eigene Wohnung
14.1.1987 Mittwoch
23.06
von Vertretern der Grünen aus Bonn zu Schnappertz, Jürgen von unbekannten Personen aus der DDR
WB eigene Wohnung
15.1.1987 Donnerstag 13.06
WB
zu Wolf, Frieder
20.1.1987 Dienstag
13.15
WB
zu Hirsch
21.1.1987 Mittwoch
12.14
WB
zu Templin
22.1.1987 Donnerstag 13.30
WB
zu Hirsch
22.1.1987 Donnerstag 23.12
WB
zu Templin
WB eigene Wohnung WB eigene Wohnung
23.1.1987 Freitag
11.21
23.1.1987 Freitag
15.54
23.1.1987 Freitag
17.03
WB
zu Templin
25.1.1987 Sonntag
23.50
WB
zu Templin
26.1.1987 Montag
14.04
WB
zu Vertretern der Grünen in Bonn
27.1.1987 Dienstag
12.19
27.1.1987 Dienstag
12.22
29.1.1987 Donnerstag 14.27
WB eigene Wohnung WB eigene Wohnung WB eigene Wohnung
von Wolf von XXX
zu Templin von einer Angelika von Suhr, Heinz
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347
Dokument 13 vom 27. April 1987
Aufenthaltsort des Jahn
Kontakt zu/von
WB eigene Wohnung
von Bomberg, Karl-Heinz 9
31.1.1987 Sonnabend 16.31
WB
zu Templin
1.2.1987
Sonntag
14.51
WB
zu Templin
2.2.1987
Montag
19.49
WB eigene Wohnung
von XXX
5.2.1987
Donnerstag 18.35
WB
zu Schwarz, Ulrich
5.2.1987
Donnerstag 20.07
WB
zu Eckart, Gabriele
5.2.1987
Donnerstag 23.16
WB eigene Wohnung
von XXX
6.2.1987
Freitag
22.34
WB
zu Templin
8.2.1987
Sonntag
14.18
WB
zu Rathenow
9.2.1987
Montag
8.51
WB
zu Templin
9.2.1987
Montag
19.47
WB eigene Wohnung
von XXX
10.2.1987 Dienstag
15.20
WB
zu Suhr
13.2.1987 Freitag
20.53
WB
zu Rathenow
15.2.1987 Sonntag
16.02.
von Teichert, Rüdiger
15.2.1987 Sonntag
16.52
von XXX
18.2.1987 Mittwoch
12.47
WB eigene Wohnung WB eigene Wohnung WB eigene Wohnung
19.2.1987 Donnerstag 12.55
WB
zu Hirsch
20.2.1987 Freitag
12.43
WB
zu Hirsch
20.2.1987 Freitag
20.34
WB eigene Wohnung
zu XXX
Datum
Wochentag Uhrzeit
30.1.1987 Freitag
21.49
zu Templin
9 Der Arzt, Psychoanalytiker, Liedermacher und Autor (geb. 1955) ist viele Jahre bis 1989 intensiv vom MfS verfolgt und »bearbeitet« worden, hatte seit 1982 Auftrittsverbot und war 1984 3 Monate lang inhaftiert.
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348 Datum
Dokument 13 vom 27. April 1987
Wochentag Uhrzeit
Aufenthaltsort des Jahn
Kontakt zu/von
22.29
WB eigene Wohnung
21.2.1987 Sonnabend 09.07
WB eigene Wohnung
von Ralf (wahrscheinlich nicht Hirsch) von unbekanntem DDR-Bürger
25.2.1987 Mittwoch
11.31
WB
zu Hirsch
25.2.1987 Mittwoch
23.00
WB
zu Templin
25.2.1987 Mittwoch
23.36
WB eigene Wohnung
von Rölle, Peter
26.2.1987 Donnerstag 0.58
WB
zu Templin
2.3.1987
Montag
18.35
WB
zu Rathenow
3.3.1987
Dienstag
15.56
WB
zu XXX
4.3.1987
Mittwoch
12.44
WB
zu Wolf, Frieder
4.3.1987
Mittwoch
14.50
WB
4.3.1987
Mittwoch
18.39
WB
5.3.1987
Donnerstag 19.06
WB
20.2.1987 Freitag
zu Schnappertz, Jürgen zu Lölhöffel, Helmut zu Templin
6.–8.3.1987 Reise des Jahn nach Bonn und Amsterdam 8.3.1987
Sonntag
13.34
Bonn
zu Templin
8.3.1987
Sonntag
17.02
Bonn
zur »tageszeitung«
9.3.1987
Montag
18.48
WB eigene Wohnung
von Horáček, Milan
10.3.1987 Dienstag
10.27
WB
zu Hirsch
10.3.1987 Dienstag
18.50
WB eigene Wohnung
von Krenkers, Brigitte
10.3.1987 Dienstag
23.50
WB
zu Templin
12.3.1987 Donnerstag 11.06
WB
zu Hirsch
12.3.1987 Donnerstag 12.35
WB
zu Hirsch
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349
Dokument 13 vom 27. April 1987
Aufenthaltsort des Jahn
Kontakt zu/von
21.31
WB
zu Templin
21.3.1987 Sonnabend 19.47
WB
zu Rathenow
22.3.1987 Sonntag
19.41
WB
zu Rathenow
23.3.1987 Montag
13.35
WB
zu Templin
23.3.1987 Montag
15.39
WB
zu Templin
23.3.1987 Montag
16.43
WB eigene Wohnung
von Brückner, Reinhard 10
24.3.1987 Dienstag
10.43
WB
zu Schwarz
24.3.1987 Dienstag
13.36
WB
zu Hirsch
25.3.1987 Mittwoch
23.03
WB
zu Rathenow
25.3.1987 Mittwoch
23.41
WB
zu Poppe, Gerd
WB eigene Wohnung WB eigene Wohnung
von männl. Person aus Bonn
Datum
Wochentag Uhrzeit
20.3.1987 Freitag
26.3.1987 Donnerstag 14.20 26.3.1987 Donnerstag 22.50 27.3.1987 Freitag
von Rathenow
13.25
WB
zu Hirsch
28.3.1987 Sonnabend 11.13
WB
zu Rinke, Manfred
29.3.1987 Sonntag
23.11
WB
zu Rathenow
29.3.1987 Sonntag
23.44
WB
zu Poppe, Ulrike
31.3.1987 Dienstag
14.06
WB
zu Rathenow
31.3.1987 Dienstag
14.14
WB
zu Templin
10
D.i. Reinhard Schult – siehe Anm. 6.
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Dokument 14 Organisierung und Inspirierung feindlich-negativer Aktivitäten durch den Roland Jahn (Originaltitel) 28. April 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/5, HA XX/4, HA XX/2, HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 7a, Bl. 175–178
Durch Verbindungen einer inoffiziellen Quelle 1 wurden zuverlässig Hinweise dazu erarbeitet, wie der ehemalige DDR-Bürger Jahn, Roland gegen die DDR gerichtete Aktivitäten inspiriert und als Vermittler zwischen feindlichen Kräften im Operationsgebiet und feindlich-negativen DDR-Bürgern auftritt. So wurde festgestellt, dass Jahn durch einen nur mit dem Vornamen Wolfgang [handschriftlich:] (verm. Rüddenklau) bekannt gewordenen DDR-Bürger am 27.4.1987 gegen 2.00 Uhr befragt wurde, ob sein Grußtelegramm an den Kongress des »Initiativkreises Volksentscheid gegen Atomanlagen« in Stuttgart angekommen sei. 2 Nachdem Jahn dies bestätigte und angab, dass dieses Telegramm sehr positiv bewertet wurde, gab der Wolfgang folgenden Text an Jahn, welcher für die Veröffentlichung in der Tageszeitung (»taz«) bestimmt ist: »Anti-AKW-Gruppen in der DDR zum Jahrestag der Reaktorkatastrophe Ein bekannter jüdischer Witz berichtet über folgende Überlegung eines deutschen Juden: Ich bin Jude, wenn ich nicht stolz darauf bin, bin ich immer noch Jude. Also bin ich lieber gleich stolz darauf. So weit ist die DDR-weite Anti-AKW-Gruppe in der DDR noch nicht, die sich am 25.4. in den Räumen der Berliner »Umweltbibliothek« versammelt hatte. Immer noch bezeichnet sie sich als ›DDR-weite Gruppe‹ von Bürgern, 1 Die äußere Gestaltung des Dokuments lässt in Analogie zu vergleichbaren Dokumenten die Herkunft der Informationen aus abgehörten Telefonaten erkennen. 2 Im Mai 1986 ist von einem prominenten Initiativkreis ein »Volksentscheid gegen Atomanlagen« in der Bundesrepublik angeregt worden. Innerhalb eines Jahres unterschrieben den Aufruf für einen Volksentscheid über 580 000 Bundesbürgerinnen und -bürger. Der Kongress in Stuttgart fand vom 24. bis 25.4.1987 statt und hatte zum Ziel, eine »Europäische Initiative für direkte Demokratie« zu gründen. Laut MfS-Bericht las das Grußtelegramm der Ostberliner »Umweltbibliothek« der Tagungsleiter Lukas Beckmann vor. Roland Jahn nahm selbst aktiv an dem Kongress teil und bezeichnete sich als Mitglied/Sprecher einer Anti-AKW-Gruppe aus der DDR (MfS, HA XX/5, Information zu dem Kongress zur Gründung einer »Europäischen Initiative für direkte Demokratie« vom 24.4. bis 25.4.1987 in Stuttgart/BRD, 29.4.1987. BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 88–91; MfS, HA XX, Information über den Kongress »Europäische Initiative für direkte Demokratie« in Stuttgart/BRD, 6.5.1987. BStU, MfS, AOP 17375/91, Bd. 23, Bl. 251–255).
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Dokument 14 vom 28. April 1987
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die sich mit der Problematik der Atomenergie auseinandersetzen. Schon auf dem Seminar ›Konkret für den Frieden‹ in Leipzig, ein jährliches Forum der unabhängigen Friedensbewegung der DDR, war in der Gruppe Antiatomenergie ein Ausstiegsgesetz durchgesetzt und im Plenum bestätigt worden. Für den 25. April wurde eine Tagung von Vertretern der Anti-AKW-Gruppen der DDR angesetzt. Es war noch eine sehr kleine Runde von 25 Frauen und Männern, die sich in den Räumen der Galerien der Berliner Zionskirchgemeinde einfand, und selbst der Konsens über den Ausstieg schien zunächst wieder fraglich zu werden. Einer unserer Gegenexperten befindet sich im brieflichen und mündlichen Dialog mit den Vertretern der Atommafia und befürchtete, dass durch entschiedene Beschlüsse das Gesprächsklima gestört wird. Als aber dann sogar ein Telegramm an den Stuttgarter Gründungskongress der ›Europäischen Initiative für direkte Demokratie‹ diskutiert wurde, verließ er empört die Versammlung. Aber auch sonst war der Integrationsprozess äußerst kompliziert. Zwischen Norden und Süden, insbesondere zwischen Berlin, Sachsen und Thüringen gibt es große Unterschiede in der Akzentsetzung. Wenn die Berliner die Diskussion mit den Behörden zwar noch führen aber nach einer langen Reihe von Erfahrungen zunehmend lustloser, haben die Gruppen im Süden der DDR noch die Hoffnung, die Behörden zu Zugeständnissen oder sogar zum Ausstieg aus der Atomenergie bewegen zu können. Entsprechend verschieden ist auch die Arbeitsweise der Gruppen. Trotzdem wurde schließlich das erwähnte Telegramm an die ›Europäische Initiative für direkte Demokratie‹ verabschiedet. ›Wir unterstützen euer Anliegen und erklären euch unsere Solidarität, wir sind auf einem Weg, der in eure Richtung gehen dürfte, sind aber bei der Aufklärung der Bevölkerung über die Problematik der Atomkraftnutzung ganz am Anfang. Bitte informiert uns über eure Ergebnisse.‹ Die »Umweltbibliothek« in Berlin hatte am Tag zuvor ein etwas entschiedeneres Telegramm an den Stuttgarter Kongress gesandt. Obwohl der Integrations- und Diskussionsprozess unter den Anti-AKW-Gruppen in der DDR noch nicht abgeschlossen ist, erklären wir als Einzelgruppe unsere grundsätzliche Übereinstimmung mit euren Zielen und übermitteln euch solidarische Grüße.« 3 Am 27.4.1987 gegen 10.00 Uhr realisierte der Wolfgang [Rüddenklau] eine weitere Kontaktaufnahme zu Jahn, bei der er sich erkundigte, ob alles geklappt (wahrscheinlich Bandmitschnitt) habe. Da Jahn in dieser Hinsicht offenbar technische Probleme hatte, bat er den Wolfgang darum, den oben stehenden 3
Vgl. Anti-AKW-Protest auf DDR-Gebiet, in: taz vom 4.5.1987, S. 5.
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Dokument 14 vom 28. April 1987
Text auf der »Direktleitung« an den Westberliner Fernsprechanschluss 463XXX 4 zu übermitteln, was der Wolfgang [Rüddenklau] auch umgehend realisierte. Am gleichen Tag gegen 15.15 Uhr teilte die im »Initiativkreis Volksentscheid gegen Atomanlagen«, 5300 Bonn 1, Friedrich-Ebert-Allee 120, Tel.: 23XXX, [tätige] Krenkers, Brigitte, wh.: Raum Bonn, dem Jahn mit, dass sie ein weiteres Schreiben des Wolfgang [Rüddenklau] erhalten habe, in dem dieser erklärt habe, dass es »eine DDR-weite Gruppe von Bürgern gebe, die an der Problematik der Atomenergie interessiert sei«. Als Reaktion darauf beabsichtige man, eine Grußadresse an diese Gruppe zu übermitteln und wolle den Jahn darum bitten, diese Grußadresse zu formulieren, da er diese Personen doch näher kennen würde. Dies lehnte Jahn mit der Begründung ab, dass er sich selbst als ein Teil dieser Gruppe fühle und es deshalb als günstiger ansehe, wenn eine andere Person dies übernehmen würde. Gleichzeitig machte er jedoch konkrete Angaben, wie und an wen diese Grußadresse übermittelt werden sollte und unterbreitete den Vorschlag, diese Grußadresse gleichzeitig mit einem offiziellen Schreiben an das Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Präsidenten der Volkskammer, Genossen Horst Sindermann, zu verbinden. Die Krenkers scheint diesem Vorschlag sehr aufgeschlossen gegenüberzustehen, geht jedoch davon aus, dass man dafür noch einige Tage Vorbereitungszeit benötige. Nach Meinung des Jahn sollte die Grußadresse an die Personen Hirsch, Ralf; Poppe, Gerd und den Wolfgang [Rüddenklau] und gleichlautend an die »Umweltbibliothek«, 1040 Berlin, Griebenowstr. 16, übermittelt werden. Inhaltlich sollte man darauf eingehen, dass man sich über das Interesse in der DDR freue und parallel dazu die Protokolle des Kongresses übersenden, um diesen Personen das Gefühl zu geben, in den Diskussionsprozess einbezogen zu sein. Das Schreiben an Genossen Sindermann sollte sehr fordernd formuliert werden. Man brauche dabei keine Bedenken zu haben und könne sogar davon ausgehen, dass ein solches Schreiben sogar eine Schutzfunktion für die »DDRGruppe« in Gang setzen werde. Zu dem Wolfgang [Rüddenklau] wurde weiterhin erarbeitet, dass er nicht über einen eigenen Fernsprechanschluss verfügt und seine Kontaktaufnahmen zu Jahn deshalb immer eine finanzielle Belastung für ihn darstellen. Aus diesem Grund will Jahn dafür sorgen, dass der Wolfgang [Rüddenklau] in Zukunft immer über das notwendige Geld verfügt. Dieses Geld will er dem Wolfgang [Rüddenklau] wahrscheinlich über einen »Carlo« zustellen lassen, welcher zu den engeren Bekannten des Wolfgang gehört.
4
Handschriftlich war hier vermerkt worden: »Zielfahndung durch HA III eingeleitet«.
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Dokument 14 vom 28. April 1987
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Bemerkungen: – Bei dem Wolfgang und dem »Carlo« könnte es sich um die DDR-Bürger Rüddenklau, Wolfgang ([handschriftlich:] 1.5.1953/Erfurt, Prenzlauer Berg, 1054, Fehrbelliner Str. 7, OV »Bibliothek« 5, Telegrammbote – Zeithilfe) und Jordan, Karl-Heinz ([handschriftlich:] 5.2.1951/Bln., Prenzlauer Berg, 1054, Fehrbelliner Str. 7, OV »Bibliothek«, Dozent, Diakonisches Werk Innere Mission Hilfswerk ev. Kirchen DDR) handeln. – Der Fernsprechanschluss Westberlin 463XXX ist im amtlichen Telefonbuch Westberlin 1985/86 nicht vermerkt. Da die »taz« im Telefonbuch Westberlin 1986/87 mit der Einwahl 46 09–0 vermerkt ist, erscheint eine Zuordnung des o. g. Anschlusses zur »taz« unwahrscheinlich. – Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz erforderlich.
5 Der OV »Bibliothek« war vom MfS, BV Berlin, KD Prenzlauer Berg seit März 1987 gegen die »Umweltbibliothek« geführt worden. Neben Rüddenklau und Jordan richtete sich dieser auch gegen Christian Halbrock. Alle 3 waren zuvor bereits in anderen OPK/OV »bearbeitet« worden. Der OV »Bibliothek« richtete sich auch gegen weitere »Zielpersonen« (BStU, MfS, BV Berlin, AOP 4256/88). Nach der Gründung der Arche Anfang 1988 ist der OV »Bibliothek« eingestellt worden, die Stasi glaubte, die UB sei dadurch handlungsunfähig geworden. Die BV Berlin kritisierte die KD zudem, dass diese den OV nicht rechtzeitig an sie abgegeben habe. 1988 übernahm die BV Berlin die »Bearbeitung« der »Umweltbibliothek« und legte verschiedene Einzelvorgänge (OV) zu Mitgliedern der UB bzw. der Arche an.
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Dokument 15 Telefonat zwischen Roland Jahn und Bärbel Bohley 28. April 1987 Von: MfS, Abt. 26/6 An: BV Berlin, Abt. XX/2, [Bernd] Ludewig 1 (Kopie an: HA XX/5) Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 7a, Bl. 19–21
Roland Jahn, Görlitzer Str. 66, WB 36, nimmt Kontakt auf zu Bärbel Bohley und erkundigt sich, wie es geht. Bärbel B[ohley] antwortet positiv. Danach will Roland Jahn wissen, ob Bärbel B[ohley] morgen zu Hause ist, was diese bejaht. Roland Jahn meint, dass es noch nicht sicher ist, aber er wollte es nur wissen. Bärbel B[ohley] würde es begrüßen, wenn sie auch etwas erfahren würde. Bärbel B[ohley] bringt zum Ausdruck, dass Roland Jahn am Wochenende nicht zu Hause war, da Bärbel B[ohley] ihn nicht erreicht hat. Roland Jahn teilt mit, dass er in Stuttgart war. 2 Danach meint er, dass alles noch ganz gut abgelaufen ist. Er weiß, dass Jürgen Fuchs mit ihr gesprochen hat, was diese bestätigt. Roland Jahn erklärt, dass sie es abgesichert haben, dass immer eine Verbindung zu »euch« besteht. Roland Jahn meint, dass »wir« Angst um »euch« haben. Bärbel B[ohley] führt aus, dass es am Freitag 3 richtig furchtbar und nicht mehr feierlich war, was da abgezogen wurde. Sie war vormittags in der Charité und sie wurde von einem Schwarm von 15 Leuten verfolgt. 4 Das war richtig 1 Bernd Ludewig (geb. 1950), Straßenbaufacharbeiter, 1969 Eintritt ins MfS-Wachregiment, seit 1972 Mitarbeiter der Abt. XX der BV Karl-Marx-Stadt, ab 1979 Mitarbeiter der Abt. XX der BV Berlin; 1989 stellv. Referatsleiter in der Abt. XX, 1986 Beförderung zum Major; Entlassung zum 11.2.1990. 2 Im Mai 1986 ist von einem prominenten Initiativkreis ein »Volksentscheid gegen Atomanlagen« in der Bundesrepublik angeregt worden. Innerhalb eines Jahres unterschrieben den Aufruf für einen Volksentscheid über 580 000 Bundesbürgerinnen und -bürger. Der Kongress in Stuttgart fand vom 24. bis 25.4.1987 statt und hatte zum Ziel, eine »Europäische Initiative für direkte Demokratie« zu gründen. Laut MfS-Bericht las das Grußtelegramm der Ostberliner »Umweltbibliothek« der Tagungsleiter Lukas Beckmann vor. Roland Jahn nahm selbst aktiv an dem Kongress teil und bezeichnete sich als Mitglied/Sprecher einer Anti-AKW-Gruppe aus der DDR (MfS, HA XX/5, Information zu dem Kongress zur Gründung einer »Europäischen Initiative für direkte Demokratie« vom 24.4. bis 25.4.1987 in Stuttgart/BRD, 29.4.1987. BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 88–91; MfS, HA XX, Information über den Kongress »Europäische Initiative für direkte Demokratie« in Stuttgart/BRD, 6.5.1987. BStU, MfS, AOP 17375/91, Bd. 23, Bl. 251–255). 3 24.4.1987. 4 Über 20 Oppositionelle (die Angaben schwanken und belaufen sich MfS-intern auf bis zu 30, die auch in verschiedenen Dokumenten namentlich aufgeführt werden) versuchten am 24.4.1987 gegen das über sie verhängte totale Reiseverbot zu protestieren. Sie hatten sich für den Abendflug Tickets nach Prag besorgt und gingen davon aus, dass ihnen diese Reise verwehrt werden würde.
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Dokument 15 vom 28. April 1987
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makaber und auch ein bisschen aggressiv. Bärbel B[ohley] kann sich nicht vorstellen, was »die« da verteidigen müssen. Sie fragt, ob die Sache in den Zeitungen angekommen ist. Roland Jahn gibt Bärbel B[ohley] zu verstehen, dass er schon alles zusammengestellt hat. Bärbel B[ohley] hofft, dass es nicht zu rechtslastig ist. Roland Jahn meint, dass es dies immer gibt. Bärbel B[ohley] bemerkt, wenn sich [Erich] Honecker und [Franz Josef] Strauß zusammensetzen, 5 dann kann eben auch in der Strauß-Presse stehen, dass hier solche Schweinereien stattfinden. Roland Jahn bringt zum Ausdruck, dass man dies nicht vermeiden kann. Selbst wenn etwas in der »taz« steht, dann hat die »Bild«-Zeitung am nächsten Tag über das berichtet, was in der Bereits Tage zuvor sind tatsächlich sämtliche Personen, darunter die meisten IFM-Mitglieder, aber auch Oppositionelle aus Halle und Stralsund, von den zuständigen VP-Dienststellen vorgeladen worden, wo ihnen mitgeteilt wurde, dass ihr Flug annulliert worden, das Ticket ungültig sei und sie öffentlich nicht in Erscheinung treten dürften (MfS, HA XX, Information über bisherige Reaktionen auf die veranlassten Maßnahmen zur Verhinderung einer Provokation am 24.4.1987 sowie weitere Pläne und Absichten der betreffenden Feindpersonen, 21.4.1987. BStU, MfS, HA XX/9 1500, Bl. 241–245). Bei Ralf Hirsch in der Wohnung hatten sich einige Oppositionelle sowie eine Reihe westlicher Journalisten und Kamerateams eingefunden. Hirsch, Templin, Rölle und zwei weitere Oppositionelle konnten deshalb unbehelligt den Flughafen Schönefeld erreichen, während alle anderen daran gehindert wurden. Die 5 passierten den Abfertigungs- und Passschalter, wurden dann aber außerhalb der Sichtweite der Journalisten festgenommen und vom MfS nach Ost-Berlin, VPPräsidium Keibelstraße, hier gab es auch Räume des MfS, zurückgebracht, wo bereits etwa ein Dutzend weiterer »Zugeführter«, darunter auch 4 IM des MfS, hingebracht worden waren. Zwischen 22.30 Uhr und 23.30 Uhr sind alle wieder freigekommen. In den westlichen Funk- und Printmedien ist anschließend ausführlich darüber berichtet worden. Vgl. z. B. DDR-Bürgerrechtler wollten nach Prag: Wenn einer keine Reise tut …, in: taz vom 27.4.1989, S. 6; Neuer Honigmond, in: Der Spiegel Nr. 18 vom 27.4.1987, S. 133. Außerdem haben einige Betroffene einen »Offenen Brief an Honecker« (14.4.1987) veröffentlicht und gegen die Reiseverbotspraxis protestiert. Vgl. Grenzfall 5/1987, nachgedruckt in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 56 (dort auch weitere Beiträge zur verhinderten Reise, vgl. ebenda, S. 55–57). Der Offene Brief mit den Unterschriften ist überliefert in: BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 7, Bl. 92–95 (das Büro Honecker schickte am 11.5.1987 den Brief an das MfS-Ministerbüro sowie an die SED-Bezirksleitung Berlin). Er ist von 11 Personen unterzeichnet worden: Sabine und Peter Grimm, Simone Beyer, Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Peter Rölle, Werner Fischer, Annedore Havemann, Bärbel Bohley sowie den IM des MfS Monika Haeger und Reiner Dietrich (ebenda, Bl. 95). An dem Brief selbst ist scharfe Kritik geübt worden, weil ihn nicht alle hätten lesen können bzw. weil er zu viele überflüssige Informationen enthalten hätte (MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 30.4.1987, 4.5.1987. BStU, MfS, AOP 17335/91, Bd. 23, Bl. 234–238; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit dem IMB »Martin« am 30.4.1987, 30.4.1987. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 10, Bl. 153–155). Auch über eine verhinderte Prag-Reise am 19./20.4.1985 von 7 Oppositionellen berichteten westliche Medien (Reise nach Prag verhindert, in: Frankfurter Rundschau vom 23.4.1985; Keine Reise nach Prag, in: taz vom 23.4.1985). 2 der Betroffenen, Bärbel Bohley und Ralf Hirsch, gingen deswegen am 1.10.1985 ins DDR-Innenministerium und verlangten nach einer Begründung. Ihnen wurde mitgeteilt, sie würden »staatliche Interessen« verletzen, worin die aber bestehen, sagte ihnen niemand. Nach der vierstündigen Aktion wurden sie des Hauses verwiesen (Protest im »DDR«-Innenministerium, in: Berliner Morgenpost vom 6.10.1985). 5 Honecker und Strauß trafen sich mehrfach persönlich, hier zuletzt auf der Leipziger Frühjahrsmesse Mitte März 1987.
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Dokument 15 vom 28. April 1987
»taz« steht. Roland Jahn will das Wort Pressefreiheit nicht verwenden, aber das ist hier die Öffentlichkeit. Roland Jahn meint, dass er am Sonntag Gerd Poppe einige Dinge vorgelesen hat, der ungehalten reagierte. 6 Bärbel B[ohley] meint, dass das die mangelnde Vorstellung ist, wie eigentlich so ein Pressewesen zu laufen hat. Roland Jahn stimmt dem zu und bringt zum Ausdruck, dass das hier die Mechanismen sind, die Namen einsetzen. In der »Morgenpost« wurde Katja Havemann ziemlich herausgestellt, 7 was Gerd Poppe nicht gefallen hat. Bärbel B[ohley] fand es gut, dass Katja Havemann mit dabei war. Roland Jahn führt aus, dass in der »Morgenpost« stand, »Vopos schikanieren DDR-Bürgerrechtler«. Dann sind kleinere Überschriften wie »Witwe von Robert Havemann stundenlang festgehalten«. Roland Jahn meint, dass dort ein Jugendbild von Katja Havemann abgebildet ist. Bärbel B[ohley] meint, dass sich Katja Havemann darüber freuen wird. Im »Tagesspiegel«, so Roland Jahn, stand, »DDR-Bürgerrechtler protestieren gegen Reiseverbot in die ČSSR«. »…auf dem Flughafen Schönefeld festgehalten und zum Verhör gebracht«. 8 Dann folgt ein längerer Text. In diesem Zusammenhang verweist Roland Jahn darauf, dass es nur zwei Sonntagszeitungen in Westberlin gibt. In der »Welt« stand auf Seite 1, »SED setzt Bürgerrechtler unter Druck. Reise einer Menschenrechtsgruppe nach Prag verhindert. Havemann-Witwe festgehalten«. 9 In der »Bild«-Zeitung war zu lesen, »Flug-Nr. IF 254 nach Prag annulliert. ›DDR‹-Bürgerrechtler mit Gewalt an Reise gehindert«. 10 Bärbel B[ohley] muss lachen und findet dies schön. Roland Jahn erklärt weiter, dass dort ein Foto von drei Personen vorhanden war. Darunter stand: »Die ›DDR‹-Bürgerrechtler Wolfgang Templin, Peter Rölle und Simone Beyer auf dem Weg zum Ostberliner Flugplatz.« Roland Jahn weist darauf hin, dass die Namen nicht ganz stimmen. Auf dem Foto sind Peter Rölle, Ralf Hirsch und Simone Beyer abgebildet. 11 In einem »Bild«Artikel ist ein weiteres Foto vorhanden. Unter dem steht: »Die Leninallee im Ostberliner Stadtbezirk Friedrichshain – im Haus 38 wollte sich die Gruppe 6 Es wurde v. a. an westlichen Medienberichten kritisiert, dass sie zu oberflächlich berichteten (MfS, HA XX/2, Information über Gespräche von Roland Jahn mit Wolfgang und Regina Templin sowie Gerd Poppe am 26./27.4.1987, 30.4.1987. BStU, MfS, AOP 17335/91, Bd. 23, Bl. 234–235). Bezogen auf Katja Havemann wurde wiederum kritisiert, dass sie meist nur als Witwe von Robert Havemann hingestellt und nicht als eigenständig politische Persönlichkeit gesehen wurde (E-Mail von Gerd Poppe vom 4.10.2011). 7 Vgl. Vopos schikanieren »DDR«-Bürgerrechtler. Witwe Robert Havemanns stundenlang festgehalten, in: Morgenpost vom 27.4.1987 (mit Foto von Katja Havemann). 8 DDR-Bürgerrechtler protestieren gegen Reiseverbot in die ČSSR. Auf dem Flughafen Schönefeld festgehalten und zum Verhör gebracht, in: Der Tagesspiegel vom 26.4.1987. 9 Die Welt vom 27.4.1987. 10 Bild-Zeitung vom 27.4.1987 (mit einem großen Foto, auf dem Peter Rölle, Simone Beyer und Ralf Hirsch zu sehen sind, in der Bildunterschrift steht allerdings Wolfgang Templin, der Rölle zugeordnet wird, während Hirsch als Rölle firmiert). 11 Ebenda.
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Dokument 15 vom 28. April 1987
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vor dem Abflug treffen.« 12 Bärbel B[ohley] findet dies merkwürdig, wie die recherchiert haben müssen. Roland Jahn hatte mit Ralf Hirsch darüber gesprochen, der alles als furchtbar empfand. Roland Jahn bringt zum Ausdruck, dass die »Süddeutsche Zeitung«, die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Frankfurter Rundschau« und die »taz« ganz normale Artikel gebracht haben. 13 Am schönsten findet Roland Jahn die »Frankfurter Rundschau«, da dort auch der Hintergrund mit der Annullierung der Flugtickets vorhanden war. Roland Jahn schätzt ein, dass dieses Thema auch diskutiert wurde. Am Sonntag war noch eine Veranstaltung mit Wolf Biermann. Diese Sendung ist gestern im »SFB III« übertragen worden. Bärbel B[ohley] hat nur den letzten Teil gehört. Auf eine Frage teilt Bärbel B[ohley] mit, dass Monika Haeger darüber informiert hat, dass die Sendung kommt. Roland Jahn hat in Westberlin auch noch einen »Rundruf« gestartet. Roland Jahn legt dar, dass Wolf Biermann ein Lied über die »Ost-West-Reisen« 14 gebracht hat. Das sich diesbezüglich nichts geändert hat, führte Wolf Biermann auf den Artikel über Katja Havemann in der »taz« zurück. 15 Roland Jahn bringt zum Ausdruck, dass diese Sache sehr interessiert aufgenommen wurde. Viele haben erst einmal mitgekriegt, was es alles überhaupt so gibt. Morgens kam es im »RIAS« und nachmittags im »Treffpunkt« 16. Als wichtigsten Aspekt betrachtet Bärbel B[ohley], dass dieser Fakt irgendwo eine gewisse Öffentlichkeit bekommt. Bärbel B[ohley] schätzt ein, dass das Radio für die DDR immer noch am besten ist. Was sie im Radio gehört hat, war ganz gut. Sie fand es nicht schlecht. Roland Jahn meint, dass dies richtig zur Diskussion geworden ist. Bärbel B[ohley] würde es begrüßen, wenn das Gespräch auch gleich auf »eure« Einreiseverbote 17 kommen würde. Roland Jahn meint, dass »wir« das 12 Das Foto war in dem erwähnten »Bild«-Beitrag abgedruckt worden. 13 Vgl. DDR-Bürgerrechtler an Flug nach Prag gehindert, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.4.1987; DDR-Friedensgruppen behindert, in: FAZ vom 27.4.1987; Verhinderte Reise nach Prag, in: Frankfurter Rundschau vom 27.4.1987; DDR-Bürgerrechtler wollten nach Prag, in: taz vom 27.4.1987. 14 Eine ganze Reihe von Liedern Biermanns kämen hier infrage, z. B. »Recontre á Paris« (1986), »Die aus'm Osten« (1986) oder von den älteren Stücke die »Ballade vom Preußischen Ikarus« (1976), »Und als wir ans Ufer kamen« (1976), »Enfant Perdu« (1969), »Das Hölderlin-Lied« (1967). Die Texte finden sich in: Wolf Biermann: Alle Lieder. Köln 1991. 15 Die Angabe ließ sich nicht verifizieren; in der »taz« erschien kein Artikel über Katja Havemann. In dem Beitrag (DDR-Bürgerrechtler wollten nach Prag, in: taz vom 27.4.1987) ist sie nicht namentlich genannt, aber auch in anderen Artikeln nicht. Anders hingegen in dem Artikel: Vopos schikanieren »DDR«-Bürgerrechtler. Witwe Robert Havemanns stundenlang festgehalten, in: Morgenpost vom 27.4.1987 (mit Foto von Katja Havemann). Hier wie auch in dem FR-Beitrag (Verhinderte Reise nach Prag, in: Frankfurter Rundschau vom 27.4.1987) firmierte sie als Witwe von Robert Havemann, was zu Unmut bei ihr und ihren politischen Freunden führte. Da Biermann sich Katja Havemann besonders verbunden fühlte, hat er wahrscheinlich mit Hinweis auf sie das erwähnte Lied eingeführt, um zu sagen, dass sie nicht frei reisen dürfe. 16 »Treffpunkt« war eine tägliche, überaus beliebte Nachmittagssendung auf RIAS II. 17 Gemeint sind ehemalige DDR-Bürger.
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Dokument 15 vom 28. April 1987
schon machen. Er hofft, dass das keine Luftnummer war, sondern an dem Thema weitergearbeitet wird. Dabei erklärt Roland Jahn, dass in dem Brief an Honecker einige Dinge von den Begriffen her falsch verwendet wurden. 18 Hierbei gilt es, dass daran noch kontinuierlicher gearbeitet wird, um prinzipielle Fragen der Rechtssicherheit usw. noch anzusprechen. Roland Jahn weist Bärbel B[ohley] darauf hin, dass dazu heute noch der Synodenbeschluss 19 zu erwarten ist. Er hebt hervor, dass er schon einige Termine kritisiert hat, da es noch andere Sachen gab, die auch wichtig waren. 17.38 Uhr […] 20
18 Vgl. oben Anm. 4. 19 Es geht um die von Hans-Jürgen Fischbeck, Ludwig Mehlhorn, Stephan Bickhardt u. a. betriebene »Initiative für Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung«. Der Physiker Fischbeck, Synodaler der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, brachte den Antrag im April 1987 auf der Synode ein und begründete ihn mit der Einschätzung, Isolation, wie sie in der DDR herrsche, mache krank, jeden Einzelnen und die Gesellschaft. Isolation bedeute Stillstand, Unwissenheit, Verarmung, führe in den Tod. Der Erfurter Probst Heino Falcke (geb. 1929) machte sich den Antrag als Bundessynodaler zu eigen und brachte ihn auf der Görlitzer Bundessynode ein. In beiden Synoden bekam er keine Mehrheit, erregte aber erhebliches Aufsehen. 20 Hier folgt noch ein kurzes zweites Telefonat zwischen Jahn und Bohley am späteren Abend, in dem es um die Vorbereitung eines Treffens mit Bundestagsabgeordneten der Grünen in der Wohnung von Bohley bzw. der Poppes geht.
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Dokument 16 Hinweise im Zusammenhang mit einer Aktion feindlich-negativer DDRBürger am 24. April 1987 (Originaltitel) 29. April 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/AKG, HA XX/5, HA XX/9 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 7a, Bl. 173–174
Durch Hinweise einer inoffiziellen Quelle 1 wurden zuverlässig Angaben dazu erarbeitet, wie der ehemalige DDR-Bürger Jahn, Roland, die für den 24.4.1987 geplant gewesene Aktion feindlich-negativer DDR-Bürger beurteilt und welche Ansicht die daran beteiligt gewesene Haeger, Monika, 2 geb. 20.6.1945, wh.: 1058 Berlin, Lychener Str. 70, Tel.: 449XXX, darüber hat. 3 Im Rahmen einer von der Haeger ausgehenden Kontaktaufnahme, bei der Jahn einen Rückruf zu ihr realisierte, machte sich die Haeger bei Jahn sachkundig, wie ihre Aktion im Operationsgebiet aufgenommen wurde. Die von Jahn gegebene Einschätzung läuft darauf hinaus, dass es wichtig war, ein solches Zeichen zu setzen und dass viele Leute erst dadurch erfahren hätten, dass ein solches Problem überhaupt existieren würde. Die Reflektion dieses Ereignisses in den westlichen Massenmedien wäre insgesamt sehr gut, wobei allerdings wenige Einzelheiten berichtet wurden. Er selbst wisse ja auch nur einige allgemeine Angaben und wäre über den genauen Ablauf nicht informiert. Der daraufhin von der Haeger geschilderte Ablauf der Ereignisse mündete in der Einschätzung, dass alle Beteiligten die gesamte Aktion gut überstanden hätten und lediglich die Havemann, Katja, etwas deprimiert sei. Die Ursache dafür wäre jedoch nicht, dass sie mehrere Stunden in ihrem Pkw sitzen musste, sondern die Tatsache, dass sie bei dieser Aktion ebenso wie früher nur als die Witwe des Havemann, Robert, angesehen wurde. Sie empfinde dies als eine Negierung ihrer eigenständigen Persönlichkeit und fühle sich dadurch »in die Ecke gedrängt«. Am bedauerlichsten wäre dabei, dass gerade westliche Massenmedien diesen Eindruck besonders verstärken würden. Die von Jahn zu dieser Aktion gestellten Detailfragen zeigen, dass er an weiteren in den Medien auswertbaren Informationen interessiert ist, und seine Darstellung, was man noch hätte tun können, kann als indirekte Aufforderung zu einer eventuellen Wiederholung angesehen werden. So bemerkte er 1 Die äußere Gestaltung des Dokuments lässt in Analogie zu vergleichbaren Dokumenten die Herkunft der Informationen aus abgehörten Telefonaten erkennen. 2 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 3 Siehe dazu Dok. 15, Anm. 4.
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Dokument 16 vom 29. April 1987
auf den Hinweis der Haeger, dass keine der 17 Personen 4 die durchgeführte Belehrung quittiert habe, dass eine davon diesen Kompromiss durchaus hätte eingehen können, wenn sie dieses Schriftstück dafür hätte behalten können. Weiterhin hätte man sich sachkundig machen können, ob die durch diese Personen gebuchten Plätze nochmals verkauft worden sind. Sei dies nicht der Fall und es wäre gelungen, alle Plätze dieser Maschine zu buchen, hätte man die Interflug 5 zwingen können, leer nach Prag zu fliegen. Günstig wäre es auch gewesen, wenn die Festnahme der 17 Personen fotodokumentiert worden wäre. Die Haeger hat die Überlegungen Jahns offenbar auch als Möglichkeit einer Wiederholung verstanden und verwies darauf, dass sie bei der nächsten Buchung eines Fluges mit einer Geldstrafe von 500 M zu rechnen habe. 6 Jahn zeigt großes Interesse daran, den jetzt zustande gekommenen Kontakt zu der Haeger, 7 welcher höchstwahrscheinlich seit Jahren die erste Verbindungsaufnahme war, auszubauen. Er riet der Haeger, mit darauf hinzuwirken, dass sich eine DDR-weite Struktur der einzelnen Gruppen entwickelt, um dadurch zu einer Arbeitsteilung und Spezialisierung der einzelnen Zielrichtungen zu kommen. Die Haeger würde nach ihrer Darstellung eine solche Entwicklung gleichfalls begrüßen, sieht jedoch nicht mal die Möglichkeit, dieses in der Hauptstadt der DDR zu realisieren, da es schon dort zu viele Streitigkeiten gäbe, die nicht inhaltlich, sondern formal ausgetragen würden. Bemerkung: Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz erforderlich.
4 Im Vorfeld waren mehr als 20 Personen in diese Aktion involviert und entsprechend von VP und MfS »belehrt« und »ermahnt« worden. 5 Staatliche Fluggesellschaft der DDR, existierte von 1958 bis 1991. 6 Mehrere Personen sind nach dem 24.4.1987 mit einer Ordnungsstrafe in Höhe von bis zu 500 M bestraft worden. 7 Dass Monika Haeger als IM für das MfS arbeitete, konnte im März 1989 aufgedeckt werden. Roland Jahn hat 1990 einen Film über Haeger gedreht. Vgl. »Die Wahrheit muss raus – Bekenntnisse einer Stasi-Agentin«, Kontraste vom 16.10.1990, in: Kontraste: Auf den Spuren einer Diktatur (3 DVD). Bonn 2005 (auch online unter: http://www.bpb.de/themen/JIRGFC,0,0,Kontraste_ Auf_den_Spuren_einer_Diktatur_.html). Zu Haeger siehe zudem Katja Havemann, Irena Kukutz: Geschützte Quelle. Gespräche mit Monika H. alias Karin Lenz. Berlin 1990.
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Dokument 17 Information über feindliche Pläne und Absichten im Zusammenhang mit dem in Warschau am 9. Mai 1987 vorgesehenen Kongress polnischer oppositioneller Gruppen (Originaltitel) 8. Mai 1987 Von: MfS, HA XX An: MfS, HA XX/2, HA XX/5, [Werner] Fleischhauer Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 417–419
Wolfgang Templin äußerte am 20.4.1987 intern, 1 dass er die Absicht hat, auf der Grundlage von Materialien, die er von der polnischen Gruppe »Frieden und Freiheit« 2 erhalten hat, sowie von »Solidarność«-Material sogenannte OstOst-Friedensverträge mit weiteren Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit zu erarbeiten. Inspiriert durch Roland Jahn (WB), der bei Verbindungsaufnahmen mehrfach darauf hinwies, erklärte Templin, diese Art von Verträgen wäre so wichtig, da antikommunistische Aktionen in osteuropäischen Ländern derzeit am meisten interessieren würden. Am 29.4.1987 wurde in der Wohnung von Martin Böttger ein Textentwurf dieses sogenannten Ost-Ost-Friedensvertrages, 3 der als »Warschauer Erklärung« deklariert wurde, verfasst.4 Die Ausarbeitung des Textes, der operativ
1 MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit dem IMB »Martin« am 21.4.1987, 21.4.1987. BStU, MfS, AOP 17375/91, Bd. 23, Bl. 207–209. Mario Wetzky (IM »Martin«) berichtete von einem Gespräch in Wolfgang Templins Wohnung am 20.4.1987, was hier mit »intern« umschrieben wird. 2 Die Oppositionsgruppe »Ruch Wolność i Pokój« war 1985 gebildet worden. Ihr Hauptziel bestand in der Durchsetzung der Menschenrechte. Eine Geschichte dieser Gruppe bietet folgende Monografie: Anna Smółka-Gnauck: Między Wolnościa a Pokojem. Zarys historii Ruchu »Wolnoiść i Pokój«. Warschau 2012. Die Gründungserklärung vom Mai 1985 ist in deutscher Übersetzung u. a. abgedruckt in: osteuropa-forum, hg. vom Osteuropa-Komitee Düsseldorf 3 (1986), 11, S. 5. 3 MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit dem IMB »Martin« am 30.4.1987, 30.4.1987. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 10, Bl. 153–155. 4 In der »Warschauer Erklärung« ist u. a. das Recht auf Wehrdienstverweigerung, die Schaffung eines zivilen Ersatzdienstes, die Abschaffung vormilitärischer Erziehung, das Verbot des Einsatzes der Armeen im Inneren der Länder oder gegen andere Länder des Warschauer Paktes gefordert worden. Vgl. Warschauer Erklärung, in: Grenzfall 6/1987, in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 72.
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Dokument 17 vom 8. Mai 1987
beschafft wurde und vorliegt, 5 erfolgte auf der Grundlage der von Templin am 20.4.1987 vorgegebenen inhaltlichen Richtlinien aus den o. g. Materialien. 6 Am 5.5.1987 fand in der Zeit von 12.00 Uhr bis 13.30 Uhr in der Gaststätte am Monbijou-Park in Berlin-Mitte eine Zusammenkunft statt, an der Wolfgang Templin, Mario Wetzky, 7 Martin Böttger, Gerd Poppe teilnahmen. 8 Es wurde der am 29.4.1987 bei Böttger erstellte Textentwurf der »Warschauer Erklärung« diskutiert. Während dieser Zusammenkunft wurde nach teilweise kontroversen Diskussionen von Wolfgang Templin, in denen er eine schnellstmögliche Veröffentlichung des Textes anstrebte, übereinstimmend und bindend von den 4 Teilnehmern festgelegt, die »Warschauer Erklärung« am 9.5.1987 auf der Zusammenkunft der Informationsrunde der »Initiative Frieden und Menschenrechte« in der »Öko-Bibliothek« 9 den Teilnehmern zur Kenntnisnahme und Zustimmung bzw. Unterschriftsleistung zu verlesen und auszulegen. 10 Während der Pause der geplanten Zusammenkunft am 9.5.1987 sollte der Text entweder telegrafisch oder telefonisch als »Grußbotschaft« der »Initiative Frieden und Menschenrechte« an die Teilnehmer des am 9.5.1987 in Warschau stattfindenden »Kongresses« der polnischen Gruppe »Frieden und Freiheit« übermittelt werden. Am 5.5.1987 gegen 22.00 Uhr setzte sich Wolfgang Templin mit der Frau des Jacek Czaputowicz in Warschau in Verbindung, da Czaputowicz selbst zur Organisation des »Kongresses« in Warschau unterwegs war. Auf die Frage, ob aus der DDR Personen zum »Kongress« kommen können, antworte Templin, es könne keiner reisen, man habe aber ein Dokument vorbereitet, das Templin am 6.5.1987 an Czaputowicz übermitteln möchte. Auf die ungläubige Frage, ob Templin denn den Text wirklich per Telefon übermitteln wolle, bekräftigte Templin seine Absicht. Weiter informierte Templin, dass am 9.5.1987 in Berlin ebenfalls ein Seminar zum Thema Frieden stattfinden würde, das ausge-
5 IMB »Martin« (d.i. Mario Wetzky) übergab am 30.4.1987 seinem Führungsoffizier ein Exemplar davon: MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit dem IMB »Martin« am 30.4.1987, 30.4.1987. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 10, Bl. 155. 6 Vgl. Warschauer Erklärung, in: Grenzfall 6/1987, in: Hirsch; Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall, S. 72. 7 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 8 MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit dem IMB »Martin« am 6.5.1987, 6.5.1987. BStU, MfS, AOP 17375/91, Bd. 23, Bl. 247–248. 9 Gemeint ist die »Umweltbibliothek« in der Berliner Griebenowstraße bei der Zionsgemeinde. 10 MfS, HA XX/2, Information über feindliche Pläne und Absichten im Zusammenhang mit dem in Warschau am 9.5.1987 vorgesehenen Kongress polnischer oppositioneller Gruppen, 8.5.1987. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 10, Bl. 184–186; MfS, HA XX/2, Ergänzende Information, 15.5.1987. Ebenda, Bl. 179; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit dem IMB »Martin« am 11.5.1987, 11.5.1987. Ebenda, Bl. 189–193; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit dem IM »Dietmar Lorenz« am 11.5.1987, 11.5.1987. Ebenda, Bl. 198–201.
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Dokument 17 vom 8. Mai 1987
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zeichnet vorbereitet sei (Informationsrunde der »Initiative Frieden und Menschenrechte« in der »Öko-Bibliothek«). 11 Am 5.5.1987 gegen 23.00 Uhr setzte sich auf Bitten Templins Roland Jahn (WB) mit ihm in Verbindung. 12 Templin berichtete Jahn, er habe mit Jacek Czaputowicz gesprochen, der bereits in Warschau in der Kirche sitze. Templin machte weitere Angaben zur Vorbereitung des Seminars in Warschau, zu abgewiesenen Einreisen und zu den Reaktionen des polnischen Staates in Bezug auf die Organisatoren des »Kongresses«, die ebenso wie das Gespräch mit Czaputowicz von Templin frei erfunden sind und nicht Inhalt des o. g. Gesprächs waren. Offensichtlich stammen die Informationen Templins, die er Jahn als authentischen Gesprächsinhalt mit Czaputowicz darstellt, aus einem Beitrag von Radio London der BBC, den Templin abgehört hatte. Jahn erkundigte sich, ob Templin schon eine Reaktion auf seinen Reiseantrag nach Warschau zu diesem »Kongress« hat, den er auf der Grundlage der Einladung bei der VP gestellt hat (Templin teilte Jahn am 2.5.1987 mit, er habe mit der VP solange diskutiert, bis ihm gesagt wurde, er bekomme einen schriftlichen Bescheid). 13 Templin erklärte, es sei bisher bei der mündlichen Absage geblieben. Er wolle aber am 6.5.1987 nochmals »reklamieren« gehen, da auch eine schriftliche Absage jetzt bei ihm eingegangen sein müsste. Sobald er im Besitz dieser ist, werde Jahn Bescheid erhalten. Am 6.5.1987 setzte sich Templin wie verabredet mit Jacek Czaputowicz in Warschau in Verbindung. Entgegen den Festlegungen auf der Zusammenkunft am 5.5.1987 im Monbijou-Park übermittelte Templin an Czaputowicz den Text der »Warschauer Erklärung« vor der Sanktionierung und Unterschriftsleistung am 9.5.1987 auf der Zusammenkunft in der »ÖkoBibliothek«. Auf die Frage von Czaputowicz, von wie vielen Personen der übermittelte Text schon unterschrieben sei, antwortete Templin, es hätten bereits 10 Personen unterzeichnet, was nach operativen Erkenntnissen ebenfalls frei erfunden ist. Czaputowicz sicherte Templin zu, über den Text zu diskutieren. Er beabsichtigt, ihn in die englische Sprache zu übersetzen und eventuell weiterzuleiten (vermutlich an die BBC, Radio London, worüber am 5.5. und 6.5.1987 jeweils Interviews mit Czaputowicz gesendet wurden). Abschließend kündigte Templin an, sich am 9.5.1987 wiederum mit Czaputowicz in Verbindung zu setzen, der ihm bestätigte, auf seinen Anruf zu warten. Unmittelbar nach dem mit Czaputowicz geführten Gespräch meldete sich Roland Jahn (WB) bei Wolfgang Templin. 14 Templin informierte Jahn, er 11 12 13 14
Ebenda. MfS-Unterlagen zu diesem Telefongespräch sind bislang nicht aufgefunden worden. Wie Anm. 12. Wie Anm. 12.
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Dokument 17 vom 8. Mai 1987
habe selbst gerade Radio London gehört, wo ein Gespräch mit Czaputowicz ausgestrahlt wurde. Templin berichtete über den Inhalt der Radiosendung, die sich im Wesentlichen auf die Einreisesperrmaßnahmen und die Repressivmaßnahmen gegen Organisatoren des »Kongresses« bezogen. Jahn erklärte dazu, bei ihm seien die Zeitungen voll mit Schlagzeilen wie: »Sacharow wird sich auf das Schreiben eines Briefes beschränken müssen.« »Wolfgang Templin aus Ostberlin wurde von der DDR die Ausreise verweigert.« »Wie es Vertretern der ›Charta 77‹ aus der ČSSR ergangen ist, bleibt noch im Dunkeln. Anzunehmen ist, dass es wohl keiner von ihnen nach Warschau schafft.« 15 Aufgrund des dargestellten operativen Sachverhaltes ist wahrscheinlich, dass Wolfgang Templin auf der Zusammenkunft am 9.5.1987 in der »ÖkoBibliothek«, Griebenowstr., den Text der »Warschauer Erklärung« zum Verlesen bringen wird, um anschließend dazu Unterschriften zu sammeln. Danach wird die Zahl und eventuell eine namentliche Aufstellung der Unterzeichner an Czaputowicz übermittelt, der seinerseits diese unter den ihm bereits übermittelten Text setzen wird. Anschließend wird die »Warschauer Erklärung« mit hoher Wahrscheinlichkeit in westlichen Massenmedien (Radio London der BBC bzw. über Jahn in BRD-/WB-Medien) veröffentlicht. Eine Veröffentlichung in der DDR, z. B. »Grenzfall«, ist durch Wolfgang Templin ebenfalls geplant. 16
15 Diese »Schlagzeilen« sind dem »taz«-Artikel Unkraut in Jaruzelskis Garten vom 6.5.1987 entnommen worden, indem es wörtlich u. a. heißt: »Andrej Sacharow wird sich auf das Schreiben eines Briefes beschränken müssen. Wolfgang Templin aus Ost-Berlin wurde von der DDR die Ausreise verweigert. Wie es Vertretern der »Charta 77« aus der ČSSR ergangen ist, bleibt noch im Dunkeln. Anzunehmen ist, dass es wohl keiner von ihnen nach Warschau schafft.« 16 Vgl. Grenzfall 6/1987, in: Hirsch; Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall, S. 72.
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Dokument 18 Telefonate 1 von Wolfgang Templin 8. Mai 1987 Von: MfS, Abt. 26/7, [Helmut] Röbisch 2 An: MfS, HA XX/2, [Gerhard] Haas 3 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Beifügung Bd. 8, Bl. 6–8
Ralf Hirsch informiert Wolfgang Templin, dass er (Hirsch) gestern »da« war und er sagte denen, sie sollen sich drum kümmern, dass wir heute das Geld kriegen. 4 »Der« will sich darum kümmern. Es wurde gesagt, wir sollen nach Schönefeld 5 fahren, um es uns von dort abzuholen. Hirsch ist der Meinung, dass das gar nicht infrage kommt. Sie sollen sich das Geld dort abholen, wo sie es einzahlten. Hirsch hebt hervor, dass sie einmal hinterlistig von Schönefeld weggeführt worden sind. 6 Sie werden es also nicht noch einmal machen. »Er« sagte zu, die Angelegenheit bis 15.30 Uhr zu klären mit dem Haus des Reisens. 7 Hirsch sagte »ihm«, sie werden 15.30 Uhr im Haus des Reisens sein. Wenn sie das Geld nicht erhalten, werden sie das Haus nicht verlassen. Hirsch stellt die Frage, ob T[emplin] etwas mitbekommen hat, denn er, Hirsch, hat eine »unheimliche Horde von Stasi« hinter sich her. T[emplin] entgegnet, bei ihm unten stehen auch welche. Hirsch war vorhin beim Zahnarzt und merkte, dass »die« ganz aufgeregt waren. Seine Frage ist, ob irgendetwas los ist. T[emplin] denkt sich, es wird damit zusammenhängen. Hirsch nimmt an, dass T[emplin] informiert ist von der Verwarnung des ARD-Korrespondenten
1 Es handelt sich hierbei, anders als auf dem Dokument ausgewiesen, nicht nur um das Ergebnis einer »A-Maßnahme« (Telefon), sondern auch um das einer »B-Maßnahme« (Raumüberwachung). 2 Helmut Röbisch (geb. 1939), Bergmann, SED 1960, Eintritt ins MfS 1960, Wachregiment, ab 1965 Mitarbeiter des BdL, seit 1966 Abt. 26, 1976 Beförderung zum Hauptmann, 1986 Fachschuljurist (MfS), Entlassung zum 28.2.1990. 3 Gerhard Haas (geb. 1944), 1963 Abitur, 1964 Facharbeiter für Betonbau, 1964–1967 NVA, 1967 SED, 1970 Abschluss als Bauingenieur, seit 1970 MfS-Mitarbeiter, zunächst in der KD Bad Freienwalde, seit 1980 als Hauptmann Mitarbeiter der HA XX; Entlassung zum 9.1.1990. 4 Es ging darum, das Geld für die Flugtickets für den geplanten Flug der Oppositionellen am 24.4.1987 nach Prag, der vom MfS unterbunden worden war, erstattet zu bekommen. 5 Gemeint ist der Flughafen Schönefeld. 6 Hirsch, Templin u. a. gelangten am 24.4.1987 zwar geschützt zum Flughafen durch die Präsenz westlicher Medienvertreter – sind dann aber nach der Abfertigung und Passkontrolle vom MfS festgenommen und abgeführt worden. Vgl. Dok. 15, Anm. 4. 7 Das 1971 fertiggestellte »Haus des Reisens« am Berliner Alexanderplatz beherbergte u. a. die Hauptdirektion des DDR-Reisebüros sowie Büros der Interflug. Hier konnten auch Tickets gebucht und gekauft werden.
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Dokument 18 vom 8. Mai 1987
[Hans-Jürgen] Börner. 8 T[emplin] weiß das bereits. Er weiß auch, dass noch weitere Verwarnungen ausgesprochen werden sollen. Hirsch stellt die Frage, woher T[emplin] das weiß. Darauf T[emplin]: »Wir haben heute früh gesprochen – Blacky. ([handschriftlich:] = Schwarz 9) Der weiß, dass es für die anderen auch kommt.« Hirsch nimmt an, hierdurch sollen die Korrespondenten eingeschüchtert werden. T[emplin] denkt, vor allem ist die Begründung wichtig – nämlich: moralische Unterstützung von Leuten, die Gesetzesverletzungen begehen. Hirsch betont, die Gesetze müssen sie uns erst einmal zeigen, die wir verletzt haben. T[emplin] denkt, das ist der Punkt, wo wir jetzt drauf dringen müssen. Denn das ist ja noch ein Schritt weiter. Hirsch meint lachend, dass um sich, also außerhalb der Zelle, alles unruhig wird. Templin möchte wissen, ob Frank [?] hierher kommen wollte, worauf der Herr erklärt, dass Frank Templin um 10.30 Uhr anruft, um zu fragen, ab wann er gebraucht wird. Templin erwähnt dann, dass er gestern von Roland (Jahn) erfuhr, dass der ARD-Korrespondent Börner verwarnt wurde wegen der Berichterstattung zu Prag, wegen Berichten über Personen, die gegen Gesetze verstoßen. Templin ist der Ansicht, dass das ein Grund ist, da nochmals nachzuhaken. Gegen 9.12 Uhr betritt Regina T[emplin] mit Jozek 10 den Raum. Man beschäftigt sich mit dem Kind, es wird viel gelacht. Die Unterhaltung ist nur in Auszügen verständlich, da das Kind hin und her tobt. Regina T[emplin] erkundigt sich bei ihrem Mann, ob er gleich wieder los muss. Der Herr verneint mit dem Hinweis, dass Templin hierbleibt. Die Anwesenden lachen darüber. Anschließend wird hantiert, Regina T[emplin] berichtet von einer Predigt und verlässt danach das Zimmer. Der Herr sagt etwas von der Montagsausgabe und macht darauf aufmerksam, dass »das« sowieso nicht vor Montag kommt. Er fügt an, »nicht, dass der das heute Nachmittag in die Hand kriegt und gleich hinrennt«. Templin stimmt ihm zu. Sylvia 11 kommt um 9.50 Uhr. Es wird hantiert, Regina T[emplin] bietet an, Sylvia einen Kaffee zu kochen. Gegen 10.00 Uhr verabschiedet sich ein Herr. 12 Regina T[emplin] unterhält sich mit der Dame über eine polnische Regie-
8 Börner hatte die Aktion von Hirsch, Templin u. a. am 24.4.1987 gefilmt und später in der ARD ausgestrahlt. Dafür erhielt er von offiziellen Stellen der DDR eine Verwarnung. 9 Es handelt sich um den »Spiegel«-Korrespondenten Ulrich Schwarz. 10 Sohn von Regina und Wolfgang Templin, geb. im Januar 1985. 11 Es handelt sich nicht um Silvia Müller (Auskunft vom 18.9.2011). Die Identität konnte nicht eindeutig geklärt werden. 12 Ein MfS-Mitarbeiter hat hier handschriftlich hinzugefügt: Fischer. Es könnte sich also um Werner Fischer gehandelt haben.
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Dokument 18 vom 8. Mai 1987
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rungserklärung. 13 Templin verlässt mit dem Herrn und Jozek die Wohnung, er will etwas einkaufen. Sylvia berichtet über ihre Arbeit und in diesem Zusammenhang über die Notwendigkeit eines Studiums. Um 10.18 Uhr betritt Templin in Begleitung eines Herrn die Wohnung; Jozek ist auch wieder da und tobt weiter herum. Jozek stellt dann eine Frage, worauf Regina T[emplin] erklärt, dass das der Kaffee von Peter sei, der sei aber schon nach Hause gegangen (möglicherweise handelt es sich um Peter Grimm). Sie unterhält sich dann mit Sylvia über die Kinder und deren Berufswünsche. [Wolfgang] Templin hält sich mit dem Herrn außerhalb des Zimmers auf. Beide kommen dann ins Zimmer. Der Herr kann nicht mehr länger warten. Er bittet Templin, »dem«, wenn er kommt, auszurichten, dass er hier war, er habe »ihm« nur einen Weg ersparen wollen. Kurz darauf, gegen 10.25 Uhr, verabschiedet sich der Herr. Um 10.43 Uhr kommt Ulrich Schwarz zu Templin. Dieser richtet sogleich von … einen Gruß aus und erklärt, dass der hier war, der wollte Schwarz einen Weg abnehmen. Nach einer unverständlichen Bemerkung erklärt Templin, dass er annimmt, dass »er« jetzt unterwegs ist, um »es« an die Mannschaftsleitung zu bringen. (Die weitere Unterhaltung ist kaum verständlich, da Jozek schlimmer als vorher herumtobt.) Schwarz berichtet, dass im Augenblick [Hartwig] Heber, der Mann vom Hörfunk (ARD), 14 verwarnt wird. Schwarz nennt dann die Begründung dafür. Er erklärt, dass er selbst keine Vorladung bekommen hat, er weiß nicht, ob die anderen eine bekommen haben. Templin findet das (wobei die Begründung gemeint ist) wichtig und stellt fest, dass »wir darauf reagieren« müssten. Schwarz setzt hinzu, dass die noch weitere auf diese Art und Weise verwarnen müssten, z. B. den [Karl-Heinz] Baum von der »Frankfurter Rundschau«, die Leute von Reuters, AP und dpa. 15 Schwarz will dann gleich mal Heber anru13 Es ist nicht eindeutig, welche »Regierungserklärung« gemeint war. Eventuell ging es um das drastische Vorgehen des polnischen Staates gegen die Opposition seit März 1987, wobei es zu zahlreichen Festnahmen und Hausdurchsuchungen im gesamten Land kam. Am 24.4.1987 erklärte der polnische Innenminister, dass der »Untergrund« nunmehr endgültig »zerschlagen« werde. Vgl. dazu Hartmut Kühn: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980–1990. Berlin 1999, S. 372. 14 Hartwig Heber (geb. 1944), seit 1985 ARD-Hörfunkkorrespondent in der DDR. 15 Neben der Verwarnung für Börner erhielten mindestens 4 weitere Korrespondenten eine Ermahnung/Verwarnung. Schwarz sollte sogar aus der DDR abgezogen werden (MfS, ZAIG, Wochenübersicht Nr. 19/87, 11.5.1987. BStU, MfS, ZAIG 4570, Bl. 43–45), was aber der »Spiegel« verweigerte. Ein Korrespondent von AP erhielt hingegen eine Einreisesperre in die DDR. Karl-Heinz Baum wurde nicht belangt, obwohl auch er am Flughafen Schönefeld anwesend gewesen war (vgl. Karl-Heinz Baum, Roland Walter (Hg.): »… ehrlich und gewissenhaft …« Mielkes Mannen gegen das Neue Forum. Berlin 2008, S. 27–28, mit Foto). Vom 7. bis 9.5.1987 war er auf dem NDPDParteitag in Leipzig. Dort kam es am Freitag (8.5.1987) zu einem kleineren Zwischenfall am Tagungsgebäude, als Baum dieses nochmals betreten wollte und zunächst seinen Presseausweis nicht vorweisen konnte, ihm deshalb der Einlass verwehrt wurde und es daraufhin zu einer wortreichen
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Dokument 18 vom 8. Mai 1987
fen. Ihm scheint an der ganzen Sache wichtig zu sein, dass »die« gewartet haben, bis die Sowjets … 16 Schwarz weist auf den gestern erschienenen Artikel im »ND« hin 17 und macht auf die inzwischen vergangene Zeit aufmerksam. Eine Seite sei offenbar, die Korrespondenten zu warnen, »die andere aber, dass sie gegen euch … jetzt zur Zeit«. Er setzt nach unverständlichen Bemerkungen hinzu: »Welche Wirkung das auf die Korrespondenten im Zusammenhang mit euch hat, das können wir euch nicht sagen, werdet ihr sehen. Das ist Sache jedes Einzelnen.« Templin erwähnt Warschau und stellt fest, dass es sich bestätigt hat, dass dieses Seminar einen sehr wichtigen Stellenwert bekommen hat. 18 Schwarz stellt fragend fest, dass von ihnen (euch) keiner hingekommen ist, was Templin bestätigt. Templin macht darauf aufmerksam, dass sie denen die Fassung schon telefonisch durchgegeben haben. Er erwähnt persönliche Friedensverträge, deren Form sie etwas geändert haben. Nach der Meinung Templins ist das eine Erklärung, die jeder Wehrdienstverweigerung zugrunde gelegt werden kann. Er macht eine unverständliche Bemerkung und setzt hinzu, dass das in Warschau in den Gruppen diskutiert wird. Er hofft, dass eine gemeinsame Erklärung verabschiedet wird. 19 Templin erklärt etwas, und gelegentlich ist das Rascheln von Papier zu hören. Es ist nichts zu erarbeiten, da Regina T[emplin] mit Jozek spielt. Schwarz verlässt dann offenbar die Wohnung wieder (gegen 11.10–11.15 Uhr). Templin ist ebenfalls nicht mehr festzustellen.
Auseinandersetzung kam. Da dem DDR-Außenministerium dieser Vorfall peinlich war und es – grundlos – befürchtete, Baum könnte darüber in der »Frankfurter Rundschau« berichten, ließ man nebenbei auch gleich noch die fällige Sanktion Baums wegen der »Prager Flugreise« fallen, obwohl er bereits eine entsprechende Vorladung für Montag, den 11.5.1987 erhalten hatte (mündliche Auskunft von Karl-Heinz Baum am 30.9.2011). 16 Bricht hier im Original ab. 17 Es ist nicht ganz klar, auf welchen »ND«-Beitrag sich hier bezogen wird. U.U. meinte Schwarz 3 Meldungen auf der »ND«-Titelseite vom 7.5.1987, in denen es wegen kritischer Äußerungen über die DDR vom Regierenden Bürgermeister Berlins, Eberhard Diepgen, zu scharfen Reaktionen kam und mehrere verabredete deutsch-deutsche Besuche abgesagt wurden. 18 Vom 7. bis 9.5. fand ein internationales Friedensseminar in Warschau statt, das polnische Oppositionsgruppen organisiert hatten. Außer einem tschechischen und einem jugoslawischen Oppositionellen konnte sonst aus dem Ostblock kein Oppositioneller teilnehmen. Vgl. Grenzfall 5/1987, nachgedruckt in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 59; Grenzfall 6/1987, in: ebenda, S. 71–72. 19 In der »Warschauer Erklärung« ist u. a. das Recht auf Wehrdienstverweigerung, die Schaffung eines zivilen Ersatzdienstes, die Abschaffung vormilitärischer Erziehung, das Verbot des Einsatzes der Armeen im Inneren der Länder oder gegen andere Länder des Warschauer Paktes gefordert worden, abgedruckt in: Grenzfall 6/1987, in: ebenda, S. 72.
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Dokument 19 Information über Gespräche von Roland Jahn mit Regina Templin am 17. Mai 1987 und Wolfgang Templin am 18. Mai 1987 (Originaltitel) 20. Mai 1987 Von: MfS, HA XX/2 An: MfS, HA XX/5 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 403–404
Streng intern wurde zu Gesprächen von Roland Jahn mit Regina und Wolfgang Templin Folgendes erarbeitet: Jahn wollte von Regina Templin den Stand des Vorgehens gegen die »Weißenseer Blätter« wissen. 1 Diese erklärte, dass sie die Versuche einer Klage aufgegeben hätten. Sie wären deswegen noch bei zwei Rechtsanwälten gewesen und hätten nichts erreicht. Ihrer Meinung nach, wären diese »vorbereitet« gewesen. Von Wolfgang Templin forderte Jahn kurzfristig einen Artikel zum Thema »Kirche und Friedensbewegung«, den Templin zusagte. Templin soll diesen 1 Im Oktober 1986 hatten 58 ungarische, 24 tschechische und slowakische, 28 polnische und 16 ostdeutsche Oppositionelle eine gemeinsame Erklärung zum 30. Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956 veröffentlicht (abgedruckt u. a. in: Grenzfall 2/1986, in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 14). Am Zustandekommen der Erklärung war u. a. Roland Jahn beteiligt. Der Theologe Hanfried Müller (1925– 2009; IM des MfS 1954–1989), seit 1964 Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat daraufhin in den »Weißenseer Blättern« – einem von SED-treuen Theologen herausgegebenen Periodikum, das als Gegenpol zu innerkirchlichen und oppositionellen Publikationen im Rahmen der staatlichen »Differenzierungspolitik« mit maßgeblicher MfS-Unterstützung seit 1982 herauskam – 2 Artikel publiziert, in denen er die ungarische Revolution als faschistischen Putschversuch kennzeichnet, die Unterzeichner in die Nähe von Faschisten rückt und sie zugleich als Wegbereiter für politischen Terrorismus brandmarkt (vgl. Weißenseer Blätter 6/1986 sowie dann nochmals: ebenda 1/1987). Mehrere Unterzeichner (u. a. Martin Böttger, Bärbel Bohley, Regina und Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Gerd Poppe) haben deshalb im Januar 1987 beim DDR-Generalstaatsanwalt einzeln Strafanzeige gegen H. Müller wegen Verleumdung gestellt (z. B. Gerd Poppe, An den Generalstaatsanwalt, Anzeige, 20.1.1987. BStU, MfS, AOP 17375/91, Bd. 23, Bl. 29–31). Innerhalb des MfS ist entschieden worden, jedem einzelnen Anzeigenden eine Antwort, unterzeichnet von einem dem Generalstaatsanwalt untergeordneten Staatsanwalt, zukommen zu lassen. Darin wies dieser darauf hin, dass es zu keiner Strafverfolgung von H. Müller komme, da er lediglich das in der DDR-Verfassung verbriefte Recht auf freie und öffentliche Meinungsäußerung in Anspruch nehme (MfS, HA IX/2, Vorschlag zur Zurückweisung einer von Exponenten politischer Untergrundtätigkeit inszenierten Aktion zur Erstattung von Strafanzeigen, 3.2.1987. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 9, Bl. 21–24). Gerd Poppe wiederum schrieb daraufhin einen Offenen Brief (»Artikel 27«), der im Grenzfall 3/1987 abgedruckt wurde, nachgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 200–204. Über den Brief ist in westlichen Medien berichtet worden; er wurde auch nachgedruckt, u. a. als längerer Auszug in englischer Übersetzung mit einem Vorwort von Roland Jahn in: East European Reporter 1987, S. 53–54.
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Dokument 19 vom 20. Mai 1987
Artikel unter der Telefonnummer 460XXX durchgeben. Sollte er nicht durchkommen, werde von dieser Nummer aus mit ihm Kontakt aufgenommen. (Bei diesem Anschluss handelt es sich um eine Durchwahlnummer der Redaktion »taz«.) Eine weibliche, namentlich nicht bekannte Person meldet sich nach ca. zwei Stunden bei dem Templin und er gibt ihr folgenden Text durch: »Schutzraum Kirche? Für die Amtskirche der DDR ist die Friedensbewegung zu einer Art Schmuddelkind geworden. Man hat es am eigenen Tisch, meist aufsässig und mit schlechten Manieren. Wenn guter Besuch kommt, sperrt man es besser weg. Bei aller Rebellion gefällt sich das Kind auch in seiner Rolle und stellt die Autorität immer so infrage, dass es sie letztlich nur bestätigt. Angst vorm Erwachsenwerden? Kirche ist ja mehr, als die schlechte Autorität der Institution und Privilegienverwaltung. Sie ist auch der gelebte Anspruch des Evangeliums in der Arbeit von Laien und Pfarrern. Sie ist die Suche nach gesellschaftlicher Verantwortung und der Widerstand gegen die Vetternwirtschaft von Staatsund Kirchenhierarchie. Eine Friedensbewegung, die nüchtern und selbstbewusst ihre eigenen Möglichkeiten erkennt und entwickelt, Freiräume nicht erschleicht, sondern erkämpft, könnte zum wirklichen Partner der Kirchenbasis werden. Mit dem Monopol für kritisches Engagement muss jede Kirche überfordert sein. Die Erfahrungen der Nachbarländer zeigen, dass es anders geht. Zeit zum Erwachsenwerden!« Auf eine entsprechende Frage dieser Person gibt Templin sein Einverständnis, dass sein Name unter diesen Artikel gesetzt wird. Kurze Zeit später meldet sich die Person erneut und teilt mit, dass der Text zu kurz sei und Templin verspricht, ihr eine Ergänzung zu erarbeiten. Als die Person nach 20 Minuten sich erneut bei Templin meldet, diktiert er ihr folgende Ergänzung … hinter … »könnte zum wirklichen Partner der Kirchenbasis werden«, sei fortzufahren: »Solidarität und Hilfe würden dann aus der gemeinsamen Arbeit und Anerkennung erwachsen, nicht als karitative Geste nur die Abhängigkeit verlängern. Mit dem Monopol für kritisches Engagement muss jede Kirche überfordert sein. Wenn, wie in der DDR, jede Tradition und Erfahrung für eine eigenständige gesellschaftliche Bewegung fehlt, die zugleich staats- und kirchenunabhängig ist, wird jeder Schritt doppelt mühsam und riskant. Auch die Erfahrungen der Nachbarländer können für unsere Situation nur bedingt gelten, denn dort haben diese Bewegungen eine lange Tradition, zum Beispiel die immer gefährdete, aber von Anfang an auf Selbständigkeit gerichtete Arbeit der »Charta 77«, die erst jetzt von Kreisen junger Katholiken stärker aufgenommen wird. Das Kapitel Kirche – Solidarność und Friedensbewegung in Polen zeigt, wie lange es zu einer wirklichen Partnerschaft verschiedener gesellschaftlicher Kräfte braucht. Den eigenen Anfang wird uns niemand abnehmen
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Dokument 19 vom 20. Mai 1987
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können.« Abschließend daran sollte nur als kontrastierender Satz stehen: »Zeit zum Erwachsenwerden.« Der endgültige Text ist als Anlage beigefügt. 2 Weiterhin informieren Regina und Wolfgang Templin, dass sie die Premiere des Krawczyk, Stephan am 15. Mai 1987 in der Sophienkirche besucht haben, und sie hätten die Sache als sehr gut empfunden. 3 Westberliner hätten diese Veranstaltung ebenfalls besucht.
2 Der Kommentar konnte in der »taz« nicht nachgewiesen werden. Gedanken gingen u. a. ein in folgende Beiträge: DDR-Kirchenhimmel öffnet sich nach unten, in: taz vom 26.6.1987; Kirche der DDR will aus der Nische, in: taz vom 3.7.1987. Aber auch: Wolfgang Templin: Götterdämmerung. Zum DDR-Kirchentag von unten in Ost-Berlin, in: taz vom 30.6.1987. 3 Es handelte sich um das Programm »Wieder Stehen«.
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Dokument 20 Einflussnahme des Roland Jahn auf eine »Friedensgruppe« in der DDR (Originaltitel) 2. Juni 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/5 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 7a, Bl. 170–172
Durch Verbindungen einer inoffiziellen Quelle wurden zuverlässig Hinweise dazu gewonnen, wie der ehemalige DDR-Bürger Jahn, Roland, Einfluss auf eine »Friedensgruppe« in der DDR nimmt. Dabei wird deutlich, dass Jahn diesen Personen auch materielle Hilfe zukommen lässt und offenbar auch finanzielle Transaktionen im Auftrag dieser DDR-Bürger vornimmt. Konkret wurde festgestellt, dass Jahn am späten Abend des 27.5.1987 1 Kontakt zu dem Nitsche, Wolfgang, geb. 1.2.1951, 1058 Berlin, Rykestraße 13, Telefon: 449XXX aufnahm. Diese Kontaktaufnahme erfolgte offenbar auf Anforderung des Nitsche, 2 der Jahn mitteilte, dass er dringend »etwas« benötige, da er für zwei Sachen feste Termine habe. [Stephan Bickhardt] erklärte dazu wörtlich: »Ich suche dringend, weil es das nicht mehr gibt, die 571 3. Nicht in Blättern, sondern das andere. Es ist so, jetzt mal generell, was das betrifft. Die Blätter, ja das läuft, ja also da, bis auf weiteres, sehe ich keine Probleme, weil man muss auch dazu wissen, dass bei meinen Unternehmungen, es sich ja auch um einen ziemlichen Umfang handelt und das muss ja organisiert sein.« Da Jahn da1 Das Dokument ist im Original auf den 2.5.1987 datiert. Es handelt sich dabei aber offenkundig um einen Schreibfehler und das Dokument ist am 2.6.1987 erstellt worden. 2 Dieser Telefonanschluss ist häufig von Oppositionellen für Gespräche genutzt worden, auch für solche mit Roland Jahn. Zum fraglichen Zeitpunkt wohnte allerdings Wolfgang Nitsche, seit 1990 Referatsleiter in der Hans-Böckler-Stiftung (Er gehörte in den 1970er Jahren zu einer Oppositionsgruppe mit Wolfgang Templin. Vgl. Inga Wolfram: Verraten. Sechs Freunde, ein Spitzel, mein Land und ein Traum. Düsseldorf 2009) nicht mehr in der Wohnung, aber seine Frau; sie hatten sich getrennt. Er telefonierte an diesem Tag nicht mit Roland Jahn (Information von Wolfgang Nitsche am 5.10.2011). Stephan Bickhardt und Roland Jahn hatten sich am 10.4.1987 telefonisch darüber verständigt, dass sie künftig häufiger den Fernsprechanschluss von Wolfgang Nitsche für ihre Telefonate nutzen wollen (BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 7a, Bl. 185). Bickhardt, Nitsche und dessen Ehefrau waren freundschaftlich eng miteinander verbunden. Bickhardt nutzte für solche Telefongespräche u. a. die Telefonanschlüsse seiner Eltern in Berlin-Kaulsdorf, wo auch die illegale radixDruckerei untergebracht war, den Anschluss einer Nachbarin sowie auch den hier infrage stehenden Anschluss. Aus dem Kontext ergibt sich, dass er das Telefongespräch mit Jahn führte (Erklärung von Stephan Bickhardt vom 30.9.2011). Im Folgenden ist Nitsche durch Bickhardt ersetzt worden. 3 Es handelt sich um ein Verschleiß- oder Verbrauchsmaterial für eine Druckmaschine, genauer um die Farbpatronen für die Wachsmatrizen (schriftliche Information von Stephan Bickhardt am 30.9.2011; mündliche Information von Roland Jahn am 3.1.2012).
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Dokument 20 vom 2. Juni 1987
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raufhin erklärte, diese Dinge erst bestellen zu müssen, da sie nicht mehr gebräuchlich seien, und [Bickhardt] versuchen sollte, mit irgend etwas an DDRProdukten nachzufüllen, besteht der Verdacht, dass es sich bei 571 um den Typ eines Druck-, Vervielfältigungs- oder Kopiergerätes handelt. Jahn wies dabei darauf hin, dass dies sowieso die beste Lösung sei, da der Aufwand (offenbar finanziell) ansonsten enorm wäre. Die Bemerkung [Bickhardts], »aber da ist doch mal jemand dagewesen und hat ein bisschen was gebracht«, und die Bestätigung Jahns, dass dadurch »auch einiges abgedeckt wurde«, deuten darauf hin, dass eine Finanzierung durch Drittpersonen erfolgen könnte. Ebenfalls mit der Finanzierung dieser Aktivitäten im Zusammenhang steht wahrscheinlich die Erklärung [Bickhardts], »es gibt da eine Frage so von Leuten, die mal was überweisen wollen auf eine Nummer. Ich würde dir das mal schreiben, worum es sich handelt, weil das dann wahrscheinlich in Zukunft doch ein bisschen mehr wird«. Jahn betonte mehrfach, dass er natürlich immer bereit sei zu helfen, aber es müsse auch jedem bewusst sein, was dies für einen Wert habe, und deshalb müsse jeder dafür Sorge tragen, dass es für »vernünftige Sachen« verwendet wird. Auf Anfrage des [Bickhardt], ob das mit dem Schein in Ordnung gegangen wäre, erklärte Jahn, zweimal etwas erhalten zu haben. Es würde sich einmal um eine Anweisung handeln und das andere hätte er direkt erhalten. Dabei handelt es sich offenbar gleichfalls um Geldbeträge, deren genaue Höhe dem [Bickhardt] unbekannt ist. Deshalb wollte Jahn dem [Bickhardt] in schriftlicher Form mitteilen, welche Höhe diese Geldbeträge haben und wie viel er davon schon für die Finanzierung der durch [Bickhardt] angeforderten Dinge ausgegeben hat. Jahn will diese schriftliche Mitteilung offenbar nicht über den sonst üblichen Weg an [Bickhardt] geben, was sich daraus erklären könnte, dass ihm die Zwischenschaltung von Mittelspersonen als zu gefährlich erscheint. Er erklärte in diesem Zusammenhang wörtlich: »Ich bin auch noch zur Zeit auf einer Suche, um bestimmte Zwischenleute auszuschalten, dass man das direkt kriegt, das muss ich sehen.« Bezüglich der von [Bickhardt] angeforderten Materialien bemerkte Jahn, dass er diese wahrscheinlich frühestens am 9. Juni 1987 besorgen könne. Dies begründet sich daraus, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Woche vor Pfingsten verreisen werde. [Bickhardt] bliebe deshalb nur die Möglichkeit zu versuchen, ein DDR-Produkt zu verwenden oder sich das benötigte Material von anderen zu borgen. Dies begründet den Verdacht, dass es offenbar noch mehrere Geräte des gleichen Typs in der DDR gibt. 4 Bestärkt wird dies auch dadurch, dass Jahn 4 Über Roland Jahn und Heinz Suhr gelangten drei Druckmaschinen zu Wolfgang Templin und Stephan Bickhardt, davon ist eine für die radix-Druckerei genutzt worden, die anderen gingen an die »Grenzfall«-Redaktion und die »Umweltbibliothek«.
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Dokument 20 vom 2. Juni 1987
bereits am 10. April 1987 in einem Gespräch mit einem DDR-Bürger, 5 bei dem es sich um Bickhardt, Stephan, geb. 3. September 1959, gehandelt haben könnte, die Bezeichnung 571 verwendet hat. Da Bickhardt damals aber auch den Fernsprechanschluss des Nitsche zur Kontaktaufnahme mit Jahn nutzte, ist es möglich, dass Nitsche und Bickhardt das gleiche Gerät nutzen. 6 Zwischen Jahn und [Bickhardt] war auch eine weitere Aktivität verabredet, bei der es sich um die Einreise von Personen in die DDR handeln könnte. Jahn erklärte, dass es diesmal Ende des Monats nicht klappt. Die Ursache dafür bestände darin, dass er erst Probleme hatte jemanden zu erreichen, sodass es schon terminlich sehr knapp würde und sich einige Leute, die offiziell ein bisschen eingebunden sind, sich etwas zurückhalten würden. Eine prinzipielle Bereitschaft würde jedoch von diesen Personen vorliegen und er habe auch schon angedeutet, dass dies eine regelmäßige Sache Ende des Monats werden soll und sie (die durch Jahn angesprochenen Leute) sollten selbst einen Vorschlag unterbreiten. 7 Auf Vorschlag des [Bickhardt] will Jahn versuchen, den BRD-Schriftsteller Grass, Günter, für ein Treffen mit [Bickhardt] zu gewinnen. Grass soll am 15. oder 16. Juni eine Lesung im »Theater im Palast« durchführen 8 und Jahn soll ihm die Adresse eines Ludwig (handschriftlich: Mehlhorn?) übermitteln, da [Bickhardt] dies angebrachter erscheint als seine eigene Adresse anzugeben. Bemerkung: Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz erforderlich.
5 MfS-Unterlagen zu diesem Telefongespräch sind bislang nicht aufgefunden worden. 6 Wolfgang Nitsche nutzte ein solches Gerät nicht, vielmehr handelte es sich in beiden Fällen um Verabredungen, die Bickhardt und Jahn trafen (siehe Anm. 2). 7 Stephan Bickhardt und Ludwig Mehlhorn baten Roland Jahn, bundesdeutsche Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu vermitteln, die bei den inoffiziellen regelmäßigen Lesungen bei Mehlhorn und Bickhardt vortragen könnten. Zu solchen Lesungen, die die beiden ab 1984 organisierten und die zuvor von Frank-Wolf Matthies, Ekkehard Maaß sowie Gerd und Ulrike Poppe organisiert worden waren, kamen in die Privatwohnungen im Prenzlauer Berg zwischen 50 und 200 Personen. Zum Teil wurden die Lesungen in mehrere Räume übertragen. Siehe u. a. Stephan Bickhardt (Hg.): In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn. Leipzig 2012; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002. 8 Am 17.6.1987 durfte Günter Grass erstmals seit dem Mauerbau 1961 wieder öffentlich und offiziell in der DDR eine Lesung durchführen. Zuvor war er mehrfach zu privaten Lesungen in der DDR. Am 17.6.1987 kamen etwa 500 Zuhörer und -hörerinnen in das Theater im Palast der Republik. Anschließend kam Grass mehrfach zu Lesungen in die DDR. Vgl. Kai Schlüter: Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte. Eine Dokumentation. Berlin 2010, sowie Roland Berbig (Hg.): Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost. Berlin 2005.
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Dokument 21 Verbindungsaufnahmen der sogenannten »Initiative Frieden und Menschenrechte« (Wolfgang Templin) nach der UdSSR und der VR Polen (Originaltitel) Ende Mai 1987 1 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Beifügung Bd. 2, Bl. 5–6
1. UdSSR Am 27. März 1987 nahm Wolfgang Templin (Auskunft als Anlage) 2 erstmalig Verbindung mit dem Ehepaar Kriwow, Andrej und Kriwowa, Irina, […] 3 in Moskau auf, nachdem er in Besitz von schriftlichen Unterlagen der Moskauer Gruppe »Vertrauen« 4 gelangt war, darunter ein Brief dieser Gruppe an Genossen [Michael S.] Gorbatschow gegen das Strafverfahren [Sergej] Swetuschkin. 5 Neben der gegenseitigen Information über die Lage der jeweiligen Gruppen in Moskau und Berlin wurde eine Protestaktion der Berliner Gruppe um Templin in Berlin gegen die Inhaftierung des sowjetischen Bürgers [Sergej] 1 Bei dem vorliegenden Dokument handelt es sich um ein undatiertes Durchschlagexemplar ohne Angabe von Verfasser und Adressat. Aus den im Dokument genannten Ereignisdaten bis einschließlich 27.5.1987 wurde auf den Erstellungszeitraum geschlossen. 2 Die Anlage ist hier nicht mit aufgenommen worden. Sie enthält bekannte Personendaten. 3 Adresse anonymisiert. 4 Die Oppositionsgruppe »Vertrauen« (Доверие) bildete sich am 4.6.1982. Sie verstand sich als Friedensgruppe, die die globale Blockpolitik »von unten« aufweichen und überwinden wollte. Das Gründungsdokument ist in der letzten Ausgabe (1968–1982) der »Chronik der laufenden Ereignisse« (Хроника текущих событий) abgedruckt. Vgl. Ausgabe Nr. 65 in: http://www.memo.ru/history/diss/chr/index.htm. Eine Selbstdarstellung der Gruppe ist auch im ostdeutschen Samisdat abgedruckt worden. Vgl. Grenzfall 3/1987, nachgedruckt in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 42; außerdem auch eine Erklärung zu Afghanistan, siehe Grenzfall 4/1987, in: ebenda, S. 49–50. Zu dieser Gruppe siehe auch Т. И. Телюкова: Московская группа »Доверие« (1982–1989) (Die Moskauer Gruppe »Vertrauen«), in: Т. А. Павлова (Hg.): Долгий путь российского пасифисма (Der lange Weg des russländischen Pazifismus). Moskau 1997, S. 326–336. 5 Der Germanist und Übersetzer (geb. 1955) ist zu einem Jahr Lagerhaft bzw. nach Verfahrenswiederaufnahme zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Offiziell lauteten die Vorwürfe »parasitäre Lebensweise« und »mutwillige Verweigerung von Alimentenzahlungen« (aufgrund eines Buchungsfehlers sind 4 Rubel an seine geschiedene Frau zu wenig bezahlt worden); tatsächlich ist er wegen seiner Tätigkeit in der Gruppe »Vertrauen« und der Gruppe »Herstellung des Vertrauens zwischen der UdSSR und den USA« verurteilt worden. Eine Notiz dazu findet sich in: Grenzfall 4/1987, nachgedruckt in: Hirsch; Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall, S. 50; Grenzfall 7/1987, in: ebenda, S. 83. Vgl. auch Sergej Swetuschkin: Brief aus dem Gefängnis, in: Kontinent 1987/2, Nr. 41, S. 99–101.
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Dokument 21 von Ende Mai 1987
Swetuschkin abgestimmt. Diese Aktion wurde von Templin in der folgenden Zeit organisiert: – Abfassung eines Protestschreibens an Genossen Gorbatschow mit der Forderung auf Freilassung von Swetuschkin und Einstellung des Strafverfahrens, wenn die Politik von »Glasnost« glaubwürdig bleiben solle. 6 Dieser Brief war ursprünglich dafür bestimmt, ihn persönlich an Genossen Gorbatschow anlässlich der Beratungen des Politisch Beratenden Ausschusses der Warschauer-Pakt-Staaten 7 zu übergeben. – Lancierung des Briefes durch Templin an westliche Massenmedien über den »Spiegel«-Korrespondenten [Ulrich] Schwarz. 8 – Erneute Verbindungsaufnahme mit der Familie Kriwow in Moskau am 25. Mai 1987, um die neuesten Informationen über das Strafverfahren gegen Swetuschkin einzuholen. 9 – Die bevorstehende Briefübergabe an die sowjetische Botschaft in Berlin wurde mit dem AP-Korrespondenten XXX am 26. Mai 1987 abgestimmt. – Wolfgang Templin und Werner Fischer übergaben am 27. Mai 1987 in der Botschaft der UdSSR in Berlin einen an Genossen Gorbatschow gerichteten »Offenen Brief« mit der provokatorischen Forderung auf Freilassung Swetuschkins, wenn Genosse Gorbatschow die Glaubwürdigkeit seiner Politik unterstreichen wolle. 10 6 Den Offenen Brief an Gorbatschow (27.5.1987) unterzeichneten für die IFM Werner Fischer, Ulrike Poppe, Wolfgang Templin, Gerd Poppe sowie die IM des MfS Ibrahim (eigentl. Manfred) Böhme und Monika Haeger. Darin forderten sie u. a. die Oppositionsgruppen an den gesellschaftlichen Reform- und Diskussionsprozessen zu beteiligen, solche Reformen auch in der DDR zu befördern sowie Swetuschkin zu entlassen. Vgl. Grenzfall 6/1987, nachgedruckt in: Hirsch; Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall, S. 66–67. 7 Der Politische Beratende Ausschuss des Warschauer-Vertrages (PBA) tagte am 28./29.5.1987 in Ost-Berlin. Der PBA traf sich unregelmäßig und stellte das oberste Entscheidungsgremium des östlichen Militärbündnisses dar, an dem die ranghöchsten Vertreter der jeweiligen Mitgliedsstaaten teilnahmen. Vgl. zum PBA u. a. Frank Umbach. Das rote Bündnis. Entwicklung und Zerfall des Warschauer Paktes 1955 bis 1991. Berlin 2005 (die Sitzungstermine des PBA: ebenda, S. 600–608). Zu der Tagung in Ost-Berlin 1987 siehe die Dokumente in: Vojtech Mastny, Malcom Byrne (Hg.): A Cardboard Castle? An Inside History of the Warsaw Pact, 1955–1991. Budapest, New York 2005, S. 559–571; sowie Petre Opriş: Eine seltsame Partnerschaft: Die rumänisch-sowjetischen Beziehungen und die Wiederherstellung der europäischen Ordnung Ende der 1980er Jahre, in: Torsten Diedrich, Walter Süß (Hg.): Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-Pakt-Staaten. Berlin 2010, S. 103–131, v. a. 114. Auch: ND vom 30./31.5.1987, S. 1–2. 8 In folgendem Beitrag ist der Offene Brief erwähnt worden: Gebremster Beifall für Gorbatschows Reform, in: Der Spiegel Nr. 23 vom 1.6.1987, S. 110–112, spez. 111–112. 9 An diesem Tag ist in einem Wiederaufnahmeverfahren das Strafmaß auf ein halbes Jahr gesenkt worden. Swetuschkin ist sofort entlassen worden, da er die Strafe bereits abgesessen hatte. Vgl. Grenzfall 7/1987, nachgedruckt in: Hirsch; Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall, S. 83. 10 Vgl. Offener Brief an Gorbatschow (27.5.1987), in: Grenzfall 6/1987, nachgedruckt in: Hirsch; Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall, S. 66–67. Außerdem ein kurzer Bericht über die Übergabe in der Botschaft: ebenda, S. 67–68.
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Dokument 21 von Ende Mai 1987
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Alle Bemühungen von Templin, Fischer, [Thomas] Klein u. a. Initiatoren politischer Untergrundtätigkeit, mittels Reisen in die UdSSR persönliche Verbindungen zur Gruppe »Vertrauen« u. a. Personen aufzunehmen, wurden bisher durch eingeleitete Reisesperrmaßnahmen verhindert. 2. VR Polen Ende April 1987 wurde nach der von Roland Jahn (Westberlin) gegebenen Orientierung von den operativ bekannten DDR-Bürgern Wolfgang Templin, Mario Wetzky, 11 Martin Böttger, Gerd Poppe der Textentwurf der »Warschauer Erklärung« 12 verfasst. Nach einer nochmaligen Abstimmung des Textes mit Roland Jahn (Westberlin) wurde der Text am 6. Mai 1987 von Templin an Jacek Czaputowicz (Gruppe »Frieden und Freiheit« in Warschau) 13 telefonisch übermittelt. Templin teilte mit, dass die Erklärung von zehn DDRBürgern unterschrieben worden sei. Diese »Erklärung« wurde durch Czaputowicz, mit dem Templin seit Januar 1987 in telefonischer Verbindung stand, als Äußerung der Opposition aus der DDR während des Treffens polnischer oppositioneller Kräfte am 9. Mai 1987 in Warschau veröffentlicht. Alle bisherigen Versuche von Templin bzw. Czaputowicz, Reisen in die VR Polen bzw. in die DDR zu organisieren, wurden durch die eingeleiteten Reisesperrmaßnahmen verhindert. Es wurde auch verhindert, dass feindlich-negative Kräfte aus der DDR zu dem Treffen am 9. Mai 1987 nach Warschau reisen konnten. Inoffiziell wurden feindliche Pläne und Absichten bekannt, das Zusammenwirken feindlich-negativer Kräfte in den sozialistischen Staaten weiter zu verstärken. Dazu sollen sowohl mehr Zusammenkünfte (durch Überwindung der Aus- und Einreisesperrmaßnahmen) als auch gegenseitige Übergaben/Übernahmen und Veröffentlichung schriftlicher Verlautbarungen in verstärktem Maße erfolgen. So ist geplant, ein gemeinsames OsteuropaBulletin in Warschau herauszugeben, in dem Dokumente und Probleme der oppositionellen Gruppen der DDR, der UdSSR, der VR Polen, der ČSSR, der VR Ungarn und der SFR Jugoslawiens veröffentlich werden sollen. 14 Es sollen 11 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 12 In der »Warschauer Erklärung« ist u. a. das Recht auf Wehrdienstverweigerung, die Schaffung eines zivilen Ersatzdienstes, die Abschaffung vormilitärischer Erziehung, das Verbot des Einsatzes der Armeen im Inneren der Länder oder gegen andere Länder des Warschauer Paktes gefordert worden, abgedruckt in: Grenzfall 6/1987, in: Hirsch; Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall, S. 72. 13 Die Oppositionsgruppe »Ruch Wolność i Pokój« war 1985 gebildet worden. Ihr Hauptziel bestand in der Durchsetzung der Menschenrechte. Eine Geschichte dieser Gruppe bietet folgende Monografie: Anna Smółka-Gnauck: Między Wolnościa a Pokojem. Zarys historii Ruchu »Wolnoiść i Pokój«. Warschau 2012. Die Gründungserklärung vom Mai 1985 ist in deutscher Übersetzung u. a. abgedruckt in: osteuropa-forum, hg. vom Osteuropa-Komitee Düsseldorf 3 (1986) 11, S. 5. 14 Dazu ist es nicht gekommen.
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Dokument 21 von Ende Mai 1987
in jedem Land zwei Korrespondenten für dieses Bulletin geschaffen werden, die für die Organisierung der Materialbeschaffung und Weitergabe nach Warschau verantwortlich sein sollen. Es sind weitere spektakuläre, öffentlichkeitswirksame gemeinsame Aktionen geplant, z. B. Zusammenkünfte von Vertretern feindlich-negativer Kräfte verschiedener sozialistischer Länder in Form von gemeinsamen Grenztreffen oder Zeltlagern, wobei die Reisesperren umgangen bzw. durchbrochen werden sollen. 15
15 Zu solchen, meist bilateralen Treffen kam es mehrfach, allerdings nur selten unter Beteiligung von Oppositionellen aus der DDR, da hier die Reiseverbotspraxis besonders rigide gehandhabt wurde. Allerdings haben mehrfach DDR-Oppositionelle teilgenommen, die in der Bundesrepublik lebten.
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Dokument 22 Anforderung von Stimmkonserven der im OV »Weinberg« der Hauptabteilung XX/5 erfassten bzw. operativ angefallenen Personen (Originaltitel) 9. Juni 1987 Von: MfS, HA XX, 1 stellv. Leiter Oberst [Benno] Paroch 2 An: MfS, HA III, Leiter [Generalmajor Horst Männchen] 3 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 11, Bl. 127
Sie werden gebeten zu veranlassen, dass der HA XX/5 zur weiteren zielgerichteten operativen Bearbeitung der im OV »Weinberg« erfassten bzw. operativ angefallenen Personen – Jahn, Roland, 1000 Berlin 36, Görlitzer Str. 66 sowie – Auerbach, Thomas, 1000 Berlin 42, Blumenthaler Str. 11 4 – XXX 1 Erarbeitet von der HA XX/5/II. 2 Benno Paroch (1932–2004), Maschinenschlosser, 1951 SED, seit 1954 Mitarbeiter der Staatssicherheit (HA V), 1965 Abteilungsleiter der HA XX/1, 1969/70 Diplomjurist der JHS mit der Abschlussarbeit: »Das Wirken der politisch-ideologischen Diversion unter Kunst- und Literaturschaffenden und die politisch-operative Klärung der Frage ›Wer ist wer?‹ unter diesen Personenkreisen«; seit 1979 stellv. Leiter der HA XX, 1981 Beförderung zum Oberst, Entlassung zum 31.1.1990. 3 Horst Männchen (1935–2008), 1953 Abitur, anschließend Eintitt ins SfS, Abt. V der BV Dresden, 1954 SED, 1954 Versetzung zur HA S (operative Technik); 1960–1965 Fernstudium, Ingenieur für Hochfrequenztechnik; 1961 Entlassung aus disziplinarischen Gründen (Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluss), anschließend bis 1963 als IM tätig, 1963 neuerliche Einstellung im MfS, Abt. VIII der HV A, 1965 Versetzung zum BdL; 1968 Dipl.-Jurist, ab 1966 Operativstab beim 1. Stellvertreter des Ministers, ab 1971 Leiter des Bereichs III beim 1. Stellv. des Ministers (ab 1973 Abteilung bzw. ab 1983 HA III); 1979 Generalmajor; Dezember 1989 von seiner Funktion entbunden; Januar 1990 Entlassung. Männchen promovierte 1974 an der JHS zusammen mit einem weiteren MfS-Offizier mit der Arbeit: »Probleme des Einsatzes spezifischer technisch-physikalischer Mittel und Methoden durch das MfS bei der Abwehr und Aufklärung des ›elektronischen Kampfes‹ in der Klassenauseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus«. Nach 1990 offenbarte er gegenüber dem Bundeskriminalamt, der Bundesanwaltschaft sowie dem Bundesamt für Verfassungsschutz einen Teil seines Wissens über das MfS und ließ sich vom BfV offenbar auch zeitweise als VMann führen (vgl. Andreas Förster: Verräter? Wie sich Stasi-General Horst Männchen dem Verfassungsschutz anbot, in: Horch und Guck 17 (2008) 61, S. 70–73). 4 Thomas Auerbach (geb. 1947), seit 1971 Stadtjugendwart in Jena und dort maßgeblich an der Etablierung der Offenen Arbeit beteiligt, nach Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung verhaftet und im September 1977 aus der Haft in die Bundesrepublik abgeschoben. Siehe z. B. Henning Pietzsch: Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970–1989. Köln, Weimar, Wien 2005; Udo Scheer: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. Berlin 1999; Gerold Hildebrand: Thomas Auerbach, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biografien und Fotos. Berlin 2006, S. 200–203.
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Dokument 22 vom 9. Juni 1987
– Klingenberg, Reinhard, 1000 Berlin 21, Gotzkowskystr. 13 5 – Rösch, Peter, 1000 Berlin 36, Muskauer Str. 3 6 – Wendler, Frank, 1000 Berlin, Lausitzer Platz 10 7 für eine Klassifizierung/Einspeicherung in der Technischen Untersuchungsstelle des MfS geeignete Stimmkonserven zur Verfügung gestellt werden. 8
5 Reinhard Klingenberg (geb. 1952), ev. Theologe, gehörte zu den bekanntesten Köpfen der Oppositionsbewegung in Jena, 1982 Ausreise nach West-Berlin, seit den 1970er Jahren in mehreren OV vom MfS verfolgt, auch nach der Ausreise. 6 Peter Rösch »Blase« (geb. 1953), Feinmechaniker, 1971–1982 engagiert in der »Offenen Jugendarbeit« der Jungen Gemeinde Stadtmitte/Jena, 1978–1979 Bausoldat, 1981 Inhaftierung in der Stasi-U-Haftanstalt Gera zusammen mit Matthias Domaschk (1957–1981), der dabei ums Leben kam, 1982 Ausreise nach West-Berlin, seither Unterstützung der Opposition in der DDR; seit 1983 Restaurator im Deutschen Technikmuseum. 7 Frank Wendler (geb. 1959) war in Jena in der »Offenen Arbeit« und unabhängigen Friedensbewegung engagiert, gründete 1982 die Gruppe »Hoffnung Nicaragua« mit; nach seiner Ausreise nach West-Berlin ist er weiterhin vom MfS verfolgt und bearbeitet worden. 8 Am 9.7.1987 notierte ein Mitarbeiter der HA XX/5 in einem Aktenvermerk, dass die angeforderten Stimmkonserven erst im September 1987 »erstellt werden« können (BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 355). Im Fall von Roland Jahn ist nachweisbar, dass eine Stimmkonserve auch existierte (vgl. Dok. 93).
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Dokument 23 Bericht (Originaltitel) 8. Juli 1987 Von: IM »Raffelt« 1 Quelle: BStU, MfS, BV Dresden, AIM 254/89, Teil II, Bd. 11, Bl. 152–154
Aus Telefongesprächen mit Roland Jahn konnte ich dessen reges Interesse am KvU 2 entnehmen. Ihm ging es dabei konkret um: – Programmablauf, Diskussionsrunden, – Anzahl anwesender Personen, – Verhalten der Sicherheitsorgane, – Verhalten Kirchenleitung, – persönl[iches] Bedauern, dass er nicht selbst teilnehmen könne, – Bitte um Materialien, – Stimmung der Teilnehmer, – Fragen nach Anzahl, Auftreten der westlichen Massenmedien. Diese Fragen wurden teilweise von mir, jedoch in der Intensität von [Ralf] Hirsch und [Rüdiger] Rosenthal sowie Wolfgang Rüddenklau beantwortet. Meines Erachtens wurden diese Fragen durch alle Gesprächsteilnehmer objektiv beantwortet. Von sich aus rief Jahn ca. 10 x an, von unserer Seite ca. 10 bis 15-mal. Jahn besorgte den im Tageskaffee verkauften Kaffee im Wert von ca. 250 DM. Der Kaffee gelangte durch eine Gruppe der Grünen, die vermutl[ich] Teilnehmer des KvU waren, in die DDR. Eine männl[iche] Person dieser Gruppe, mit Namen Wilhelm [Knabe], 3 war konkret von Jahn beauftragt, 4 mit mir Kontakt aufzunehmen, zu diesem Kontakt ist es nicht gekommen, Gründe sind nicht bekannt. Jahn konnte mir ebenfalls keine Gründe nennen. Jahn bat mich, sämtliche anfallenden Materialien vom KvU Rosenthal und Hirsch zur Weiterleitung an ihn zu übergeben. Dies ist teilweise geschehen, Hirsch und Rosenthal versprachen, das Material an Jahn zu sen1 D. i. Manfred Rinke. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 2 Die Abkürzung »KvU« steht hier (im Gegensatz zur zeitlich länger anhaltenden Bedeutung »Kirche von Unten«) für den »Kirchentag von Unten«. Dieser »Kirchentag von Unten« fand im Rahmen des offiziellen Kirchentages vom 24. bis 28.6.1987 in Ost-Berlin statt. Dazu knapp IlkoSascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 210–211. Ausführlich siehe die Selbstdarstellung: Kirche von Unten (Hg.): Wunder gibt es immer wieder. Fragmente zur Geschichte der Offenen Arbeit Berlin und der Kirche von Unten. Berlin 1997. 3 Politiker der Grünen. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 4 Wilhelm Knabe erinnert sich nicht, von Roland Jahn eine konkrete Bitte oder einen Auftrag erhalten zu haben (Mitteilung von Wilhelm Knabe vom 21.11.2011).
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Dokument 23 vom 8. Juli 1987
den. In welcher Art und Weise wurde nicht bekannt. Am Samstag, 27. Juni 1987, gegen 19.00 Uhr erschien ein Mitarbeiter des SFB bei mir im Büro des KvU, der von Jahn zu mir gesandt war, dieser hieß mit Vornamen Peter (Moderator der Sendung SFBeat im SFB). 5 Dieser hatte Fragen zur Offenen Arbeit in Berlin, daraufhin verwies ich ihn an [Uwe] Kulisch, da ich zum Problem keine Aussage treffen wollte. Von Rosenthal erfuhr ich, am 27. Juni 1987 gegen 18.00 Uhr, dass von Jahn eine persönliche Sendung an mich unterwegs wäre. In den folgenden Stunden rief Jahn mehrmals aus diesem Grunde an, ich konnte jedoch erst keinen Empfang bestätigen. Gegen 22.30 Uhr erschien Hirsch und übergab mir eine Karte. Deren Inhalt war in etwa: Lieber Kiste, 6 Ich wünsche Dir und allen Teilnehmern bei der Durchführung des KvU Erfolg, leider kann ich aus bekannten Gründen 7 [nicht] bei Euch sein, beiliegend ein Beitrag aus meinem Nachlass, den Du zur Durchführung von Aktivitäten in unserem Sinne in Deinem Dafürhalten verwenden solltest. Dein Roland
Bei dem Betrag handelte es sich um 1 000 Mark der DDR, in Form von 10 x 100 Mark-Scheinen. Über den Weg der Karte kann ich keine Aussage treffen, vermutlich empfing Hirsch diese Karte von einem Westjournalisten. Kenntnis von dieser Karte haben Kulisch, XXX, Hirsch, Rosenthal. Rosenthal vernichtete diese Karte nach dem Lesen mit der Begründung, dass eine Kenntnis der direkten Mitwirkung von Jahn am KvU nicht weiter bekannt wird. Von diesem Geld übergab ich 500 Mark in die Kasse des KvU, die restlichen 500 M übergab ich Hirsch zur weiteren Verwendung. Ich setzte Jahn über die Verteilung des Geldes in Kenntnis, er erklärte sich einverstanden. Kulisch und Hirsch waren erfreut über die Verteilung der Spende. Warum Jahn das Geld nicht gleich an die Personen Hirsch und Kulisch verteilte, ist mir nicht bekannt, ich persönlich werte es als Vertrauensbeweis von Jahn. Rosenthal und Rüddenklau haben während des KvU ständig im Auftrag von Jahn Videoaufzeichnungen gemacht (ausl[ändisches] Fabrikat, Wert ca. 300 DM). Diese Aufzeichnungen befinden sich vermutlich bereits im Besitz von Jahn. Von Rosenthal und Kulisch wurde festgelegt und Jahn über5 Ein Moderator von SFBeat kommt nicht infrage, es könnte sich um einen Reporter gehandelt haben. Ein ehemaliger Mitarbeiter-SFBeat, Christian Booß, kann sich nicht erinnern, wer es gewesen sein könnte, zumal nur sehr wenige SFBeat-Mitarbeiter Interesse an den Vorgängen in OstBerlin zeigten. Er selbst war im Herbst 1989 erstmals in den Räumen der KvU. Es ist auch denkbar, dass es sich um einen Journalisten vom RIAS oder von Radio 100 gehandelt hat (Mitteilung von Christian Booß vom 23.10.2013). 6 Spitzname von Manfred Rinke. 7 Wegen des strikten Einreiseverbots.
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Dokument 23 vom 8. Juli 1987
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mittelt, dass diese Aufnahmen nicht in westl[ichen] Massenmedien Verwendung finden dürfen. Jahn zeigte für die Forderung Verständnis. Jahn bittet um eine Kopie des bei dem KvU aufgeführten Jena-Films, gefertigt von [Thomas] Grund 8 (…). Auf meine Bitte, zu einem persönlichen Treffen mit Jahn, ließ Jahn mich über Rosenthal wissen, dass ich in absehbarer Zeit Bescheid erhalten würde. Bei einem nachfolgenden Besuch des Rosenthal in Niegleve 9 am 2. Juli 1987 stellte ich ihm die Frage, was werden würde, wenn er in Westberlin ist (Ausreisetermin 7. Juli 1987) und möglicherweise Hirsch als Kontaktperson zwischen mir und Jahn ausfällt, wie ich den Kontakt weiter aufrechterhalten soll. Er antwortete, dass die Möglichkeit mit den entsprechenden Personen geschaffen werden wird. Ich erhielt am 7. Juli 1987 ein Telegramm von der Person XXX, wh.: XXX. Wortlaut: Können wir uns am 25. Juli 1987 in Prag treffen, Antwort bitte an obige Anschrift. XXX ist ein enger Freund von Jahn, mit dem es zwischen mir und ihm in den vergangenen Jahren in Berlin zu mehreren Treffen kam […] und der auch bereitwillig Aufträge von Jahn in die Tat umsetzte. Es ist zu vermuten, dass der XXX im Auftrag des Jahn den Kontakt zu mir sucht.
8 Thomas Grund (geb. 1953), oft »Kaktus« genannt, Sozialarbeiter, war seit 1977 in der Offenen Arbeit Jena tätig, engagiert in Oppositionsgruppen, u. a. in der KvU. 9 Kleines Dorf, im Landkreis Güstrow gelegen.
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Dokument 24 Information zu Telefonaten von Roland Jahn u. a. mit Wolfgang Templin am 1. September 1987 4. September 1987 Von: MfS, HA XX/2 An: MfS, HA XX/5 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 253–255
Streng intern wurde erarbeitet: [Roland] Jahn erkundigte sich bei [Wolfgang] Templin nach dessen Meinung zur Sendung »Glasnost« von »Radio 100,6« am 31. August 1987 1 und forderte in diesem Zusammenhang, dass Templin oder eine andere Person eine Kritik dazu schreiben soll. Weiterhin wies Jahn Templin darauf hin, dass Templin seine Biografie, besonders die Fragen seiner Berufsabschlüsse und der praktischen Tätigkeit, überarbeiten müsste. 2 Jahn forderte zu der Live-Sendung des DDR-Fernsehens mit Prof. [Otto] Reinhold und Vertretern der SPD zum gemeinsamen Dokument »Streit der Ideologien« von Templin eine erste Einschätzung. 3 Templin brachte zum Ausdruck, dass Prof. Reinhold Dinge geäußert hätte, für die in der Parteispitze erst noch eine Konsensfähigkeit hergestellt werden musste. Jahn bezeichnete es als entscheidende Frage, ob man sich erst der Logik der Abschreckung und Bewaffnung mit Atomwaffen unterwerfen muss, um als Atompazifist und Dialogpartner akzeptiert zu werden. Er hob hervor, dass die in der Live-Sendung von Dr. [Thomas] Meyer (SPD) gemachten Äußerungen zum Punkt Informationen Jahns Einsicht nach nicht mit beiden Systemen zu tun hätten. Die Information wäre ein wichtiger Punkt, der auch bei anderen Diskussionen (z. B. Rechts1 Nach einer Pilotsendung am 22.7.1987 (Abschrift der Sendung in: BStU, MfS, HA XX/9 771, Bl. 422–426) startete am 31.8.1987 das regelmäßige Programm von »Radio Glasnost – außer Kontrolle«. Die erste Sendung stellte das Anliegen der Reihe vor, berichtete über den »Kirchentag von Unten«, strahlte ein Interview mit Jürgen Fuchs aus, berichtete über Aktivitäten der Opposition und gab Veranstaltungshinweise (BStU, MfS, ZAIG 22320, Bl. 430; ebenda, HA XX/9 771, Bl. 330). Im Übrigen irrte das MfS bei der Zuordnung zum Sender »Hundert,6«. Tatsächlich wurde »Radio Glasnost« von »Radio 100« ausgestrahlt, das sich mit »Hundert,6« die Frequenz teilen musste, was auch zu politischen Irritationen führte, da die Programme sehr unterschiedlich waren. 2 In West-Berlin waren bei Roland Jahn Biografien und Fotos hinterlegt worden, um im Fall von Verhaftungen sofortige Öffentlichkeit herstellen und über die Verhafteten konkret und anschaulich berichten zu können. 3 Am 1.9.1987 diskutierten Otto Reinhold (SED), Rolf Reißig (SED), Erhard Eppler (SPD) und Thomas Meyer (SPD; geb. 1943, Politikwissenschaftler, SPD-Grundwertekommission) live im DDR-Fernsehen über das SED-SPD-Papier »Der Streit der Ideologien«. Vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 97–108, spez. 100.
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Dokument 24 vom 4. September 1987
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sicherheit) eine Rolle spielen sollte, um so die Grundlage für einen Dialog zu legen. Templin stimmte Jahn zu. Jahn führte weiter aus, dass es für ihn entscheidend wäre, ob dieser Dialog von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften [beim ZK der SED] oder von den Menschen in beiden Ländern geführt wird. Die DDR-Bürger müssen seiner Meinung nach die Möglichkeit erhalten, sich umfassend, die elektronischen Medien ausgenommen, zu informieren. Templin entgegnete, dass es eine Reihe alter Positionen gebe, die dieses Dokument, 4 wenn es einen Sinn haben soll, unmöglich machen würden. Seiner Auffassung nach wäre es entweder Heuchelei oder man müsste deutlich machen, welche Positionen heute wirklich anders gesehen werden. Jahn forderte Templin auf, bezüglich der Live-Sendung Verbindung mit der Presseagentur AP in Berlin aufzunehmen und nannte ihm die Telefonnummer des AP-Korrespondenten XXX. XXX (Presseagentur AP), der kurz darauf die Verbindung zu Templin herstellte, erkundigte sich bei Templin nach dessen Meinung zu der vom DDR-Fernsehen ausgestrahlten LiveSendung. Templin bezog sich in seiner Antwort auf die schon Jahn gegenüber getätigten Äußerungen, dass im Dokument und in der Diskussion Unvereinbarkeiten vorhanden wären, wenn gesagt wird, dass keine Positionen aufgegeben, sondern neue dazugenommen wurden. Nach Meinung Templins würden noch alte Positionen existieren, die das eigentlich nicht möglich machen. So könne kein Pluralismus verschiedener Standpunkte innergesellschaftlich möglich sein. Templin betonte, dass dieser Punkt viel deutlicher hätte kommen müssen. Er wies auf einen breiteren Informationsaustausch hin. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig, wie dieser Dialog von oben nach unten kommt, damit es nicht pure Heuchelei bliebe. Templin fügte hinzu, dass die Leute auf der Straße und Interessierte auf jeder Ebene darüber sprechen müssten. XXX ging im weiteren Verlauf des Gespräches zur Frage der Friedensfähigkeit über, die man sich gegenseitig bescheinigt. Templin meinte, dass dies Taktik wäre, weil sie nicht deutlich gemacht hätten, welche Probleme man wirklich beim anderen sieht. Er würde nach wie vor friedensgefährdende Entwicklungen im Westen und im Sozialismus sehen. Templin bezeichnet es als Grundmangel des Dokuments, dass nie deutlich werde, wo es um Gespräche und wo um politisches Handeln geht. Templin glaubt, auf eine entsprechende Frage von XXX antwortend, dass ein großer Teil der DDR-Bürger das Dokument ernster nehmen wird als die »hiesigen Verfasser«. Er meinte, dass z. B. die Formulierung »für eine Kultur des politischen Streits« sehr bald an ganz anderen Orten, zu anderen Gelegenheiten und 4 Gemeint ist: »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« von SPD und SED vom 27.8.1987.
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Dokument 24 vom 4. September 1987
von ganz anderen Leuten auf den Tisch gelegt werde. Templin äußerte, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung der DDR den Anspruch des Dokumentes beim Wort nehmen wird und es Wirkung auf Leute haben könnte, für die es eigentlich gar nicht bestimmt war, während man im Westen nach ein paar Tagen oder Wochen von diesem Dokument überhaupt nicht mehr spricht. XXX bedankte sich bei Templin für die Auskünfte und kündigte für den 4. September 1987 seinen Besuch bei Templin an. Inoffiziell wurde bekannt, dass es bei diesem Besuch mit hoher Wahrscheinlichkeit darum geht, in einem Interview mit Templin diesen als Führungspersönlichkeit bzw. Sprecher des politischen Untergrundes in der DDR aufzubereiten. Dazu sind in der letzten Zeit intensive Vorarbeiten erfolgt, wobei Roland Jahn (Westberlin) Bildmaterial und einen kompletten Lebenslauf über Templin erhielt, was im Zusammenhang mit dem Interview veröffentlicht werden soll. Jahn hatte die Absicht, die Vorbemerkungen dazu zu schreiben.
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Dokument 25 Gedankliche und konzeptionelle Vorstellungen zur Schaffung einer »inneren Opposition« in der DDR (Originaltitel) 2. Oktober 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/5, [Werner] Fleischhauer Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 9a, Bl. 249–253
Durch Verbindungen einer inoffiziellen Quelle 1 wurden Hinweise erarbeitet, die gedankliche und konzeptionelle Vorstellungen des ehemaligen DDRBürgers Jahn, Roland und des feindlich-negativen DDR-Bürgers Hirsch, Ralf zur weiteren Profilierung feindlich-negativer Kräfte in der DDR mit dem Ziel der Schaffung einer »inneren Opposition« in der DDR mit festen Strukturen widerspiegeln. Obwohl Hirsch bereits zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgeht, die verschiedensten »unabhängigen Gruppen« in der DDR, insbesondere aber die »Initiative Frieden und Menschenrechte«, 2 sind schon eine »Opposition«, ist er sich mit Jahn einig in der Auffassung, dass noch sehr viel getan werden muss, um dem eigentlichen Charakter dieses Begriffes gerecht zu werden. Dazu gehören nach Meinung der Genannten: – die Schaffung fester Strukturen, insbesondere im organisatorischen Bereich, – die Erarbeitung eines fundierten Basispapiers – einer politischen Plattform ähnlich der »Charta 77« in der ČSSR, – der Zusammenschluss der zum Teil noch zersplitterten Gruppen in der DDR, – die enge Zusammenarbeit mit analogen Gruppierungen in der ČSSR, der UVR und in der VR Polen, – die Gewinnung politischen Einflusses in der Gesellschaft der DDR, – die Schaffung und Profilierung eines oder mehrerer theoretischer Lenker sowie – die verstärkte Durchführung öffentlichkeitswirksamer Aktionen mit dem Ziel der Erhöhung gesellschaftlicher Wirksamkeit.
1 Die äußere Gestaltung des Dokuments lässt in Analogie zu vergleichbaren Dokumenten die Herkunft der Informationen aus abgehörten Telefonaten erkennen. 2 In diesem Dokument ist die »Initiative Frieden und Menschenrechte« ganz unterschiedlich geschrieben und benannt worden. Den Richtlinien für das gesamte Buch folgend, ist auch hier die jeweils richtige Schreibweise stillschweigend eingefügt worden.
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Dokument 25 vom 2. Oktober 1987
Dazu entwickelte insbesondere Jahn detaillierte Vorstellungen, die im Wesentlichen von Hirsch geteilt werden, z. T. durch eigene Überlegungen Hirschs ergänzt wurden. Kennzeichnend für diese gedanklichen und konzeptionellen Vorstellungen ist, dass ihnen geschichtliche und aktuell-politische Entwicklungen in der DDR – teilweise im Vergleich zu anderen sozialistischen Staaten – zugrunde gelegt wurden und ihre Umsetzung als die Lösung von Widersprüchen innerhalb der feindlich-negativen Kreise selbst als auch der Beziehungen dieser Kreise zur Gesellschaft in der DDR angesehen wird. Jahn und Hirsch gehen davon aus, dass es insbesondere unter jugendlichen Kreisen in der DDR kein »historisches Bewusstsein« im Hinblick auf die Geschichte der »unabhängigen Gruppen« in der DDR gibt. Da niemand wisse, was es auf diesem Gebiet in den 1950er, 1960er oder 1970er Jahren in der DDR gab, könne speziell unter der Jugend der DDR »gar kein Verständnis für die Ziele der sogenannten unabhängigen Gruppen« vorhanden sein. Dieses »Geschichtsbewusstsein« müsse aber unbedingt geschaffen werden, wenn die Basis verbreitert werden soll. Dieser grundsätzlichen Überlegung stünde zwar gegenüber, dass sich »unabhängige Gruppen« zumeist aus Personen der jüngeren Generation zusammensetzen, ändere aber an der Gesamtkonstellation nichts. Besonders Jahn sieht es als notwendig an, dass in bestimmten intellektuellen Kreisen, insbesondere unter Schriftstellern, Personen gefunden werden müssen, die intellektuelle Basisarbeiten leisten. Es habe schon in der Vergangenheit solche Personen gegeben, die es jedoch vorzogen, die DDR zu verlassen, als ihrer Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR z. B. durch solche Basisarbeit Ausdruck zu verleihen. Die noch in der DDR lebenden Schriftsteller, die für eine solche »Aufgabe« infrage kämen, würden aber zumeist in politisch anderen Kategorien denken oder seien aus zum Teil durchaus verständlichen Gründen nicht bereit, ihre sich geschaffenen gesellschaftlichen Positionen aufzugeben, können oder wollen nicht umdenken. Es gebe, so Jahn, gerade bei Schriftstellern kaum solche politischen Ansätze wie z. B. bei der von Hirsch vertretenen »Initiative Frieden und Menschenrechte«. Bei denen es solche Ansätze gibt, sind diese Gedanken noch nicht so ausgereift, um »echte Gedanken für die Bewegung« insgesamt einzubringen. Dies sei aber ein Prozess, der sich entwickelte. Deshalb sei es umso wichtiger, dass sich einige Personen in dieser Richtung profilieren. Nicht um der Profilierung selbst, sondern im Interesse »der Sache«. Gerade diesen Umstand betrachtet Hirsch als außerordentlich wichtig. Dazu müsse sich sowohl in geeigneter Form schriftlich geäußert werden, etwa im Sinne von Thesen u. Ä. Auf jeden Fall müsse es für die »gesamte Bewegung« eine zentrale Leitfigur geben, die schon vom Alter her als Respektperson anerkannt und geachtet wird.
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Dokument 25 vom 2. Oktober 1987
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In diesem Zusammenhang wies Jahn auf einen weiteren Fakt hin, der nach seiner Meinung besonders zu beachten ist. Wörtlich äußerte er sich, die »internationale« Seite ansprechend, wie folgt: »Man muss natürlich selbst eine Basis schaffen, die durchaus auf der inhaltlichen Ebene eine gleiche Anerkennung möglich macht. Aber es ist nicht zufällig, wenn zu bestimmten Themen nur Polen, Ungarn und ČSSR-Leute sich äußern und die DDR außen bleibt. Die wenigen Ansätze, die da waren, sind natürlich nicht genügend und manch einer hat schon gefragt, bei den ganzen Erklärungen, die da unterschrieben worden sind, wer sind denn die DDR-Leute überhaupt? Das verdeutlicht natürlich, dass da auch eine Herausforderung da ist, dass Arbeit geleistet werden müsste. Die da sind, Aufsätze, Schriften oder so etwas, die dürfen dann natürlich nicht als Konsens mit Unterschriften kommen, sondern als andere Papiere, die auch in die Tiefe gehen, dort wo Punkte angerissen sind. Ich hatte Dir ja schon einmal gesagt, dass Euer Papier durchaus richtig ist, es ist aber in Inhalt und Form drei Jahre zu alt. D. h., ich denke, dass jetzt die Zeit ist, diese Einzelpunkte herauszugreifen und in die Tiefe zu gehen, und sie nicht immer wieder neu zu benennen. Darüber könnte einiges an Arbeit geleistet werden, wo dann eine Anerkennung gerade in Osteuropa ganz anders vollzogen wird, wo man auch in innerliche Auseinandersetzung kommt, die auch eine gegenseitige geistige Befruchtung darstellt. Die Zusammenarbeit gerade mit den Osteuropäern kann nur über diese Ebenen funktionieren.« Darüber hinaus gebe es nach Ansicht Jahns noch einen weiteren Gesichtspunkt, der in der künftigen Arbeit beachtet werden muss. So sei doch feststellbar, dass speziell die »Initiative Frieden und Menschenrechte« in ihrer »politischen Arbeit« die ökonomischen Probleme völlig vernachlässige und demzufolge keine konsequente Systemanalyse betreibe. Die »Initiative« leiste keine inhaltliche Arbeit, sondern mache nur Aktion. Dies dürfe aber nicht sein. Vielmehr müsse gerade die »Initiative« diese beiden Grundrichtungen der »Opposition« in viel stärkerem Maße miteinander verknüpfen, ohne der einen oder anderen Seite das Primat einzuräumen. Gerade in diesem Komplex sei die Zusammenarbeit zwischen der »Initiative« und analogen Gruppierungen in den anderen sozialistischen Staaten eine unbedingte Notwendigkeit. In diesem Zusammenhang bemängelte Jahn, dass es der »Initiative Frieden und Menschenrechte« trotz ihres bereits dreijährigen Bestehens 3 bisher noch nicht gelungen ist, eine fundierte Analyse zu den Menschenrechtsproblemen in der DDR vorzulegen. Im Rahmen dessen sei die Herausgabe des Druckerzeugnisses »Grenzfall« noch das Beste, was aber in keiner Weise ausreicht. In diesem Punkt sollte man sich in vollem Umfang an der »Charta 77« in der ČSSR orientieren, die in ihrem Vorgehen durchaus eine Art Vorbildwirkung
3
Die IFM bestand zu diesem Zeitpunkt knapp 2 Jahre.
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Dokument 25 vom 2. Oktober 1987
hat. Hirsch teilt diese Ansichten im Wesentlichen. Er steht auch den von Jahn angesprochenen Kritiken aufgeschlossen gegenüber. Er sieht als Hauptursache für die noch nicht in vollem Umfang umgesetzten Ideen die mangelnden oder fehlenden Strukturen der gesamten Bewegung an. Diese schlechten oder fehlenden Strukturen würden ebenso wie die im »strengen Untergrund« gehaltene Arbeit bestimmte Aktionen und Ergebnisse blockieren. Erste Schritte zur Verbesserung in dieser Hinsicht wären nach Aussage von Hirsch bereits getan. So seien Kontaktpersonen für bestimmte Gruppen (keine Konkretisierung) benannt. Obwohl die Benennung von Kontaktpersonen in gewisser Hinsicht zwar einen Rückschritt darstelle und ein oder mehrere Sprecher zu benennen, besser gewesen sei, lasse die jetzige Situation keinen anderen Schritt zu. Jahn hält diese Ansicht nur bedingt für richtig, stimmte ihr aber vorerst zu. 4 Hirsch räumte ein, dass bei Bohley, Bärbel und Fischer, Werner ein Umdenkprozess eingesetzt habe, der es für die Zukunft nicht ausschließt, dass sich diese als Sprecher der Gesamtbewegung, zumindest aber der »Initiative Frieden und Menschenrechte« anbieten. Übereinstimmend halten es Jahn und Hirsch für unbedingt erforderlich, innerhalb der »Bewegung« Wahlen durchzuführen, auf deren Grundlage dann feste personelle Strukturen entstehen müssen, die bindend sind. In der Führung der »Bewegung« sollte dann auch eine Frau vertreten sein, wobei insbesondere Hirsch die Bohley ins Auge gefasst hat. Beide Kontaktpartner sind sich einig, dass die gesamte »Bewegung« darauf auszurichten ist, in der Gesellschaft der DDR zu wirken. Dabei müsse sich im vorab Klarheit darüber geschaffen werden, welche Wirkungsmöglichkeiten in der Gesellschaft überhaupt vorhanden sind und worauf die jetzige relative Isoliertheit der »Bewegung« zurückzuführen ist. Wenn diese Klarheiten geschaffen wurden, gelte es solche Aktivitäten zu entwickeln, die für und in der Gesellschaft der DDR Bedeutung erlangen. Jahn verwies in diesem Zusammenhang wiederholt auf das Beispiel »Charta 77«. Hirsch vertritt dazu die Auffassung, dass dazu jeder der in die Bewegung Integrierten einen eigenständigen persönlichen Beitrag leisten muss, da ja jeder durch Beruf und Freizeit in verschiedensten Foren und Formen [in] der Gesellschaft verankert ist und folglich die verschiedensten Möglichkeiten für die Einwirkung in der Gesellschaft hat.
4 Die Frage, ob die IFM analog zur »Charta 77« von gewählten Sprecherinnen und Sprechern repräsentiert werden solle, war heftig umstritten. Letztlich gab es dafür keine Mehrheit. Vor allem sollte vermieden werden, dass Einzelne aus der Gruppe hervorgehoben würden.
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Dokument 25 vom 2. Oktober 1987
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Bemerkungen: – Jahn und Hirsch entwickelten ihre Vorstellungen unter Eindruck bzw. dem Wissen über eine am Abend des 29. September 1987 in der Hauptstadt der DDR stattgefundene Zusammenkunft von nicht näher bezeichneten Personen (vermutlich waren dort auch Personen aus der ČSSR sowie ein niederländischer Diplomat anwesend). Während dieser Zusammenkunft wurden offensichtlich ähnliche Probleme diskutiert wie sie im Dialog zwischen Jahn und Hirsch erörtert worden sind. 5 – Bei Auswertung der Information ist unbedingter Quellenschutz erforderlich.
5 Am 29.9.1987 fand abends eine mehrstündige Zusammenkunft der IFM und der Gruppe »Gegenstimmen« in der Wohnung von Antje und Martin Böttger statt. Gerd Poppe hielt ein Eingangsreferat, mit dem er auf die grundsätzlichen Unterschiede in der Gesellschaftsanalyse und zwischen den angestrebten Perspektiven beider Gruppen hinwies. Ob daran auch ausländische Personen teilnahmen, lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln (MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Wolf« am 30.9.1987, 30.9.1987. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 25, Bl. 88–90; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 30.9.1987, 1.10.1987. Ebenda, Bl. 91–95). Martin Böttger teilte am 27.9.2011 mit, dass er sich nicht an ausländische Gäste bei diesem Treffen (intern auch »Elefantenrunde« genannt) erinnern könne und dies auch eher für unwahrscheinlich halte. Das Treffen fand zwar in seiner Wohnung statt, die Moderation aber hatte Stephan Krawczyk übernommen. Beim zweiten Treffen am 12.11.1987 moderierte dann Martin Böttger selbst. Auch Gerd Poppe (E-Mail vom 4.10.2011) ist sich sicher, dass an diesem Abend keine ausländischen Gesprächspartner anwesend waren, schon allein weil dies dem Anlass des Treffens widersprochen hätte.
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Dokument 26 Geplante gemeinsame Aktionen zwischen inneren und äußeren Feinden (Originaltitel) 6. Oktober 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/4 Quelle: BStU, MfS, HA XX/4 31, Bl. 200–203
Nach Berichten einer zuverlässigen inoffiziellen Quelle 1 planen feindlichnegative Kräfte in der DDR im Zusammenwirken mit Feinden in der BRD, vermutlich der Jungen Union, für die nächste Zeit (konkretes Datum unbekannt) die Durchführung einer gemeinsamen Aktion. Daran sind neben Kräften der DDR und der BRD wahrscheinlich auch Personen aus dem sozialistischen Ausland einbezogen. Von den Organisatoren dieser geplanten Maßnahmen wird dies bereits im Vorab mit Superlativen, wie »das ist der Knaller«, »da kriegen die Leute Herzklappenfehler«, »ganz wichtige Sache«, versehen. Zu den Organisatoren gehören der feindlich-negative DDR-Bürger Hirsch, Ralf für alle die DDR betreffenden organisatorischen Maßnahmen sowie ein BRDBürger Stefan, bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um den führenden Vertreter der Jungen Union Schwarz, Stefan handelt. In den Vormittagsstunden des 6. Oktober 1987 setzte der Stefan [Schwarz] den Hirsch davon in Kenntnis, dass er gute Nachricht habe. Obwohl diese gute Nachricht Hirsch auf anderem Wege bereits erreicht hatte, reagierte er auf diese Mitteilung mit euphorischer Zustimmung. Hirsch gab auch zu erkennen, dass bei den Personen um ihn große Zustimmung zu dem Geplanten herrscht. 2 1 Die äußere Gestaltung des Dokuments lässt in Analogie zu vergleichbaren Dokumenten die Herkunft der Informationen aus abgehörten Telefonaten erkennen. 2 Am 12.10.1987 fanden in Ost-Berlin zwei Treffen von Oppositionellen um Gerd Poppe, Ralf Hirsch und Rainer Eppelmann mit Abgeordneten des USA-Kongresses einerseits sowie mit CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten andererseits statt. Darüber gab es in bundesdeutschen Medien eine intensive Berichterstattung (z. B. HA XX, Tonbandabschrift einer Sendung des RIAS I am 13.10.1987, 6.53 Uhr, 13.10.1987. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 3319/88, Bd. 2, Bl. 157–159). An diesen Treffen gab es anschließend auch innerhalb der Opposition, v. a. von Mitgliedern der »Gegenstimmen«, der »Umweltbibliothek« und aus dem Umfeld des »Friedenskreises Friedrichsfelde«, harsche Kritik (vgl. Umweltblätter vom 1.11.1987, S. 9–12), auf die Gerd Poppe ausführlich einging. Vgl. Gerd Poppe: Dialog oder Abgrenzung, in: Grenzfall–Vorabdruck 11/1987, nachgedruckt in: IlkoSascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 163–169. In der mit SED-Geldern finanzierten DKP-Tageszeitung »Unsere Zeit« erschien am 14.10.1987 ein Artikel, bei dem eine Mitautorenschaft von MfS-Offizieren sehr wahrscheinlich ist. Der Beitrag wurde offiziell von »unserem DDR-Korrespondenten Werner Finke-
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Dokument 26 vom 6. Oktober 1987
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Da diese geplante Aktion offensichtlich von Kräften in der BRD vorbereitet wurde, erkundigte sich Hirsch in gedeckter Form, ob es schwierig gewesen sei, persönlichen Kontakt herzustellen. Der Stefan [Schwarz] bestätigte, dass diese Kontaktherstellung das Schwierigste war und ist. Darüber hinaus berichtete der Stefan [Schwarz], zum Zeitpunkt seiner Kontaktaufnahme zu Hirsch säßen alle Beteiligten in der BRD zusammen und berieten darüber, wer mitfahren sollte. Bei dieser Diskussion habe sich der Stefan [Schwarz] entschlossen, die Reise auch mit anzutreten. Dieses Vorhaben begrüßte Hirsch, da es nach seiner Ansicht unerheblich wäre, ob eine Person mehr oder weniger komme. Die geplante Reise der BRD-Bürger soll wahrscheinlich in die DDR angetreten werden. Bemerkungen: 1. Aufgrund der operativen Bedeutsamkeit wird der Originalwortlaut des Dialoges zwischen Hirsch und dem Stefan [Schwarz] der Information als Anlage beigefügt. 2. Bei Auswertung der Information ist unbedingter Quellenschutz zu gewährleisten. Originalwortlaut des am 6. Oktober 1987 geführten Dialoges zwischen Hirsch und dem Stefan meier« geschrieben. Vgl. Bürgerliche Medien und ihre Hätschelkinder in der DDR. Christen, Kirchen, Querulanten, in: Unsere Zeit vom 14.10.1987. In diesem Beitrag wurde behauptet, DDRMenschen könnten mehr Fernsehprogramme empfangen als Bundesbürgerinnen und -bürger, die Reisefreiheit sei kein Gesellschaftsproblem, die Religionsfreiheit nicht eingeschränkt und die Opposition eine Gruppe von wenigen dutzend »Querulanten«, die von »bürgerlichen« bundesdeutschen Medien und Polittouristen aufgebauscht würde. Von diesen Gesprächen sind zahlreiche Berichte überliefert, z. B. MfS, Information über ein Treffen feindlich-negativer Kräfte mit Bundestagsabgeordneten und weiteren Funktionären der CDU/CSU in der Hauptstadt der DDR, Berlin, 16.10.1987. BStU, MfS, HA XX/AKG 1511, Bl. 333–339; MfS, Information über Zusammenkünfte von Mitgliedern einer offiziellen Delegation des USA-Kongresses während ihres Aufenthaltes in der DDR mit kirchlichen Amtsträgern, dem Schriftsteller Rolf Schneider sowie mit hinlänglich bekannten feindlich-negativen Personen aus der Hauptstadt der DDR, Berlin. Ebenda, Bl. 344–352. Überliefert ist zudem ein Bericht der HV A, der für die SED-Führung bestimmt war: MfS, ZAIG, Information über westliche Reaktionen auf das Treffen von CDU/CSU-Politikern mit feindlich-negativen Kräften um Pfarrer Eppelmann am 12.10.1987 in Berlin, November 1987 (Nr. 426/87). BStU, MfS, HV A 50, Bl. 153–156. Die Namen der Teilnehmer an den 2 Treffen enthalten Dokumente in: BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Ersatzband Bd. 7, Bl. 32–43. Die Ergebnisse des Besuchs der USA-Politiker gingen ein in die Jahresberichte: Country Reports on Human Rights Practices for 1987. 101st Congress, 1st Session. Washington, February 1988; und: Country Reports on Human Rights Practices for 1988. 101st Congress, 1st Session. Washington, February 1989, S. 1057–1068. In einer längeren internen Ausarbeitung für die Politbüromitglieder sind die gegen die DDR erhobenen Vorwürfe zurückgewiesen worden: ZK der SED, Egon Krenz an Erich Honecker, Hausmitteilung, 25.2.1988. BArch DY 30/2116, Bl. 9; Fakten zu den Entstellungen die im »Menschenrechtsbericht 1987« des US-State Department über die DDR enthalten sind. Ebenda, Bl. 10–26.
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Dokument 26 vom 6. Oktober 1987
Legende: + Stefan [Schwarz] – [Ralf] Hirsch – + – + – +
– + – + – + –
+ – + – + + – +
Ich habe ja erfreuliche Nachricht bekommen. Das wollte ich dir eigentlich auch noch mal durchgefunkt haben. Sehr, sehr gut, hat mich sehr gefreut. Ich denke doch, das wird eine ganz wichtige Sache. Ja, denke ich auch. Ich werde das hier alles organisieren. Das geht dann seinen sozialistischen Gang. Ja, hör mal, vielleicht komme ich dann noch mal mit, habe ich mir überlegt. Wir sitzen hier zurzeit zusammen und überlegen, wer alles mitfährt und da habe ich mir überlegt, ob ich mich nicht ins Schlepptau begebe. Das kannst du doch machen. Das ist eine gute Idee. Ja, ja, ist das eine gute Idee. Ich habe nur gesagt, ich will keinen Heck-Meck veranstalten. Na, die ist jetzt sowieso schon hier. Da brauchst du jetzt, da kann keiner mehr was zu tun. Richtig. Ob da jemand mehr mitkommt oder weniger. Also, wenn da einer mehr mitkommt, das ist gar kein Problem. Ja, sieh zu, dass du noch Kaffee hast. Ja, ja, habe ich noch. Ich habe ja vorgesorgt. Ich hebe schon ein Paket auf. Das wird schon sicher eine ganz wichtige Runde. Mir ist im Prinzip wichtig, den Zeitplan einzuhalten, dass es also bei der Uhrzeit bleibt, denn es wird hier sicherlich ein Spektakel geben. Ja, sage ich auch noch mal. Und war das schwer, das zu erreichen? Nein, überhaupt nicht, nachdem persönlich dann erstmal der Kontakt, das ist dann alles kein Problem mehr. Aber erst rankommen, was? Ja, das ist das Problem, genau. Also, das ist das größte Problem. Also, ich muss mal sagen, wir freuen uns wahnsinnig. Das kann ich mir denken.
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Dokument 26 vom 6. Oktober 1987
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– Weil das, wie sagte gestern jemand so schön, einer aus diesem Land, der sagte nur, das wird der Knaller. Da kriegen Leute Herzklappenfehler. + Ja, kann hinkommen. – Ich glaube auch, dass das hinkommt. + Ja, hier ist die Freude groß. + Ja, bei uns auch. – Okay, und ich glaube, es ist der erste Versuch, erstmal Anknüpfung. Da muss man gucken, was ist unterschiedlich, was ist gemeinsam. Eine lockere Runde und im lockeren Gespräch, also nicht so strapaziert. + Nein, klar, ist auch kein Problem, glaube ich. Sind ja lauter nette Menschen zusammen. – Ja, dass das ganz ruhig und locker läuft und die äußere Erscheinung gibt es ja dann nicht mehr und dann ist das schon alles. + Gut, gut, okay. Ich rufe eigentlich nur an, um dir das zu sagen. Geteilte Freude ist doppelte Freude. Und zweitens wollte ich sagen, dass das alles am Laufen ist, also die Telefone laufen heiß. – Kann ich mir vorstellen. + Also, seinen Gang geht es auch. Also okay, ich wollte mich nur kurz gemeldet haben. – Ach so, ja, vielleicht kann das Ding 3 dann auch gleich mitkommen. + Ach, ja, ist klar. Dann sind bei mir sofort gleich zwei Groschen runtergefallen, als ich hörte, wann was sein sollte. + Ja, ich kann mich darauf 100-%ig verlassen. Also, ich freue mich, wenn ich dich sehen kann.
3 Es sollte eine Wachsmatrizendruckmaschine im Auto mitgebracht werden. Da Lintner u. a. dann aber zu Fuß kamen, konnten sie nichts mitbringen. Die Maschine kam später auf anderem Weg nach Ost-Berlin (Auskunft von Ralf Hirsch vom 18.1.2012).
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Dokument 27 Information zu einem Gespräch zwischen György Dalos (VR Ungarn) und Wolfgang Templin am 6. Oktober 1987 (Originaltitel) 12. Oktober 1987 Von: MfS, HA XX/2 An: MfS, HA XX/5, [Werner] Fleischhauer Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 212–214
Streng intern wurde erarbeitet: [György] Dalos informierte [Wolfgang] Templin, dass er und andere Autoren für drei Tage bei der »taz« beschäftigt wären. Alle Redakteure der »taz« mussten ihren Arbeitsplatz räumen. Dalos und den anderen Autoren sei die Technik gezeigt worden und was sie sonst brauchen würden. Nun könnten sie für drei Tage völlig selbstständig in der Redaktion arbeiten. Dalos meinte, dass die »taz« damit ein völlig neues und interessantes Experiment praktiziere. Da er schreiben könne, was er wolle, übermittelte Dalos an Templin die Bitte, Neuigkeiten aus »Ostberlin« zu erzählen, die er dann als Nachrichten bringen könnte. 1 Templin dankte Dalos für die Möglichkeit, sich auf diesem Weg äußern zu können. Er denke da zuerst an den Diskussionsentwurf aus Polen, der zwischenzeitlich in der DDR und in der ČSSR eingetroffen wäre. In diesem Entwurf wäre die Schaffung einer Charta für Menschenrechte in Osteuropa vorgeschlagen worden. 2 Der Entwurf wurde operativ beschafft und liegt der HA XX vor. Dies sei Templins Meinung nach ein wichtiger Denkanstoß für ihn und seine »Freunde« und man beabsichtige, eigene Gedanken für diesen Entwurf
1 Die »taz«-Ausgaben vom 8., 9. und 10.10. gestalteten inhaltlich 28 Schriftstellerinnen und Schriftsteller, darunter u. a. Hans Magnus Enzensberger, Heiner Müller, Herta Müller, György Dalos, Elfriede Jelinek, Gisela Elsner, István Eörsi, Hans Mayer, Hermann Henselmann, Johannes Mario Simmel, Erich Kuby, Reinhard Lettau. Diese Ausgaben galten als großer Erfolg. Vgl. Jörg Magenau: Die taz. Eine Zeitung als Lebensform. München 2007, S. 228–230. Bezogen auf die DDR enthielten die Ausgaben u. a. einen bissigen Kommentar Enzenbergers zur alljährlichen Militärparade am 7.10. in Ost-Berlin »Der schaulustige Portugiese« (taz vom 8.10.1987, S. 4), »DDR-Szenenachrichten«, die offenbar auf Templins Informationen basierten (taz vom 8.10.1987, S. 8), ein Kommentar Henselmanns zum »Kreuz« auf dem Fernsehturm, das im Sonnenlicht sichtbar wird (taz vom 10.10.1987, Dokumentation S. 1) sowie die Mitteilung, dass Lutz Rathenow und Harald Hauswald nicht zur Frankfurter Buchmesse reisen dürften (taz vom 8.10.1987, S. 4). Nach diesem Experiment erschien eine ausführliche, sehr unterhaltsame Reportage darüber: Wenn Dichter eine Zeitung denken. Drei Tage produktives Chaos, in: taz vom12.10.1987, S. 2–3. 2 Das ist in den »DDR-Szenenachrichten« aufgegriffen worden. Vgl. taz vom 8.10.1987, S. 8.
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Dokument 27 vom 12. Oktober 1987
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beizusteuern. Templin äußerte die Hoffnung, dass der Entwurf zwischenzeitlich auch den oppositionellen Kräften in Ungarn zugänglich sei. 3 Dalos erkundigte sich, ob die Reiseprobleme noch bestehen, worauf Templin erwiderte, dass die Situation unverändert schlecht sei, er und seine »Freunde« ständen in Ausreisesperre. Eine Ausnahme bildete in letzter Zeit Martin Böttger. Er konnte mit einer kirchlichen Delegation im Rahmen des OlofPalme-Friedensmarsches 4 in die ČSSR fahren. Jetzt stehe er wieder unter »Landes- bzw. DDR-Arrest«. Templin fügte hinzu, dass man damit illustrieren könnte, dass in der DDR an bestimmten Punkten keine Öffnung erfolgte. Der Staat gehe so vor, bei umgänglichen Personen den Druck etwas nachzulassen, den »Konsequenten« aber alle Möglichkeiten zu entziehen. Templin behauptete, dass diese Taktik vor einigen Jahren in Polen zu finden war und gegenwärtig auch in Ungarn angewandt werde. Dalos entgegnete, dass es aber Ausnahmen gebe und man selbst radikaleren Personen Zugeständnisse macht. Er erkundigte sich bei Templin nach interessanten Veranstaltungen. Templin verwies auf die seit dem letzten Sommer verstärkten Auseinandersetzungen von Gruppen innerhalb der Kirche. Dabei sei die sogenannte »Kirche von unten« aktiv geworden. Es handele sich nicht nur um »Friedensgruppen«, sondern auch um kritische und engagierte Mitarbeiter der Kirche. »Seine Menschenrechtsgruppe« 5 befinde sich seit Längerem in einer anderen Situation, sie ständen auf eigenen Füßen und wären somit nicht auf den Rahmen der Kirche angewiesen. Diese Bewegung in der Kirche sei aber deshalb so wichtig, führte Templin weiter aus, weil hier Versuche unternommen werden, dem kirchlichen Prozess der Staatsanpassung entgegenzutreten. Es wäre nicht der alte Konflikt, dass Gruppen am Rand des kirchlichen Handlungsraumes ihre eigenen Probleme haben, sondern dieser Konflikt gehe weit in die Kirche hinein und erfasse auch einzelne Mitarbeiter des Kirchenapparates. Nach Meinung Templins gehe es in der Diskussion um Themen wie »Demokratie in der Kirche« und »Veränderung der Theologie« des christlichen Zeugnisses. Er 3 Dem MfS lag eine tschechische Fassung vor, die ins Deutsche übersetzt worden ist. Es war geplant, dass diese Erklärung von oppositionellen Vertretern sämtlicher osteuropäischer Staaten, einschl. der Balten, Weißrussen und Ukrainer, unterzeichnet werden sollte. Lediglich Rumänien ist nicht explizit aufgeführt worden. In dieser umfassenden Erklärung über die Einhaltung der Menschenrechte und den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates ist auch gefordert worden, die Hintergründe historischer Vorgänge (deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt 1939, Massaker von Katyn 1940, Ungarn 1956, ČSSR 1968) aufzuklären und die Opfer zu ehren: Textvorschlag für eine gemeinsame Erklärung, 5.10.1987 (Übersetzung aus dem Tschechischen, Abschrift vom Tonband). BStU, MfS, HA XX, ZMA 31158, Bd. 2, Bl. 34–37. Stephan Bickhardt und Martin Böttger haben den Entwurf ebenfalls gehabt und verteilt, um Stellungnahmen, Ideen etc. zu erhalten, hier mit einem Begleitbrief an Christian Dietrich vom 20.10.1987: BStU, MfS, BV Halle, AOPK 2860/88, Bd. 1, Bl. 65–69. 4 Siehe dazu Glossar. 5 D.i.d. IFM.
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Dokument 27 vom 12. Oktober 1987
nannte als Beispiel folgende Fragen, die von jungen Theologen, kirchlichen Mitarbeitern und Vertretern der »Friedensgruppen« gestellt werden: – Wäre eine sehr akademische und vom Leben abgehobene Theologie für die Lösung der Konflikte und die Situation in der DDR geeignet? – Könnte man den Anspruch der Befreiungstheologie der 3. Welt übernehmen 6 und auf die Verhältnisse in der DDR beziehen? Dalos interessierte sich in einer nächsten Frage für die Zeitungen und Zeitschriften negativ-feindlicher Kräfte in der DDR. 7 Templin, der diese Frage als sehr wichtig bezeichnete, erläutert, dass es eigene Zeitschriften erst seit eineinhalb Jahren gebe. Davor gab es »kleine unabhängige Kulturnotizen« oder es wurden Manuskripte weitergegeben. Die ersten periodisch erscheinenden Pamphlete 8 wären aus der Kulturszene gekommen, wie z. B. die Literaturzeitschrift »Mikado« 9. In diesem Zusammenhang stellte Dalos die Frage, ob es außer dem ihm bereits bekannten »Grenzfall« noch andere periodisch erscheinende Pamphlete gibt. Templin nannte daraufhin die »Blätter der Umweltbibliothek« 10. Er informierte Dalos weiter, dass es in anderen Städten der Republik ähnliche Versuche gebe. So sollen in Leipzig in Anlehnung an das Wort »Glasnost« zusammengestellte Dokumente unter dem Titel »Glasnot« 11 in Folge erscheinen. Der Titel würde soviel wie »Helle tut not« bedeuten. Diese Dokumente 6 Eine in den 1960er Jahren in Südamerika entwickelte christlich-katholische Lehre, die sich gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Entrechtung aussprach, sich als Stimme der Armen verstand und sich für eine basisdemokratisch-sozialistische Gesellschaftsordnung engagierte. Sie stand sowohl den südamerikanischen Diktaturen als auch der innerkatholischen Kirchenhierarchie kritisch bis ablehnend gegenüber. In Europa war die »Theologie der Befreiung« in den 1970er und 1980er Jahren in linken Kreisen sehr populär. In der DDR erschien ein Buch eines der wichtigsten Vordenker der Befreiungstheologie. Vgl. Frei Betto: Nachtgespräche mit Fidel. Berlin 1987 (2. Aufl. 1988, das Buch kam im Ost-CDU-Verlag »Union« heraus). Noch vor der Revolution geplant, aber erst 1990 kam heraus: Thomas Buhl (Hg.): Option für die Armen. Theologie der Befreiung und kirchliche Basisgemeinden in Lateinamerika. Leipzig 1990 (Reclam). 7 Diese Wortwahl ist dem MfS, nicht Dalos zuzuschreiben. 8 Auch dies ist sicher nicht die Originalwortwahl. 9 »Mikado« kam zwischen 1984 und 1987 im Samisdat in bis zu 100 Exemplaren heraus und wurde von Uwe Kolbe, Lothar Trolle und Bernd Wagner herausgegeben. Einen Überblick enthält: Uwe Kolbe, Lothar Trolle, Bernd Wagner (Hg.): Mikado oder Der Kaiser ist nackt. Selbstverlegte Literatur in der DDR. Darmstadt 1988. Die Ausgaben sind online abrufbar unter: Künstlerzeitschriften der DDR: http://141.30.104.61/tud/templates/index.html. Vgl. dazu u. a. Ilona Schäkel: Sudelblatt und Edelfeder. Über den Wandel der Öffentlichkeit am Beispiel der offiziell und inoffiziell publizierten künstlerisch-literarischen Zeitschriften aus der DDR (1979–1989). Berlin 2003; Klaus Michael, Thomas Wohlfahrt (Hg.): Vogel oder Käfig sein. Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften der DDR 1979–1989. Berlin 1992, sowie generell mit weiterführender Literatur: IlkoSascha Kowalczuk: Von »aktuell« bis »Zwischenruf«. Politischer Samisdat in der DDR, in: ders. (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 21–104. 10 Gemeint sind die »Umweltblätter«. 11 Von »Glasnot« kamen zwischen 1987 und 1989 8 Ausgaben in einer Auflage von bis zu 50 Heften heraus.
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Dokument 27 vom 12. Oktober 1987
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würden Augenzeugenberichte, Eingabentexte u. a. beinhalten. In nächster Zeit würde als neues periodisches Pamphlet »Artikel 27« erscheinen. 12 Er erläuterte, der Artikel 27 der Verfassung der DDR enthält den Grundsatz über die Meinungsfreiheit. Im Unterschied zum »Grenzfall« sollen in dem Pamphlet »Art. 27« längere Beiträge erscheinen. Auf eine weitere Frage von Dalos, ob es seitens der DDR-Behörden Versuche gebe, das Erscheinen dieser Pamphlete zu verhindern, antwortete Templin, dass derartige »Aktivitäten« eigentlich sehr schnell bekannt würden und man es aufmerksam registriere. Da ein direktes Vorgehen strafrechtliche Maßnahmen bedeute und einen Prozess nach sich ziehen würde, scheuen die DDRBehörden jedes Aufsehen. Die Personen, die man belangen müsste, würden nicht die DDR verlassen, sondern ihr Anliegen in der Öffentlichkeit verteidigen. Dies würde zu einer großen internationalen Reaktion und Solidarität führen, was die DDR verhindern wolle. Er betonte, dass ihnen die in Ungarn erscheinenden Pamphlete eine große inhaltliche Hilfe und Anstoß waren. Es gebe Freunde, die bei Übersetzungen mithalfen. Eine ebensolche Hilfe würden die Informationen der »Charta 77« und das »reiche Verlagsspektrum« in Polen sein. Dies wäre für negativfeindliche Personen in der DDR eine ganz wichtige Grundlage, ebenso wie die persönlichen Kontakte zu oppositionellen Kräften in anderen sozialistischen Staaten. Dalos informierte Templin, dass er einiges von Templin gelesen hätte und es spannend und frisch fand. Er riet Templin, Folgendes zu beachten. Die Behörden könnten nicht nur eine Zeitschrift verbieten, sondern diese auch erlauben. Dann bestünde die Gefahr, dass den Herausgebern nach ein oder zwei Jahren die Luft ausgeht. Es gebe dann plötzlich eine bessere Zeitschrift, während die alte als langweilig abgetan und keine Beachtung mehr finden würde. 13 Templin bat Dalos, den »taz«-Redakteur Erich Rathfelder 14 zu grüßen. Er äußerte die Hoffnung auf ein baldiges persönliches Treffen zwischen ihm und Dalos.
12 »Art. 27« kam im Sommer 1987 nach den Pfingstunruhen vor dem Ostberliner Brandenburger Tor heraus und dokumentierte die Vorgänge. Es blieb die einzige Ausgabe. 13 György Dalos hat über diese Blätter später auch selbst geschrieben, im ostdeutschen Samisdat (»Ostkreuz«, 1/1989) erschien sein Essay: »Grenzfall«, »Umweltblätter« und die anderen. Die DDRSzene im Selbstbildnis ihrer Veröffentlichungen, nachgedruckt in: Kowalczuk: (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit, S. 320–331. 14 Erich Rathfelder (geb. 1947), Historiker und Journalist, war 1983–1991 u. a. Osteuroparedakteur der »taz«.
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Dokument 28 Telefonat zwischen Ralf Hirsch und Roland Jahn 20. Oktober 1987 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, HA XX/5, Leiter [Hans Buhl] Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 9, Bl. 244–247
Roland Jahn aus Westberlin nimmt Kontakt zu Ralf Hirsch auf, der schon geschlafen hatte. Roland Jahn möchte wissen, ob sein Gesprächspartner schon den Artikel im »Spiegel« gelesen hat. Diesen Artikel kennt Ralf H[irsch] noch nicht und er bittet darum, dass Roland Jahn vorliest: 1 »Lässt grüßen Die DDR-Friedensbewegung wird aufgewertet: Bonner Minister wollen kommen, Abgeordnete waren schon da. 2 Jahrelang galten sie als Außenseiter der Gesellschaft – in ihrem Heimatstaat DDR als rechte Spinner, in der Bundesrepublik, umgekehrt, als linke Idealisten: Die Gruppe der vom Staat unabhängigen Friedensbewegung um den Ostberliner Pfarrer Rainer Eppelmann, den Geisteswissenschaftler Wolfgang Templin oder die Witwe des Regimekritikers Robert Havemann, Katja. Regelmäßig verfassten die Amateur-Revoluzzer Resolutionen meist für den Papierkorb der Westpresse, und während Westpolitiker scharenweise zu Lech Wałesa 3 nach Polen pilgerten, mussten die DDR-›Dissis‹ (Ostjargon) mit gewagten Aktionen wie dem Versuch einer gemeinsamen Reise in die ČSSR 4 um Resonanz im Westen buhlen. Nun scheint die Quarantäne vorbei. Am Montag letzter Woche 5 diskutierten mit Heribert Scharrenbroich 6 und Werner Schreiber 7 zwei CDU-MdBs und ein leibhaftiger Emissär der CSU, Eduard Lintner, in Eppelmanns Samariter-Gemeinde drei Stunden lang über Abrüstung, Menschenrechte und eine Neuordnung Europas nach Auflösung der Blöcke. 1 Hier folgt die Wiedergabe dem Originaltext und nicht der Wiedergabe im Dokument. Es handelt sich um geringfügige, den Inhalt des Textes nicht berührende Abweichungen. 2 Siehe zum Hintergrund Dok. 26, Anm. 2. 3 Lech Wałesa (geb. 1943) war ab 1980 Vorsitzender der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, erhielt 1983 den Friedensnobelpreis und war 1990–1995 Staatspräsident Polens. 4 Vgl. Dok. 15 und 16. 5 12.10.1987. 6 Heribert Scharrenbroich (geb. 1940), Volkswirt, u. a. 1977–1985 Hauptgeschäftsführer der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA), 1985–1994 MdB CDU. 7 Werner Schreiber (geb. 1941), CDU, 1975–1983 Mitglied des Saarländischen Landtags, 1983–1990 MdB; 1990–1993 Minister für Arbeit und Soziales in Sachsen-Anhalt.
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Dokument 28 vom 20. Oktober 1987
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Es kam nicht nur zum Austausch höflicher Gemeinplätze; Lintner beklagte sich, dass zwei Drittel der Westdeutschen nichts gegen ein neutralisiertes Gesamtdeutschland hätten. Scharrenbroich verkündete freimütig, das Europa des Jahres 2030 sei für seine CDU ›kein Thema‹. Der neuartige Dialog zwischen Bonner Regierungspartei und DDR-Opposition soll nach Meinung aller Beteiligten fortgesetzt werden – als nächste Gäste haben sich Arbeitsminister Norbert Blüm, Gesundheitsministerin Rita Süssmuth und CDU-Generalsekretär Heiner Geißler angesagt. Auch die FDP, so kündigte Außenminister Hans-Dietrich Genscher dem DDR-Pfarrer an, will jetzt kommen; und wenn Eppelmann nächstes Mal in Bonn ist, will sich Helmut Kohl um ihn kümmern. Das jedenfalls versprach Kanzlerberater Horst Teltschik 8 dem Theologen, der zwar nicht nach Prag, wohl aber (zum Privatbesuch) nach Bonn reisen durfte und …«
Entrüstet wirft Ralf H[irsch] ein, dass alles erstunken und erlogen ist. Eppelmann wollte doch gar nicht mit nach Prag.9 Roland Jahn fordert ihn auf, bis zum Ende zu warten und liest weiter vor: »... bei dieser Gelegenheit – es war der 12. September – am Kanzlerfest teilnahm. Nur die SPD zeigt sich noch spröde. Als Eppelmann die Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs 10 um Gespräche bat, verwies die Politikerin auf die ›hervorragenden Kontakte‹ und meinte wohl jene zur Staatspartei SED. Die wollen die Westgenossen nicht so leicht aufs Spiel setzen; sie haben noch Berührungsängste. Seit letzter Woche sind die DDR-Friedensfreunde auch international anerkannt; zum Gespräch mit den Unionsabgeordneten erschien Gastgeber Eppelmann zu spät: Er hatte unmittelbar vorher drei Abgeordneten des US-Kongresses Auskunft über seine Einschätzung der Lage geben müssen. Der Amerikaner Steny H. Hoyer 11 kam direkt von der Gegenseite, vom Gespräch mit dem ZK-Sekretär und Politbüromitglied Hermann Axen. Und als Hoyer Eppelmann die Hand gab, richtete er eine Botschaft aus, die den Dissi noch ratlos lässt: ›Herr Axen lässt Sie grüßen‹.« 12
Ralf H[irsch] kann das Ende gar nicht abwarten. Er fragt sich, ob Eppelmann jetzt einen Personenkult aus der ganzen Sache macht. Roland Jahn erklärt, dass zu dem Artikel ein Bild von Rainer Eppelmann vor der Samariterkirche gedruckt wurde mit der Unterschrift: »DDR-Pfarrer Eppelmann – Gespräche auf Kohls Kanzlerfest«. 8 Horst Teltschik (geb. 1940), seit 1983 Leiter des Bereichs Außen- und Sicherheitspolitik im Bundeskanzleramt, vgl. von ihm auch: 329 Tage. Innenansichten der Einigung. Berlin 1991. 9 An der Aktion am 24.4.1987, als mehrere Oppositionelle nach Prag fliegen wollten und daran gehindert wurden (vgl. Dok. 15 und 16) war Rainer Eppelmann nicht beteiligt. 10 Die SPD-Politikerin (geb. 1937) war u. a. 1980–2002 MdB und 1987–1991 Bundesgeschäftsführerin der SPD. 11 Der USA-Politiker (geb. 1939), Mitglied der Demokratischen Partei, war seit 1981 Kongressabgeordneter. 12 Aus: Der Spiegel Nr. 43 vom 19.10.1987, S. 130.
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Stöhnend wirft Ralf H[irsch] ein, dass man den (Eppelmann) nichts alleine machen lassen darf. Die Sache mit dem Kanzlerfest 13 gehört doch gar nicht dorthin und Wolfgang Templin war gar nicht dabei gewesen und Bärbel Bohley konnte den Termin nicht wahrnehmen. Ralf H[irsch] hat die Vermutung, dass Rainer Eppelmann »das Ding in die Kirche ziehen will«. Es fehle nur noch, dass Manfred Stolpe und andere »Kirchengrößen« in dem »Spiegel«Artikel erscheinen. Der »taz«-Artikel 14 war nach Meinung von Ralf H[irsch] schön böse, aber der »Spiegel« gibt noch eins drauf. Roland Jahn versucht Ralf H[irsch] zu beruhigen. Es sei doch gar nicht so einfach, die Medien zu steuern. Ralf H[irsch] soll sich in aller Ruhe mit Rainer Eppelmann unterhalten und keine Unbedachtheiten im ersten Ärger von sich geben. Ralf H[irsch] regt sich vor allem über die Formulierung »um Resonanz im Westen buhlen« auf. Gerade das war es doch, was sie den CDU-Politikern deutlich machten, dass sie sich nicht verändern lassen wollen. Roland Jahn wirft ein, dass es noch mehrere solcher Formulierungen gibt, die nicht richtig sind. Er fordert Ralf H[irsch] noch einmal auf, sich nicht aufzuregen und sachlich mit Rainer Eppelmann darüber zu sprechen. Roland Jahn wird den Artikel seinem Gesprächspartner zukommen lassen. Ralf H[irsch] wechselt das Thema. Er hat heute von Gerd Poppe gehört, dass »dein bester Freund« Wolfgang Rüddenklau sich beschwerte, weil man ihm nichts von diesem Treffen sagte. Zunächst verwahrt sich Roland Jahn gegen die Bezeichnung »bester Freund«. Er suche sich seine Freunde immer noch allein aus. Er lässt sich auch nicht dazu benutzen, dass »eure inneren Streitereien« mit seinem Namen geklärt werden. Diese ganzen Streitereien kommen nur daher zustande, weil »ihr« keine »inneren Strukturen« habt. Als einfachste Struktur müsstet ihr eine »Informationsstruktur« schaffen. Dann kämen solche Sachen gar nicht erst zustande. Ralf H[irsch] ist dagegen. Durch die Schwatzhaftigkeit sind sie dazu gezwungen. Und wenn Wolfgang Rüddenklau ankündigt, dass sie etwas zu dem Treffen schreiben, können sie es ruhig machen. 15 Aber dann werden »wir« auch etwas schreiben, kündigt Ralf 13 Vgl. dazu auch Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993, S. 282. 14 »Sprache muss im Denken korrigiert werden.« Gespräch mit DDR-Pfarrer Eppelmann über den Besuch einer Delegation der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Ostberlin (Interview von Erich Rathfelder), in: taz vom 14.10.1987, S. 7. Für Kritik innerhalb der Opposition sorgten weniger die Aussagen in der »taz« oder im »Spiegel«, sondern vielmehr der Umstand, dass mit Rainer Eppelmann ein Beteiligter besonders von den Medien herausgehoben wurde. 15 »Gegenstimmen«, der »Friedenskreis Friedrichsfelde«, die »Umwelt-Bibliothek«, die KvU u. a. Berliner linke Oppositionsgruppen haben mehrere erboste Erklärungen herausgegeben (vgl. Umweltblätter vom 1.11.1987, S. 9–12). In einer hieß es z. B.: »Am 13. Oktober [1987] meldeten westdeutsche Radio- und Fernsehstationen, dass sich Mitglieder der Berliner Unabhängigen Friedensbewegung mit Abgeordneten der CDU-Bundestagsfraktion getroffen haben. Weggelassen wurde, dass es sich lediglich um ein Treffen mit Vertretern von 2 Berliner Friedensgruppen handelte. Wir, eine
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Dokument 28 vom 20. Oktober 1987
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H[irsch] an. 16 Er verweist darauf, dass »wir« doch auch nicht eingeladen wurden, wenn sich die Grünen ankündigten. Das mussten wir immer erst von »drüben« erfahren. Ralf H[irsch] regt sich besonders auf, dass die »taz« schon wieder darüber berichtete, dass die »Ostfriedensbewegung« an einer gemeinsamen Initiative arbeite. Für solche Schwatzhaftigkeit könnte er Wolfgang Rüddenklau »erschlagen«. Das Papier, es ist noch gar nicht fertig, ist doch so schlimm, dass es hier keiner unterschreibt. Da sind noch viele Diskussionen vorher fällig. Und bei dem Gerede wundert sich Wolfgang Rüddenklau, dass er ausgeschlossen wird. Roland Jahn hat von der genannten Initiative auch nur in der »taz« gelesen. 17 Er ist aber nicht dafür, dass Wolfgang Rüddenklau gleich ausgeschlossen wird. Auch hier gilt es, sich ruhig und sachlich mit ihm auseinanderzusetzen. Das kann auch öffentlich geschehen. Verstockt wirft Ralf H[irsch] ein, dass die gesamte UB (»Umweltbibliothek«) »unterlaufen bis zum geht nicht mehr« ist. Und gerade dort wird geschwatzt und geschwatzt. Auch und vor allem über Roland Jahn. Roland Jahn kündigt an, dass er seinem Gesprächspartner ein paar interessante anonyme Briefe schicken wird. Neugierig erkundigt sich Ralf H[irsch], wen die Briefe betreffen. Darüber will Roland Jahn eigentlich hier nicht sprechen. Er sagt nur soviel, dass die Briefe ihn und vor allem Ralf H[irsch] angehen. In den Briefen wird versucht, sie gegenseitig auszuspielen. 18 Reihe von Mitgliedern anderer Gruppen der Berliner Unabhängigen Friedensbewegung, distanzieren uns von diesem tête-à-tête mit Vertretern einer Partei, die die westliche Nachrüstung befürwortet und mit durchgeführt hat und auch in neuerer Zeit sich als Hemmblock der Abrüstungsverhandlungen zwischen den Supermächten profiliert. Wir wollen nicht zusammen mit einer Partei Krokodilstränen über Menschenrechtsverletzungen in der DDR zerdrücken, die andererseits eine menschenverachtende Asylpolitik befürwortet und (mindestens zu großen Teilen) brutale Diktaturen wie in Südafrika und Chile unterstützt. Politische Gespräche sind für uns nur mit Parteien, Gruppen und Bewegungen möglich, die wenigstens Ansätze zur Abwendung von der alten Abschreckungs- und Bedrohungsideologie zeigen, ganz zu schweigen von einem Engagement für die Menschenrechte, wo immer sie verletzt werden, in Ost oder West.« (hier zit. nach: taz vom 20.10.1987, S. 7; siehe auch Umweltblätter vom 1.11.1987, S. 11). Siehe dazu außerdem Stimmen aus diesem Oppositionsspektrum: Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. DDR-Opposition 1986–1989. Mit Texten aus den »Umweltblättern«. Berlin 1992, S. 112–114, sowie sein Text aus den »Umweltblättern« vom 1.11.1987, S. 149–151; Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 336–338. In der 3. Sendung von »Radio Glasnost – außer Kontrolle« am 26.10.1987 ist dieser Besuch auch thematisiert worden. Die zitierte Erklärung ist verlesen worden, außerdem kamen Ralf Hirsch und Gerd Poppe mit längeren Statements zur Wort. Vgl. das Sendeprotokoll: MfS, HA XX/2, Radio 100 »Sendereihe Glasnost« vom 26.10.1987 (Abschrift vom Tonband), 27.10.1987. BStU, MfS, HA XX/9 771, Bl. 281–295. 16 Vgl. Gerd Poppe: Dialog oder Abgrenzung, in: Grenzfall–Vorabdruck 11/1987, nachgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 163–169. 17 Es ist nicht eindeutig, worum es sich hier konkret handelte. 18 Es handelte sich um anonyme Briefe, mit denen Roland Jahn und seine DDRKontaktpartner diskreditiert werden sollten (vgl. dazu auch Dok. 9).
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Dokument 28 vom 20. Oktober 1987
Ralf H[irsch] kommt wieder auf das Treffen in seiner Wohnung 19 zurück. Gerade im Vorfeld des Treffens durfte nichts bekannt werden, sonst wären die Antragsteller in Scharen vor seiner Wohnung erschienen, um Norbert Blüm, der ja angekündigt war, 20 ihre Anträge zu überreichen. Es war aber ein reiner Privatbesuch. Das Gespräch, das stattfand, war ein Austausch zwischen Privatpersonen, die Mitglieder der »Initiative« 21 sind. Darin wird Ralf H[irsch] von Roland Jahn bestärkt. Er erklärt, dass ihr nicht als die Initiative, sondern als Mitglieder der Initiative mit den CDU-Politikern gesprochen habt. Roland Jahn regt an, dass Ralf H[irsch] etwas zu dem »Spiegel«-Artikel schreiben müsste. Es wäre noch besser, wenn das noch ein oder zwei andere Leute tun würden. Roland Jahn kann sich vorstellen, dass auch Gerd Poppe etwas zu Papier bringt. Ralf H[irsch] will versuchen, Gerd Poppe dafür zu gewinnen. Wenn der nicht mitmachen sollte, macht es Ralf H[irsch] allein. 22 Ralf H[irsch] will versuchen, das bis zum Donnerstag fertigzuhaben. Wie er das machen will, muss er sich noch überlegen. Resümierend meint Ralf H[irsch], dass dieser Artikel doch eigentlich die einzige negative Meinung ist. Roland Jahn ist da nicht so zuversichtlich. Er meint, dass man doch abwarten muss, aus »welchen Ecken noch geschossen wird«. Ralf H[irsch] informiert dann, dass er heute mit »unserem gemeinsamen Freund« im Ermelerhaus 23 essen war. Der Freund hatte in der vergangenen Woche (5.10.) Geburtstag. 24 Da der Freund zu seinem Geburtstag verreist war, haben sie das Essen heute nachgeholt. Roland Jahn bedauert, dass er nicht an den Geburtstag dachte. Er kündigt an, dass er sich zum Wochenende wieder bei Ralf H[irsch] melden wird. 1.02 Uhr
19 Am 12.10.1987 mit den CDU/CSU-Abgeordneten. 20 Norbert Blüm hatte kurzfristig abgesagt. 21 Intern wurde die IFM zumeist nur als »Initiative« bezeichnet. 22 Vgl. Gerd Poppe: Dialog oder Abgrenzung sowie die Stellungnahmen von ihm und Hirsch in: MfS, HA XX/2, Radio 100 »Sendereihe Glasnost« vom 26.10.1987 (Abschrift vom Tonband), 27.10.1987. BStU, MfS, HA XX/9 771, Bl. 281–295. 23 Hier befand sich ein für Ostberliner Verhältnisse gehobenes Restaurant in Berlin-Mitte. Ursprünglich in der Breiten Straße gelegen, ist es 1968/69 am Märkischen Ufer wiedererrichtet worden. 24 Ein MfS-Mitarbeiter vermutete, es handele sich dabei um Lutz Rathenow, der aber am 22.9. Geburtstag hat. Hirsch traf sich mit dem Journalisten Ingomar Schwelz, der am 5.10. Geburtstag hat. Schwelz war einer der wichtigsten und zuverlässigsten Kuriere.
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Dokument 29 Telefoninterview von Roland Jahn mit Ralf Hirsch für »Radio Glasnost – außer Kontrolle« 23. Oktober 1987 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, HA XX, Leiter [Paul Kienberg] Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 9, Bl. 241–243
Ein Herr, der sich mit »Radio 100« (wörtlich) vorstellt, nimmt Kontakt auf zu Ralf Hirsch. Dabei erklärt der Herr, dass ja ein Interview vereinbart worden ist und verbindet Ralf H[irsch] telefonisch mit Roland Jahn, der sich in der »Redaktion« aufhält. Zwischen Roland Jahn und Ralf H[irsch] kommt es dann zu folgendem Dialog: Roland J[ahn]: Hallo! Ralf H[irsch]: Ja. Roland J[ahn]: Gut! (Zwischenfrage eines Herrn/Technikers, an Roland Jahn, ob er gleich anfangen soll) (an den Herrn/Techniker gerichtet): Nein, warte einmal einen Moment. (wieder an Ralf H[irsch] gewandt): Hast Du Dir ein paar Gedanken gemacht? Ralf H[irsch]: Ein paar habe ich schon. Roland J[ahn]: Pass auf, wir haben zwei Varianten. Wir können so ein bisschen Frage – Antwort machen, wir können es aber auch so machen, dass Du einfach einmal loslegst. Ralf H[irsch]: Ja, Du stellst die erste Frage und ich lege einfach einmal los. Und wenn Dir etwas nicht passt, haust Du einfach einmal rein, oder wenn Du etwas wissen willst. Roland J[ahn]: Ja, gut, machen wir es so. (Roland Jahn bejaht dann die Frage eines Herrn/Technikers, ob es losgehen kann.) Ja, also Ralf [Hirsch], Euch ist vorgeworfen worden, dass Ihr Euch mit einer Partei getroffen habt, und Krokodilstränen über Menschenrechtsverletzungen in der DDR zerdrückt habt, während diese Partei eine menschenverachtende Politik in ihrem Land betreiben würde. 1 Was sagst Du zu diesen Vorwürfen? 2 1 Es geht um den Besuch der CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten am 12.10.1987 in der Wohnung von Ralf Hirsch. Zu diesem Besuch vgl. auch Dok. 26 und 28. Kritik kam v. a. von linken Ostberliner Oppositionsgruppen.
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Dokument 29 vom 23. Oktober 1987
Ralf H[irsch]: Also ich halte diese Vorwürfe als erstes für nicht gerechtfertigt. Wir haben eine Möglichkeit der Diskussion genutzt, die uns angeboten wurde. Wir reden ja ständig von Dialogbereitschaft und diese wollten wir hier auch wahrnehmen. Wir haben in erster Linie keine Krokodilstränen über die Menschenrechtssituation in der DDR vergossen. Vielmehr haben wir inhaltlich über die Situation in der Bundesrepublik gesprochen. Wichtige Themen waren unter anderem: die Asylproblematik und die Arbeitslosigkeit. Aber ein ganz wichtiges Thema war auch, wie sich die CDU/CSU zu dem Problem der Einreiseverweigerung von Bundesbürgern und ehemaligen DDR-Bürgern verhält, die jahrelang ihre Freunde, Verwandten und Bekannten nicht wiedersehen dürfen. Dies war also der Schwerpunkt der Diskussion. Ich halte diese Behauptung mit den Krokodilstränen für eine Unterstellung, die einfach ein bisschen übereilt kam; sicherlich auch aus der Situation der Berichterstattung westlicher Medien. Die inhaltlichen Auseinandersetzungen waren also etwas anders, als da behauptet wird. Roland J[ahn]: Es wird hier in einer Erklärung der Gruppe »Gegenstimmen« und der »Umweltbibliothek« in Berlin gefordert, dass die »unabhängige Friedensbewegung« nur Gespräche mit Parteien und Gruppen führen sollte, die wenigstens Ansätze zur Abwendung von Abschreckung und Bedrohungsideologien zeigen. 3 Was sagst Du dazu? Ralf H[irsch]: Ich bin der Meinung, dass, wenn wir von Dialogbereitschaft reden, diese für alle offen sein muss und nicht einer Zensur unterworfen werden kann. Wir fordern von unseren Regierenden, die ebenfalls jahrelang Dialogbereitschaft unterdrückt haben und heute noch nicht praktizieren, dass sie es tun. Hier wurde es praktiziert und ich glaube, es geht in erster Linie um Inhalte, die man bespricht. Wir haben also auch sehr massiv dargelegt, dass die Gespräche mit uns nur glaubhaft werden können, und wenn es Folgegespräche werden, muss das unbedingt passieren, wenn auch die Regierung und die CDU/CSU in der Bundesrepublik mit kritischen Bürgern in Gespräche kommt und diese nicht als Spinner und Chaoten abstempelt. Wir haben ebenfalls deutlich dargelegt, dass wir nicht von ihnen vereinnahmt werden wollen und sie nicht für uns sprechen können; Menschenrechtsprobleme müssen wir in unserem Land in erster Linie selbst aufgreifen. Wir haben lange über die Thematik »Wiedervereinigung« gesprochen, weil wir grundsätzlich die Meinung vertreten, die »Wiedervereinigung« bzw. die ganze deutsche Frage ist sowieso nur im europäischen Sinne zu lösen und nicht im deutsch-deutschen Verhältnis. Da gab es sehr unterschiedliche Meinungen. Also stimmt die Tendenz, die 2 In der 3. Sendung von »Radio Glasnost – außer Kontrolle« am 26.10.1987 ist dieser Besuch thematisiert worden. Die Erklärung der »Gegenstimmen« und UB ist verlesen worden, Gerd Poppe kam zu Wort und auch Ralf Hirsch mit einem längeren Statement. In der Sendung wurde ausgestrahlt, was hier in diesem Dokument kursiv gesetzt wurde. Vgl. das Sendeprotokoll: MfS, HA XX/2, Radio 100 »Sendereihe Glasnost« vom 26.10.1987 (Abschrift vom Tonband), 27.10.1987. BStU, MfS, HA XX/9 771, Bl. 283–284. 3 Vgl. dazu Dok. 26, Anm. 2.
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Dokument 29 vom 23. Oktober 1987
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haben zusammen geweint, die haben sich verbrüdert und es gab überall Übereinstimmung, in keinem Fall. Das Problem, was mir im Nachhinein deutlich geworden ist, ist, dass wir es nicht geschafft haben, Inhalte dieses Gespräches auf schnellem Wege und den Möglichkeiten im Land [entsprechend] den Gruppen bekanntzumachen. Dies wird erst im Nachhinein passieren. Aber leider waren die Reaktionen viel schneller. Roland J[ahn]: Das heißt, Eure Auffassung ist eine universelle Dialogbereitschaft. Wie sieht das in der Zukunft aus? Wie wollt Ihr auch in der DDR einen Dialog führen, zum Beispiel mit staatlichen Stellen? Ralf H[irsch]: Ich glaube auch, wenn staatliche Stellen Dialogbereitschaft anbieten, dass man da suchen muss, wo es Gemeinsamkeiten bzw. krasse Unterschiede gibt. Das war auch Sinn dieses Gespräches, dass wir versucht haben, Gemeinsamkeiten zu suchen. Dass wir aber auch versucht haben, klar zu benennen – und das wurde getan – wo gibt es Unterschiede, wo können wir uns überhaupt nicht annähern. Dabei ging es um die Frage – das betone ich noch einmal – dass sie also nicht kritische Leute in der Bundesrepublik als Spinner und Chaoten bezeichnen können und dann mit uns, die wir von unseren Regierenden so bezeichnet werden, den Dialog suchen. Roland J[ahn]: Ganz konkret noch einmal auf die Situation in der DDR bezogen, was gibt es für Bemühungen, mit staatlichen Stellen in der DDR in Kontakt zu treten und auch über Themen, die Innenpolitik betreffend, zu diskutieren? Ralf H[irsch]: Es gibt immer wieder die Bemühung, dass man Anträge stellt für Gesprächspartner. Es gibt die Bemühungen in Form von Eingaben, in denen man auf Probleme hinweist und verlangt, ins Gespräch zu kommen. Leider ist es so, dass diese Bemühungen noch erfolglos sind. Roland J[ahn]: Gut! Danke, das war es. Wir werden sehen. Ralf H[irsch]: Du musst mal sehen. Wenn nicht, müssen wir noch einmal etwas nachholen. Es ist ein bisschen problematisch, weil ich gerade Besuch hier habe (diese Aussage von Ralf H[irsch] entspricht nicht den Tatsachen). 4 Roland J[ahn]: Es ist alles eine Zeitfrage, wie wir das unterbringen können. Ich denke aber, dass ein, zwei Sätze durchaus da mit zumindest eingebaut werden können. Alles klar dieses Mal? Ralf H[irsch]: Ja. Roland J[ahn]: Tschüß dann! 15.02 Uhr 4 Dieser eingefügte Hinweis des MfS deutete darauf hin, dass auch die Wohnung von Ralf Hirsch abgehört worden ist (Maßnahme B). Ein entsprechendes Abhörprotokoll ist aber bislang nicht aufgefunden worden. Für andere Zeiträume sind Dokumente aus der Raumüberwachung (Maßnahme B) von Ralf Hirschs Wohnung bekannt (z. B. ein Dokument der Abt. 26/6 vom 29.12.1987. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 11379, Bl. 275–276).
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Dokument 30 Information zum Aufklärungsauftrag »Opponent« 1 in Westberlin (Originaltitel) 28. Oktober 1987 Von: MfS, HA VIII/6, Leiter OSL [Manfred] Theisinger 2 Anmerkung: Unter Anlage ist vermerkt: »1 MTB« 3 Quelle: BStU, MfS, AOP 15665/89, Beifügung Bd. 7, Bl. 51
Durch eine Quelle unserer Diensteinheit wurde im Zusammenhang mit der Aufklärung des Zielobjektes »Opponent« in 1 Berlin 42, Tempelhofer Damm, nach solchen Telefonmöglichkeiten gesucht, welche es dem Zielobjekt ermöglichen könnten, Telefonanrufe aus dem Gebiet der DDR zu empfangen, ohne dass diese über einen privaten Telefonanschluss laufen. Hierbei wurde als einzige Möglichkeit eine Telefonzelle in 1 Berlin 42, Tempelhofer Ufer Nr. 1, festgestellt. Diese Telefonzelle ist vom Gebiet der DDR aus über die Ruf-Nr. 24 30 49 anwählbar. Hält sich das Zielobjekt zu vereinbarten Zeiten in dieser Telefonzelle auf, kann er z. B. von einem anderen Fernsprecher auf dem Gebiet der DDR angerufen werden. Die festgestellte Telefonzelle befindet sich ca. 3 Kilometer vom Wohnsitz des Zielobjektes entfernt und kann sowohl zu Fuß (ca. 15 Min.) oder unter Nutzung der U-Bahn (2 Stationen bis U-Bahnhof Mehringdamm) erreicht werden.
1 Der OV gegen Jürgen Fuchs trug intern die Bezeichnung »Opponent«. 2 Manfred Theisinger (geb. 1935), Arbeiter, 1955–1957 KVP, 1958 SED, Staatsbürgerkundelehrer, Erzieher, 1960–1964 hauptamtlicher FDJ-Sekretär; seit 1964 MfS-Mitarbeiter der HA VIII, 1983 Beförderung zum Oberstleutnant, seit 1985 Leiter der HA VIII/6; Entlassung zum 28.2.1990. 3 MTB steht für »Messtischblatt«.
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Dokument 31 Information zu Aktivitäten der feindlich-negativen Gruppierung »Initiative Frieden und Menschenrechte« Berlin und der oppositionellen Gruppe »Zur Schaffung von Vertrauen zwischen Ost und West« Moskau (Originaltitel) 30. Oktober 1987 Von: MfS, HA XX/2 An: MfS, HA XX/5, [Werner] Fleischhauer Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14a, Bl. 166–167
Streng intern konnte erarbeitet werden, dass die oppositionelle Gruppierung »Initiative Frieden und Menschenrechte« um den Organisator und Inspirator politischer Untergrundtätigkeit in der DDR, Wolfgang Templin, und die Moskauer Gruppe »Vertrauen« um Andrej Kriwow und Irina Kriwowa seit März 1987 Verbindungen unterhalten. 1 Folgende negativ-feindliche Aktivitäten wurden bekannt: – Die »Initiative Frieden und Menschenrechte« gelangte im März 1987 auf bisher unbekanntem Weg in den Besitz eines monatlichen Informationsbulletins, Nr. 1/87, der Gruppe »Vertrauen«. Templin veranlasste die Übersetzung, Vervielfältigung und Verbreitung des Bulletins in der DDR. – Templin bekundete Solidarität mit dem inhaftierten und rechtskräftig verurteilten Mitglied der Gruppe »Vertrauen«, Sergej Swetuschkin, 2 und verfasste einen Protestbrief an Genossen Gorbatschow, der am 27.5.1987, zum Zeitpunkt der Beratungen des Politisch Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages, in der UdSSR-Botschaft in Berlin übergeben wurde. 3 Der ehemalige DDR-Bürger und Feind der DDR, Roland Jahn, sowie Korrespondenten westlicher Massenmedien übten dabei einen inspirierenden Einfluss aus. – Templin forderte von der Kriwowa im Juni 1987 Adressen von Vertretern der Gruppe »Vertrauen«, um an diese Einladungen für eine im August in der VR Ungarn stattfindende Zusammenkunft »unabhängiger Bewegungen in einem Lager des Friedens« zu senden. Sie übermittelte daraufhin ihre Personalien sowie die eines weiteren Vertreters der Gruppe »Vertrauen«:
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Zur Oppositionsgruppe »Vertrauen« (Доверие) siehe Dok. 21, Anm. 4. Vgl. zu ihm Dok. 21. Vgl. ebenda.
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Dokument 31 vom 30. Oktober 1987
Kriwowa, Irina Wadimowna, geb. am XXX 1960 in Moskau, whft.: Moskau, uliza XXX, Beruf: Hochschulausbildung als Geschichtslehrer, Arbeitsstelle: Kino XXX in Moskau Jakobson, Grigori Rafilowitsch, geb. am XXX 1941 in Orenburg, whft.: Moskau, uliza XXX, Beruf: Mathematiker, Arbeitsstelle: Zentrales Forschungsinstitut XXX Moskau. – Kriwow informierte Templin im September 1987 über das Erscheinen einer neuen unabhängigen Zeitschrift »Glasnost« in Moskau. 4 – Kriwow übermittelte Templin im September 1987 genaue Informationen zu einem in Moskau stattgefundenen, offiziell genehmigten Treffen von 50 »unabhängigen Gruppen«. Templin veröffentlichte mit dem Einverständnis Kriwows Informationen zu diesem Treffen in dem feindlichnegativen Pamphlet »Grenzfall« 10/87 in der DDR. 5 – Kriwow kündigte im September 1987 an, die Deklaration der Prinzipien der Gruppe »Vertrauen« eventuell über Kontaktpartner in der BRD nach Berlin zu schicken. – Er berichtete im September 1987 über eine »Initiative zur Verteidigung von Mathias Rust« in der UdSSR und verwies in diesem Zusammenhang auf stattgefundene Demonstrationen in Moskau und Leningrad. 6 – Die Kriwowa informierte im Oktober 1987 Templin über ein Treffen »unabhängiger Gruppen« im September 1987 in Leningrad. Dort habe sich eine Gruppe »Vertrauen« auf den Grundlagen der Moskauer Gruppe gebildet, die am 7. November 1987 an der Festdemonstration anlässlich des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution als »unabhängige Gruppe« teilnehmen will, was ihnen bereits gestattet worden wäre. – Sie fordert im Oktober 1987 den Templin auf, anlässlich der am 24. Oktober 1987 in allen Ländern der Welt stattfindenden internationalistischen
4 Vgl. UdSSR-Ermittlungsverfahren gegen Glasnost-Zeitschrift, in: Grenzfall 10/87, nachgedruckt in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 118. 5 Vgl. Moskauer Gruppentreffen, in: Grenzfall 10/87, nachgedruckt in: ebenda, S. 119. 6 Mathias Rust (geb. 1968). Der Bundesdeutsche machte am 28.5.1987 weltweit Schlagzeilen, als er mit einem viersitzigen Leichtflugzeug in der Nähe des Roten Platzes in Moskau ungenehmigt landete. Er hatte mit dieser Aktion die Supermacht blamiert, weil sämtliche militärischen Frühwarnsysteme versagt hatten. Rust wurde im September 1987 zu 4 Jahren Arbeitslager verurteilt, kam aber im August 1988 aufgrund einer Begnadigung vorzeitig frei. Vgl. Ed Stuhler: Der Kreml-Flieger: Mathias Rust und die Folgen eines Abenteuers. Berlin 2012.
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Dokument 31 vom 30. Oktober 1987
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Veranstaltung »Welle des Friedens« an diesem Tag auch in der DDR etwas zu organisieren. 7 – Die Kriwowa informierte im Oktober 1987, dass vom 10. bis 13. Dezember 1987 in Moskau ein viertägiges Seminar mit internationaler Beteiligung zum Thema »Rechtsschutz und Rechtshilfeorganisationen«, organisiert durch den Presseklub »Glasnost«, stattfinden wird. Als Koordinator des Seminars sei ein Lew Timofejew 8 eingesetzt. Von der Partei Die Grünen der BRD liege bereits eine Zusage vor. Templin zieht in Erwägung, den operativ bekannten Martin Böttger, Teilnehmer am »Olof-PalmeFriedensmarsch« in der ČSSR, als Vertreter der »Initiative Frieden und Menschenrechte« der DDR nach Moskau zu entsenden. Bei einer Nichtteilnahme von Vertretern der »Initiative Frieden und Menschenrechte« werde man einen Beitrag schicken, der auf dem Seminar verlesen werden könnte. Templin informierte den Roland Jahn in Westberlin zu dem geplanten Seminar in Moskau.
7 Dazu kam es in der DDR nicht. Inwiefern es überhaupt zu solchen Aktionen andernorts kam, ließ sich nicht eruieren. 8 Lew M. Timofejew (geb. 1936), Journalist, Schriftsteller, Wirtschafts- und Literaturwissenschaftler, mehrere Bücher von ihm wurden im Samisdat weit verbreitet und dienten als Begründung für die Verhaftung (März 1985) und Verurteilung Timofejews zu 6 Jahren Lagerhaft zuzüglich 5 Jahren Verbannung. Im Februar 1987 wurde er begnadigt. Daraufhin wandte er sich mit einem offenen Brief an die »Iswestja« und forderte, alle politischen Gefangenen der UdSSR freizulassen. Er gründete 1987 eine neue Samisdatzeitschrift (»Referendum«), 1988 die »Unabhängige Universität« und publizierte Erzählungen und Gedichte. Vgl. einen Text von Timofejew aus dem »Referendum« (3/1987): Stephen Cohen und die sowjetische Erfahrung. Oder: Die russische Geschichte aus der Sicht westlicher Sowjetologen, in: Kontinent 2 (1989) 49, S. 60–65.
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Dokument 32 Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte im Zusammenhang mit dem Besuch des stellvertretenden Außenministers der USA in der DDR (Originaltitel) 10. November 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/4 Quelle: BStU, MfS, HA XX/4 31, Bl. 119–120
Durch den zielgerichteten Einsatz einer inoffiziellen Quelle gelangten Hinweise zu einer in den Nachmittagsstunden des 10. November 1987 zwischen dem stellvertretenden Chefredakteur des Westberliner privaten Rundfunksenders »Hundert,6«, Schwarz, Thomas 1 und dem feindlich-negativen DDR-Bürger, Hirsch, Ralf geführten Konsultation zur Kenntnis, die möglicherweise mit Aktivitäten im Zusammenhang mit dem am 10. und 11. November 1987 in der Hauptstadt der DDR stattfindenden Besuch des stellvertretenden Außenministers der USA, Whitehead, John, 2 stehen könnten. 3 Wie der Konsultation entnommen werden kann, ist nicht auszuschließen, dass es zwischen Hirsch und dem stellvertretenden USA-Außenminister zu einem Treffen kommt. 4 Diese Vermutung resultiert aus der Äußerung des Schwarz, dass Hirsch dem Whitehead »schöne Grüße bestellen« soll. Hirsch pflichtete dem bei, verhielt sich gegenüber dieser Aufforderung jedoch neutral und äußerte lediglich, nicht soviel darüber zu reden, da ansonsten »das ganze Viertel abgesperrt werde vor Schreck«.
1 Hier irrte das MfS bei der Zuordnung zum Sender »Hundert,6«. Tatsächlich arbeitete Thomas Schwarz beim Sender »Radio 100«, der sich bis September 1987 mit »Hundert,6« die Frequenz teilen musste, was auch zu politischen Irritationen führte, da die Programme extrem unterschiedlich waren. 2 John C. Whitehead (geb. 1922), Unternehmer und Manager, war 1985–1989 stellv. Außenminister. 3 Das war der ranghöchste offizielle Besuch eines Politikers der USA in der DDR. Vgl. Christian M. Ostermann: Die USA und die DDR (1949–1989), in: Ulrich Pfeil (Hg.): Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen 1949–1989. Berlin 2001, S. 180–183. 4 Dazu kam es nicht, es war aber auch gar nicht geplant (Information von Gerd Poppe am 4.10.2011). Das war, wie das MfS in dem Dokument selbst vermutet, ein Scherz in Richtung der Stasi-Mithörer. So etwas kam häufig vor, vor allem um die Stasi in die Irre zu führen, was auch immer wieder gelang.
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Dokument 32 vom 10. November 1987
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Bemerkung: – Ausgehend vom Verlauf der Konsultation zwischen Schwarz und Hirsch ist die Ernsthaftigkeit des Treffens mit Whitehead anzuzweifeln. Der Gesprächsverlauf war durch Ironie und Sarkasmus gekennzeichnet. – Aufgrund der operativen Bedeutsamkeit wird in der Anlage der Wortlaut der Konsultation wiedergegeben. – Die HA XX wurde vom Sachverhalt vorinformiert. Legende: + Schwarz – Hirsch + Du, der stellvertretende Außenminister der Vereinigten Staaten kommt auch nach Ostberlin in den nächsten Tagen. – Ja, der kommt hier her. + Ach, das finde ich ja gut, bestellst du ihm schöne Grüße. – Klar. + Johnni Whitehead, der macht einen ganz guten Eindruck, fand ich so, was ich so bisher von ihm gelesen habe. – Wenn wir zuviel davon reden, sperren sie das ganze Viertel ab vor Schreck.
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Dokument 33 Hinweise zu einem Telefoninterview mit dem Pfarrer [Rainer] Eppelmann (Originaltitel) 12. November 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX, stellv. Ltr. [Benno] Paroch, 1 MfS, HA XX/4 Quelle: BStU, MfS, HA XX/4 31, Bl. 112
Im Zusammenhang mit einem am 12. November 1987 durch den Deutschlandfunk (DLF) mit dem DDR-Pfarrer Eppelmann, Rainer geführten Telefoninterview wurden Hinweise dazu erarbeitet, welche grundsätzlichen Überlegungen zur Möglichkeit solcher Interviews durch Mitarbeiter des DLF angestellt wurden. Hintergrund dieser Überlegungen war, dass ein Mitarbeiter des DLF in Köln beabsichtigte, Eppelmann zur Frage eines angeblichen Rechtsradikalismus in der DDR zu befragen, wofür er auch schon die Zustimmung Eppelmanns hatte. Gleichzeitig bestanden aber Bedenken, dieses Interview telefonisch durchzuführen, da das Außenministerium der DDR angedeutet haben soll, dass Liveinterviews des DLF aus der DDR nicht gern gesehen würden. Bei einer daraufhin mit dem Mitarbeiter des Westberliner Studios des DLF Fink, Hans-Jürgen geführten Absprache einigte man sich darauf, dass solche Telefoninterviews generell gestattet sein müssten. Wenn die DDR einen freien Telefonverkehr gewährleiste, müsse sie auch solchen Dingen zustimmen. Allerdings solle man darauf achten, nicht gerade Personen für derartige Interviews zu nehmen, die einem stärkeren staatlichen Druck ausgesetzt seien oder so wie der DDR-Liedermacher Krawczyk, Stephan mit einem »Auftrittsverbot« belegt wären. Ein Interview mit einem Kirchenvertreter, bei dem man sich auch noch bemühen wollte keinerlei Dinge anzusprechen, die größere Bedenken in der DDR auslösen könnten, dürfte deshalb eigentlich keine Gegenreaktionen hervorrufen. Bemerkung: Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz erforderlich.
1 Benno Paroch (1932–2004), Maschinenschlosser, 1951 SED, seit 1954 Mitarbeiter der Staatssicherheit (HA V), 1965 Abteilungsleiter der HA XX/1, 1969/70 Diplomjurist der JHS mit der Abschlussarbeit: »Das Wirken der politisch-ideologischen Diversion unter Kunst- und Literaturschaffenden und die politisch-operative Klärung der Frage ›Wer ist wer?‹ unter diesen Personenkreisen«; seit 1979 stellv. Leiter der HA XX, 1981 Beförderung zum Oberst, Entlassung zum 31.1.1990.
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Dokument 34 Mitteilung des Lageoffiziers der Abt. 26 zur Aktion »Falle« 1 über WTsch 2 (2.10 Uhr) (Originaltitel) 24. November 1987 Von: MfS, HA XX/OpD, Major [Gerhard] Müller 3 An: MfS, HA XX/2 Quelle: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 25, Bl. 195
Er gab den Hinweis, dass Peter Grimm in die Fertigung von »Grenzfall« einbezogen ist und gab folgenden Text durch: »Ralf Hirsch fordert Gerd Poppe auf, am 24. November 1987 um 20.00 Uhr zu Peter Grimm zu kommen. Sie wollen dort bis 20.15 Uhr auf Poppe warten und gehen danach weg.« 4 1 Die Durchsuchung der Räume der »Umweltbibliothek« in der Zionsgemeinde in der Nacht vom 24. zum 25.11.1987 lief im MfS unter dem Codewort »Falle«. Nach unseren bisherigen Erkenntnissen ist dieser Codename in diesem Dokument erstmals nachweisbar. In einem zentralen Führungsdokument taucht der Begriff erst später auf: MfS, Stellv. d. Ministers, Rudi Mittig, Weitere op. Aufklärungs-, Kontroll- und vorbeugende Maßnahmen zur Aktion »Falle«, 1.12.1987. BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 8815. In einem Fernschreiben der HA III an Abteilungen der HA III sowie die Leiter der Abt. III der Bezirksverwaltungen wurde am 25.11.1987 befohlen, alle Hinweise »sofort telefonisch unter der Kennung ›falle‹« zu übergeben. Fernschriftlich wiederum waren die Angaben spätestens 4 Stunden nach Anfall zu übermitteln: Fernschreiben der HA III vom 25.11.1987. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. III 717, Bl. 3–5. In einem weiteren Dokument der HA XX heißt es auch unmittelbar nach den Ereignissen: Tagesinformation zur Aktion »Falle«, Zeitraum 25.11.–26.11.1987, 26.11.1987. BStU, MfS, HA XX 2104, Bl. 2–5. Die Aktion gegen die »Umweltbibliothek« lief MfSintern im November auch unter den Decknamen »Umweltbibliothek« und »Zionskirche«. Dass die Verwendung solcher Codenamen im MfS nicht immer eindeutig erfolgte oder sich gar ab einem bestimmten Tag einheitlich durchsetzte, zeigt das Beispiel »Falle« ebenso wie der später ab Januar 1988 bis Herbst 1989 intern gebräuchliche Codename »Störenfried« in der Bearbeitung der Opposition generell. Dieser Begriff taucht intern bereits am 11.12.1987 auf als es um die Beobachtung, Belehrung und teilweise »Zuführung« von IFM-Mitgliedern am 10.12.1987 (siehe dazu Dok. 44) ging: MfS, BV Berlin, Abt. VIII, Zusammenfassender Beobachtungsbericht zur Aktion »Störenfried«, 11.12.1987. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. III 624, Bl. 44–55. 2 Das Dokument enthält noch den Hinweis, dass von diesem 3 Exemplare angefertigt worden sind. »Wtsch« (russ. bч – hohe Frequenz, Hochfrequenz, hochfrequent). Es handelte sich um eine weitgehend abhörsichere, bleiummantelte und unter Druckluft gesetzte sekundäre Telefonleitung, die flächendeckend in der DDR Partei- und Regierungsstellen miteinander verband. Entwickelt worden war sie in den 1930er Jahren in der Sowjetunion. Diese Telefonleitungen sind ab 1945 in der SBZ/DDR verlegt worden. 3 Gerhard Müller (geb. 1934), 1952 VP, 1953 Eintritt ins Wachregiment des MfS, 1959 Versetzung zur HA V (Oberfeldwebel), 1987 Fachschuljurist (MfS), seit Dezember 1983 einer der »Operativen Diensthabenden« (OpD) der HA XX; Entlassung zum 31.1.1990. 4 Das MfS ging auf der Grundlage von IM-Informationen davon aus, dass in der Nacht vom 24. zum 25.11.1987 in den Räumen der UB der »Grenzfall« gedruckt werden würde und wollte die Grenzfallredakteure »auf frischer Tat ertappen«. Als die Durchsuchung begann, druckten Wolfgang Rüddenklau und seine Mitstreiter von der UB nicht den »Grenzfall«, sondern die »Umweltblätter«, die
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Dokument 34 vom 24. November 1987
Diese Aufforderung wurde sehr nachdrücklich gestellt. Bericht der Abt. 26 folgt am 24. November 1987 5.
offiziell als innerkirchliche Druckschrift firmierten. Peter Grimm hatte mit Rüddenklau am Nachmittag des 24.11. verabredet, die »Grenzfall«-Redaktion würde gar nicht an dem Druck teilnehmen und »demonstrativ« woanders sein. Der IM, der die MfS-Aktion mit eingefädelt hatte, Reiner Dietrich (IM »Cindy«), konnte seinen Führungsoffizier nicht mehr warnen. Er saß mit den »Grenzfall«Redakteuren Peter Grimm, Peter Rölle und Ralf Hirsch in einer Kneipe beim Bier und fand keinen Weg, dem MfS Bescheid zu geben, ohne sich zu dekonspirieren (vgl. Peter Grimm: Erfolgloses Drehbuch. Die Aktion »Falle« und ihr Scheitern. Ein Zeitzeugenbericht, in: Horch und Guck 16 (2007) 58, S. 56–57). Gerd Poppe war nicht dabei. 5 Bislang nicht aufgefunden.
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Dokument 35 Reaktionen auf eine Aktion in der »Umweltbibliothek« (Originaltitel) 25. November 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/5, [Werner] Fleischhauer Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 9a, Bl. 108–113
Durch den gezielten Einsatz inoffizieller Quellen 1 wurden zuverlässig Hinweise zu Reaktionen auf eine in der Nacht vom 24./25. November 1987 durchgeführte Aktion in der »Umweltbibliothek« erarbeitet. Dabei zeigte sich, dass der ehemalige DDR-Bürger Jahn, Roland eine zentrale Rolle bei der Vermittlung und Weiterverbreitung von Nachrichten zur Aktion 2 spielte und er alles daran setzte, dass noch am Morgen des 25. November 1987 eine Meldung über diese Aktion in westlichen Massenmedien verbreitet wird. Der Ablauf dieser Reaktionen stellte sich wie folgt dar: Am 25. November 1987 um 2.13 Uhr informierte der DDR-Bürger Hirsch, Ralf den Jahn über diese Aktion und teilte diesem mit, dass er jetzt mit dem Dietrich, Reiner 3 losfahren wolle, um weitere Personen zu informieren. Der Bischof Forck, Gottfried wäre auch schon unterrichtet. Zu den Personen, die jetzt aufgesucht werden sollten, gehörten der Jordan, Karl-Heinz und ein Großenfeld (unsicher) 4. Jahn übergab Hirsch die Telefonnummer 349XXX über die der DDR-Bürger XXX […] zu erreichen ist und forderte Hirsch auf, auch den Schefke, Siegbert zu unterrichten. Es wäre sowieso besser, wenn sie sich sicherheitshalber aufteilten und Hirsch eine Taxe nehme. Um 2.16 Uhr informierte Jahn den DDR-Bürger XXX darüber, dass sich der Generalstaatsanwalt mit einem Aufgebot von Sicherheitskräften in der »Umweltbibliothek« aufhalte und dort Beschlagnahmungen durchführen würde. Ein dort gleichfalls aufhältiger Simon, Hans »befinde sich in der Klemme« und wäre in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Die Personen Bernhard5 und Bärbel [Bohley], die gleich um die Ecke wohnen würden, sorg-
1 Die äußere Gestaltung des Dokuments lässt in Analogie zu vergleichbaren Dokumenten die Herkunft der Informationen aus abgehörten Telefonaten erkennen. 2 Damit ist der nächtliche MfS-Überfall auf die in der Zionsgemeinde gelegene »Umweltbibliothek« gemeint. 3 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 4 Wahrscheinlich handelte es sich um Sinico Schönfeld (IM des MfS). Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 5 Phonetischer Irrtum: Es ist Werner Fischer gemeint.
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Dokument 35 vom 25. November 1987
ten sich schon um die Weiterverbreitung dieser Nachrichten, was XXX gleichfalls tun sollte. Um 2.31 Uhr wollte eine weitere namentlich nicht bekannt gewordene männliche Person aus der Hauptstadt den Jahn informieren. 6 Diese Person befand sich zu diesem Zeitpunkt in seiner Wohnung und gab an, sich gegen 5.30 Uhr zur »Umweltbibliothek« begeben zu wollen. Aus diesem Grund wurde vereinbart, dass es gegen 10.00 Uhr zu einem längeren Informationsaustausch zwischen ihnen kommen sollte. Um 2.50 Uhr nahm eine namentlich nicht bekannt gewordene 7 männliche Person aus der Hauptstadt Kontakt zu Jahn auf. Er informierte Jahn, dass ihn ein Georg 8 telefonisch über die Aktion in der »Umweltbibliothek« unterrichtet habe. Er selbst hätte schon einen Portos 9 informiert und der Poppe, Gerd wäre auch schon unterrichtet. Ein Böttcher, Till (Schreibweise unsicher) sei festgenommen worden. Jahn gab an, dass der »Kleine« 10 bereits unterwegs sei und er selbst in Bereitschaft bleiben wolle. Um 4.54 Uhr kam es zu einem weiteren Kontakt des Jahn zu Hirsch. Dabei gab Hirsch eine Darstellung des Verlaufes der Aktion, bei der fünf Maschinen beschlagnahmt 11 und fünf Personen 12 festgenommen worden wären. 13 Von den Namen der festgenommenen Personen sei ihm jedoch nur der Rüddenklau, Wolfgang bekannt. Weiterhin habe man sich jetzt generell darauf verständigt, dass ein solches Vorgehen nicht geduldet werden könnte. Es würde unabhängig von allen Querelen eine gemeinsame Aktion der »Friedrichsfelder Gruppe« 14, der Gruppe »Gegenstimmen« und der Gruppierungen um Hirsch geben. Absprachen diesbezüglich wären auch schon mit der Wollenberger, Vera getroffen worden. Diese Aktion soll »morgen« (offenbar jedoch der 25. November 1987 gemeint) um 18.00 Uhr an oder in der Zionskirche beginnen und sich wahrscheinlich über mehrere Tage hinziehen. 15 Weitere Erklärungen könne er jetzt nicht geben. Jahn soll alle Personen, mit denen er noch sprechen wird, davon in Kenntnis setzen. Außerdem soll er alle »gemeinsamen Freunde« 6 Es ist bekannt, um wen es sich handelte, es liegt aber keine Einwilligung zur Namensnennung vor. 7 Handschriftlicher MfS-Vermerk: Wolfgang »Templin«. 8 Konnte nicht eindeutig identifiziert werden. 9 Konnte nicht eindeutig identifiziert werden. 10 Gemeint ist Ralf Hirsch. 11 Es sind u. a. 6 Vervielfältigungsgeräte beschlagnahmt worden, wovon mindestens 4 älter als 40 Jahre waren, aber nicht die Tasche mit der Druckerschwärzepumpe der »Grenzfall«-Redaktion. So konnte das MfS nicht einmal beweisen, dass die »Grenzfall«-Druckmaschine überhaupt betriebsbereit gewesen wäre. 12 Zunächst wurden 7 Personen festgenommen, von denen bis auf Bert Schlegel und Wolfgang Rüddenklau alle bis zum nächsten Abend wieder frei waren. 13 Zu den genauen Abläufen, Hintergründen siehe im vorliegenden Band, S. 80–82. 14 Gemeint ist der »Friedenskreis Friedrichsfelde«. 15 Es handelte sich um die Mahnwache. Vgl. dazu im vorliegenden Band, S. 82.
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davon unterrichten, dass sie sich wegen dieser Aktion am Morgen des 25.11.1987 bei ihm (Hirsch) melden sollen. Er solle neben dem XXX alles, was er trifft, zu ihm schicken. Jahn ist der Meinung, dass sich diese Personen alle beim Schriftstellerkongress 16 aufhalten würden, was nicht ungünstig wäre. Nach Meinung des Hirsch würde sich jedoch niemand mehr dort aufhalten, wenn bekannt würde, was sie planten. Jahn nahm dies mit den Worten: »Ja ist klar, ansonsten Kongresshalle, weißt du ja« zur Kenntnis. Bemerkung: Bei den »gemeinsamen Freunden« handelt es sich mit hoher Sicherheit um westliche Journalisten und bei dem XXX um den DDR-Korrespondenten XXX. Sehr verärgert ist Hirsch über das bisherige Verhalten der Kirchenleitung. Es sei einmalig, dass kirchliche Räume auf eine »Anzeige von unbekannt« durchsucht worden wären und jetzt müsse auch die Kirche darauf reagieren. Er selbst habe schon um 0.30 Uhr Bischof [Gottfried] Forck informiert, ohne dass eine Reaktion erfolgte. Als er gegen 1.30 Uhr den Bischof 17 Krusche, Günter kontaktierte, habe dieser noch keine Information von Forck erhalten gehabt, aber dann wenigstens den zuständigen Superintendenten 18 in die »Umweltbibliothek« beordert. Am Morgen des 25. November 1987, gegen 7.45 Uhr, setzte sich der stellvertretende Chefredakteur des Westberliner privaten Rundfunksenders »Hundert,6«, Schwarz, Thomas, 19 mit dem Gemeindepfarrer Simon in Verbindung. Dabei erkundigte sich Schwarz zuerst, ob Simon bei den Vorgängen in der »Umweltbibliothek« zugegen war. Dieser bejahte diese Frage. Daraufhin versuchte Schwarz die Bereitschaft Simons zu erreichen, sich öffentlich zu diesen Vorgängen zu äußern oder zumindest nähere Auskünfte zu erteilen. Simon war zu o. g. Zeitpunkt jedoch nicht bereit, sich in irgendeiner Weise zu den Vorgängen zu äußern. Er wolle erst ein Gespräch abwarten, was im Verlaufe des 25. November 1987 geführt werden würde. 16 Der X. Schriftstellerkongress der DDR fand vom 24. bis 26.11.1987 in Ost-Berlin statt. Wegen einiger sehr systemkritischer Beiträge, etwa von Christoph Hein oder Günter de Bruyn, oder dem Fehlen von Christa Wolf, die das schriftlich begründete, ist er auch im Westen stark beachtet worden. Einiges spiegelt sich davon in den Kongressmaterialien. Vgl. X. Schriftstellerkongress der DDR. Berlin, Weimar 1988. 17 Er war nicht Bischof, sondern Generalsuperintendent der Kirche Berlin-Brandenburg in OstBerlin. 18 Das war Klaus Görig. 19 Hier irrte das MfS bei der Zuordnung zum Sender »Hundert,6«. Tatsächlich arbeitete Thomas Schwarz beim Sender »Radio 100«, der sich bis September 1987 mit »Hundert,6« die Frequenz teilen musste, was auch zu politischen Irritationen führte, da die Programme extrem unterschiedlich waren.
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Dokument 35 vom 25. November 1987
Obwohl Schwarz dem Simon den Entwurf einer von ihm verfassten Meldung verlas, war Simon lediglich bereit zu erklären, dass es sich bei den fünf Inhaftierten um Mitglieder der »Umweltbibliothek« und Mitglieder eines Ökologie- und Friedenskreises der Zions-Gemeinde sowie, bis auf einen Mitte der 1930iger Jahre befindlichen, zumeist um junge DDR-Bürger handelt. Simon wusste, um wen es sich bei Schwarz handelt und erklärte sich bereit, zum gegebenen Zeitpunkt weitere Auskünfte zu erteilen. Dazu sollte Schwarz über die Telefonnummer des Pfarramtes der Zions-Gemeinde, 281XXX, anrufen. Um 9.05 Uhr informierte ein Martin […], dass er nicht wie beabsichtigt bis 10.00 Uhr eine vollständige Information geben könne. Er wolle dies aber auf jeden Fall bis 12.00 Uhr realisieren. Auf eine Rückfrage des Jahn, ob sich die festgenommenen Personen noch in Haft befinden, konnte er gleichfalls keine Auskunft geben. Um 9.11 Uhr informierte eine nur mit XXX o. ä. bekannt gewordene Person den Schefke über die Aktion in der »Umweltbibliothek«. Schefke hatte, da er sich am 24. November 1987 nicht in der »Umweltbibliothek« aufhielt, bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung von diesen Vorgängen. Er schätzte aber ein, dass er der sechste Festgenommene sein würde, wenn er sich in der »Umweltbibliothek« aufgehalten hätte. Unabhängig von diesen Vorgängen sollte der XXX jedoch eine unter der Westberliner Fernsprechnummer 618XXX (laut Telefonbuch 1987/88 XXX 1000 Berlin 36, XXX) erreichbare Person auffordern, ihn selbst zurückzurufen. Mit dieser Person wolle er heute noch ein privates Treffen realisieren. Ein weiteres Treffen wolle er ebenfalls heute mit einer XXX durchführen, die unter der Westberliner Fernsprechnummer 612XXX (konnte nicht ermittelt werden) erreichbar ist. Dabei würde es sich um ein »arbeitsmäßiges Treffen« handeln. Diese XXX sollte ihn ebenfalls anrufen, was XXX ihr mitteilen sollte. Um 9.31 Uhr verständigte sich die XXX mit Schefke darüber, dass sie sich um 14.30 Uhr treffen werden. Die XXX will mit einer ganzen Gruppe von Personen in die DDR einreisen und besitzt offenbar selbst die Schlüssel zu einem Objekt in der Hauptstadt, wo das heutige Treffen durchgeführt werden soll. Bereits um 8.13 Uhr des 25. November 1987 hatte Schwarz den Hirsch kontaktiert. Dabei kündigte Schwarz an, dass er versuchen wolle, in der kommenden Woche eine Einreise in die DDR zu beantragen. In diesem Zusammenhang bemerkte Schwarz, dass, »wenn die SED ein bisschen Verstand habe«, ihm diese Einreise genehmigt wird. Denn nur so sei gegeben, dass er wahrheitsgetreu berichten kann. Darüber hinaus kündigte Schwarz an, dass er
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Dokument 35 vom 25. November 1987
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am Freitag (wahrscheinlich 27.11.1987) Besuch vom »Freund« aus der BRD erhalten wird, der auch Hirsch besuchen will. 20 Hirsch seinerseits setzte Schwarz davon in Kenntnis, dass ab 25. November 1987 und an den Folgetagen mehrere Aktionen durchgeführt werden sollen mit dem Ziel, die Haftentlassungen der Inhaftierten zu erreichen. Um welche Art Aktionen es sich handeln soll, offenbarte Hirsch nicht. Des Weiteren bat Hirsch seinen Kontaktpartner darum, den »Freund« (möglicherweise Jahn) zu veranlassen, umgehend bei ihm zurückzurufen. Bemerkungen: 1. Die HA XX wurde aktuell vorinformiert. 2. Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz unbedingt zu gewährleisten.
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Es ließ sich nicht ermitteln, um wen es sich konkret handelte.
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Dokument 36 Dringendes Selbstbedienungstelegramm (9.01 Uhr, Eilsendung, Express) 25. November 1987 Von: Lutz Rathenow, 1035 Berlin, Gabelsberger Str. 3 An: Roland Jahn, 1000 Berlin 36, Görlitzer Str. 36 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14, Bl. 3
Mein Telefon ist seit Montagabend 1 gestört. Gruss Lutz
1 Montag, den 23.11.1987. Auch andere Telefone wurden gestört, so z. B. von Gerd und Ulrike Poppe. Zumeist konnten sie zwar selbst anrufen, aber nicht angerufen werden.
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Dokument 37 Interview mit Lutz Rathenow, SFB II, 16.25 Uhr 1 26. November 1987 Von: MfS, ZAIG Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14, Bl. 98
Lutz Rathenow: Die so nüchterne journalistische Berichterstattung über die Vorfälle 2 meine ich, stellt sie noch nicht in ihrer ganzen Tragweite dar. Mein Empfinden ist das, dass es sich hier um die schwerwiegendste politische Maßnahme handelt seit der Ausbürgerung [Wolf] Biermanns, 3 wenn nicht alle festgenommenen Personen in den nächsten Tagen auf freien Fuß gesetzt werden. Und ich sehe das so: Es findet ja zurzeit noch der Schriftstellerkongress statt, der geht gerade zu Ende, 4 und die »Umweltbibliothek« war einer der regesten Orte für Literaturvermittlung in der DDR überhaupt. Fast jede Woche fanden ein, zwei, drei Lesungen statt, es gab auch zahlreiche Begegnungen auch anderer Künstler und es ist geradezu grotesk, dass während auf dem Schriftstellerkongress einige freundliche und interessante Töne laut werden, dass dort, wo Literatur an der Basis den Leser erreicht, dort derartige Repressionen einsetzen. Ich meine, das ist eine seit Langem geplante, gut vorbereitete, schwerwiegende Aktion gegen kritische Leute aus künstlerischen Bereichen und aus politischen Kreisen. […] 5 Z. B. zwei Stunden, bevor die Festnahme begann, in der »Umweltbibliothek« wurde mein Telefon abgeschaltet, blieb einfach abgeschaltet, deswegen kam am Montag ein Interview mit dem Deutschlandfunk nicht zustande. 6 So was 1 Überliefert ist auch ein Interview für RIAS II, das einen Tag später mittags ausgestrahlt wurde: BStU, MfS, BV Berlin, AKG 5164, Bl. 79–81. 2 Gemeint sind die Vorgänge um die »Umweltbibliothek« und die Zionsgemeinde seit der Nacht vom 24. zum 25.11.1987. 3 Wolf Biermann war, während er auf einer Konzertreise in der Bundesrepublik war, am 16.11.1976 von der SED-Führung ausgebürgert worden. Zu den Hintergründen vgl. u. a. Rolf Berbig u. a. (Hg.): In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Berlin 1994; Robert Grünbaum: Die Biermann-Ausbürgerung und ihre Folgen, in: Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach, Ulrich Mählert (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn, München, Wien, Zürich 2003, S. 173–179; Fritz Pleitgen (Hg.): Die Ausbürgerung. Anfang vom Ende der DDR. München 2001; Peter Ross (Hg.): Exil. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR. Eine Dokumentation. Köln 1977; Siegfried Suckut (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Göttingen 2009. 4 Der X. Schriftstellerkongress der DDR fand vom 24. bis 26.11.1987 in Ost-Berlin statt. 5 Ein Satz ist im vorliegenden Dokument nicht verständlich wiedergegeben. 6 Vgl. Dok. 36. Allerdings ist laut Aussage von Rathenow das Telefon mehr als 24 Stunden vor der MfS-Aktion abgestellt worden, da sein Telefon am Montag, den 23.11. abgeklemmt wurde, der MfS-Überfall aber in der Nacht vom 24. zum 25.11. stattfand.
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Dokument 37 vom 26. November 1987
sind alles keine Zufälle und diese Mischung aus Verhaftung, Festnahmen, Hausarrest, Beschattung, Telefonabschaltung und anderen diffizilen Maßnahmen deutet fast auf einen generalstabsmäßig geplanten Angriff gegen emanzipatorische Bestrebungen in diesem Lande hier. Ohne Anlass ist die Konfrontation eröffnet worden. Und wenn von dort jetzt nicht ein Rückzieher erfolgt, der im Interesse aller wäre, im Interesse der Vernunft, droht hier eine ständig weitere Eskalation. Denn das Selbstbewusstsein zahlreicher Leute ist in der Zwischenzeit so hoch, dass sie sich hier nicht wie unmündige Bürger behandeln lassen und sich alle Dinge sklavisch ergeben gefallen lassen werden.
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Dokument 38 Telefoninterview mit Eduard Lintner, SFB II, 16.31 Uhr 26. November 1987 Von: MfS, ZAIG Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14, Bl. 94–97
A[ndrea] Stieringer: Ich weiß nicht, ob Sie den Schriftsteller Lutz Rathenow noch im Kopf haben. 1 Er sprach zum Vorgehen der Sicherheitskräfte in der DDR und meinte, dieses sei die schwerwiegendste politische Maßnahme seit der Ausbürgerung 2 von Wolf Biermann. Er sagte im Übrigen auch, dass man sein Telefon abgeschaltet hat, 3 und wir sind jetzt verbunden mit dem deutschlandpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Eduard Lintner. Ich begrüße Sie, Herr Lintner, und Sie können das eigentlich nur bestätigen. [Eduard] Lintner: Ich kann das bestätigen, denn von hier aus in Bonn ist angerufen worden unter der Nummer und kurioserweise hat sich dann die Volkspolizeidirektion Friedrichshain gemeldet, also das Telefon war abgeschaltet und dort bei der Polizei aufgeschaltet. Stieringer: Und wie haben Sie dann reagiert? Lintner: Ich selber habe das Telefongespräch nicht geführt, aber Mitarbeiter von mir, und die haben mir das erzählt. Stieringer: Sie selbst sind aktiv geworden und haben ein sehr heftiges Schreiben an den ständigen DDR-Vertreter in Bonn, Ewald Moldt, 4 geschickt, was war denn da drin? Lintner: Ja, zunächst mal bin ich aktiv geworden, das darf ich vielleicht kurz erwähnen, weil ich einen Teil der Leute, die da verhaftet worden sind, persönlich kenne. Es gab ja einen Kontakt im Oktober, den wir hatten, 5 und ich finde also, es handelt sich durchweg um junge Leute, die Kritik in einer Form geübt haben, wie wir sie als nur harmlos und in der Art und Weise also tatsächlich nicht staatsgefährdend charakterisieren können. […] 1 6 Minuten zuvor strahlte SFB II ein Interview mit Lutz Rathenow aus. Vgl. Dok. 37. 2 Am 16.11.1976 ist Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert worden. Siehe auch Dok. 37, Anm. 3. 3 Vgl. Dok. 36 und 37. 4 Ewald Moldt (geb. 1927), seit 1952 Mitarbeiter im DDR-Außenministerium, 1970–1978 stellv. Außenminister, 1978–1988 Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, anschließend bis März 1990 wieder stellv. Außenminister; ab 1981 Kandidat, 1986–1989 Mitglied des ZK der SED. 5 An dem Treffen am 12.10.1987 in der Wohnung von Ralf Hirsch hatte Eduard Lintner teilgenommen. Vgl. dazu die Dok. 26 und 28.
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Dokument 38 vom 26. November 1987
Ja, jetzt nachträglich gesehen muss ich sagen, es gab einige Vorzeichen, z. B. dieses Referat von Herrn Hager in Frankfurt/Oder, wo er ja in recht massiver verbaler Form gegen all diese Dinge gewettert hat. 6 Nur habe ich gedacht, es handelt sich dabei um eine verbale Warnung und habe eigentlich nicht damit gerechnet, dass das also bis zur Verhaftung gehen würde. Was die DDRBehörden letztlich zu so einem Schritt bewogen hat, kann ich nur sehr schwer beurteilen. Ich nehme an, dass sie das ganze … als störenden Pfahl im Fleisch des Systems empfunden haben und versuchen nun, die Sache radikal zu lösen oder zu bereinigen.
6 Vgl. Kurt Hager: Friedenssicherung und ideologischer Streit. Aus dem Referat auf einer Parteiaktivtagung der Bezirksparteiorganisation Frankfurt/Oder, in: ND vom 28.10.1987, S. 3–4. Hager nahm in diesem Beitrag eine Reihe der in dem SPD/SED-Ideologiepapier vereinbarten Punkte zurück. Insbesondere aber irritierte innerhalb der SED sein unversöhnlich harter Ton gegenüber dem Westen sowie gegenüber Kritikern in der DDR. Auch im Kreis jener SED-Funktionäre, die am Zustandekommen des SPD/SED-Papiers aktiv beteiligt waren, herrschte Irritation. Vgl. dazu z. B. Erich Hahn: SED und SPD. Ein Dialog. Ideologie-Gespräche zwischen 1984 und 1989. Berlin 2002, S. 140–141, 241–248; Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer: Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Frankfurt/M., New York 2002, bes. S. 137–139.
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Dokument 39 Telefonat von Roland Jahn mit Bärbel Bohley, Till Böttcher sowie Wolfgang Templin 1 27. November 1987 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, HA XX/2, Leiter [Horst Kuschel] 2 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 9, Bl. 44–47
Roland Jahn aus Westberlin nimmt Kontakt zu Bärbel Bohley auf. Bei Bärbel B[ohley] halten sich weitere Personen auf. Sie feiern den Geburtstag von Wolfgang Templin. 3 Alle Personen erwecken den Anschein, dass sie nicht mehr nüchtern sind. Auf eine entsprechende Frage bemerkt Bärbel B[ohley], dass sich Karitas Hensel nicht bei ihr meldete. Doch die Berichterstattung der westlichen Medien findet Bärbel B[ohley] einfach »Spitze«. Dem stimmt Roland Jahn zu. Er schränkt allerdings ein, dass Jürgen Schmude 4 nicht sehr gut gesprochen hat. Bärbel B[ohley] bittet dann Roland Jahn, für Petra Kelly folgendes Telegramm aufzunehmen und zu deren Geburtstag am Sonntag 5 weiterzuleiten: »Liebe Petra, We are sitting in the kitchen und nicht im Kittchen, wir denken an dich, we are in the prime of our life, die Tür ist offen, drum lasst uns auf die grüne Ernte hoffen.« Roland Jahn soll Grüße von der »Menschenrechtsinitiative« 6, den »Frauen für den Frieden«, der »Umweltbibliothek« und allen »Grünen aus Ost und West« bestellen. Roland Jahn wird die Grüße bestellen und das Telegramm aufgeben. Spöttisch meint er dann, dass Bärbel B[ohley] sich jetzt die Protokolle der »Gustav-Heinemann-Gespräche« bei den Sicherheitsorganen ansehen kann. 7 1 Wie aus dem Kontext hervorgeht, fanden die Gespräche in der Nacht vom 26. zum 27.11.1987 statt. 2 Horst Kuschel (geb. 1936), Abitur, 1954 SED, 1955 Eintritt ins MfS, BV Leipzig (Feldwebel), 1955–1957 Kursant an der MfS-Schule Potsdam, 1958–1964 HA V, 1964–1973 BdL, 1968 Dipl.-Kriminalist nach Fernstudiengang an der Sektion Kriminalistik der HUB (Diplomarbeit: Der verdeckte Krieg gegen die DDR und die evangelische Kirche), ab 1974 HA XX/2, seit 1980 Abteilungsleiter der HA XX/2, 1985 Beförderung zum Oberst; Entlassung zum 31.1.1990. 3 Er hat am 25.11. Geburtstag. 4 Jürgen Schmude (geb. 1936), Rechtsanwalt, seit 1957 SPD-Mitglied, MdB 1969–1994, von 1978–1982 in 3 verschiedenen Ressorts Bundesminister; 1985–2003 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. 5 Sie hatte am 29.11. Geburtstag. 6 Gemeint ist die IFM. 7 Am 14.10.1987 kam es in Freudenberg (Gustav-Heinemann-Akademie) zu einer Debatte über das SPD/SED-Ideologiepapier, an der neben bundesdeutschen Politikern auch Rolf Reißig
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Dokument 39 vom 27. November 1987
Bärbel B[ohley] geht auf diesen Ton ein und erklärt, dass sie eine unordentliche Frau ist. Nur aus Zufall hat sie die »Dialoge« nur noch bis 6/87. Die Gesprächspartner finden es sehr gut, wie die SPD bis in ihre höchsten Spitzen reagiert hat. Anschließend möchte Roland Jahn wissen, was bei der Hausdurchsuchung alles beschlagnahmt wurde. Bärbel B[ohley] erklärt, dass das Protokoll darüber 101 Positionen umfasst. Dabei war allein eine Position 95 Exemplare von »Grenzfall«. Roland Jahn staunt, dass Bärbel B[ohley] so viele bei sich hatte. Spöttisch meint Bärbel B[ohley], wenn die Kirchenleitung den »Grenzfall« lesen will, kann sie das trotzdem tun. Weiterhin wurden »jede Menge« »Dialoge«, persönliche Briefe von Petra Kelly und Gert Bastian und die Liste der Leute, die vom visafreien Reiseverkehr ausgeschlossen wurden und die »damals« an den Staatsratsvorsitzenden geschickt wurde, mitgenommen. Die Sachen sollen alle vom Richter geprüft und dann zurückgegeben werden oder nicht. Bärbel B[ohley] erklärt dann, dass sie hundemüde ist. Obwohl ihre Wohnung voller Leute ist, wird sie sich jetzt ins Bett legen und schlafen. Wolfgang Templin übernimmt dann das Gespräch. Er beginnt mit der Frage, was man tun muss, wenn man ein anonymes Papier zu verfassen hätte. Er antwortete gleich selbst: Man muss nur behaupten, Roland Jahn habe das in Szene gesetzt. Wolfgang Templin erklärt dann, dass man seiner Ehefrau Regina Templin suggerieren wollte, die »Medienträchtigkeit« steige nur durch das Wirken von Roland Jahn. Geschmeichelt erklärte dann Roland Jahn, wenn der »Grenzfall« legitimiert wird, wird er sich als Auslandskorrespondent bewerben. Beim MfAA der DDR würde er um seine Akkreditierung nachsuchen. Dann hätte er endlich einen Presseausweis und könnte überall herumreisen. Wolfgang Templin schildert dann seine Festnahme und seine Erlebnisse bei der VP. Er findet an der ganzen Sache die positive Seite, dass sich alle Exponenten und Sympathisanten der PUT-Szene zusammengeschlossen haben.8 Ein Einlenken
(SED) sowie Jürgen Fuchs teilnahmen, aus dem Auditorium meldete sich zudem Roland Jahn zu Wort, der unter Berufung auf das SPD/SED-Papier forderte, dass er auch in Ost-Berlin an Debatten teilnehmen könne (vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009, 2., durchges. Aufl., S. 105–106). Das Wortprotokoll der Tagung ist in dem von Fuchs und Jahn zusammengestellten und in die DDR eingeschmuggelten Reader »dialog« (Nr. 8/87) enthalten. Bei der Durchsuchung der »Umweltbibliothek« sowie daran anschließend von Privatwohnungen sind auch zahlreiche Exemplare dieser »dialog«-Ausgabe vom MfS konfisziert worden. 8 Der MfS-Überfall auf die »Umweltbibliothek« schweißte die zerstrittene Opposition wieder zusammen, es kam zu gemeinsamen Erklärungen, zu einem abgestimmten Vorgehen und zu gruppenübergreifenden Koordinierungsgruppen. Die »taz« schrieb gar: »Einen ›positiven Effekt‹, so bemerkt ein Vertreter der ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹ ironisch, habe der Stasi-Rundumschlag gehabt. Die seit dem Treffen einiger Gruppen mit CDU-Bundestagsabgeordneten heillos zerstrittene Ost-Berlin Szene sei ›einig wie nie zuvor‹.« (Recht auf Meinungsfreiheit durchsetzen, in: taz vom 30.11.1987, S. 6).
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ihrerseits ist auf keinen Fall »drin«. Roland Jahn bestätigt das. Er hat das Interview mit Lutz Rathenow im SFB gehört. 9 Großspurig berichtet dann Roland Jahn, dass »mein Bote gerade die ›taz‹« bringt. Er beginnt sofort, vorzulesen: »Knast für Ostberliner Oppositionelle. DDR-Staatssekretär rechtfertigt Razzia gegen Zeitungsmacher. Zwei Personen in U-Haft Die DDR-Behörden haben ihr massives Vorgehen gegen Oppositionelle fortgesetzt: Mindestens 21 Vertreter und Vertreterinnen verschiedener Ökologiegruppen wurden am Mittwochabend und in der Nacht zum Donnerstag festgesetzt, gestern Nachmittag befanden sich immer noch mehrere Personen in Polizeigewahrsam. […] Sie seien auf ›frischer Tat bei der Herstellung staatsfeindlicher Schriften‹ ertappt worden. Die von ihnen benutzten Druckmaschinen seien beschlagnahmt worden. Zu den Festgenommenen gehören Mitglieder der ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹. Am frühen Abend befanden sich noch zwei Personen in Untersuchungshaft, darunter Wolfgang Rüddenklau, ein Ostberliner Mitarbeiter der Westberliner ›taz‹. Am Rande des Ostberliner Schriftstellerkongresses kam es zu Unmutsäußerungen gegen die Polizeiaktionen. 10 Der für Kirchenfragen zuständige DDR-Staatssekretär Gysi 11 rechtfertigte gestern vor Journalisten in Genf die Razzia in der Zionsgemeinde. Die Kirche in der DDR habe ›keinen exterritorialen Status‹. Wenn die DDR-Staatsanwaltschaft eine solche Durchsuchung anordnet, dann muss ein schwerer Fall von Gesetzesverletzungen vorliegen. Solche Aktionen erfolgen nur, wenn sie ›absolut notwendig‹ seien.« 12
Auf Seite drei dann das Tagesthema unter der Überschrift: »Ost-Berlins Protestszene wird aufgerollt. Die Graswurzelbewegung der DDR fürchtet um ihre mühsam erkämpften Freiräume«. 13
Nachdem die Gesprächspartner die Nachrichtensendung im BRD-Fernsehen verfolgt haben, kommen sie zu dem Schluss, dass man Manfred Stolpe, der exklusiv für die »Welt« etwas machte, 14 doch auch verhaften müsste. Wenn 9 Vgl. Dok. 37. 10 In der Druckausgabe der »taz« finden sich die beiden hier kursiv wiedergegebenen Sätze nicht, stattdessen steht dort: »Darunter befinden sich auch Wolfgang Templin und der in U-Haft sitzende Wolfgang Rüddenklau – beide Ostberliner Mitarbeiter der taz.« 11 Klaus Gysi (1912–1999) war u. a. (1957–1966) Leiter des Aufbau-Verlags, DDRKulturminister (1966–1973), Botschafter in Italien und Malta (1973–1978) sowie von 1979 bis 1988 Staatssekretär für Kirchenfragen. Beim MfS war er als IM »Kurt« von 1956 bis 1965 erfasst. 12 Knast für Ostberliner Oppositionelle. DDR-Staatssekretär rechtfertigt Razzia gegen Zeitungsmacher. Zwei Personen in U-Haft, in: taz vom 27.11.1987, S. 1 (der Bericht ging auf S. 2 noch weiter). 13 taz vom 27.11.1987, S. 3. 14 Wahrscheinlich ist das Interview vom 17.2.1987 gemeint; es könnte aber auch ein zeitlich näher liegendes Interview in der »Weltwoche« vom 3.9.1987 gemeint gewesen sein, in dem sich Stolpe u. a. für generelle Reisefreiheit aussprach. Im ersten Interview hingegen verteidigte Stolpe nicht nur die Mauer, er zeichnete auch sonst die DDR-Verhältnisse in hellen Farben, während er den Westen sehr kritisch betrachtete.
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schon Manfred Stolpe so etwas macht, muss man es auch dem »Grenzfall« gestatten. Roland Jahn spielt dann die Videokassette mit der ADN-Meldung vor, wie sie in der »Aktuellen Kamera« gesendet wurde. 15 Roland Jahn erklärt dann, dass man Günter Krusche das Strafgesetzbuch »klarmachen« muss, er hat »Westinterviews« gegeben, um die DDR zu »verunglimpfen«. 16 Wolfgang Templin erklärt dann: »Also ich habe den Stand von 20.00 Uhr an XXX gegeben. Die warten noch zwei Tage. Wenn die Sachlage noch unverändert ist mit der Einvernahme, dann machen die selber Aktionen dazu. Jan 17 weiß auch Bescheid. Er wird es dann vermitteln.« Roland Jahn informierte dann, dass er vorhin mit »Amerika gesprochen« hat. Die Sache geht »rund um die Welt«. »In Amerika haben sie gesagt, dass sie auch nicht Ruhe geben werden«, fügt er hinzu. Es kommt hinzu, dass Wolfgang Rüddenklau ein bekannter Autor zu Umweltthemen ist. Das spontane Lachen von Wolfgang Templin unterbricht Roland Jahn mit der Bemerkung, dass er selbst erst in einer englischen Zeitung einen Artikel von Wolfgang Rüddenklau über die AntiAtombewegung in der DDR gelesen hat. Roland Jahn fällt ein, dass er den »taz«-Kommentar von gestern noch nicht kennt und beginnt vorzulesen: »Schöner Schein. Zur jüngsten Verhaftungswelle in Ost-Berlin Außer Honeckers Westbesuch verbuchte die DDR-Führung auch bei der 750-Jahr-Feier internationale Reputation. Berlin habe sich als Stadt des Friedens und des weltoffenen Dialogs erwiesen. Doch mit dem schönen Schein ist es jetzt vorbei, innenpolitisch werden die Daumenschrauben angezogen. Die Aktion in der ›Umweltbibliothek‹ und die folgende Welle von Festnahmen kommen nicht von ungefähr und sollen offensichtlich Signal- und Abschreckwirkung haben. Für die im Zeichen von Glasnost und Perestroika widerwillig gewährten Freiräume DDR-kritischer, aber immer noch DDR-loyaler Grup15 Die ADN-Meldung hatte folgenden Inhalt: »Auf frischer Tat ertappt: Laut Mitteilung der Berliner Staatsanwaltschaft wurden am Mittwoch im Keller eines Nebengebäudes der Zionskirche sieben Personen auf frischer Tat bei der Herstellung staatsfeindlicher Schriften ertappt. Sie wurden zur näheren Untersuchung des Sachverhalts festgenommen. Es wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, zwei Personen befinden sich in Untersuchungshaft. Die von ihnen benutzte Druck- und Vervielfältigungstechnik zur Herstellung von Materialien staatsfeindlichen Inhalts wurde dabei beschlagnahmt. Aus allen Beweismaterialien soll der Mitteilung zufolge hervorgehen, dass die festgenommenen Personen hinter dem Rücken der zuständigen kirchlichen Stellen handelten.« (ND vom 27.11.1987, S. 8, B-Ausgabe). 16 Generalsuperintendent Krusche gab mehrere irritierende Erklärungen ab. Er behauptete u. a., hinter dem Rücken der Kirche würden in der Kirche staatsfeindliche Schriften hergestellt und der Staat hätte »modernste westliche Kleinoffsetmaschinen« beschlagnahmt, über die die »Umweltbibliothek« gar nicht verfügte. Während eines solchen Interviews am 25.11. gegen 17.00 Uhr wurde Krusche vor laufenden Kameras von Oppositionellen ob seiner Behauptungen unterbrochen und darauf hingewiesen, dass dies doch gar nicht stimme. Am 26.11.1987 gab die »Umweltbibliothek« eine Presseerklärung heraus und stellte in 3 Punkten klar, dass Krusche nicht den Tatsachen entsprechend argumentiere (vgl. Dokumenta Zion. Berlin 1988 (Samisdat; Sonderausgabe der »Umweltblätter«, die hier »Mit-Welt-Blätter« genannt wurden)). 17 Wahrscheinlich ist Jan Kavan in London gemeint.
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pen (Wolfgang Templin: ›Ich bleibe im Lande und wehre mich redlich‹) wird jetzt die Quittung präsentiert. Gerade im letzten Jahr ist das Selbstbewusstsein dieser Gruppen gewachsen. In einem Brief an Gorbatschow wiesen sie auf mangelnde Umgestaltung in der DDR hin. 18 Mit dem Kirchentag von Unten und der ›Umweltbibliothek‹ gelang es, einen Ort zu finden, der über die bisherigen Privatzirkel hinaus stärkere Gemeinsamkeit erlaubte. Mit der Meinungsfreiheit aber, auch wenn sie nach der DDR-Verfassung verbrieftes Recht ist, tut man sich offensichtlich schwer. Umdenken gehört bislang kaum zum Repertoire, um den DDR-Sozialismus nicht nur störungsfrei, sondern auch attraktiv zu gestalten.« 19
Wolfgang Templin fühlt sich geschmeichelt und lässt die Autorin grüßen. Roland Jahn fordert dann, dass jemand »ein paar Gedanken zusammenfasst«. Wolfgang Templin soll sich schon einmal etwas überlegen. 20 Wolfgang Templin übergibt anschließend an »einen Jüngeren«. Dieser hat ein Gerücht gehört, dass Roland Jahn die »Umweltbibliothek« weltweit bekanntmachen will. Der Herr, vermutlich handelt es sich um Till Böttcher, lenkt aber sofort ein mit der Bemerkung, dass das ein Scherz war, er aber von der »Umweltbibliothek« ist. Er berichtete dann von der Durchsuchung der UB. Fotos wurden von den Druckmaschinen gemacht, in denen gerade die »Umweltblätter« lagen. Till Böttcher schildert dann den weiteren Ablauf der Durchsuchung. Er versichert, dass auf der Liste der beschlagnahmten Gegenstände nicht »Kleinoffset« stand. Das muss ein Gerücht sein. Dem stimmt Roland Jahn zu. »Wasserträger« Günter Krusche brachte das unter die Leute. 21 Till Böttcher berichtet dann auf Fragen von Roland Jahn: »Als wir draußen waren, haben die zwei große schwarze Koffer reingetragen und eine Decke, wo etwas drin war. Was da drin war, wissen wir nicht. Auf jeden Fall –. Na ja, ist doch klar, nicht?« Roland Jahn will sofort wissen, ob das noch andere Leute gesehen haben. Till Böttcher meint, dass die Festgenommenen und auch Pfarrer Hans Simon das gesehen haben müssen. Gegen Till Böttcher wurde ein EV gemäß § 218, Absatz 1 22 eingeleitet. Gegen Uta [Ihlow] 23 ein Überprüfungs18 In dem Offenen Brief an Gorbatschow vom 27.5.1987 forderten Mitglieder der IFM u. a., die sowjetischen Oppositionsgruppen an den gesellschaftlichen Reform- und Diskussionsprozessen zu beteiligen und solche Reformen auch in der DDR zu befördern. Vgl. Grenzfall 6/1987, nachgedruckt in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 66–67. 19 Schöner Schein. Zur jüngsten Verhaftungswelle in Ost-Berlin, in: taz vom 26.11.1987, S. 4. 20 Vgl. Wolfgang Templin: Grundrechte statt Katakomben (Gastkommentar), in: taz vom 1.12.1987, S. 4. 21 Siehe dazu Anm. 16. 22 Im StGB der DDR in der 1987 gültigen Fassung heißt es: »§ 218: Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele. (1) Wer eine Vereinigung oder Organisation bildet oder gründet oder einen sonstigen Zusammenschluss von Personen herbeiführt, fördert oder in sonstiger Weise unter-
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Dokument 39 vom 27. November 1987
verfahren. Till Böttcher fordert, dass von »euch« ein »unheimlicher Druck kommen muss, damit die auch rauskommen«. Der Kirchenleitung haben wir schon gesagt, dass sie sich mit »Grenzfall« solidarisieren soll. »Wir« solidarisieren uns auf jeden Fall mit [dem] »Grenzfall«. Bevor Till Böttcher noch einmal an Wolfgang Templin übergibt, erklärt er, dass »morgen Abend etwas laufen wird«. Roland Jahn möchte wissen, ob »das mit Morgengrauen noch steht«. Wolfgang Templin begreift nicht, was damit gemeint ist, sodass Roland Jahn erklären muss, dass es Überlegungen gab, das deutlicher zu machen. Roland Jahn erklärt dann, dass sie klären, wie die Kampagne weiter forciert werden kann. Dann wird das große Vertriebsnetz über die DDR eröffnet, damit die »Umweltblätter« und der »Grenzfall« sich selbst tragen können vom Verkauf und nicht mehr auf Spenden in den Kirchengemeinden angewiesen sind. Das halten die Gesprächspartner für einen guten Spaß. 1.09 Uhr Übersetzung des Telegrammtextes an Petra Kelly: Wir sitzen in der Küche und nicht im Kittchen, wir denken an dich, wir stehen in der Blüte unseres Lebens, die Tür ist offen, drum lasst uns auf eine grüne Ernte hoffen.
stützt oder darin tätig wird, um gesetzwidrige Ziele zu verfolgen, wird, sofern nicht nach anderen Bestimmungen eine schwerere Strafe vorgesehen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, Verurteilung auf Bewährung, mit Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft.« 23 Uta Ihlow (geb. 1965), Bibliotheksfacharbeiterin, arbeitete bis 1988 an der HUB, hatte seit 1986 die »Umweltbibliothek« mit aufgebaut, vgl. http://www.jugendopposition.de/index.php?id=69.
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Dokument 40 Telefoninterview mit Lutz Rathenow, RIAS II, 12.19 Uhr 27. November 1987 Von: MfS, ZAIG Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14, Bl. 104–106
Moderator: Es fing an Mitte der Woche mit der Durchsuchung der alternativen »Umweltbibliothek« in Ostberlin und zahlreichen Festnahmen. Bis heute keine Ruhe. Unter Hausarrest stand bis gestern Nachmittag der DDRSchriftsteller Lutz Rathenow. Herr Rathenow, warum gingen Ihrer Meinung nach die Sicherheitsbehörden jetzt so streng vor gegen unabhängige und kirchliche Gruppen? L[utz] Rathenow: Ich möchte jetzt keine Psycho-Analyse des Sicherheitsapparates betreiben. Ich muss einfach sagen, dass hier staatliche Organe einen Konflikt ohne Anlass und Grund eröffnet haben. Es fand in der Zionskirche nichts statt, was Gesetze der DDR verletzt hat oder verletzt haben könnte. … hat ja der Pfarrer [Hans Simon] erklärt, dass da »Umweltblätter« mit seinem Wissen vervielfältigt wurden. So was findet auf ganz alten Druckmaschinen, und nach westlichen Mitteln, sehr unzulänglichen Veröffentlichungsmethoden seit Jahren statt, und es ist rätselhaft, wenn es nicht eine Kraftprobe sein soll konservativer Kräfte im hiesigen Apparat, warum plötzlich diese massive, generalstabsmäßig geplante Aktion stattfand. Es sind alle Geräte dort in der »Umweltbibliothek« beschlagnahmt, d. h., diese kirchliche Gruppe innerhalb der Zionsgemeinde kann jetzt nicht mehr weiterarbeiten, es hat sich in der Zwischenzeit auf die ganze DDR ausgedehnt, dass Berlin-Verbote ausgesprochen werden, Festnahmen erfolgen. Das dient offenbar auch dazu, Informationen aus anderen Teilen der DDR zu verhindern, um die Teilnahme an kirchlichen Ökologie-Seminaren in Berlin zu verhindern, und das ist der schwerwiegendste Fall einer staatlichen Aktion seit der Verhaftungswelle 1983 in Jena. 1 Es haben in Berlin immerhin acht Hausdurchsuchungen stattgefunden bei Leuten, die zum Teil wieder auf freiem Fuß sind. 2 Ich kenne das in den zehn 1 Im Mai 1983 wurden etwa 40 Oppositionelle aus dem Umfeld der im März 1983 förmlich gegründeten, kirchenunabhängigen Jenaer Friedensgemeinschaft – zu jener Zeit ein traditionelles Zentrum der Opposition in der DDR – in die Bundesrepublik abgeschoben. Am 8.6.1983 ist dann Roland Jahn, einer der Köpfe dieser Oppositionsgruppe, zwangsausgebürgert worden. Vgl. Henning Pietzsch: Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970– 1988. Köln, Weimar, Wien 2005; Udo Scheer: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. Berlin 1999. 2 Diese Hausdurchsuchungen fanden v. a. bei Mitgliedern der IFM, KvU und »Gegenstimmen« statt.
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Jahren, wo ich in Berlin bin, kenne ich so eine Situation nicht, und es fragt sich wirklich, warum jetzt unter diesen Vorzeichen – Genf, 3 SED-SPDPapier, 4 Glasnost in der Sowjetunion – so etwas stattfindet. Moderator: Sie hätten keine Sekunde damit gerechnet. Glauben Sie nun, dass die Friedensbewegung in der DDR Angst bekommt und ihre Aktionen einstellt, dass es keine Veranstaltungen mehr gibt? Rathenow: Es wäre falsch, das alles nur auf dieses Wort Friedensbewegung zu reduzieren. Es handelt sich hier, meine ich, um allgemein emanzipatorische Bestrebungen überhaupt, und das Nachdenken über ökologische Fragen hat doch nicht nur Mitglieder der Friedensbewegung erfasst. Ich habe gehört, dass Hermann Kant auf dem Schriftstellerkongress zu einer Frage sagt, wer sich für die Umwelt einsetzt, hat es nicht nötig, in die Katakomben zu gehen. 5 Dazu möchte ich mal sagen, dass die »Umweltbibliothek« eine der öffentlichsten, 3 Mit »Genf« waren Fortschritte bei den Abrüstungsverhandlungen gemeint. Mitte November trafen sich dort die Außenminister der USA und der UdSSR und vereinbarten Abrüstungsschritte bei den Mittelstreckenraketen. Honecker kommentierte dies mit den Worten, das »Teufelszeug« komme nun weg (ND vom 26.11.1987, S. 1). 4 Am 27.8.1987, wenige Tage vor Honeckers Besuch in der Bundesrepublik, veröffentlichten die SPD-Grundwertekommission und die SED-Parteiführung, offiziell vertreten durch die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, ein Papier unter dem Namen »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. In der Folge kam es zu vielschichtigen Debatten darüber. Vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009, 2., durchges. Aufl., S. 96–108. Als Innensichten Beteiligter sind aufschlussreich z. B. Erich Hahn: SED und SPD. Ein Dialog. Ideologie-Gespräche zwischen 1984 und 1989. Berlin 2002; Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer: Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Frankfurt/M., New York 2002; Erhard Eppler: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik. Frankfurt/M. 2001. Sichtweisen der Opposition auf dieses Papier sind enthalten in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; spätere Reflektionen, auch von Bürgerrechtlern, enthält u. a: Karl Giebeler, Alfred Geisel (Hg.): Das SPD/SED-Dialogpapier. Ist mit der Ideologie auch der Streit erledigt? Bad Boll 2003. 5 Am 26.11.1987 erklärte Hermann Kant in der »Tagesschau«, wer sich in der DDR für die Umwelt einsetze, brauche nicht in Katakomben zu gehen. Er verteidigte so den Überfall und die Festnahmen und verortete Kirchen und Opposition im Untergrund. Am 27.11.1987 schrieb die »Umweltbibliothek« einen Offenen Brief an Kant und wies seine Behauptung zurück, lud ihn aber zugleich ein, damit er sich vor Ort selbst ein Bild machen könne. Der Brief ist abgedruckt in: Dokumenta Zion. Berlin 1988 (Samisdat; Sonderausgabe der »Umweltblätter«, die hier »Mit-Welt-Blätter« genannt wurden); siehe auch Dok. 43). Der Besuch von Kant fand nicht statt. Über die Reaktion der UB auf Kants Äußerung berichtete auch: DDR-Opposition fordert Glasnost. Hermann Kant soll sich für die »Umweltbibliothek« einsetzen, in: taz vom 30.11.1987, S. 1–2. Einen Tag später kommentierte das auch Wolfgang Templin: Grundrechte statt Katakomben (Gastkommentar), in: taz vom 1.12.1987, S. 4. Kant hatte der UB am 14.12.1987 geantwortet und erklärt, seine Aussage sei gekürzt wiedergegeben worden, vielmehr trete er für die Legalität von Aktivitäten zur Umweltproblematik ein. Außerdem solle die UB sich nicht von jedermann angegriffen fühlen und künftig Briefe an ihn nicht zugleich der Westpresse übergeben, er wolle wenigstens die Möglichkeit haben, antworten zu können (Kants Brief in: RHG, RG/B 19/02). Der Brief ist am 28.12.1987 in der 4. Sendung von »Radio Glasnost – außer Kontrolle« verlesen worden (Staatliches Komitee für Rundfunk der DDR, Redaktion Monitor, Sendung »Radio Glasnost«, Radio 100, 28.12.1987, Abschrift. BStU, MfS, ZAIG 22320, Bl. 359).
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jedermann zugänglichen, jedem konspirativen Mittel nicht zugeneigten Einrichtung war, hier bei uns in der Hauptstadt. Jede Woche fanden da ein/zwei Lesungen statt und finden hoffentlich weiter statt. Das ist keine Katakombe. Da ist der Schriftstellerkongress und der Schriftstellerverband mit seinen geschlossenen Sitzungen schon eher vom Katakombencharakter geprägt, auch wenn sie sich oberhalb der Erde befinden. Im Übrigen beweisen ja die Reaktionen darauf, auch die Solidarisierungsaktionen, dass heute die Leute sich einfach nicht mehr alles gefallen lassen wollen, und insofern sind diese staatlichen Mittel also denkbar ungeeignet und völlig anachronistisch, diese Situation bereinigen zu wollen, und damit kritische Anfragen zu verhindern. Moderator: Haben Sie jetzt Angst vor Repressionen? Rathenow: Nein, habe ich nicht. Ich will nur noch mal eins sagen. Der Versuch, eine publizistisch-literarische Arbeit zu kriminalisieren, wie es in dieser ADN-Meldung vorgenommen wird, unabhängig davon, ob die überhaupt stattgefunden hat oder nicht, also ich führe jetzt nicht die Arbeit der Generalstaatsanwaltschaft durch, aber allein der Versuch ist skandalös, und es sind internationale Schriftstellerverbände, Journalistenvereinigungen so wie der PEN-Club aufgefordert, diesem Versuch, gegen das gedruckte Wort vorzugehen, dem Versuch also etwas entgegenzusetzen, ihre Solidarisierung. Das wollte ich an dieser Stelle doch sagen. Moderator: Und was stellen Sie sich darunter vor? Rathenow: Tja, ich erwarte doch jetzt Protestaktionen von internationalen Einrichtungen, denn das richtet sich gegen den Prozess einer Entspannungspolitik überhaupt, das richtet sich gegen vertrauensbildende Maßnahmen auf beiden Seiten, in diesem Fall auf unserer Seite. Und wenn ich höre in den Nachrichten, dass z. B. das ZDF an Dreharbeiten gehindert wird, wie ein Feuerwehreinsatz 6 gefilmt wird, dann frage ich mich, was ein Abkommen überhaupt wert ist, in diesem Fall Journalistenvereinbarungen, wenn die ständig, wie Pfingsten an der Mauer, 7 in Situationen verletzt werden, wenn der 6 Am Kirchturm der Zionskirche war morgens (8.00 Uhr) am 27.11.1987 von der Mahnwache/»Umweltbibliothek« ein Transparent mit der Aufschrift: »Wir protestieren gegen die Festnahmen und Beschlagnahmung in der Umwelt-Bibliothek« angebracht worden. Wenige Minuten später entfernten Kräfte der Feuerwehr, die seit dem Abend in einer Nebenstraße postiert waren, das Transparent. Ein Foto von dieser Aktion in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biografien und Fotos. Berlin 2006, S. 19. 7 Im Rahmen der 750-Jahr-Feier fand vom 6. bis 8.6.1987 in West-Berlin vor dem Reichstag ein Rockfestival statt, bei dem zahlreiche internationale Stars auftraten. Hunderte Jugendliche pilgerten abends vor die Ostseite des Brandenburger Tores. Sehen konnten sie die Musiker nicht, aber hören. Manche, wie David Bowie, grüßten ihre Fans im Osten. Die Mauer und das verriegelte Brandenburger Tor provozierten, die Fans riefen: »Die Mauer muss weg!«, sie skandierten »Gorbi, Gorbi«, sie sangen die »Internationale« »… erkämpft das Menschenrecht« und schimpften »Faschisten«. Die Staatssicherheit und die Polizei griffen hart durch, prügelten, verhafteten, demütigten. Jeden Abend kamen mehr Fans, am dritten waren es drei- bis viertausend. Westliche Medienvertreter dokumentierten genau, was geschah und wurden dabei zum Teil selbst verletzt. Die Opposition in der DDR war
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Staat hier befürchtet, ihm nicht so sehr angenehme Bilder auf den Bildschirm zu bekommen. Also es müssen wirklich Abkommen und Vereinbarungen geschaffen werden, die für alle Zeiten, auch für Krisenzeiten, dauerhaft wirken. Und in diesem Sinne stellt diese ganze Aktion eine sehr umfassende Störung dar. Moderator: Lutz Rathenow, DDR-Schriftsteller, für RIAS II.
von diesen spontanen Protesten gegen das SED-System, gegen die Mauer und die Unfreiheit ebenso überrascht worden wie die SED-Führung. Vgl. dazu Kowalczuk: Endspiel, S. 162–168.
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Dokument 41 Telefonate von Wolfgang Templin am 28. November 1987 28. November 1987 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/2, [Gerhard] Haas 1 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 9, Bl. 41–43
Wolfgang Templin bittet Frau XXX 2, sie möge ihrem Mann mitteilen, die beiden Verhafteten 3 sind frei und vor Kurzem in der Zionskirche eingetroffen. Die XXX wünscht ihnen allen viel Kraft und Mut. 10.02 Uhr Reinhard Weißhuhn will von Wolfgang Templin wissen, ob es stimmt, dass die beiden frei sind. Templin bestätigt das, er hat die Information von [Uwe] Kulisch. Die weitere Unterhaltung beinhaltet das Befinden von Templins Frau. Weißhuhn interessiert, ob er noch beschattet wird. Templin kann jetzt nichts Derartiges feststellen. Weißhuhn hat mitbekommen, dass gestern nur er (Templin) und [Gerd] Poppe beschattet wurden, was Templin bestätigt. Templin schätzt ein, das Ganze hat sich deutlich um die »Initiative« 4 herumgezogen, was die Haussuchungen betraf. Weißhuhn stellt sich die Frage, was dabei herausgekommen ist. Templin lacht und stellt fest, die Absicht ging in die Richtung, worauf Weißhuhn folgert, da haben sie falsch angesetzt. Weißhuhn macht aufmerksam, die Mahnwache muss verlegt werden. Templin erklärt, der Bauleiter [Karl-Heinz »Carlo«] Jordan, den er auch ein wenig kennt, hat die Herren dort aufgeklärt. Weißhuhn war dabei, der Pfarrer meint, man solle sich an die Auflage halten. Mindestens so lange, bis Jordan das mit der Bauaufsicht geklärt hat. Wobei da nicht viel herauskommt, es geht ja nicht darum, etwas mit der Bauaufsicht zu klären. Deswegen müsste die Mahnwache in der Griebenowstraße stehen. Templin hörte in der Nacht, man habe sich so verständigt, dass in der Kirche keine Veranstaltungen sein sollen, aber die Mahnwache steht dort. Weißhuhn ist über diese Entscheidung froh, da es ja 1 Gerhard Haas (geb. 1944), 1963 Abitur, 1964 Facharbeiter für Betonbau, 1964–1967 NVA, 1967 SED, 1970 Abschluss als Bauingenieur, seit 1970 MfS-Mitarbeiter, zunächst in der KD Bad Freienwalde, seit 1980 als Hauptmann Mitarbeiter der HA XX; Entlassung zum 9.1.1990. 2 Name anonymisiert, weil nicht eindeutig zu klären war, um wen es sich handelt. 3 Wolfgang Rüddenklau und Bert Schlegel sind am Morgen des 28.11.1987 aus der U-Haft freigekommen. Gegen 8.50 Uhr trafen sie in der Zionsgemeinde ein. 4 Die IFM wurde meist nur »Initiative« genannt.
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um die Sichtbarkeit geht. Weißhuhn macht Templin auf den Termin 14.00 Uhr in Friedrichsfelde aufmerksam. 5 Templin wird versuchen, dass er hinkommen kann. 10.09 Uhr Roland Jahn begrüßt Wolfgang Templin mit einem lauten Lachen und meint, seit 7.00 Uhr jubelt er. Seit dieser Zeit ist ihm bekannt, dass die beiden rausgelassen werden. »Ich habe Kontakt zu Erich Mielke«, meint er dazu. Sie haben den günstigsten Moment abgewartet, vor allen Dingen, weil sich der amerikanische Geheimdienst da noch eingeschaltet hat und sich mit Roland Jahn in der UB gemeldet hat. Templin lacht darüber. Jahn fragt, ob das gut war, worauf Templin feststellt, das war clever. Jahn setzt fort, »vor allen Dingen, die stehen dem Verfassungsschutz nicht nach, mit dem Einführen, sich die Legende verschaffen und hier erst einmal deutlich machen und ein wenig schimpfen, das ist absoluter Wahnsinn«. Templin meint, die DDR ist keine Bananenrepublik. Jahn setzt fort, »vielleicht wollte auch einer nicht, dass ich gesundheitlich leide, da ich gesagt habe, ich fahre so lange nicht in Urlaub, bis sie raus sind, vielleicht hat einer mit mir Mitleid gehabt«. Ferner hat Jahn die »taz« schon gestern Nacht geholt, Rüddenklau ist mit dem Emblem Schwerter zu Pflugscharen auf der Titelseite. Templin will jetzt zur UB und nachdem nach Friedrichsfelde fahren. Jahn interessiert, ob Wolfgang auch nach Friedrichsfelde kommt, worauf Templin mitteilt, wenn sie ihn bis dahin nicht erdrückt haben, sicher. Jahn findet 14.00 Uhr wird es ganz interessant werden. Er hat auch schon mit Ralf Hirsch gesprochen. Er hat drei Gedanken an das »Böse« gegeben. Der erste Gedanke ist, es geht nicht um Kirche, es geht um demokratische Grundrechte, das heißt, jeder muss das Recht haben, frei zu publizieren, aber im Rahmen der Verfassung. »Grenzfall« muss jetzt den Schritt nach vorn tun, er muss eingefordert werden, mit Berufung auf die Schriftsteller. Dabei muss noch die Ausweitung nach Veranstaltungsorten usw. gefordert werden. Das muss jetzt kommen. Außerdem muss der Offene Brief an [Hermann] Kant 6 auf alle Fälle verabschiedet werden. Siggi [Siegbert Schefke] wird sich um den Brief an Kant kümmern. Im Brief muss die Unterstützung des Verbandes für freie Publikationsmöglichkeiten und das zur Verfügungstellen von Technik und Gerät gefordert werden. Das muss bis zur Verlagsgründung gehen. Die Strafrechtsdiskussion muss jetzt auch vehementer geführt werden. Das muss in der Forderung nach Änderung der Strafrechtsgesetze gipfeln. Die andere Sache ist, es 5 Dort fand ein Treffen verschiedener Oppositionsgruppen zur Koordinierung beim weiteren Vorgehen statt. 6 Zu der Äußerung von Kant siehe Dok. 40, Anm. 5.
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muss die Absetzung von [Günter] Krusche 7 gefordert werden. Krusche ist der Sprecher des MfS und der Staatsanwaltschaft. 8 Er verbreitet bewusst Falschinformationen. Die Presseerklärung vom Konsistorium muss ja jemand verantworten. Man sollte ihn bitten, über seinen Rücktritt nachzudenken. Krusche könnte sich ja mit [Wolfgang] Schnur darüber austauschen 9. Das sind ein paar Gedankenanregungen. In dem Sinn sollte man weiterdiskutieren. Heute bei der Sache von der »Kirche von unten« ist ja [dort] der richtige Ort für solche Dinge. Templin regt an, die »Initiative« sollte auch überlegen, wie sie damit umgeht. Nach Jahns Auffassung sollte die »Initiative« gar nicht so sehr in die Kirche eingreifen. Die sollten sich um die demokratischen Grundrechte kümmern. Abschließend macht Jahn aufmerksam, die Sache mit dem Dementi sollte weitergezogen werden, um herauszufinden, was ist in der DDR Presserecht. Kann das »ND« Lügen verbreiten, ohne dass die Menschen eine Chance haben, sich dagegen zur Wehr zu setzen. 10 […] 11
7 Er war Generalsuperintendent der Kirche Berlin-Brandenburg in Ost-Berlin. 8 Generalsuperintendent Krusche gab mehrere irritierende Erklärungen ab. Er behauptete u. a., hinter dem Rücken der Kirche würden in der Kirche staatsfeindliche Schriften hergestellt und der Staat hätte »modernste westliche Kleinoffsetmaschinen« beschlagnahmt, über die die »Umweltbibliothek« gar nicht verfügte. Während eines solchen Interviews am 25.11. gegen 17.00 Uhr wurde Krusche vor laufenden Kameras ob seiner Behauptungen unterbrochen und darauf hingewiesen, dass dies doch gar nicht stimme. Am 26.11.1987 gab die »Umweltbibliothek« eine Presseerklärung heraus und stellte in 3 Punkten klar, dass Krusche nicht den Tatsachen entsprechend argumentiere (vgl. Dokumenta Zion. Berlin 1988 (Samisdat; Sonderausgabe der »Umweltblätter«, die hier »Mit-Welt-Blätter« genannt wurden)). Inwiefern Krusche tatsächlich in diesen Tagen bewusst mit dem MfS und der Staatsanwaltschaft kooperierte, liegt nicht offen. 9 Beide waren als IM des MfS erfasst. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 10 Es geht um folgende ADN-Meldung: »Auf frischer Tat ertappt: Laut Mitteilung der Berliner Staatsanwaltschaft wurden am Mittwoch im Keller eines Nebengebäudes der Zionskirche sieben Personen auf frischer Tat bei der Herstellung staatsfeindlicher Schriften ertappt. Sie wurden zur näheren Untersuchung des Sachverhalts festgenommen. Es wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, zwei Personen befinden sich in Untersuchungshaft. Die von ihnen benutzte Druck- und Vervielfältigungstechnik zur Herstellung von Materialien staatsfeindlichen Inhalts wurde dabei beschlagnahmt. Aus allen Beweismaterialien soll der Mitteilung zufolge hervorgehen, dass die festgenommenen Personen hinter dem Rücken der zuständigen kirchlichen Stellen handelten.« (ND vom 27.11.1987, S. 8, B-Ausgabe). Die »Umweltbibliothek« gab ein »Dementi« heraus, das im Samisdat (»Grenzfall«, »Umweltblätter«, »Dokumenta Zion«) sowie in bundesdeutschen Zeitungen veröffentlicht wurde. V. a. wurde dementiert, dass es sich bei den »Umweltblättern« um »staatsfeindliche« Schriften handele und dass die UB »hinter dem Rücken« der Gemeinde und Landeskirche gearbeitet habe. Vielmehr sei die UB integraler Bestandteil der Gemeinde wie der Landeskirche, was beide ebenfalls mehrfach nach dem 25.11.1987 bestätigten. 11 Im Originaldokument folgt hier noch eine Notiz über ein Telefonat, das mit dem Gegenstand aber nichts zu tun hatte und rein privater Natur war.
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Dokument 42 Telefonat zwischen Ralf Hirsch und Roland Jahn 29. November 1987 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, HA XX, Leiter [Paul Kienberg] Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 9, Bl. 15–20
Roland Jahn (Westberlin 36, Görlitzer Straße 66) nimmt Kontakt auf zu Ralf Hirsch. Dabei möchte Roland Jahn wissen, wann Ralf H[irsch] wieder Stephan Krawczyk sieht. Wie dieser bemerkt, wird das vielleicht noch heute Abend oder dann morgen sein. Daraufhin erklärte Roland Jahn, dass er aber heute noch mit Stephan Krawczyk telefonieren muss. »Es geht um die Wurst«, äußerte Roland Jahn, der bereits vergeblich versucht hat, Stephan Krawczyk bei sich zu Hause bzw. Freya Klier zu erreichen. Wie Ralf H[irsch] bemerkt, ist es klar, dass Roland Jahn da keinen Erfolg haben konnte, weil beide nämlich in Zion 1 sind. Er weiß aber, dass Stephan Krawczyk gegen 20.00 Uhr in der Wohnung von Freya Klier sein wird. Danach wollte dieser wieder zurück zu Zion kommen. Roland Jahn will sehen, ob er dann Stephan Krawczyk um 20.00 Uhr erreicht. Roland Jahn erkundigt sich dann, ob Ralf H[irsch] bei der Diskussion in der Eliaskirche war. 2 Ralf H[irsch] bestätigt das mit dem Hinweis, dann gegen 17.30 Uhr gegangen zu sein. Nach der Stimmung gefragt, meint Ralf H[irsch], dass diese nicht gut war, wobei die Meinungen auseinandergehen. Als Roland Jahn wissen will, wer denn das Ganze strukturiert, erwidert Ralf H[irsch], dass das hauptsächlich die »Kirche von unten« ist, wobei die Meinungen von »weitermachen« bis »nicht weitermachen« reichen. Danach gefragt, warum er dann gegangen ist, teilte Ralf H[irsch] mit, dass er erstens hier eine kurze Verabredung hatte und dass er zweitens selbst erst einmal ein bisschen nachdenken und sich Argumente durch den Kopf gehen lassen wollte. Lachend wirft Roland Jahn ein, dass Ralf H[irsch] also keine »Denkpause« 3 macht. In diesem 1 Gemeint ist die Berliner Zionskirche/Zionsgemeinde. 2 Am 28. und 29.11.1987 fanden auch in der Eliaskirche Treffen mit jeweils mehreren hundert Teilnehmern und Teilnehmerinnen statt. Es ging um die Frage, ob und wie lange die Mahnwache vor der Zionskirche noch fortgeführt werden solle. Das war heftig umstritten. Letztlich einigte man sich darauf, die Mahnwache am Abend des 29.11.1987 einzustellen, das Mahnwachenbüro blieb aber besetzt. Außerdem fand am Abend des 29.11.1987 ein geduldeter Protestzug mit Kerzen von der Elias- zur wenige Kilometer entfernten Zionskirche statt. Daran nahmen etwa 150 bis 200 Menschen teil. 3 Im Sommer 1986 kündigte Generalsuperintendent Günter Krusche an, die seit 1982 jährlich in Ost-Berlin durchgeführte Friedenswerkstatt würde 1987 nicht stattfinden. Auf den Friedenswerk-
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Zusammenhang möchte Roland Jahn wissen, ob seine Überschrift »Hatte Krusche eine Denkpause« (siehe Information 241/87) angenommen worden ist. 4 Ralf H[irsch] bemerkt dazu, dass er das weitergegeben hat und »die« das einbringen wollten. Wieder auf die Diskussion in der Eliaskirche zurückkommend, legt Ralf H[irsch] dar, dass es wirklich eine komische Sache ist, weil er persönlich momentan nicht weiß, was nun richtig und was falsch ist, da beide Argumente 5 ziehen. Zu diesem Problem kommt es dann zwischen beiden Gesprächspartnern zu folgendem Dialog: Roland J[ahn]: Soll ich dir einmal meine Argumente sagen? Ralf H[irsch]: Ja! Roland J[ahn]: Also meine Gedanken sind die, dass natürlich vollkommen richtig ist, dass jetzt eine Sache in Bewegung gekommen ist, die man nicht so einfach abbrechen kann. Ralf H[irsch]: So ist es! Ich denke, wir müssen diese mit Inhalten füllen. Roland J[ahn]: Genau das ist der Punkt! Ralf H[irsch]: Und nicht nur mit dem Inhalt, die Maschinen müssen wieder her. 6 Roland J[ahn]: Nein anders! Der Punkt: die Maschinen wieder her, diese Forderung muss stehen. Wie wird die am besten erreicht? Sie wird nicht erreicht werden, wenn man eine Form sucht, wo man sich totlaufen kann und die Kräfte verschleißt. Ralf H[irsch]: Genau! stätten kamen verschiedene Basis- und Oppositionsgruppen miteinander ins Gespräch, tauschten Materialien aus, debattierten öffentlich und suchten vor allem das Gespräch mit Menschen, die in keiner Gruppe tätig waren. Das Hauptargument für Krusche bestand darin, den kirchlichen Charakter der Friedenswerkstätten zu prüfen und diese zukünftig wieder allein von Kirchenmitgliedern organisieren zu lassen. Die Kommunikation zwischen Kirchenleitungen und Gruppen war erheblich gestört, auch wenn hier wie in vielen anderen kirchlichen Feldern die Konfliktlage nie einheitlich ausfiel. Gerade weil die evangelischen Kirchen demokratische Grundstrukturen aufwiesen, standen spannungsreiche Auseinandersetzungen stets neben unkomplizierter Zusammenarbeit. Die Berliner Kirchenleitung aber fürchtete, dass die Kirche zum Hort der Opposition werde. Krusche forderte deshalb nun eine »Denkpause« (vgl. Günter Krusche: Offener Brief an die Friedenskreise und Friedensgruppen in Berlin, 29.9.1986, in: KiS 12 (1986) 6, S. 238–239. Der Begriff taucht auch im dazugehörigen Beschluss der EKiBB vom 11.7.1986 auf. Vgl. ebenda). Was auch immer er darunter verstanden haben mag – eine Pause zum Denken, zum Nachdenken oder vom Denken? –, bis weit ins Jahr 1989 hinein forderten immer wieder Kirchenleitungsmitglieder eine »Denkpause«. 4 Roland Jahn hatte in der Nacht vom 27. zum 28.11.1987 Ralf Hirsch angeregt, dass die Gruppen von der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg eine Stellungnahme einfordern, warum sich Günter Krusche zum Sprachrohr des Staates und des MfS mache (BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 91, Bl. 33). Das oben angeführte Dokument konnte bislang nicht aufgefunden werden und deshalb kann auch nicht genau bestimmt werden, was Jahn und Hirsch konkret noch weiter meinten. Beide können sich daran nicht erinnern (Gespräche am 29.4.2011). 5 Es ging um die Frage, ob die Mahnwache fortgeführt werden solle oder nicht. 6 Es ging um die vom MfS konfiszierten Druckmaschinen.
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Roland J[ahn]: Das heißt, man demonstriert zum Beispiel in der Herstellung unabhängiger Zeitungen genau so eine Mahnwache und sagt: Es ist nicht entgegen unserer Verfassung, wenn wir hier unabhängig publizieren. Ralf H[irsch]: Das sagte ja [Manfred] Stolpe auch. Wir sollten doch andere Formen suchen und die Mahnwache für Fälle aufheben, wenn wieder welche verhaftet werden; dann gleich wieder eine Mahnwache. Dem stimme ich eigentlich zu. Roland J[ahn]: Ich denke, dass die Mahnwache unabhängig von Verhaftungen punktuell eingesetzt werden kann; zum Beispiel, wenn die Verhandlungen zwischen Kirche und Staat an dem Tag stattfinden, wird eine Mahnwache gemacht. Dies kann auch dokumentiert und dadurch öffentlich werden. Ralf H[irsch]: Natürlich! Aber wir lassen das doch verpuffen, wenn wir jetzt wieder wochenlang stehen. Roland J[ahn]: Mein Vorschlag geht eigentlich in die Richtung: die Mahnwache wird geführt bis Montagabend 7, das heißt, bis zu dem Zeitpunkt, wo ein Gespräch zwischen Kirche und Staat stattfindet und wo im Prinzip eine Klärung kommen kann. Aber auch wenn keine Klärung kommt, setzt man die Mahnwache nicht fort, sondern sagt: Wir stellen die Mahnwachen ein, weil wir denken, dass uns diese Mahnwachen von unserer eigentlichen Arbeit abhalten. Ralf H[irsch]: Natürlich! Roland J[ahn]: Wir sind nicht für Mahnwachen, sondern wir sind zur Gestaltung der Gesellschaft aufgerufen. Und die Gestaltung der Gesellschaft heißt, einen Teil, nämlich eine offene Diskussion in der Gesellschaft zu tragen. Wir werden natürlich dann, wenn diese offene Diskussion behindert wird, einmal wieder zur Form der Mahnwache zurückgreifen. Ralf H[irsch]: Genau das denke ich auch! Roland J[ahn]: Und punktuell auch zu gewissen Anlässen, zum Beispiel an dem Tag, wo [Wolfgang] Schnur mit den Verhandlungen – oder sonst etwas, kann man noch einmal eine demonstrative Mahnwache machen. Ralf H[irsch]: So ist es! Roland J[ahn]: Den Vorschlag mit den wöchentlichen (Mahnwachen) kann man meiner Ansicht nach dann tolerieren, wenn es nicht extra gemacht wird, wenn zum Beispiel die wöchentlichen Gottesdienste oder sonst etwas zu all dem genutzt werden. Und so, denke ich, kann man wirklich in Anbetracht der eigenen Kräftelage am effektivsten arbeiten und vor allem seinen eigentlichen Inhalt, die Gestaltung einer offenen Diskussion, weitertragen. Es muss jetzt überlegt werden, inwieweit auch bestimmte Sachen, die vielleicht auch zurückgezogener gemacht worden sind, deutlicher und vielleicht offener gemacht werden, weil man ja nichts zu verbergen hat; bis hin, dass die Diskussion um 7
30.11.1987.
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kirchliche Rahmen oder nicht Rahmen geführt werden muss. Das heißt, warum soll nicht auch ein Umweltblatt dem Nichtkirchengänger zugänglich gemacht werden; und wenn es ein Schriftstellertreffen ist, wo die verteilt werden. Ralf H[irsch]: Ich habe da noch ein Problem, weil ich sage, bis jetzt war die Solidarität gut zur Zionsgemeinde, es wurden aber zwei verhaftet. Das Eigentliche, woran ich mich aber stoße, ist ja nicht die Kirche, sondern sind die ja eigentlich die … und die Willkür die hier herrscht. Roland J[ahn]: Ja, genau! Ralf H[irsch]: Irgendwie machen sie hier die Kirche zum Politbüro. Da sage ich, er soll so viel Mut haben und sich vor das Politbüro, die Volkskammer oder Ähnliches stellen und nicht die Kirche zum Politbüro machen und hier anklagen, während unsere Regierung uns drangsaliert oder Ähnliches macht. Mich ärgert es total, dass da so eine Ersatzfigur gesucht wird. Roland J[ahn]: Das sowieso. Es geht einfach darum, dass die Kirche eine Rolle in der Gesellschaft hat, aber nicht die einzige. Ralf H[irsch]: So ist es! Roland J[ahn]: Man kann auch mit der Kirche zusammenarbeiten, weil dort vom … Anspruch her durchaus Mitstreiter sind. Und auch die »Umweltbibliothek« finde ich vollkommen akzeptabel. Ralf H[irsch]: Dazu hat sich die Kirchenleitung klar bekannt. Die steht als wichtige Sache und wird voll mitgetragen. Roland J[ahn]: Auch das ist vollkommen akzeptabel, dass die Leute das in diesem Rahmen machen, aber –. Es gibt übrigens einen guten Kommentar von Wolfgang [Templin]. Hast Du den gelesen? 8 Ralf H[irsch]: Nein. Roland J[ahn]: Da wirst du noch einmal sehen. Ralf H[irsch]: Wieder in der »taz«? Roland J[ahn]: Nein noch nicht, aber es wird kommen. In dem Sinne wird es nötig sein, diese Diskussion aus diesem Kirchenkonflikt herauszuholen. Ralf H[irsch]: Ja, natürlich! Roland J[ahn]: In dem Sinne, in die Richtung, dass einfach gesagt wird: Es muss auch außerhalb der Kirche möglich sein, zu publizieren. Ralf H[irsch]: So ist es! Roland J[ahn]: Ich denke, dass jetzt der Zeitpunkt da ist, dass das thematisiert werden muss und vor allem gemacht werden muss. Es ist natürlich das alte Problem, dass ich hier sitze und sagen kann: Macht das, macht das. Trotzdem
8 Vgl. Wolfgang Templin: Grundrechte statt Katakomben (Gastkommentar), in: taz vom 1.12.1987, S. 4. Der Kommentar lag Roland Jahn bereits vor. Er war zwischen Templin und ihm abgesprochen worden.
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möchte ich den Gedankenanstoß geben, wann ist politischer Spielraum da, den Schritt nach vorn zu tun. Ralf H[irsch]: Na klar. Der ist jetzt da. Der darf nicht nur zum Kirchenspielraum werden, der muss raus. Roland J[ahn]: Der muss raus! Man kann durchaus Zeichen setzen, indem man zum Beispiel bei der Mahnwache sagt: Wir treten von der Kirche in die Kirche rein, als Zeichen, ihr seid uns entgegengekommen. So wie das gesagt wird, aber von Atempause kann keine Rede sein. Überhaupt nicht! Es geht nicht um Atempause, wenn manche Leute überhaupt keine Luft kriegen. Ralf H[irsch]: So ist es! Roland J[ahn]: Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen; um hier einmal ein Gorbatschow-Zitat zu verwenden 9 und Herrn Stolpe einmal auf die Atempause hin anzusprechen. Ralf H[irsch]: Der hat heute nichts von Atempause gesagt. Roland J[ahn]: Im »Welt«-Interview ist es aufgenommen worden und war auch in der »Tagesschau«. (Ralf H. stellt dann richtig, dass da anscheinend etwas verkehrt »rübergekommen« ist, weil Stolpe nur davon gesprochen hatte, dass die staatlichen Stellen eine Atempause brauchen. Dabei habe Stolpe das nur als seinen Eindruck geschildert.) Ralf H[irsch] (seine Ausführungen noch einmal bekräftigend): Das hat er auf keinen Fall gesagt. 10 Roland J[ahn]: Ist gut. Da hat er dann vielleicht auch einmal gesehen, mit was für Worten dann eine falsche Politik rüberkommt. Und da ist jetzt der eigentliche Ansatz normalerweise, es muss jetzt unbedingt »Grenzfall 11« erscheinen. 11 Ralf H[irsch]: (brummt verstehend) Roland J[ahn]: Verstehst Du? Ralf H[irsch]: Ja, weiß ich. 9 Michael S. Gorbatschow hatte dies am 27.1.1987 auf einem Plenum des ZK der KPdSU in einer weltweit beachteten Rede gesagt. Vgl. Michael S. Gorbatschow: Die Umgestaltung und die Kaderpolitik der Partei. Rede auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU, 27.1.1987, in: ders.: Ausgewählte Reden und Aufsätze, Bd. 4: Juli 1986–April 1987. Berlin 1988, S. 329–393. 10 Ralf Hirsch lag mit seiner Deutung und Erinnerung richtig. Mehrere Kirchenvertreter plädierten dafür, dem Staat nun etwas Luft zu verschaffen und deshalb kompromissbereit zu sein, was v. a. hieß, die Mahnwachen zunächst auszusetzen (vgl. Recht auf Meinungsfreiheit durchsetzen, in: taz vom 30.11.1987, S. 6). 11 Der Grenzfall 11/12-1987 erschien um die Jahreswende 1987/88 (vgl. Neuer »Grenzfall« nennt die DDR einen »simplen Polizeistaat«, in: Frankfurter Rundschau vom 11.1.1988). In einem Kommentar hatte Reinhard Weißhuhn die DDR als »simplen Polizeistaat« bezeichnet (Reinhard Weißhuhn: Resümee von unten. Kommentar, in: Grenzfall 11/12-1987, in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 142; Weißhuhns Artikel ist nachgedruckt worden in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 283–287, das Zitat S. 284).
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Roland J[ahn]: Wie das gemacht wird, das ist natürlich eine Frage, wo man überlegen muss. Aber es muss jetzt unbedingt erscheinen. Wenn das jetzt nicht erscheint, heißt das, man begibt sich in einen Spielraum, der noch enger ist als vorher. Ja? Ralf H[irsch]: Weiß ich, weiß ich. Ist mir alles klar. Roland J[ahn]: Es gab gestern gute Zeitungen. Hast du den Artikel gelesen zur Brunnenschau (ph). 12 Ralf H[irsch]: Ja. Roland J[ahn]: Ich meine, da gibt es viele Sachen auszusetzen. Aber die Frage: »Ist das ein Staatsfeind?« macht deutlich, 13 dass es denen da drüben nicht so einfach sein wird, die Leute, die »Grenzfall« publizieren, als Staatsfeinde zu verhaften. Knallhart gesagt, es kann in den nächsten vier Wochen niemand verhaftet werden. Es kann niemand verhaftet werden, sonst ist der Teufel los. Ralf H[irsch]: Das denke ich auch. Roland J[ahn]: Es ist in der ganzen Welt, ich habe mit Jürgen [Fuchs] noch einmal gesprochen, der ja in Paris war; es ist in der ganzen Welt rum. Und wenn jetzt jemand verhaftet wird, dann ist der Teufel noch einmal los. Dann ist das wieder alles hinfällig. Und deswegen muss jetzt eigentlich über das, was als Rahmen schon da war, noch ein Schritt hinausgegangen werden. Die »Umweltblätter« müssen in der Öffentlichkeit verteilt werden und sich nicht auf den kirchlichen Rahmen beschränken, weil gesehen worden ist, dass das Anliegen der »Umweltblätter« in der Gesellschaft genau so ein Bedürfnis ist wie in der Kirche. Und wenn es nicht anders möglich ist, müssen die »Grenzfälle« von der Kirche gedeckt werden, dass sie öffentlich erscheinen können. Die Kirchenleitung muss jetzt im Prinzip sagen, »Grenzfall« muss gedruckt werden, wir halten unsere schützende Hand darüber. Das darf jetzt nicht unbedingt als Forderung an »die« gestellt werden, das kann von den Christen untereinander geregelt werden. Die Leute, die nichts mit der Kirche im Sinn haben, die müssen jetzt sagen: Wir fordern jetzt ein, Hermann Kant, offene Diskussion über »Grenzfall«. 14 Verstehst Du? Man braucht ja nicht gleich kommen. Man kann ja das Bestehende nehmen und sagen: Hier, was ist, Hermann Kant, offene Menschen wünschen eine Diskussion über »Grenzfall«. Wir brauchen nicht in die Katakomben. Die ganzen Träger dieser Scheinpoli-
12 »Brunnenschau« scheint ein Abhörfehler zu sein, der damals auch dem MfS Schwierigkeiten machte, weshalb das erklärende »ph« für »phonetisch« angefügt wurde. Ein naheliegender Begriff ließ sich nicht verifizieren, demzufolge auch keine entsprechende Quelle. 13 Auch dieser Hinweis auf den Zeitungsartikel führte bei der Recherche nicht weiter. Vom Duktus her könnte gemeint sein: »Die können uns ja nicht alle einsperren«. Interview mit einem Mitarbeiter der »Umweltbibliothek«, in: taz vom 28.11.1987. 14 Zu der Äußerung von Kant siehe Dok. 40, Anm. 5.
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tik, [Otto] Reinhold und [Rolf] Reißig 15, offen einfordern, und wenn man es auf dem Alex macht und draufschreibt: »Wo ist der Dialog?« oder »Wir wollen den Dialog!« 16 Ich gehe sogar so weit, momentan ist es notwendig, demonstrativ in der Öffentlichkeit … Ralf H[irsch] (Roland J. ins Wort fallend): Jetzt sei ruhig, jetzt sei ruhig! Roland J[ahn] (den angefangenen Satz fortsetzend): … zu zeigen, dass es jetzt irgendwo nicht mehr zurückgeht. Ralf H[irsch]: Roland, ja, ja. Sei ruhig! Reden wir nicht mehr darüber! Roland J[ahn]: Ist klar. Na gut, weißt Du, ich steigere mich da immer hinein. Ralf H[irsch]: Ja, ja, deswegen! Roland J[ahn]: Alles klar mein Freund? Ralf H[irsch]: Das gleiche Problem ist doch ganz deutlich. Roland J[ahn]: Noch etwas anderes! Denk einmal daran, dass am Mittwoch »Kennzeichen D« ist. 17 Ralf H[irsch]: Ach so? Ja. Roland J[ahn]: Und es wäre eine gute Sache, wenn dafür noch etwas da wäre. Ralf H[irsch]: Was jetzt konkret? Roland J[ahn]: Eine Gedankenäußerung zu den ganzen Problemen, dass das von dem Kirchenkonflikt weggezogen wird. Verstehst Du? Ralf H[irsch]: Ja. Roland J[ahn]: Also es gibt verschiedene Möglichkeiten. Du kannst auch noch einmal mit dem »Siggi« (Siegbert Schefke) darüber reden. Der hat da eine Möglichkeit, das festzuhalten. 18 15 Rolf Reißig (geb. 1940), 1958 SED, nach einem ML-Studium in Leipzig von 1962–1978 an der dortigen Universität in verschiedenen Funktionen tätig, 1978–1989 Mitarbeiter der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, seit 1981 dort Professor; 1987 Mitautor des SPD/SED-Papiers »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«, seit 1990 Brandenburg-Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien e.V. (BISS); vgl. u. a. von ihm Dialog durch die Mauer: Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Frankfurt/M., New York 2002. 16 Roland Jahn bezieht sich auf eigene Erfahrungen mit Reißig und ihm gegenüber erhobene Forderungen: Am 14.10.1987 kam es in Freudenberg (Gustav-Heinemann-Akademie) zu einer Debatte über das SPD/SED-Ideologiepapier, an der neben bundesdeutschen Politikern auch Rolf Reißig (SED) sowie Jürgen Fuchs teilnahmen, aus dem Auditorium meldete sich zudem Jahn zu Wort, der unter Berufung auf das SPD/SED-Papier forderte, dass er auch in Ost-Berlin an Debatten teilnehmen wolle (vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 105–106). Das Wortprotokoll der Tagung ist in dem von Fuchs und Jahn zusammengestellten und in die DDR eingeschmuggelten Reader »dialog« (Nr. 8/87) enthalten. 17 Das ZDF-Politmagazin »Kennzeichen D« brachte in seiner Sendung am 2.12.1987 u. a. einen Bericht über die Vorgänge um die »Umweltbibliothek«. Neben privaten Videoaufnahmen wurden »Umweltblätter« und »Grenzfall« eingeblendet, Bert Schlegel und Wolfgang Rüddenklau waren zu sehen und ein Interview mit Manfred Stolpe, der u. a. die bundesdeutschen Medien wegen ihrer kritischen Beiträge über die Vorgänge kritisierte, wurde ausgestrahlt. 18 Siegbert Schefke verfügte, besorgt von Roland Jahn, über eine Kamera, die sendefähige Aufnahmen machte.
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Ralf H[irsch]: Ja, ist klar, da rede ich einmal mit ihm. Roland J[ahn]: In dem Sinne wäre da was noch ganz gut darstellbar. Ralf H[irsch]: Ja. Roland Jahn weist dann zum Abschluss der Unterhaltung noch einmal darauf hin, dass er ganz dringend mit Stephan Krawczyk sprechen muss. Wenn Ralf H[irsch] diesen sieht, soll er es ihm sagen. Ralf H[irsch] wird das machen. 19.45 Uhr
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Dokument 43 Inhalte der 4. Sendung von »Radio Glasnost – außer Kontrolle« am 30. November 1987, 21.00–22.00 Uhr 1. Dezember 1987 Von: MfS, ZAIG Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 14, Bl. 76–82
21.06 Uhr: Interview zur Arbeit der »Umweltbibliothek« mit Wolfgang Rüddenklau, aufgezeichnet vor seiner Festnahme am 25.11.1987 Moderator: Im Mittelpunkt staatlichen Interesses stand in den letzten Tagen die »Umweltbibliothek« in der Griebenowstraße. Sie befindet sich dort in den Räumen der Zionsgemeinde, für die, die es immer noch nicht wissen. In der Nacht vom 24. zum 25. November bekam Pfarrer [Hans] Simon ungebetenen Besuch. Es waren keine in Not geratenen Christen, die dort an der Haustür klingelten, sondern … Aber halt, so weit sind wir jetzt noch nicht, drehn wir das Band nochmal ein bisschen zurück. Bevor wir auf die Durchsuchung der »Umweltbibliothek« uns stürzen, gehen wir der Frage nach, was dort eigentlich passiert, wenn sie nicht gerade durchsucht wird. Und wie der Zufall so spielt, befragten wir dazu Wolfgang Rüddenklau, bevor er ein paar ungemütliche Nächte hinter Gittern verbringen musste. Unser Reporter hat sich also mit Rüddenklau unterhalten, und das Ganze muss ihn so fasziniert haben, dass er dabei vergaß, den Recorder zu überprüfen, jedenfalls dreht die Geschwindigkeit der Unterhaltung am Ende etwas auf – die Batterien waren leer. Reporter: Wir sitzen hier in der Griebenowstraße 16 in Ostberlin in dem Keller der Pfarrgemeinde, in der »Umweltbibliothek«. Hier findet zurzeit eine Diskussion zum Thema AIDS statt, oben in der UB-Galerie. Gleichzeitig ist dort eine Ausstellung von Igor Tatschke 1 zu sehen. Hier unten die Buchregale sind gefüllt mit Büchern zu ökologischen Themen, zu Reisethemen, zur Friedensthematik. Reporter: Wolfgang, Du bist einer der aktivsten Mitarbeiter hier in der »Umweltbibliothek«. Wie hat das Ganze begonnen, und was ist Eure Absicht mit der »Umweltbibliothek«, was wollt Ihr erreichen, wen wollt Ihr erreichen? W[olfgang] Rüddenklau: Ja, also erstmal, ich weiß nicht, ob ich einer der aktivsten Mitarbeiter bin, jeder hilft hier eigentlich nach seinen Kräften mit. Ich erübrige natürlich sehr viel Zeit für die »Umweltbibliothek«. Wir haben die 1 Igor Tatschke (geb. 1964), Ausbildung zum Offsetdrucker, avandgardistischer Post-PunkMaler, mehrere illegale Ausstellungen, 1988 Ausreise nach West-Berlin.
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»Umweltbibliothek« im September vorigen Jahres gegründet, also eröffnet, haben eigentlich schon angefangen im Mai vorigen Jahres. Wir wollten zu Friedens-, Umwelt-, Dritte-Welt-Themen eine Art alternatives Informationszentrum machen, und zwar für Leute, die auf der Strecke arbeiten wollen, andererseits aber auch für Leute, die ziemlich neu sind und überhaupt erstmal reinriechen wollen, die bisher kein Angebot hatten, jedenfalls kein systematisches Angebot, und das jetzt hier vorfinden. Wir haben da einen ziemlich großen Kreis mittlerweile von Leuten, die herkommen – Schüler, Studenten, manchmal sogar Lehrer, auch Wissenschaftler. Es sind zum Teil natürlich Aussteiger, zum anderen Teil aber auch ganz normale Bürger. Reporter: Die »Umweltbibliothek« wird ja hier in der Griebenowstr. 16 von einer evangelischen Kirchgemeinde 2 mit unterstützt und getragen. Wie sind Eure Kontakte zu staatlichen Stellen? Habt Ihr überhaupt solche Kontakte? Gibt es da eine punktuelle Zusammenarbeit, vielleicht im Austausch von Informationen und Publikationen? Oder habt Ihr versucht, mit staatlichen Organisationen, die sich mit der Frage Umweltschutz in der DDR beschäftigen, in Kontakt zu treten? Rüddenklau: Also wir existieren als Friedens- und Umweltkreis nicht erst seit vorigem Jahr, [sondern] seit 1983 3. Wir haben da eine ganze Strecke von Erfahrungen mit staatlichen Institutionen. Die sind meistens negativer Art, da diese Leute weitgehend dialogunfähig sind, das heißt also, auf Eingaben antworten sie im Allgemeinen ausweichend oder wegleugnend, also da gibt es kein Waldsterben und keinen Smog. Es gibt bloß Waldschäden und zuweilen Industrienebel, aber die Intensität wird halt geleugnet. Wenn man dann über Fakten verfügt, weichen sie ein Stückchen zurück, geben ab und zu einige Informationen preis, die man aber auch letztlich schon hat, eigentlich bloß Frontbegradigung. Wir haben erstmal ziemlich negative Erfahrungen mit staatlichen Institutionen gemacht. Das muss nicht immer so bleiben. Wir versuchen erstmal, innerhalb der Bevölkerung für einfache Leute ökologische Aufklärung zu machen. Wir sind unterm Dach einer evangelischen Kirchgemeinde und sprechen von daher natürlich zuerst Christen an, aber es kommen auch viele Nichtchristen. Reporter: Gibt es bestimmte Themenbereiche, in denen Arbeitsgruppen tätig sind, oder bestimmte bevorzugte thematische Bereiche, mit denen Ihr Euch beschäftigt? Rüddenklau: Wir haben verschiedene Bereiche hier in der »Umweltbibliothek«. Wir sind zunächst einmal Informationskreis hauptsächlich, aber da gibt es eben verschiedene Bereiche. Das ist einmal die Bibliothek selbst, dann versu-
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Zionsgemeinde. Bei der Pfarr- und Glaubensgemeinde Alt-Friedrichsfelde.
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chen wir einige Broschüren herauszugeben, also da haben wir das Konzept der AL für Westberlin und die DDR nachgedruckt. Reporter: Ausstiegskonzept aus der Atomenergie, ja? Rüddenklau: Ausstiegskonzept aus der Atomenergie, Einstieg in Alternativenergien. Dann haben wir ein Informationsblatt, 4 das sich recht gut entwickelt, sowohl vom Umfang als auch vom Inhalt her. Dann haben wir die UBGalerie, das ist also erst einmal ein Ausstellungsraum, dann haben wir auch die Möglichkeit, Kaffee zu trinken. Und schließlich ist dann noch eine Vortragsreihe in der UB-Galerie. Reporter: Welche Vorträge sind denn da schon gelaufen, und wie ist die Resonanz auf solche Vorträge, wie viele Leute kommen da? Rüddenklau: Also die Resonanz ist ganz unterschiedlich. Es sind Vorträge nicht nur zu ökologischen Problemen, sondern eben auch zu Friedensthemen, zu Reisen, letztens etwa, heute zu AIDS, hier stellen sich also AIDS-Experten vor und antworten auf Fragen. Die Resonanz ist wie gesagt sehr unterschiedlich, ebenso wie das Publikum, etwa 50 Leute würde ich sagen, manchmal wesentlich mehr, nämlich zu den Ausstellungseröffnungen, die immer unsere Räume ja wirklich überbelasten, sodass wir uns fragen, wie weit wir das tragen können noch auf Dauer. Es ist sehr schön, dass sich zum ersten Mal aus der ganzen Stadt Leute treffen können, um hier zu kommunizieren, sogar ziemlich frei eigentlich, zu Themen, zu bestimmten Themen, aber auch völlig ohne Thema oben im Kaffee während der Ausstellung. Reporter: Beschränkt sich der Wirkungsbereich der »Umweltbibliothek« nur auf Berlin oder könnte man erste ja auch weitergreifende Wirkungen registrieren? Rüddenklau: Ja wir haben im Zusammenhang mit unseren Info-Blättern, aber auch mit bestimmten Themen, die wir bearbeiten, also etwa Alternativenergie, Kontakte in die ganze DDR hinein, haben mit vielen Gruppen ständigen Dialog, und ich denke, dass sich das auch ziemlich rasant erweitert. Für unsere Verhältnisse ist es wirklich erstaunlich, und keiner hätte das vor einem Jahr gedacht. 21.15 Uhr: Öffentliche Erklärung der »Umweltbibliothek« zur Durchsuchung der Räume der Bibliothek Moderator: Zweieinhalb Stunden hatte die »Umweltbibliothek« Besuch von der Staatssicherheit. Als sie wieder gingen, fehlten Vervielfältigungsmaschinen und Matrizen. Außerdem waren sieben Leute, unter ihnen auch Wolfgang
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Gemeint sind die »Umweltblätter«.
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Rüddenklau, verschwunden, sagen wir besser verhaftet. In einer Erklärung äußerte sich die »Umweltbibliothek« 5 zu dieser Staatsaktion. Öffentliche Erklärung: In der Nacht vom 24. zum 25. November wurde zwischen 0.00 Uhr und 2.30 Uhr die »Umweltbibliothek« des Friedens- und Umweltkreises der Zionskirchengemeinde von etwa 20 Mitarbeitern der Generalstaatsanwaltschaft und des Ministeriums für Staatssicherheit durchsucht. Unter Berufung auf eine anonyme Anzeige gegen die »Umweltbibliothek«, deren Inhalt nicht benannt wurde, drangen Einsatzkräfte in die Dienstwohnung des geschäftsführenden Pfarrers, Herrn Simon, ein. Es wurden fünf Personen festgenommen, Vervielfältigungsgeräte, Matrizen und Schriftmaterial beschlagnahmt. 6 Die Räume der »Umweltbibliothek« gehören zur Dienstwohnung des geschäftsführenden Pfarrers. Das Beschlagnahmeprotokoll wurde vom beauftragten Staatsanwalt nicht unterzeichnet. Diese Vorgänge stellen einen eklatanten Rechtsbruch dar. Wir sehen in dieser Aktion gegen die »Umweltbibliothek« einen Angriff auf alle Gruppen der unabhängigen Friedensbewegung, auf die Ökologie- und Menschenrechtsgruppen. In der Zionskirche begann am 5. September dieses Jahres die erste unabhängige Demonstration von Basisgruppen anlässlich des Olof-Palme-Friedensmarsches. 7 Diese anscheinend hoffnungsvolle Entwicklung, die der DDR auch international gut zu Gesicht stand, wurde durch die jüngsten Vorgänge infrage gestellt. Während sich gestern in Genf die Außenminister der UdSSR und der USA auf ein wichtiges Abrüstungsabkommen einigten, 8 bereiteten in der DDR die Vertreter des harten Kurses nach altem Muster einen Angriff auf die Friedensbewegung vor. Dies war der vorläufige Höhepunkt eines zunehmenden Drucks auf politisch Engagierte nach dem Honecker-Besuch in der BRD. 9 Wir fordern: – die unverzügliche Freilassung der Festgenommenen, – die Offenlegung der Verdachtsgründe, – die sofortige vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der »Umweltbibliothek«, 5 Siehe am Ende der Erklärung die gesamte Liste der Unterzeichner. 6 Das Beschlagnahmeprotokoll veröffentlichte die »Umweltbibliothek« nur wenig später in: Dokumenta Zion. Sonderausgabe der Mit-Welt-Blätter (Samisdat). 7 Siehe dazu Glossar. 8 Die beiden Außenminister George Shultz und Eduard Schewardnadse hatten sich auf einen Vertrag geeinigt, bei den Mittelstreckenraketen abzurüsten. Dies veranlasste Erich Honecker zu der Bemerkung: »Für alle ist gut, dass das Teufelszeug verschwindet« (ND vom 26.11.1987, S. 1), womit er erneut (wie schon 1983) zwischen sowjetischen und US-amerikanischen Waffen nicht unterschied. 9 Erich Honecker hielt sich vom 7. bis 11.9.1987 zu einem Besuch in der Bundesrepublik auf, wo er mit allen protokollarischen Ehren empfangen wurde.
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– die Einstellung jeglicher Repressionen gegen politisch Engagierte. Berlin, den 25. November 1987 Unterzeichner: »Umweltbibliothek«; »Kirche von unten«; »Initiative Frieden und Menschenrechte«; »Friedenskreis Friedrichsfelde«; »Frauen für den Frieden«; »Gegenstimmen«; »Glieder der Zionsgemeinde« 21.20 Uhr: Offener Brief der »Umweltbibliothek« an Hermann Kant Moderator: Hermann Kant, Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR, äußerte sich gegenüber westlichen Journalisten ebenfalls zum Fall »Umweltbibliothek«, mit aller Deutlichkeit: Hermann Kant: Ich will nur eines mit aller Deutlichkeit sagen. Wenn es darum ginge, die Umwelt zu schützen, muss man bei uns nicht in die Katakomben. Moderator: Ich finde diese Äußerung ehrlich gesagt nicht sonderlich deutlich. Auf demselben Kongress meldete sich im Übrigen auch Stephan Hermlin zur Durchsuchung zu Wort. Er meinte: Für diese Aktion sind Leute verantwortlich, die von einer Bewegung hin zu einem neuen Denken und vom Abbau von Feindbildern nichts halten. Zu Hermann Kant haben sich dann auch Mitarbeiter der »Umweltbibliothek« geäußert und haben das Ganze zum Anlass genommen, sich mit einem Offenen Brief direkt an Hermann Kant zu wenden: Werter Herr Kant! In der ARD-Tagesschau vom 26.11.1987 äußerten Sie zur Durchsuchung der »Umweltbibliothek« in der Zionsgemeinde und zur Verhaftung von Mitarbeitern, dass, wer sich in unserem Land für die Umwelt einsetzen wolle, nicht in die Katakomben zu gehen brauche. Ihre Äußerung zeigt, dass Sie schlecht informiert sind, oder dass Sie sich im Stress Ihrer Tätigkeit beim Schriftstellerkongress in die Irre haben führen lassen. Deshalb halten wir es für nötig, Sie über die »Umweltbibliothek« aufzuklären. Sie wird betrieben vom Umwelt- und Friedenskreis der Zionskirchgemeinde. Sie besteht seit über einem Jahr. Sie ist öffentlich, von jedem zu betreten. Öffnungszeiten: Dienstag, Mittwoch, Donnerstag 18 bis 22 Uhr. In der Galerie finden dreimal wöchentlich Lesungen, Vorträge, Diskussionen oder Musik und wechselnde Ausstellungen statt. Der Bücherbestand umfasst ca. 1 000 Stück. Er wurde mit Spenden erreicht. Herausgegeben wird ein Informationsblatt des Friedens- und Umweltkreises, die »Umweltblätter«. Wir laden Sie ein und fordern Sie auf, sich bei uns über die Vorfälle zu informieren. Gern können wir auch über einen Termin sprechen, wenn Sie in unserer Bibliothek einmal aus Ihren Werken lesen wollen. Auch eine ausführliche Darlegung und Diskussion über den Schriftstellerkongress würde zahlreiche Besucher interessieren, zumal unsere Presse bekanntlich über die Diskussionsbeiträge der Autoren höchst unvollständig in-
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formiert hat. Vielleicht könnten Sie, nachdem Sie sich von der gesellschaftlichen Wichtigkeit unserer Arbeit überzeugt haben, Ihren Einfluss geltend machen, um uns zu größeren, besser ausgestatteten Räumen zu verhelfen, zumal durch die letzten Tage das Interesse an unserer Arbeit in der DDR und darüber hinaus größer geworden ist. Mit freundlichen Grüßen – Ihre »Umweltbibliothek« 10
21.25 Uhr: Carlo Jordan – Mitglied der »Umweltbibliothek« zu ökologischen Aktivitäten in der DDR Frage: In welchen Formen entwickelte sich die Öko-Szene? Jordan: Die DDR Ökologie-Bewegung begann zunächst sehr stark aktionistisch. Hier im Prenzlauer Berg fanden Radtouren statt, man radelte um Berlin herum zu großen Umweltverschmutzerbetrieben. 11 Im Laufe der Zeit haben sich Formen entwickelt, die in der DDR durchhaltbar sind, in Richtung kleine Arbeitskreise, die zusammensitzen und etwas ausarbeiten. Sprecher: In einem Beispiel erläutert Carlo, wie von einem Mitglied der »Umweltbibliothek« versucht wurde, Trinkwasseranalysen vorzunehmen. Jordan: Er machte zunächst eine Eingabe – keine Reaktion, er versuchte dann selbst Wasserproben machen zu lassen. Die wurden ihm nicht abgenommen. Er hat dann über seinen Betrieb Proben machen lassen. Ergebnis – das Grundwasser, also das zukünftige Trinkwasser, war schon erheblich schadstoffbelastet. Man wertete den Vorfall aus, das Trinkwasserschutzgebiet wurde einfach heruntergestuft. Bedauerlicherweise ist darüber nichts in den Medien erschienen.12 Sprecher: Dann wurde Carlo gefragt, ob die »Umweltbibliothek« auch mit staatlichen Institutionen zusammenarbeitet?
10 Der Besuch von Kant fand nicht statt. Über die Reaktion der UB auf Kants Äußerung berichtete auch: DDR-Opposition fordert Glasnost. Hermann Kant soll sich für die »Umweltbibliothek« einsetzen, in: taz vom 30.11.1987, S. 1–2. Einen Tag später kommentierte das auch Wolfgang Templin: Grundrechte statt Katakomben (Gastkommentar), in: taz vom 1.12.1987, S. 4. Kant hatte der UB am 14.12.1987 geantwortet und erklärt, seine Aussage sei gekürzt wiedergegeben worden, vielmehr trete er für die Legalität von Aktivitäten zur Umweltproblematik ein. Außerdem solle die UB sich nicht von jedermann angegriffen fühlen und künftig Briefe an ihn nicht zugleich der Westpresse übergeben, er wolle wenigstens die Möglichkeit haben, antworten zu können (Kants Brief in: RHG, RG/B 19/02). 11 Vgl. dazu sowie zu den Reaktionen des Staates u. a. Christian Halbrock: Störfaktor Jugend: Die Anfänge der unabhängigen Umweltbewegung in der DDR, in: Carlo Jordan, Hans Michael Kloth (Hg.): Arche Nova. Opposition in der DDR. Das »Grün-ökologische Netzwerk Arche« 1988–90. Berlin 1995, S. 13–32, spez. S. 24–25, 29. 12 So etwas geschah immer wieder. Siehe z. B. die entsprechenden Beiträge: Gewässerverschmutzung in der DDR, 24.2.1987, in: Umweltblätter, Themen-Nr. 33–40, 1987, S. 1–2; Nitratbedrohung für Köpenicker Grundwasser, in: ebenda vom 1.10.1987, S. 2.
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Jordan: Wir als Ökologen sind da sehr offen. Es gibt sehr viele, die in eigenständigen Ökologiekreisen arbeiten und auch ein Bein in den staatlichen Ökologiegruppen haben. So hat der »Kulturbund« zum ersten Mal eine »ÖkoKirmes« durchgeführt, sie unterschied sich kaum von unseren Veranstaltungen. 13 Sprecher: Welche Wirkung die »Umweltbibliothek« haben kann, erläutert Carlo am Beispiel einer Stellungnahme zur Luftverschmutzung in »OstBerlin«, die in den »Umweltblättern« veröffentlicht wurde. 14 Jordan: Der Effekt ist vielleicht, dass zwei Monate später eine Novellierung des Luftreinheitsgesetzes herauskam, vielleicht haben wir da unseren Anteil dran. Sprecher: Auf die Frage, was er als grundsätzliches Problem des Umweltschutzes in der DDR ansieht, antwortete er. Jordan: Der Ministerratsbeschluss über Datenschutz in Umweltfragen muss aufgehoben werden, dass Glasnost in Umweltfragen in der DDR einkehrt. 15 21.50 Uhr: 16 Telefonischer Kommentar zur Situation der oppositionellen Gruppen in der DDR von Vera Wollenberger Vera Wollenberger: Mit den jüngsten Ereignissen ist die Friedensbewegung zu einer neuen Stufe gereift. Sie hat bewiesen, dass sie trotz zum Teil erheblicher 13 Vgl. dazu 1. Köpenicker Öko-Kirmes, in: Umweltblätter vom 12.6.1987, S. 10–11. Innerhalb des Kulturbundes ist 1980 die »Gesellschaft für Natur und Umwelt« (GNU) gegründet worden (vgl. dazu Hermann Behrens u. a.: Wurzeln der Umweltbewegung. Die »Gesellschaft für Natur und Umwelt« (GNU) im Kulturbund der DDR. Marburg 1993). Mitte der 1980er Jahre bildeten sich innerhalb der GNU »Interessensgemeinschaften Stadtökologie«, die teilweise ähnliche Themen bearbeiteten wie oppositionelle Umweltgruppen (vgl. ders.: Zur Situation des Verbandsnaturschutzes in den neuen Bundesländern, in: Karl-Hermann Hübler, Hans-Jürgen Cassens (Hg.): Naturschutz in den neuen Bundesländern. Taunusstein 1993, spez. S. 158–163). 1987 umfassten die IG Stadtökologie 380 Gruppen mit rd. 7 000 Mitgliedern (vgl. ders.: Die Umweltbewegung in der DDR – ein Überblick nebst Versuch ihrer umwelthistorischen Einordnung. Vortrag auf der Tagung: Mensch und Umwelt. Umweltgeschichte als Regionalgeschichte Ostmitteleuropas. Von der Industrialisierung bis zum Postsozialismus, Bad Wiessee, November 2010). 14 Vgl. Stellungnahme der »Umweltbibliothek« zum Smog in Westberlin, in: Die Umweltbibliothek, Themen-Nr. 29–32, 1987, S. 3. 15 Am 16.11.1982 hatte der DDR-Ministerrat die »Anordnung zur Sicherung des Geheimnisschutzes auf dem Gebiet der Umweltdaten« erlassen. Hinzu kam, dass der Katastrophenschutz Bestandteil der Zivilverteidigung war (»Verordnung über den Katastrophenschutz« vom 15.5.1982), sodass auch Umweltkatastrophen bzw. Auswirkungen von Katastrophen auf die Umwelt als Staatsgeheimnisse eingestuft wurden. Reale Daten zur Umweltsituation sind, abgesehen von einzelnen oppositionellen Erhebungen, erst ab Anfang 1990 offiziell veröffentlicht worden. 16 Nach dem Interview mit Carlo Jordan kamen Sendebeiträge zu Reaktionen der Kirche auf die Vorgänge um die »Umweltbibliothek«, anschließend wurden politische Paragrafen aus dem StGB (§§ 106, 218, 220) vorgetragen, dann der Offene Brief von Krawczyk/Klier an Hager auszugsweise verlesen sowie weitere Berichte über Proteste gegen den Überfall auf die »Umweltbibliothek« ausgestrahlt. In diesem Dokument fehlt der Hinweis darauf.
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inhaltlicher Meinungsverschiedenheiten unter den Gruppen zu gemeinsamer solidarischer Aktion fähig ist. Mit der Mahnwache 17 hat sie sich ein neues, sehr wirkungsvolles politisches Instrument geschaffen, das noch dadurch an Bedeutung gewinnt, dass sich die Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg dahinterstellt und sich an künftigen Mahnwachen beteiligen will. Für die Friedensbewegten unseres Landes, die in einem Zustand permanenter Rechtsunsicherheit leben, ist es ein gewisser Schutz, dass von nun an, sobald man einen politisch Engagierten verhaftet, die Mahnwache an der Zionskirche stehen wird. Die Beamten werden sich in Zukunft jeden Übergriff sehr viel genauer überlegen müssen. Genauso wichtig ist der Beschluss, das Büro der Mahnwache zu einer ständigen Einrichtung werden zu lassen. 18 Damit gibt es erstmals die Möglichkeit, alle Repressionen des Staatsapparates gegen politisch Engagierte an einer Stelle zu melden, sofort der Öffentlichkeit bekanntzumachen und den Betroffenen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. Wenn die Basisgruppen jetzt zu ihrer alltäglichen Arbeit zurückkehren, können sie das mit dem Bewusstsein tun, dafür bessere Bedingungen als je zuvor zu haben. Die Kirchenleitung hat angekündigt, dass sie die volle Arbeitsfähigkeit der UB wieder herstellen und sogar verbessern will. Die vierte Forderung der Mahnwache, die Einstellung aller Repressionen gegen politisch Engagierte, bleibt bestehen und wird in Zukunft immer wieder durch punktuelle, dezentrale Aktionen der Basisgruppen im ganzen Land bekräftigt werden. Es geht schließlich darum, die verfassungsmäßig garantierten Rechte und Freiheiten mit Leben zu erfüllen und durchzusetzen, dass jeder, der sich im Rahmen der Gesetze bewegt, auch Rechtsschutz und Rechtssicherheit genießt. Es bleibt viel zu tun; die Mitarbeit jedes Einzelnen wird dringend gebraucht.
17 Die erste Mahnwache zog am 25.11.1987 gegen 22.30 Uhr vor der Zionskirche auf, zugleich wurde ein »Mahnwachenbüro« (Kontakttelefon) eingerichtet. Die Mahnwache blieb bis zum 30.11. bestehen, das Büro bis zum 14.1.1988. Es waren zwei Einrichtungen, die nunmehr bis zum Herbst 1989 zu den festen Mitteln der Opposition zählten. Zu den Einzelheiten siehe Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, passim. 18 Das gelang noch nicht sofort, siehe Anm. 17.
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Dokument 44 Telefonate von Wolfgang Templin am 11. Dezember 1987 11. Dezember 1987 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/2, [Gerhard] Haas 1 Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 8a, Bl. 124–126
Wolfgang Templin teilt [Wolfram] Hülsemann mit, dass er seit 20.00 Uhr wieder raus ist. Alle sieben sind in Rummelsburg gewesen. 2 Hülsemann bringt seine Freude zum Ausdruck. Er möchte wissen, wie sie (er sagt ihr) behandelt 1 Gerhard Haas (geb. 1944), 1963 Abitur, 1964 Facharbeiter für Betonbau, 1964–1967 NVA, 1967 SED, 1970 Abschluss als Bauingenieur, seit 1970 MfS-Mitarbeiter, zunächst in der KD Bad Freienwalde, seit 1980 als Hauptmann Mitarbeiter der HA XX; Entlassung zum 9.1.1990. 2 Gemeint war: im Gefängnis Rummelsburg. Am Nachmittag des 10.12.1987 – dem Internationalen Tag der Menschenrechte – wurden Ulrike Poppe, Martin Böttger, Peter Grimm, Gerd Poppe, Sinico Schönfeld (IM des MfS), Wolfgang Templin, Werner Fischer und Ralf Hirsch vom MfS festgenommen. Ulrike Poppe wurde gegen 18.30 Uhr mit Rücksicht auf ihre 2 kleinen Kinder freigelassen (BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 25, Bl. 230; BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 1, Bl. 77–78). Die Männer wurden bis zum Abend des 11.12. festgehalten und mehreren Verhören unterzogen. Das MfS verhinderte mit dieser Aktion, dass einzelne Mitglieder der IFM vor dem offiziellen DDRKomitee für Menschenrechte protestieren, eine Erklärung übergeben und am Abend in der Gethsemanekirche an einer Veranstaltung zu Menschenrechten teilnehmen konnten (ursprünglich war vorgesehen, weitaus mehr IFM-Mitglieder zuzuführen, die Maßnahmepläne vom 8. und 9.12.1987 in: BStU, MfS, HA XX/4 13, Bl. 44–52). Die meisten IFM-Mitglieder schätzten die Aktion auch im Nachhinein als misslungen ein, andere hatten sie von vornherein abgelehnt (HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Martin« am 16.12.1987, 17.12.1987. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 13, Bl. 169– 172). Bei Wolfgang Templin fand das MfS ein selbstgefertigtes Transparent mit der Aufschrift »Weg mit Berufsverboten und Landesarrest!« (Protokoll über die Befragung des Bürgers der DDR Wolfgang Templin, 10.–11.12.1987. BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 1, Bl. 34). Bei mehreren anderen wurde ein Papier gefunden (BStU, MfS, AU 4197/88, Bl. 52–54), das die IFM in den Tagen zuvor ausgearbeitet und diskutiert hatte und das die IFM am 10.12. in der Gethsemanekirche als Selbstdarstellung vorstellen wollte (abgedruckt u. a. in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989. Berlin 2002, S. 161–163). Die »Verdachtsprüfung« gegen die IFM-Mitglieder, darunter zur Tarnung auch gegen einen IM des MfS (Sinico Schönfeld), ist im März 1988 eingestellt worden (BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 1, Bl. 77–78). In der Gethsemanekirche sprachen vor 400 bis 500 Menschen u. a. Bärbel Bohley (sie las das IFM-Papier vor), Reinhard Schult (dokumentiert in: »Nun müssen Schritte der inneren Abrüstung erfolgen«, in: Hannoversche Allg. Zeitung vom 15.12.1987), Manfred Stolpe und Wolfgang Wolf, außerdem sang Stephan Krawczyk einige Lieder. Günter Jeschonnek (geb. 1950; u. a. Theaterregisseur), Gründungsmitglied und Sprecher der »Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR«, der ebenfalls an diesem Abend eine Erklärung namens der AG in der Kirche abgeben wollte, reiste am selben Tag mit seiner Familie aus der DDR aus (der Ausreiseantrag lief seit Anfang 1986). Die vorbereitete Erklärung ist abgedruckt bei: Günter Jeschonnek: Ausreise – das Dilemma des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates?, in: Ferdinand Kroh (Hg.): »Freiheit ist immer Freiheit …« Die Andersdenkenden in der DDR. Frankfurt/M., Berlin 1988, S. 266–270.
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worden sind. T[emplin] erklärt, als sie drin waren, ist es gegangen. Die Schutzpolizei, die die »Zuführung« übernommen hat, war total überfordert. Die haben sich recht rüde benommen. Die haben sich ein paar schlimme Dinge geleistet. Alle haben in Rummelsburg das Angebot bekommen, ihren Hauptwohnsitz dort nehmen [zu] sollen, wo die Hauptquelle ihrer Inspiration ist. 3 Wenn T[emplin] sich das überlegt, müsste er einen Antrag für Prag oder Warschau stellen. 23.28 Uhr Roland Jahn meldet sich bei Wolfgang Templin. T[emplin] begrüßt Jahn mit, »Bist du endlich raus? Ich freue mich für dich!« (Beide lachen herzhaft.) Jahn möchte wissen, ob der Satz bei allen gleichlautend gewesen ist. 4 Auf T[emplin]s Bestätigung bringt Jahn zum Ausdruck, dass sie (er sagt wir) den Satz wahrscheinlich zitieren werden. Der kann als Überschrift erscheinen. Er bringt weiter zum Ausdruck, dass »die« wieder ein Selbsttor geschossen haben. T[emplin] meint, sie (er sagt wir) haben immer versucht, »denen« das klarzumachen. T[emplin] berichtet, dass er bis Mitternacht in einer dicken Jacke gesessen hat. Der Beamte hat sich darüber gewundert, da es im Zimmer warm gewesen ist. T[emplin] hat ihm das auch bestätigt. T[emplin] hat dem Beamten erklärt, dass ihn die »Zuführung« so verstört hat, dass er innerlich fröstelt. Nach Mitternacht hat T[emplin] dem Beamten den Gefallen getan und die Jacke ausgezogen. T[emplin] hat unter seiner Jacke ein Transparent gehabt. Auf dem Transparent stand »Weg mit Berufsverboten und Landesarrest«. Der Beamte wollte wissen, was T[emplin] mit dem Transparent gewollt hat. T[emplin] hat erklärt, dass er in das DDR-Komitee für Menschenrechte gewollt hat. 5 Er musste sich vor den Nachstellungen unbekannter Zivilisten dorthin flüchten. Vor dem Komitee 6 ist er abgedrängt und ins Auto gezerrt worden. Da man ihn nicht gefragt hat, was er bei sich hat, ist das Transparent für ihn (T[emplin]) kein Gegenstand gewesen. Es ist also erst am späten 3 Bei der Entlassung sagte ein MfS-Offizier jedem, sie könnten »zu ihren Freunden« in die Bundesrepublik ausreisen, sie müssten es nur sagen (Mitteilungen von Gerd Poppe und Wolfgang Templin). Darüber berichteten auch bundesdeutsche Zeitungen: DDR legte Bürgerrechtlern die Ausreise nahe, in: FAZ vom 14.12.1987; SED wollte Bürgerrechtler abschieben, in: Die Welt vom 14.12.1987. 4 Das bezieht sich auf die Aussage, sie könnten in die Bundesrepublik ausreisen, woher sie ihre Inspiration bezögen. 5 Das entspricht genau dem in dem MfS-Befragungsprotokoll festgehaltenen Ablauf (BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 1, Bl. 34). 6 Das DDR-Komitee für Menschenrechte befand sich in der damaligen Otto-Grotewohl-Str. 19d (heute wieder: Wilhelmstraße) in Berlin-Mitte. Da dort ebenfalls (Nr. 19) die »Liga für Völkerfreundschaft der DDR« ihren Sitz hatte, taucht in den Dokumenten mehrfach auch die »Liga« als Ort des geplanten Protestes von Wolfgang Templin auf.
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Abend Gegenstand geworden. Damit wurde auch die Temperatur erträglicher, nämlich ohne Jacke und Transparent. T[emplin] hat dem Beamten klargemacht, Berufsverbot und Landesarrest sind keine Sachen, die nur die DDR betreffen. Da, wo sie auftreten, sind sie zu ahnden. Die widersprechen den elementarsten Ansprüchen der Menschenrechte. Der Beamte ist bei Auslegungsfragen sowieso immer sehr schwach gewesen. T[emplin] hat den Beamten darauf hingewiesen, dass die Freundlichkeit, ihm das Transparent zu zeigen und darüber zu reden, bedeutet, dass er es zurückerhält. Der Beamte hat zu verstehen gegeben, wie T[emplin] daran zweifeln könne. Es würde doch nichts wegkommen. T[emplin] hat das Transparent aber nicht wiederbekommen, da die Sache noch nicht abgeschlossen ist. Es ist keine einfache Befragung gewesen, da er über 24 Stunden drin war. Für die restlichen drei Stunden wurde der § 95 der Strafprozessordnung 7 hinzugezogen. Die Sache wird vom Staatsanwalt übernommen. T[emplin] berichtet weiter, dass sie (er sagt wir) die Beamten gebeten haben, gemeinsam die Nachrichten zu hören. Sie haben auch 100,6 angeboten. Der Beamte wollte wissen, wie die (100,6) so früh zu den Informationen kommen. 8 T[emplin] und die anderen haben denen erklärt, dass sie selbst die Nachrichten machen. T[emplin] meint, man hat ihnen auch Verbindungen zu westlichen Medien unterstellt. Sie haben sich dagegen sehr verwahrt. T[emplin] berichtet, dass sie in Rummelsburg in Zellen gesessen haben wie in amerikanischen Filmen. Sie konnten sich von Zelle zu Zelle unterhalten. Sie haben die »Internationale« und Lieder der »48er« gesungen. Hin und wieder einen Sprechchor. T[emplin] ist immer nach einem Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele gefragt worden. Er hat »die« gefragt, ob sie das DDR-Komitee 9 für einen solchen Zusammenschluss halten. Dann ist es noch um den Sozialismus und die Gesellschaft gegangen und die dagegen gerichteten Aktivitäten. Von so etwas muss sich T[emplin] distanzieren. T[emplin] musste überlegen, was damit gemeint ist. Er hat denen die Gegenfrage gestellt, ob sie die hochgradige Wirtschaftskriminalität in der DDR meinen. T[emplin] hat damit den 7 Zunächst erfolgten die Befragungen nach § 12 des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der DVP (»Klärung eines Sachverhaltes«), wobei die Befragung und der Gewahrsam nicht länger als 24 Stunden dauern durften. Durch die Erweiterung auf § 95 der Strafprozessordnung konnten nach Absatz 2 »Prüfungshandlungen« vorgenommen werden, was eine Befragung als Verdächtiger mit »Zuführung« ermöglichte. Die Anzeigenprüfungsfrist betrug nun 7 Tage und konnte ggf. bis zu 3 Monate bzw. auch darüber hinaus verlängert werden. Erst im Zuge dieser »Prüfung« sollte über das weitere Vorgehen (Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, Ordnungsstrafverfahrens, Disziplinarverfahrens o. dgl., Einstellung des Prüfverfahrens) entschieden werden. Die Erweiterung erfolgte bei Wolfgang Templin in dem Verhör, das am 11.12. um 15.00 Uhr begann (BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 1, Bl. 61). 8 Kurz nach den Festnahmen berichteten mehrere Rundfunkstationen davon. 9 DDR-Komitee für Menschenrechte.
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nationalen Ausverkauf gemeint. Der Beamte hat das sehr schnell begriffen und gefragt, ob T[emplin] lieber den ökonomischen Heldentod sterben würde. Jahn ist der Meinung, dass sich die Herren klar sein müssen, wenn sie so weitermachen, wird eines Tages auch die wirtschaftliche Ebene irgendwann nicht mehr laufen. T[emplin] hat das Gefühl, dass die das sehr gut wissen. Jahn erklärt, dass es Parteien gibt, die Vertreter haben, die eine Wirtschaftskraft hinter sich haben. T[emplin] möchte wissen, ab wann Jahn gestern in der Spur gewesen ist. Jahn ist seit 4.00 Uhr in der Pütt gewesen. T[emplin] lacht mit dem Bemerken, dass es ihm klar gewesen ist, ab wann die Leitungen stehen. T[emplin] erklärt, dass einer seiner nächsten Gänge zum DDR-Komitee für Menschenrechte sein wird. T[emplin]: Am heutigen Vormittag hat man dann bei mir übrigens noch ’ne andere wichtige Information gefunden. J[ahn]: Aha. T[emplin]: Das heißt, ich habe sie ihnen dann selber gegeben. Unter Gewissensbissen. J[ahn]: Was war denn das? T[emplin]: Den Plan zur Entführung Nicolae Ceauşescus. Nicht durch uns; aber wir wussten davon. Durch ein Kommando »10. Dezember«. Der sollte entführt und gegen 300 Arbeiter von Breschnew ausgetauscht werden. J[ahn]: Na ja, nicht schlecht. T[emplin]: Da haben die Jungs nicht schnell genug reagiert. Mit der Prüfung der Information haben sie wahrscheinlich die wertvollste Zeit vergeudet. Nun weiß ich nicht, ob die Entführung nun doch schon stattgefunden hat. 10 Jahn meint dazu, manchmal gehen sie doch auf die falschen Fährten. Im Weiteren liest Jahn Artikel aus der Westpresse zu den heutigen Ereignissen vor. Jahn will sich am Sonntag 11 wieder melden. 23.51 Uhr
10 Das war lediglich ein Scherz, der die MfS-Abhörspezialisten bzw. die Auswerter dieser Telefonate irritieren und auch veralbern sollte. Vgl. die Vernehmungsprotokolle vom 10./11.12.1987 von Wolfgang Templin: BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 1, Bl. 23–78. 11 Am 13.12.1987.
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Dokument 45 Information zu einer telefonischen Verbindungsaufnahme von Vertretern der »Initiative Frieden und Menschenrechte« Berlin mit der Gruppe »Vertrauen« 1 Moskau am 17. Dezember 1987 (Originaltitel) 23. Dezember 1987 Von: MfS, HA XX/2, [Horst] Kuschel 2 An: Freund 3, MfS, HA XX/AKG, MfS, HA XX/2 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 13, Bl. 190–192
Streng intern wurde erarbeitet, dass der operativ bekannte Frank Hartz, 4 geb. Schulz, am 17. Dezember 1987 von [Wolfgang] Templins Wohnung aus in dessen Auftrag Verbindung mit der Kriwowa, Irina in Moskau aufnahm. Die Kriwowa informierte, dass das geplante Seminar oppositioneller Gruppen in der SU vom 10. Dezember bis 15. Dezember 1987 in Moskau stattfand. Es sollen über 400 Personen, darunter zahlreiche Gäste aus dem Ausland, u. a. aus Jugoslawien und der ČSSR, teilgenommen haben. Die Diskussionen in insgesamt zehn verschiedenen Sektionen seien in privaten Wohnungen durchgeführt worden, da die staatlichen Organe vorher bestellte offizielle Räumlichkeiten aus den verschiedensten Gründen nicht zur Verfügung stellten. Das Seminar habe keine abschließenden Dokumente veröffentlicht, es wurden lediglich Vorschläge einzelner Sektionen angenommen. Das Anliegen des Seminars hätte nach Auffassung der Kriwowa darin bestanden, einen Meinungsaustausch durchzuführen, in dem jeder der Anwesenden frei und ohne Zensur seine Meinung zu den verschiedensten Problemen äußern konnte. Der Vorsitzende des Organisationskomitees habe mitgeteilt, dass ca. 200 Vorträge und Mitteilungen gebracht wurden. Die Kriwowa teilte weiter mit, dass am 10. Dezember 1987 ebenfalls in Moskau ein offizielles Meeting stattgefunden habe. 5 Die staatlichen Organe würden dies oft organisieren, um gleichlaufende Demonstrationen oppositioneller Kräfte zu verhindern. Diejenigen, die eine eigene Demonstration veran1 Zur Oppositionsgruppe »Vertrauen« (Доверие) siehe Dok. 21, Anm. 4. 2 Horst Kuschel (geb. 1936), Abitur, 1954 SED, 1955 Eintritt ins MfS, BV Leipzig (Feldwebel), 1955–1957 Kursant an der MfS-Schule Potsdam, 1958–1964 HA V, 1964–1973 BdL, 1968 Dipl.-Kriminalist nach Fernstudiengang an der Sektion Kriminalistik der HUB (Diplomarbeit: »Der verdeckte Krieg gegen die DDR und die evangelische Kirche«), ab 1974 HA XX/2, seit 1980 Abteilungsleiter der HA XX/2, 1985 Beförderung zum Oberst; Entlassung zum 31.1.1990. 3 MfS-interner Ausdruck für den KGB. 4 IM des MfS. Das ist ungewöhnlich, weil IM solche Telefongespräche nicht führen sollten bzw. nur in Ausnahmefällen. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 5 Aus Anlass des internationalen Tages der Menschenrechte.
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stalten wollten, seien beim Verlassen ihrer Häuser von der Miliz festgehalten und nach einigen Stunden wieder entlassen worden, was durch die Miliz bei ähnlichen Aktionen des Öfteren praktiziert werde. Der Hartz informierte über die Geschehnisse um die Zionskirche und in diesem Zusammenhang über verstärkte Aktivitäten des MfS und anderer Staatsorgane der DDR in Form von Polizeieinsätzen, vorläufigen Festnahmen, Durchsuchungen u. a. 6 Man versuche immer stärker, die Arbeit der unabhängigen Bewegung und der unabhängigen Gruppen in der DDR zu untergraben. Beispiel dafür seien das Verbot der in Berlin erscheinenden Monatszeitschrift »Grenzfall« und das Verbot von Gruppen, die mit der protestantischen Kirche verbunden [sind] bzw. in verschiedenen Kirchen arbeiten. 7 Es wäre ihnen aber nicht gelungen, die Zeitung »Grenzfall« zu vernichten, da die Redaktion weiterhin arbeitsfähig sei. Die »Initiative Frieden und Menschenrechte« habe am 10. Dezember 1987 ebenfalls versucht, eine Demonstration durchzuführen, bei der man dem DDR-Komitee für Menschenrechte in Berlin offiziell einen Brief übergeben wollte, um auf die Situation der Menschenrechte in der DDR aufmerksam zu machen. Diese Demonstration sei durch Auflagen bzw. Festnahmen unterbunden worden und man habe den Vertretern der »Initiative« angeboten, die DDR zu verlassen. 8 Er berichtete weiter, dass sie telefonische Kontakte mit Prag hatten. Dort soll es am 10. Dezember 1987 ebenfalls zu einer Demonstration von ca. 3 000 Personen gekommen sein. Der Hartz erkundigte sich auf Drängen Templins nach der Arbeit des Presseklubs »Glasnost« und speziell nach XXX, Näheres nicht bekannt. Die Kriwowa teilte mit, dass XXX es sehr schwer hätte, ihn die Behörden aber gegenwärtig nicht verfolgen. Er bekäme viele Besuche aus dem ganzen Land und darüber hinaus Briefe und Beschwerden von Personen aus der Provinz. Man bereite gegenwärtig die 13. Ausgabe der Zeitung (vermutlich ist damit das Informationsbulletin der Gruppe »Vertrauen« gemeint) vor, die inhaltsreicher und qualitativ besser gestaltet werden soll. Die Kriwowa erkundigte sich, ob Material aus Moskau in Berlin eingetroffen sei, was verneint wurde.
6 Es geht um die Durchsuchung in der Zionsgemeinde, die Festnahme mehrerer Mitarbeiter der UB in der Nacht vom 24. zum 25.11.1987 sowie die Folgen dieser MfS-Aktion. 7 Das ist eine missverständliche Formulierung, da ein Verbot eine zuvor erteilte Genehmigung voraussetzt. Der »Grenzfall« erschien stets illegal und auch kirchenunabhängig. 8 Siehe dazu Dok. 44.
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Dokument 46 Aktuelle Hinweise zu Aktivitäten innerer und äußerer Feinde (Originaltitel) 21. Dezember 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 8, Bl. 134–135
Im Rahmen der operativen Arbeit wurden zuverlässig weitere Hinweise zu Aktivitäten innerer und äußerer Feinde bekannt. Diese Hinweise sind zum Teil eine Ergänzung der in der Information G/042709/20/12/87/06 1 enthaltenen Sachverhalte. Konkret liegen folgende Hinweise vor: 1. Der ehemalige DDR-Bürger Jahn, Roland tauschte sich am Abend des 20. Dezember 1987 mit Hirsch, Ralf zu einigen Problemen, die jüngste Vergangenheit betreffend, aus. Übereinstimmend brachten Jahn und Hirsch Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass Hirsch in westlichen Publikationen über die durchgeführte Unterschriftensammlung feindlich-negativer DDR-Bürger als der Sprecher der »Initiative Frieden und Menschenrechte« bezeichnet wurde. Besser wäre die Bezeichnung ein Sprecher der »Initiative« gewesen. Die verwendete Bezeichnung könnte wieder zu Irritationen und Fehlinterpretationen führen, die absolut unnötig sind. Ansonsten halten die Kontaktpartner die Berichterstattung zu o. g. Problematik in den westlichen Massenmedien für angemessen. Dies treffe auch auf die Meldungen über die Pfändungen zur Begleichung der gegen Hirsch und andere verfügten Ordnungsstrafen zu. 2 In diesem Zusammenhang bemerkte Hirsch, dass er gespannt ist, wie das MfS auf seine Eingabe »wegen des rowdyhaften Verhaltens« reagiere. Auch Jahn ist daran brennend interessiert. Im weiteren Verlauf ihrer Unterredung ließ Jahn Kritik an der Arbeitsweise des in der Zionskirche bzw. »Umweltbibliothek« eingerichteten »Krisentelefons« 3, das täglich von 16.00 bis 22.00 Uhr besetzt ist, erkennen. Nach eige1 Interne Nummerierung der HA III für ihre gewonnenen Informationen. Das benannte Dokument ist überliefert: BStU, MfS, AOP 16992/91, Bd. 8, Bl. 147–149. 2 Nach der verhinderten Reise nach Prag Ende April 1987 (siehe dazu Dok. 15 und 16) ist gegen Ralf Hirsch eine Ordnungsstrafe in Höhe von 500 Mark verhängt worden. Andere erhielten eine Ordnungsstrafe in Höhe von 300 Mark. Dagegen legten sie erfolglos Beschwerde ein. Diese ist abgedruckt in: Grenzfall 6/87, nachgedruckt in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 66. 3 Gemeint ist das Mahnwachenbüro bzw. Kontakttelefon. Das stand im kirchlichen Baubüro von Carlo Jordan im Vorderhaus der Griebenowstr. 15/16, wo die Räume der Zionsgemeinde lagen.
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Dokument 46 vom 21. Dezember 1987
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nen Erfahrungen seien dort zeitweise Personen eingesetzt, die in einem wirklichen »Krisenfall« absolut handlungsunfähig sind, nicht in der Lage leben und keine Vorstellungen haben, wer im Bedarfsfall worüber zu informieren ist. Zwar wäre es, so Jahn, richtig und auch notwendig, eine solche Einrichtung zu haben. Es sei aber zu überlegen, ob die Besetzung des »Krisentelefons« nur für ein bis zwei Stunden nicht besser ist. Außerdem sollte überlegt werden, ob die dort tätigen Personen nicht eine Art »Handlungs- und Ablaufplan« erhalten, auf dessen Grundlage im Bedarfsfall die Weiterinformierung erfolgt. Hirsch bestätigte Jahn die Richtigkeit dieser Überlegungen und deutete an, dass bereits Veränderungen herbeigeführt wurden bzw. vorbereitet werden. Bereits realisiert sei, dass die für den »Krisendienst« eingesetzte Person sechs bis acht Telefonnummern erhielt, über die im Bedarfsfall über bestimmte Vorkommnisse und Entwicklungen zu informieren ist. Diese Maßnahme gehe, so Hirsch, auf eine Initiative eines Reinhard [Schult] zurück. Die konkrete Rückfrage Jahns, ob auch seine Telefonnummer darunter sei, beantwortete Hirsch mit einem klaren »Ja«. Ferner deutete Hirsch an, dass sich unter diesen Telefonnummern auch Anschlüsse in Bonn befinden. Er präzisierte diese Aussage jedoch nicht. Da Hirsch bemerkte, dass Jahn eventuell auch über die »Bonner« informiert werden könnte, lässt sich die Vermutung ableiten, dass sich Anschlüsse von Vertretern der Grünen darunter befinden. Eine eventuelle Informierung Jahns über »Bonn« müsste, so Hirsch, vor allem deshalb eingeplant werden, da dessen Erreichbarkeit von der Hauptstadt der DDR aus oftmals einfach nicht möglich sei. Kontaktaufnahmen von der Hauptstadt der DDR aus nach Westberlin würden sich nach Aussagen von Hirsch in zunehmendem Maße als schwierig erweisen. So sei es weder Hirsch noch Bohley, Bärbel [oder] Eppelmann, Rainer und anderen DDR-Bürgern möglich gewesen, fernmündlich Verbindung zu Fuchs, Jürgen herzustellen, um diesem zum Geburtstag 4 zu gratulieren. Jahn, der zu den Geburtstagsgästen bei Fuchs gehörte, bemerkte dazu lediglich, sich bereits gewundert zu haben, dass kaum jemand aus der DDR Fuchs zu dessen Geburtstag beglückwünschte. Ferner kündigte Hirsch an, dass das »Krisentelefon« künftig nur noch für einige Stunden besetzt wird. Die Zeit von 16.00 bis 22.00 Uhr sei zu lang. […] 5
4 Jürgen Fuchs hatte am 19.12. Geburtstag. 5 Es folgen weitere Telefonate in diesem Dokument (BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 8, Bl. 134–138).
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Dokument 47 Aktuelle Hinweise zum Zusammenwirken innerer und äußerer Feinde (Originaltitel) 22. Dezember 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 8, Bl. 126–127
Durch den gezielten Einsatz inoffizieller Quellen 1 wurden weitere Hinweise zu Aktivitäten innerer und äußerer Feinde erarbeitet. Diese Hinweise beinhalten wesentliche Angaben zum Verbindungssystem sowie der Gestaltung des Zusammenwirkens zwischen feindlich-negativen DDR-Bürgern und Kräften im Operationsgebiet. Konkret wurden folgende Hinweise erarbeitet: 1. In den Abendstunden des 21. Dezember 1987 nahm der CDUBundestagsabgeordnete Scharrenbroich, Heribert 2 von der BRD aus Kontakt zu dem DDR-Bürger Hirsch, Ralf auf. Scharrenbroich übermittelte Hirsch und den Personen um ihn Weihnachts- und Neujahrsgrüße. Damit verband Scharrenbroich die Mitteilung, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sehr genau die Vorgänge und Entwicklungen um die Gruppe um Hirsch verfolge und beobachte. In diesem Zusammenhang bemerkte Scharrenbroich, die Personen um Hirsch brauchen in keiner Weise Angst davor zu haben, dass sie allein gelassen werden. Dies sei ja auch in Bezug auf die Aktivitäten von Kräften der CDU/CSU in Reaktion auf die Vorgänge der jüngsten Vergangenheit sehr deutlich geworden. Hirsch bestätigte, dass es gerade diese Aktivitäten gewesen wären, die maßgeblich dazu beigetragen hätten, dass die inhaftiert gewesenen Personen wieder freigelassen wurden. Ferner informierte Scharrenbroich, dass seitens der CDU/CSUBundestagsfraktion angestrebt wird, im Januar 1988 ihre Kontakte zu den Personen um Hirsch zu aktivieren und auszubauen. Diese Gespräche würden gebraucht. Wenn man zu einer Normalisierung der Verhältnisse kommen wolle, dann müssten solche Gespräche selbstverständlich sein. Man wolle nicht nur mit »Staatsfunktionären«, sondern auch »Bürgern« sprechen. Dies gehöre dazu. Deshalb werde Scharrenbroich noch vor dem Weihnachtsfest ein Schreiben an die Regierung der DDR fertigen, in dem darauf hingewiesen werden soll, dass die CDU/CSU im Januar 1988 ihre Besuche in der DDR fortsetzen 1 Die äußere Gestaltung des Dokuments lässt in Analogie zu vergleichbaren Dokumenten die Herkunft der Informationen aus abgehörten Telefonaten erkennen. 2 Heribert Scharrenbroich (geb. 1940), Volkswirt, u. a. 1977–1985 Hauptgeschäftsführer der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA), 1985–1994 für die CDU MdB.
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Dokument 47 vom 22. Dezember 1987
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wolle. Damit soll, so Scharrenbroich, erreicht werden, dass sich die Regierung der DDR bereits zum frühestmöglichen Zeitpunkt mit diesem Problem beschäftigen und festlegen kann, wie sie sich künftig zu diesen Reisen stellt. Fest stehe, nach Aussagen Scharrenbroichs, bereits jetzt, eine Fortsetzung der Einreiseverweigerungen, wie im Dezember 1987 praktiziert, führe mit Sicherheit zu Problemen und Belastungen im Verhältnis der beiden deutschen Staaten. Scharrenbroich räumte ein, dass die CDU/CSU natürlich ein Interesse daran habe, dass sich die Zusammenarbeit zwischen der DDR und der BRD weiter verbessert. Um dies zu erreichen, müssten jedoch von beiden Seiten gewisse Mindestnormen erfüllt werden, sei dies nicht gegeben, habe alles andere keinen Zweck. Bereits jetzt deutete Scharrenbroich an, dass am 18./19. Januar 1988 mit Besuchen von Kräften der CDU/CSU zu rechnen ist. Scharrenbroich werde voraussichtlich nicht zu diesen Personen gehören. Abschließend fügte Scharrenbroich seinen diesbezüglichen Darlegungen wörtlich hinzu: »Ihr habt ja gute Freunde hier, die uns, selbst wenn wir einen stressigen Terminkalender haben, sagen, was wir machen sollen.« Bemerkung: Als diese »guten Freunde« erwiesen sich in der Vergangenheit die Brüder Schwarz, Thomas und Schwarz, Stefan, die maßgeblich Reaktionen von Kräften der CDU/CSU zu den Vorgängen um feindlich-negative DDRBürger in der jüngsten Vergangenheit veranlasst hatten. Hirsch nahm die Darlegungen Scharrenbroichs mit Interesse zur Kenntnis. Er informierte seinerseits, dass in den entsprechenden Personenkreisen in der DDR ebenfalls genau beobachtet werde, wenn Einreisen in die DDR nicht gestattet werden. Dies werde alles sehr genau registriert. Die Frage Scharrenbroichs, ob in den nächsten Tagen etwas geplant sei, verneinte Hirsch. Er bemerkte, die letzten Wochen seien so angespannt gewesen, dass alle etwas Ruhe brauchen. […] 3
3 Es folgen weitere Telefonate in diesem Dokument (BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 8, Bl. 127–132).
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Dokument 48 Telefongespräch zwischen Roland Jahn und Wolfgang Templin 22. Dezember 1987 1 Von: MfS Quelle: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2, Bl. 37–51 Anmerkung: Das Telefongespräch wurde vom MfS wortgetreu mit allen Füllwörtern verschriftlicht. Es kommt hier gekürzt zum Abdruck. Wurden Kürzungen nicht erklärt, handelt es sich um Streichungen von Interjektionen, Verzögerungslauten, Wiederholungen oder Unverständlichem.
[…] 2 Te[mplin]: Hallo? Ja[hn]: Ja. Te[mplin]: Ach du bist es. Ja[hn]: (Lachen) Te[mplin]: Grüß dich, wieder mal in der Spur? Ja[hn]: Was heißt denn in der Spur? Te[mplin]: Wo warst’n? Ja[hn]: Wann? Te[mplin]: Na, in letzter Zeit, warst überhaupt nicht mehr da. Ja[hn]: Wieso, hast du angerufen? Te[mplin]: Na sicher. Ja[hn]: Nee, ich bin öfter mal in der Spur, ja. Te[mplin]: Ja, ja, ich konnte nun auch nicht immer anrufen, aber ich habe es irgendwann mal probiert, ja. […] Ja, nee, warum ich noch vor allem anrufen wollte, kannst du dir denken. Ja[hn]: Wegen gestern? 3 1 Dieses Dokument ist Bestandteil eines Konvoluts von Anlagen, das die DDRGeneralstaatsanwaltschaft der Sektion Kriminalistik an der HUB, Prof. Christian Koristka, für die Anfertigung von phonetischen Gutachten übergab (BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2). Das Dokument trägt im Original kein Datum. Dieses lässt sich aber aus dem Kontext des Gesprächs erschließen: zunächst, dass es nach dem 10.12. und vor Weihnachten 1987 geführt wurde. Das konkrete Datum ergibt sich dann aus einer Angabe zum aktuellen Fernsehprogramm. Siehe dazu Anm. 25 sowie aus der Erwähnung eines »gestrigen« Treffens, siehe dazu Anm. 3. 2 Das zuvor geführte Gespräch zwischen Regina Templin (Weis) und Roland Jahn wird hier nicht abgedruckt. 3 Wie aus dem hier nicht wiedergegebenen Gespräch zwischen Regina Templin (Weis) und Roland Jahn deutlich wird, geht es um das »gestern« erfolgte Treffen der IFM mit der Kirchenleitung. An diesem Gespräch am 21.12.1987 nahmen vonseiten der IFM u. a. Bärbel Bohley, Martin Böttger, Peter Grimm, Gerd Poppe, Ulrike Poppe, Wolfgang Templin sowie die IM des MfS Manfred »Ibrahim« Böhme und Monika Haeger teil. Von der IFM ist überdies Rudi Pahnke gebeten worden, an den
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Dokument 48 vom 22. Dezember 1987
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Te[mplin]: Nee, das geht um die eine Annonce, die immer dringender wird, was ich schon noch mal annoncierte 4 […] Ja[hn]: Es ist sehr kompliziert alles zurzeit. Te[mplin]: Ja, das ist mir selber irgendwie deutlich, ja, na ja klar. […] Ja[hn]: Weil, ich hatte gehofft, dass alle Leute sich auf einiges besinnen, – Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: – was alles, was es alles gibt. Na ja, aber manchmal hätte man vor längerer Zeit ein bissel langfristiger denken müssen. […] Das gebe ich zu, dass da vielleicht bei mir auch bisschen paar taktische Fehler drinne lagen […] oder sagen wir mal so, dass ich zu viele, zu viele Leute habe, wo ich denke, auf die kann man bauen. […] Weißt du, manchmal kann man doch nicht auf sie bauen. […] Manchmal gibt es doch sehr egoistische Leute. […] So habe ich jedenfalls das gehört. […] Na ja, das finde ich etwas schade. […] Weil, ich denke, dass da auch, denn ehe ich mich für jemanden einsetze, setze ich mich nicht für jemanden im einzelnen ein. Te[mplin]: Das denke ich auch, ja. Ja[hn]: Und fühle mich da, fühle mich da persönlich auch betrogen […] weißt du? Te[mplin]: Ja, weiß ich nicht genau, ob wir das Gleiche meinen, aber –. Ja[hn]: Ja, geht schon in ’ne bestimmte Richtung. […] Die, die sonst immer die christlichen Ansprüche haben. […] Also die extremen Christen. Te[mplin]: Ja eben. Ja[hn]: Verstehst du mich, ja? Te[mplin]: Ja, natürlich. Ja[hn]: Na ja, so sieht es halt aus […] nicht zu ändern. Sage mal, ich habe vorhin Lotte5 schon gefragt, weißt du, ob der alte [Jürgen] Kuczynski ausgetreten ist aus der Partei? Te[mplin]: Ja, würde mich wundern. Vielleicht ist er wegen Senilität raus oder – Ja[hn]: Krieg das doch mal raus, Mensch. Te[mplin]: Na klar, ja. Ja[hn]: Ja? Es gibt nämlich hier das Gerücht. […] Te[mplin]: Na, das kann ich rauskriegen, denke ich. Ja[hn]: Ja, das wäre ganz interessant. Gesprächen mit der Kirchenleitung teilzunehmen (Information von Rudi Pahnke am 28.9.2011). Vonseiten der Kirche nahm u. a. Manfred Stolpe teil. Es ging um das Verhältnis IFM und Kirche sowie um das Selbstverständnis der IFM. Ein weiteres Treffen war für den 25.1.1988 vereinbart worden, das auch stattfand und bei dem die nun noch in Freiheit verbliebenen IFM-Mitglieder die Kirchenhaltung im Vorfeld des 17. Januar kritisierten. Zu beiden Treffen sind mehrere IM-Berichte z. B. in den OV »Zirkel«, »Verräter« und »Bohle« überliefert. 4 Es ließ sich nicht auflösen, was damit gemeint war. 5 Regina Templin (Weis).
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Dokument 48 vom 22. Dezember 1987
Te[mplin]: Na, wenn, dann hätte er wenigstens noch was Vernünftiges gemacht in seinem Leben. 6 Ja[hn]: Bei manchen kommt’s spät, aber –. Das wäre gar nicht so schlecht. Das könnte ja auch noch ein Zeichen sein […] denk schon. Ich hab’ mir schon Bericht von gestern geben lassen. […] Und sie sagte, 7 es wären alles gesprächsfähige Leute gewesen. Da habe ich gefragt, ob ihr denn auch Leute habt, die nicht zum Gespräch fähig sind. Te[mplin]: Oh doch, ja, natürlich. Ja[hn]: Habt ihr auch? Te[mplin]: Na weniger 8, ja. Ja[hn]: Das sind die Aktionisten oder was? 9 Te[mplin]: Nee, oder Leute, die einfach momentan zu viel Dampf haben, also, in anderen Zeiten oder Situationen hätte ich auch zu denen gehört und hätte von selber gesagt, nicht an dem Tisch, also das wechselt ja auch, weißt du. […] Wie ’ne innere Situation auch. […] Ja ja, nee, aber was das bringt oder nicht, wird sich dann erst zeigen, weißt du. […] Das kann man jetzt […] vermuten oder hoffen, aber das wird sich dann wirklich erst rausstellen. Ja[hn]: Hm, na ja, ich denke, man muss aufpassen, dass man nicht zu sehr in eine inhaltliche Diskussion kommt, […] die in den zeitlichen Kapazitäten einen nur ablenkt von der eigentlichen Arbeit. Te[mplin]: Na, sicher, das Erstere hat für uns nur dann einen Sinn, wenn’s ins Konkrete übergeht, sicher, ja ja. Ja[hn]: Ich denke, es geht hier um konkrete Belange? Te[mplin]: Ja, aber dabei werden wir nicht handeln, weißt du, sondern das, das ergibt sich aus Inhalten. […] Insofern ist das Auseinanderentwickeln gar nicht schlecht, nur muss es eben dann auch straff genug passieren. Dass man sich nicht ewig dabei aufhält. […] Es muss klar werden, aus welchen Voraussetzungen man auf was hinaus will und dann kann man nämlich darüber reden, weißt du. […] Und der andere kann ja nicht sagen, ja wieso eigentlich, weil das dann klargeworden ist. Ja[hn]: Ich meine, es blieb ja nicht aus, dass so mancher sich in die inhaltliche Arbeit von euch mit einbringt. […] Zum Beispiel, ein Anwalt kann sich einbringen, um bestimmte strafrechtliche Sachen […] mit denen ihr arbeitet […] 6 Diese Bemerkung entstand im Kontext Templins persönlicher Beziehung zur Familie Kuczynski und zielte in ihrer polemischen Zuspitzung, auch wenn es hier so klingt, nicht auf die vielschichtige Biografie und das außerordentlich umfangreiche wissenschaftliche, politische, wissenschaftsorganisatorische und publizistische Werk von Jürgen Kuczynski (1904–1997). Dieser war nicht aus der SED ausgetreten. 7 Gemeint ist Regina Templin (Weis), mit der Roland Jahn zuvor darüber bereits gesprochen hatte. 8 Wahrscheinlich muss es heißen: »wenige«. 9 In der IFM galten die jüngeren Mitglieder wie Ralf Hirsch, Peter Grimm oder Peter Rölle eher als »Aktionisten«, weil sie auf die Durchführung konkreter Aktionen drängten.
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Dokument 48 vom 22. Dezember 1987
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hier zu diskutieren und irgend so ein anderer Pope kann sich einbringen über bestimmte Fragen an Menschenrechtsverletzungen, die er in seinen Gemeinden erfährt. […] Ja? So ist die Unterstützungsarbeit und die Diskussion durchaus ständig möglich. […] Und bloß jetzt so eine Grundsatzdiskussion über Sachen, die die sowieso schon wissen, zu führen […] die sie vom Staatssekretariat [für Kirchenfragen] schon erfahren haben, das ist ja Blödsinn. Das hält einen ja auch ab –. Te[mplin]: Ja ja, sag’ mal weißt du, welche Bonner Ministerialen gestern hier waren? Ja[hn]: Bei euch? Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Da musst du mal Ralf [Hirsch] fragen. 10 Te[mplin]: Na, weiß ich nicht. War es der Ernährungsminister 11 oder wer? Ja[hn]: Es war hier, in Westberlin war einer. Te[mplin]: Ja, welcher war denn das? Ja[hn]: Der Verkehrsminister. 12 Te[mplin]: Verkehrs–, weiß ich jetzt nicht. Auf jeden Fall waren die noch im Konsistorium, als wir da ankamen. 13 Ja[hn]: Ach so. Te[mplin]: Nee, die guckten da nur, die guckten nur verdutzt, als –. Ja[hn]: Ich weiß nicht, ob die da waren. Nee, der war nicht dann da, der war nur in Westberlin. Te[mplin]: Na, ich glaube, irgendwas mit Ernährung hatte ich verstanden. Also, das waren aber, das waren irgendwelche schon Staats –. Ja[hn]: Nee, kein Minister. Te[mplin]: Weiß ich nicht, aber irgendwelche, irgendwelche Regierungstypen, die dort kurz vorbeiguckten und dann wieder abpfiffen. Ja[hn]: Na ja, was hier alles Regierung ist, sage ich dir. Te[mplin]: Ja, das glaube ich, das wird genau so ein Krebsgeschwür sein wie hier. Ja[hn]: Ja, das soll man nicht überbewerten. […] Sag mal, du, ich denke, du wolltest was schreiben? Te[mplin]: Na ja sicher. Ja[hn]: Erstmal die Sache mit den Berufsverboten? […] Wie steht’s denn damit? 10 Ralf Hirsch unterhielt besonders intensiv Kontakte zu bundesdeutschen Politikern und fädelte eine ganze Reihe von inoffiziellen Besuchen ein. 11 Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten war Ignaz Kiechle (1930–2003, CSU). 12 Bundesverkehrsminister war Jürgen Warnke (geb. 1932, CSU). 13 Das Konsistorium der Ev. Berlin-Brandenburgischen Kirche befand sich in Berlin-Mitte in der Neuen Grünstr. 19–22 und war der Amtssitz von Manfred Stolpe.
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Te[mplin]: Na, die ist eigentlich soweit gediehen. Ja[hn]: Ja? Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Na, dann wünsche ich’s mal zu lesen. Te[mplin]: Hm, nee, das kommt auch. Und das andere, ich habe mir jetzt noch mal in Ruhe den Schneider 14 angucken können […] Ja[hn]: Und ansonsten von »Stern« 15 bis über »Zeit«, am Ende ist immer noch die »taz« da, ja? […] Te[mplin]: Last not least, wie man so schön sagt. Ja[hn]: Nee, nee, das ist nicht unwichtig. Te[mplin]: Eben, na weiß ich doch. […] Te[mplin]: Wenn mich nun sogar schon die Kirchenleitung fragt, ob ich denn tatsächlich freier Mitarbeiter der »taz« sei –. Ja[hn]: Haben sie gefragt? Te[mplin]: Ja, haben sie gefragt, sie hätten so was gehört. Ja[hn]: Ja, denn weil den Herrn vom Außenministerium, denen liegt immer noch der Kommentar zu Hager im Magen, ja. 16 […] Der haben sie ja gesagt, so’n Vertreter hier von der »taz«, was denn das mit dem Kommentar sollte, […] Und mehr –. Aber die Kollegen, die da dort waren, die konnten ja nichts dafür, […] die haben denen ja nichts zu verantworten, die – Te[mplin]: Ja, das ist richtig. Ja[hn]: – die »taz« ist ja dezentral und nicht nach dem Chefredakteursprinzip wie das »Neue Deutschland«. Te[mplin]: Genau das, ja. Ja[hn]: Na ja, und in dem Sinne sind sie da immer noch ein bisschen irritiert. Te[mplin]: Na ja. Ja[hn]: Nee, aber der Kommentar ist ja direkt angesprochen worden. […] Und nee, diese Woche war auch wieder vom Stephan [Krawczyk] ein Kommentar, nicht ein Kommentar, ein Interview drinne, auf zwei Seiten in der Kultur
14 Wahrscheinlich war ein Text oder eine Ausarbeitung von Dirk Schneider (1939–2002) gemeint. Er war IM des MfS von 1975–1989. 15 Im Original: »Star«. 16 Es ist nicht eindeutig, welcher »taz«-Beitrag genau gemeint ist. Es sind mehrere Beiträge erschienen, in denen Kurt Hager kritisch kommentiert wird. Es könnte aber sein, dass der Offene Brief von Freya Klier und Stephan Krawczyk vom 9.11.1987 an Hager gemeint war. Darin hatten sie die völlige Freiheit für die Kunst gefordert. Auszugsweise ist der Brief abgedruckt worden in der »taz« vom 11.11.1987, S. 7. Vollständig ist er u. a. abgedruckt in: Umweltblätter vom 15.12.1987, S. 19–21. Siehe aber auch einige Monate zuvor Wolfgang Templin: Kraftmeierei. Zum »Stern«-Interview mit Kurt Hager, SED-Chefideologe, nachgedruckt im »Neuen Deutschland«, in: taz vom 21.4.1987; zuvor Wolfgang Templin: Genosse Gorbatschow sorgt für Bewegung, in: taz vom 10.2.1987.
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sogar. 17 […] Großes Interview, das haben sie gleich am Abend sogar im RIAS zitiert. Te[mplin]: Das ist natürlich gut. Hm. Ja[hn]: Und na ja, es kam ganz gut. […] Es war auch nicht so vordergründig politisch […] und kommt schon ganz gut. Na ja, gut, was soll’s. Was mir noch anderes einfällt, bisher ist für den letzten Montag 18 […] bin ich da unzufrieden. […] Es gab ein paar Leute, die alle was angedeutet hatten. Te[mplin]: Ja und? Ja[hn]: Ich hab’ aber bis jetzt noch nichts gekriegt. Te[mplin]: Ist natürlich Scheiße. Ja[hn]: Du hast nichts auf Lager? Te[mplin]: Nee, ich habe [mich] auch nur, nur gedrückt praktisch. Ja[hn]: Hm, aber du hast aber paar Leute angesprochen? Te[mplin]: Ja sicher, hm. Ja[hn]: Ja, also wenn da was nicht hinhaut, was wichtig wäre, noch mal »Junge Welt«.19 […] Und da gibt es zwei Varianten, einmal dass man die »Reue« noch mal angreift – 20 17 Wi(e)der Stehen. Von den DDR-Organen zum Staatsfeind erklärt: Stephan Krawczyk, Liedermacher mit Berufsverbot. Ein Interview, in: taz vom 21.12.1987, S. 11–12. 18 Gemeint ist der 28.12.1987, der letzte Montag im Monat, an dem eine neue Ausgabe von »Radio Glasnost – außer Kontrolle« ausgestrahlt werden sollte. 19 Am 17.10.1987 überfielen mehrere Dutzend Skinheads – darunter 5 oder 6 Westberliner – Besucher eines Punk-Konzerts in der Ostberliner Zionskirche. Dort spielten »Die Firma«, eine Punkband aus Ost-Berlin, und die noch englisch singende Band »Element of Crime« aus West-Berlin. Die Skins prügelten wahllos auf Besucher und Passanten ein, riefen neofaschistische und antisemitische Parolen. Weil sich die Westberliner Band illegal an dem Konzert beteiligt hatte, berichteten westliche Medien von diesem Überfall, sodass auch die DDR-Medien ihn nicht übergehen konnten. Als im ersten Prozess 4 Angeklagte Freiheitsstrafen zwischen 14 und 24 Monaten erhielten, entfachte dies einen Sturm der Entrüstung – wegen der angeblich zu nachsichtigen Urteile. In zweiter Instanz wurden die Urteile revidiert (18 Monate bis 4 Jahre). Der Chefredakteur der »Jungen Welt«, HansDieter Schütt, veröffentlichte unter der Überschrift »Warum freue ich mich über den Protest gegen ein Gerichtsurteil« (Junge Welt vom 12./13.12.1987) einen Kommentar, in dem er neofaschistische Schläger, nichtkonforme Literaten und oppositionelle »Mahnwächter« auf eine kriminelle Stufe stellte und für alle das strafrechtliche Höchstmaß forderte. Gegen diesen Beitrag erhob sich ein Proteststurm, der sich in zahlreichen Leserbriefen niederschlug. Schütt übergab die meisten dem MfS (z. B. BStU, MfS, HA XX 10510). Vera Wollenberger (Lengsfeld) zeigte Schütt an (taz vom 6.1.1988) und schrieb ihm einen Offenen Brief, in dem sie Schütt zum Rücktritt aufforderte (abgedruckt in: Umweltblätter vom 15.12.1987, S. 17–18). Mehrere Oppositionsgruppen wandten sich am 16.12.1987 an den FDJZentralrat und verlangten eine öffentliche Entschuldigung von Schütt (abgedruckt: ebenda, S. 18–19). Am 20.1.1988 kam es überdies zu einer Aussprache zwischen Pfarrer Hans Simon und dem 1. stellv. Chefredakteur der »Jungen Welt« (Redaktion Junge Welt, Gespräch mit Pfarrer Simon … am 20.1.1988, 15.00–16.00 Uhr, in der Redaktion Junge Welt, 21.1.1988. BArch DY 30, IV 2/2039/277, Bl. 58–62. Schütt selbst hat zu dem Vorgang in einer bemerkenswerten Autobiografie selbstkritisch Stellung bezogen. Vgl. Hans-Dieter Schütt: Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR. Berlin 2009. Zu diesem Buch siehe Ilko-Sascha Kowalczuk: Er hat verstanden. Die erstaunliche Autobiografie des ehemaligen »Junge Welt«-Chefs Hans-Dieter Schütt, in: Der Tagesspiegel vom 2.11.2009, S. 7.
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Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: – angreift, oder dass man […] die Geschichte da von Vera [Wollenberger] noch mal bzw. also was alle da Leute dazu gemacht haben, ja? 21 […] Das wäre vielleicht ganz gut. Fänd ich nicht schlecht, wenn da noch mal jemand –. Und dann eure Geschichte vom 10. [Dezember], die ist ja auch noch nicht abgehandelt, ja? 22 […] Ich meine, wenn da nichts mehr drinne ist, können wir immer noch mal telefonieren. […] Als Notbehelf, ja? Te[mplin]: Ja ja, das wäre dann, wenn’s anders ginge, wäre es sicher besser. […] Ja[hn]: Kannst mal sehen, vielleicht kannst du dir noch was einfallen lassen. […] Denn ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass zwei Leute halt ein Gespräch machen, einfach […] aber locker flockig. Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Weißt du, dass man sich einfach mal verständigt, was war denn da abgelaufen […] ne, beziehungsweise einfach noch mal einen kurzen Kommentar, vielleicht alles, […] hast du da auch eine Möglichkeit. […] Also, ich könnte mir –. Also in dem Sinne brauchen wir dann auch kein Gespräch machen, sondern in zwei Minuten so’n paar Kerngedanken zusammengefasst […] was das Ganze nun sollte oder so, weißt du. […] Du weißt ja, wie ich es meine? […] Das wäre noch als Möglichkeit. […] Überleg mal noch. Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Wäre schade, wenn das so hinten runter fallen würde, ja. […] 20 Am 13.10.1987 sendeten das sowjetische Staatsfernsehen und das ZDF erstmals (zeitversetzt) ein gemeinsames Programm aus. Zum Abschluss der gemeinsamen Sendung strahlte das ZDF einen bis 1986 in der Sowjetunion verbotenen Spielfilm aus: »Die Reue« des georgischen Filmemachers Tengis Abuladse (1924–1994) rechnet in Form einer Tragikomödie kompromisslos mit dem Kommunismus und dem Totalitarismus jedweder Spielart ab. Es kam anschließend in der DDR zu so heftigen Debatten, dass sich »Junge Welt«-Chefredakteur Hans-Dieter Schütt und Harald Wessel, stellv. »ND«-Chefredakteur, genötigt sahen zu reagieren (vgl. Hans-Dieter Schütt: Kunst und Geschichtsbewusstsein. Gedanken zu einem Film, in: Junge Welt vom 28.10.1987; Harald Wessel: Wie die Geschichte befragen?, in: Neues Deutschland vom 31.10/1.11.1987). Krenz und Honecker hatten diese Artikel persönlich zum Druck freigegeben. Die offiziell-harsche Kritik an der »Reue« demonstrierte neuerlich, dass die SED-Führung Perestroika und Glasnost rundherum ablehnte. Wegen dieser beiden Artikel sind ebenfalls zahlreiche Leser- und Protestbriefe geschrieben worden, darunter kein einziger – wie das MfS später festhielt – der diese Polemik begrüßt oder unterstützt hätte, sondern nur ablehnende Briefe. 21 Vera Wollenberger hatte wie viele andere einen Protestbrief an Schütt geschrieben wegen des Beitrages »Warum freue ich mich über den Protest gegen ein Gerichtsurteil« (Junge Welt vom 12./13.12.1987) (siehe Anm. 19). 22 Am Nachmittag des 10.12.1987 – dem Internationalen Tag der Menschenrechte – wurden Ulrike Poppe, Martin Böttger, Peter Grimm, Gerd Poppe, Sinico Schönfeld (IM des MfS), Wolfgang Templin, Werner Fischer und Ralf Hirsch vom MfS festgenommen. Die Männer wurden bis zum Abend des 11.11. festgehalten und mehreren Verhören unterzogen. Das MfS verhinderte mit dieser Aktion, dass einzelne Mitglieder der IFM vor dem offiziellen DDR-Komitee für Menschenrechte protestieren, eine Erklärung übergeben und am Abend in der Gethsemanekirche an einer Veranstaltung zu Menschenrechten teilnehmen konnten. Siehe dazu auch Dok. 44.
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Te[mplin]: Übrigens kann es sein, dass sich die Namensvetterin hier, unsere Kommentatorin noch mal bei dir meldet, die dann bei dir ist. Weißt du, welche? Ja[hn]: Nee. Te[mplin]: Na, Vera. 23 Ja[hn]: Ach so. […] Dass die sich noch mal meldet? Te[mplin]: Ja, kann sein. […] Ja[hn]: Ich verstehe auch nicht, was du meintest mit, die, die mir ist. Te[mplin]: Na eure, nicht unsere. Hier gibt es doch auch eine. Ja[hn]: Ach die, die, die hier wohnt? Te[mplin]: Ja, die meine ich. Ja[hn]: Dass die sich noch mal meldet? Te[mplin]: Ja ja. Ja[hn]: Das ist ja ganz neu. Te[mplin]: Na ja, nee, ja na warte mal ab. […] Ja[hn]: Gut. gibt es sonst noch was? Im Fernsehen läuft gerade Tarkowskij 24Porträt, sehe ich gerade. 25 Te[mplin]: Bitte, was? Ja[hn]: Über [Andreij] Tarkowskij läuft gerade was im Fernsehen. Te[mplin]: Wer, der Tarkowskij? Ah ja, ich komme gleich. Nee, Lotte sieht gerade diesen Tarkowskij, weißt du. Ja[hn]: Ja ja, ich mein, ich ja auch. Te[mplin]: Ja, Lotte sagt, der Typ ist so ’ne Mischung zwischen mir und Ralfchen [Hirsch]. Er hätte aber im Gegensatz zu uns eine Seele. […] Ja[hn]: Dann gucke ihn dir mal an. Te[mplin]: Okay. Ja[hn]: Die Geschichte mit Moskau, hast du da schon was gehört? 26 Te[mplin]: Ja ja, wir haben ’n paar Sachen rübergekriegt von denen. […] Ja[hn]: Gut, dann ist’s ja klar erstmal. […] Da kann man sich ja noch mal verständigen.
23 Lässt sich nicht eindeutig zuordnen. 24 Andrej A. Tarkowskij (1932–1986), einer der berühmtesten russischen Filmemacher. Seine Filme »Iwans Kindheit« (1962), »Andrej Rubljow« (1966), »Solaris« (1972), »Der Spiegel« (1975) und »Stalker« (1979) konnten nur gegen starken Widerstand der Behörden veröffentlicht werden, erhielten aber, oft gegen den Protest der sowjetischen Vertreter, bei internationalen Filmfestivals Preise. Tarkowskij verließ 1983 die Sowjetunion. Drehte in Italien »Nostalghia« (1983) und starb bereits 1986 in Paris. In der DDR gehörten seine Filme in kritisch eingestellten Milieus zum unbestrittenen Kanon. 25 Im Original: Takowski. In der ARD wurde abends am 22.12.1987 der Dokumentarfilm »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Andrej Tarkowskijs Exil und Tod« von Ebbo Demant ausgestrahlt. 26 Vgl. dazu Dok. Nr. 45.
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Te[mplin]: Wobei, das wird ja laufend weiterzugehen scheinen, in den letzten Tagen kamen immer wieder neue Informationen. Ja[hn]: Ja du, das läuft immer weiter […] ja, bloß, das ist manchmal auch mit den Informationen etwas Zufall, die Leute, die von hier aus das machen […] ja auch dezentral sind […] und da läuft manchmal nebeneinander was und so weiter. […] Einer weiß vom anderen nichts und … man muss dann auch ganz schön aufpassen, dass sich das nicht verstrickt. […] Aber, man sollte ein offenes Auge und offenes Ohr haben […] Und wird man sehen dann. […] Gut, ich werde mal noch’n bissel Rundruf machen … […] Hast du noch was von der »Kirche von unten« gehört? Te[mplin]: Nee, nee, wie das war, weiß ich noch nicht. Ja[hn]: Na, werde ich noch mal hören. Te[mplin]: Die müssen sich irgendwie auf’n Sofa betan haben. Ja[hn]: Was sagst du? Te[mplin]: Auf’n Sofa betan haben. Ja[hn]: Wie? Te[mplin]: Na, die haben wohl in irgend’nem Wohnzimmer zusammengesessen das letzte Mal. Ja[hn]: Nee, ich denke, die haben Erfolg erreicht? 27 Te[mplin]: Bitte? Ja[hn]: Ich denke, die haben einen Erfolg erreicht? Te[mplin]: Ja, weiß ich auch noch nicht, wie und was. Ja[hn]: Na gut, gut falls du noch jemanden sprichst, ja, […] normalerweise bräuchte ich das, was für’n letzten Montag ist, das ist nämlich der 28. schon ja 28 […] das bräuchte ich normalerweise als Weihnachtsgeschenk. Te[mplin]: Auf’n Gabenteller, ja ist klar. […] Ich werd’s dem Weihnachtsmann sagen, ja. Ja[hn]: Sage doch mal allen Bescheid. Te[mplin]: Ja ja. Ja[hn]: Wenn nicht, dann musst du dafür herhalten. Te[mplin]: (Lachen) Ja[hn]: Ja? Te[mplin]: Ja ja, ist gut, ich werde, ich werde mich wahrscheinlich in eine neue Befragung flüchten, oder sonst was. Ja[hn]: Ja? Te[mplin]: Ja ja. Ja[hn]: Ist klar ja? Te[mplin]: Ist klar. 27 Die KvU verhandelte mit der Kirchenleitung um eigene Räume, die sie aber erst Anfang 1989 bekam. 28 Für die nächste Sendung »Radio Glasnost – außer Kontrolle« am 28.12.1987.
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Dokument 48 vom 22. Dezember 1987
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Ja[hn]: Gut, tschüß dann. Te[mplin]: Okay, also mach’s gut. Tschüß. – Ende des Gespräches –
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Dokument 49 Telefongespräch zwischen Roland Jahn und Ralf Hirsch 29. Dezember 1987 1 Von: MfS Quelle: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2, Bl. 163–175 Anmerkung: Das Telefongespräch wurde vom MfS wortgetreu mit allen Füllwörtern verschriftlicht. Es kommt hier gekürzt zum Abdruck. Wurden Kürzungen nicht erklärt, handelt es sich um Streichungen von Interjektionen, Verzögerungslauten, Wiederholungen oder Unverständlichem.
Hi [rsch]: Hirsch. Ja [hn]: Was ist denn, saßt schon in der Badewanne, oder was? Hi[rsch]: Nee, ich habe gerad ein bisschen geschlafen. Ja[hn]: Na ja, na, ich bitte Dich. Hi[rsch]: Ja, muss auch sein. Ja[hn]: Na ja, ja. Hi[rsch]: Bisschen Augenpflege gemacht. Ja[hn]: Ich wollte Dir bloß eine kurze […] kurze Übersicht wollte ich dir bloß geben. […] Heute Abend mach’ ich den »Tagesspiegel« und »Morgenpost«, die Geschichte mit der rumänischen Botschaft. Hi[rsch]: Heute, ja? Ja[hn]: Ja, na weil, die sind gestern nicht erschienen. Hi[rsch]: Ach so, lies mal vor. Ja[hn]: Gestern in der Überregionalen habe ich das noch nicht gesehen, [Frankfurter] »Rundschau« und »FAZ« und so. […] Da war nichts drinne. Aber die westdeutschen Zeitungen, die anderen … mehr drinne … […] Hi[rsch]: Ich höre dich gar nicht mehr. Ja[hn]: Na warte. Hi[rsch]: Ach so. Ja[hn]: … Hi[rsch]: Was? Ja[hn]: Ich such gerade. Hi[rsch]: Ach so, Du unterhältst dich da mit jemanden.
1 Dieses Dokument ist Bestandteil eines Konvoluts von Anlagen, das die DDRGeneralstaatsanwaltschaft der Sektion Kriminalistik an der HUB, Prof. Christian Koristka, für die Anfertigung von phonetischen Gutachten übergab (BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2; siehe Dok. 71 und 72). Das Dokument trägt kein Datum. Das im Original nicht genannte Datum des Telefongesprächs ergibt sich aus dem Gesprächskontext. Siehe Anm. 11.
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Dokument 49 vom 29. Dezember 1987
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Ja[hn]: Verblättert. Ach hier ja Demonstran-Demonstration vor Rumäniens Botschaft in Ost-Berlin verboten – Überschrift im »Tagesspiegel«. 2 Hi[rsch]: Hm. Ja[hn]: Polizei schritt gegen unabhängige Gruppen ein, Berlin DPA/AP. 3 Vor der Botschaft Rumäniens in Ostberlin ist am erst-, ist am ersten Weihnachtstag der Versuch, ist am ersten Weihnachtstag der Versuch einer Gruppe von DDR-Bürgern, ihre Solidarität mit den unter einer schweren Wirtschaftskrise und den politischen Verhältnissen in dem südosteuropäischen Land leidenden Menschen zu bekunden, von Polizisten unterbunden worden. Ein Dutzend 4 Mitglieder unabhängiger Gruppen hatte sich vor dem Botschaftsgebäude im Bezirk Pankow aufgestellt und Kerzen entzündet, die jedoch von einem Polizisten sofort gelöscht wurden. Die jungen Leute, unter ihnen der kritische Liedermacher Stephan Krawczyk, mussten vorübergehend ihre Ausweise [abgeben] und in einiger Entfernung vom Gebäude der Mission warten, konnten nach knapp einer Stunde aber wieder gehen. Zuvor hatte sich ein Mitarbeiter der Botschaft bei DDR-Polizisten nach den Absichten der an der Aktion Beteiligten zu erkundigen versucht und geäußert, wenn diese »etwas vorzutragen« hätten, sei man bereit, »einen von ihnen zu empfangen«. Bei der Rückgabe der Ausweise forderte ein Polizist die Demonstranten auf, sich zu entfernen. Wenn sie »Probleme oder Anliegen« hätten, stünde es ihnen frei, diese in der Botschaft vorzutragen, »aber zu den normalen Geschäftszeiten«. Danach wurden sie von der Polizei fortgeschickt. Bereits vor einer Woche hatten Sicherheitskräfte in Ostberlin eine ähnliche Aktion vor dem Gebäude des offiziellen DDR-Komitees für Menschenrechte unterbunden. Vorher wurden zehn Personen vorübergehend festgenommen. 5 […] Darunter steht 6 dann gleich unter derselben großen Überschrift DDR-Staatssicherheitschef Mielke wurde 80 Jahre. Hi[rsch]: Siehste, wurde er doch 80. Mit irgendeinem hatte ich mich gestritten, der sagte immer, 75 wird der erst. 7 Ja[hn]: Hätteste mal »Neues Deutschland« gelesen gestern. 8 Hi[rsch]: Na sage ich doch, dass der 80 wird. 2 Der Tagesspiegel vom 29.12.1987. 3 Diese DPA-Meldung stammt von Hartmut Jennerjahn, der bei der Aktion vor der Botschaft zugegen war (BStU, MfS, HA XX 397, Bl. 244). 4 Es waren genau 11, darunter Ralf Hirsch, Siegbert Schefke, Stephan Krawczyk (BStU, MfS, HA XX 397, Bl. 244; ebenda, HA XX/9 1652, Bl. 309–311). Ein Demonstrant, Falk Zimmermann, arbeitete als IMB »Reinhard Schumann« (BStU, MfS, BV Berlin, AIM 161/91) seit 1979 für das MfS. 5 Siehe dazu Dok. 44. 6 Gemeint ist ebenfalls die Ausgabe des »Tagesspiegel« vom 29.12.1987. 7 Mielke wurde am 28.12.1907 geboren. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 8 Vgl. Zentralkomitee gratuliert Genossen Erich Mielke, in: Neues Deutschland vom 28.12.1987, S. 1.
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Dokument 49 vom 29. Dezember 1987
Ja[hn]: Na. Hi[rsch]: Na klar, [mit] XXX habe ich mich gestritten, der sagt, [der] wird 75. Der ist doch doof. Ja[hn]: »Frankfurter Rundschau« hat gestern geschrieben gehabt, Erich Mielke wird 80, ja. […] Der erste im Politbüro [ist] jetzt praktisch über 80. Die SEDFührung kommt ins Greisenalter. Hi[rsch]: Ha, ja, ja. Ja[hn]: Dann schrieb er, vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Staatssicherheit am Ende des letzten Jahres die größte Schlappe, eine der größten Schlappen einstecken musste, die es je gab. 9 Hi[rsch]: Hahaha, ist das gemein. Ja[hn]: Denn immerhin hat sich […] die Nacht- und Nebelaktion gegen die Zionsgemeinde als ein Schlag ins Wasser dargestellt. Hi[rsch]: Ja, ist ja fies. Ja[hn]: … schon auf Mielkes Alter, ne. Hi[rsch]: Na ja, diplomatische Kreise hier behaupten ja, dass Zion die Altersablösung von Mielke verhindert hat, weil das sonst so ausgesehen hätte, als wenn sie jetzt einen Buhmann abschieben, weißt du. Ja[hn]: Ach so. Hi[rsch]: Eigentlich sollte Mielke zum 80. abgelöst werden aus normalen Altersgründen. Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Und in den Ruhestand gehen und das würde jetzt nicht gemacht, weil das sonst mit Zion sehr schnell in Verbindung gebracht worden wäre. 10 Ja[hn]: Ja ja. Hi[rsch]: Da kann schon Wahres dran sein. Ja[hn]: Hast du gestern Radio Glasnost gehört? 11 Hi[rsch]: Na schlimm, kann ich dir nur sagen. Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Schlimm. 9 Gemeint sind die Durchsuchung in der Zionsgemeinde, die Festnahme mehrerer Mitarbeiter der UB in der Nacht vom 24. zum 25.11.1987 sowie die Folgen dieser MfS-Aktion. 10 Das ist eine Vermutung, die sich auch heute nicht belegen lässt. 11 Die Sendung »Radio Glasnost – außer Kontrolle« am 28.12.1987 ist von der Moderatorin Ilona Marenbach (geb. 1956, Mitbegründerin von Radio 100, dem ersten privaten Radiosender Berlins) mit den Sätzen begonnen worden: »Ich hoffe ja, dass wir noch ein paar Hörerinnen und Hörer haben und nicht alle zur Geburtstagsfeier von Erich Mielke gegangen sind. Aber vielleicht wird ja auch dort, beim Minister für Staatssicherheit, ›Radio Glasnost‹ gehört.« (Abschrift der Sendung, in: BStU, MfS, ZAIG 22320, Bl. 359.) In der Sendung sind u. a. der Antwortbrief von Hermann Kant an die UB, die Erklärung der IFM zum Tag der Menschenrechte sowie eine Erklärung der UB zu Menschenrechten und Reisefreiheit verlesen worden. Breiten Raum nahmen rechtsextreme Entwicklungen in Ost-Berlin, damit zusammenhängende Prozesse und Proteste ein. Daneben gab es kleinere Nachrichten wie die Proteste gegen den Kommentar von Hans-Dieter Schütt.
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Ja[hn]: Was ist schlimm? Hi[rsch]: Also Radio Glasnost. Ja[hn]: Das ist so gut wie die Leute es machen. Hi[rsch]: Aber wir, habe ich gestern ein paar Leute gehört. Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Und den[en] sind die Schnürsenkel aufgegangen, also wenn wir ihnen, zum Beispiel der zweite Akt, ja. Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Von diesem sogenannten Sozialarbeiter. 12 Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Wenn dann rauskommt, […] die Brutalität bei den Skinheads besteht nur darin, dass sie weiterschlagen, wenn schon einer am Boden liegt. Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Dann gehen Dir die Schnürsenkel auf. Ja[hn]: Ich … Hi[rsch]: Das ist ja nun nicht Skin. Ja[hn]: Zeichnet nur nicht gerade die Skinheads aus oder das macht sie nicht gerade oder prägt sie ja nicht, dass die nur weiterschlagen, wenn einer am Boden liegt. […] Nee, ich denke, dass das vom Analytischen her, das Gespräch nicht gut war. Hi[rsch]: Das war schlimm! Ja[hn]: Bloß das Problem ist halt, ich kann nicht von mir aus dann einen Analysetext machen, der was anderes bietet. Hi[rsch]: Das Einzige, was mir gefallen hat, da so, und das war wirklich das Einzige, die kurze Dame mit dem Herrn zusammen. Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Kurz davor die Dame mit dem Herrn. Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Ja, das war gut und sachlich. Ja[hn]: Der Bericht? Hi[rsch]: Was? Ja[hn]: Der Bericht davon? Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Ja, nee, die Dokumentation der anderen Sachen vorher ging ja gut, die Auszüge usw. Hi[rsch]: Ja, ja. Nee, ach so, und das ist auch noch eine Sauerei, wenn ihr schon einen Brief verlest, ja und sagt, das sollte da abgegeben werden, da könnt ihr den, kann man den nicht einfach kürzen. 13 12 Der Beitrag war in der DDR illegal produziert worden. Der Sozialarbeiter ging u. a. auf die gesellschaftlichen Ursachen für Rechtsextremismus und deren öffentlich sichtbare Erscheinungsbilder ein.
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Dokument 49 vom 29. Dezember 1987
Ja[hn]: Ja, pass mal auf, selbstverständlich kann der gekürzt werden, bloß es muss dazu gesagt werden: Auszüge. Hi[rsch]: Ja, ja, wurde aber nicht. Ja[hn]: Ja, ja, das ist, ist ein internes Problem. Hi[rsch]: Also das ist natürlich schwach, wenn dann nur die Hälfte kommt und der andere Teil, auf die das ja auch wichtig war, und uns ankam. Ja[hn]: Nee, Du, das ist natürlich vollkommen möglich, dass man sagt Auszüge – Auszüge. Hi[rsch]: Ja, dann muss man das aber sagen. Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Da muss man das aber sagen. Ja[hn]: Nee, da muss man’s sagen, ist vollkommen richtig. Hi[rsch]: Und kann nicht den Brief so hinstellen, als wenn das der Brief war und der war somit also auch schwach. Ja[hn]: Äh, ja, nee kannst Du nicht sagen, also kam schon was rüber, ja, was [da] weggelassen worden ist, ist im Prinzip nur die Rumäniengeschichte gewesen. Hi[rsch]: Auf die kam es uns ja auch mit an. Ja[hn]: … und das hätte noch erwähnt werden können usw. Hi[rsch]: Oder man hätte sagen müssen, dass man ihn kürzt. Ja[hn]: Nee, es hätte nur ein Wort, auch bei dem anderen Brief war es ja genauso. […] Nur die Hinweise, dass es Auszüge sind. Hi[rsch]: So ist es. Ja[hn]: Ja, und, und das Problem bestand darin, ich habe diesmal die Moderation nicht noch mal durchgelesen. […] Verstehst Du, sonst achte ich auf so was, bloß man kann nicht alles machen, das ist das Problem. Hi[rsch]: Aber wenn sie nur sagten typisch alternative Szene. Nichts stimmt, nichts ist richtig … oberflächlich, bis zum Gehtnichtmehr. So war es ein Eindruck von vielen. Also, ich habe es mit ungefähr zehn Leuten zusammen gehört, Stephan [Krawczyk] war auch noch dabei. Ja[hn]: Ja, falls Du das zweite, Du das zweite also ab da, wo die Dokumente, also ab da, wo es im Prinzip um die Skinheadsachen ging, ja. […] Das liegt dann daran wie es gemacht wird. Ich habe auch andere Ansprüche an den Rundfunk, verstehst Du, ja. Hi[rsch]: Ja, dann kann man aber so etwas nicht senden, das war ja unter aller Gürtellinie. Also wirklich Roland. Als Hörer, der hier in diesem Land lebt und vielleicht ein bisschen engagiert ist oder ein bisschen was mitverfolgt, dann war das Letzte also dieses Inter … die Sozialarbeiter schlimm. Ja[hn]: Das ist. Hi[rsch]: Da kam also nichts rüber. 13
Der Brief der IFM ist nur auszugsweise verlesen worden.
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Dokument 49 vom 29. Dezember 1987
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Ja[hn]: Das ist, es waren schon ein paar Punkte daran schon interessant, ja. Bloß, es ist bewusst jetzt, sage [ich] mal, nicht zensiert worden ja, ja. […] Es hätte ganz einfach, ganz einfach hätte es gestrichen werden können, verstehst Du, ja. Es hätte durchaus gemacht werden können, ja. Hi[rsch]: Na ja, ist besser als die Sache so lapidar hinzuknallen, weißt Du. Ja[hn]: Gut, das ist einfach gesagt, bloß es geht ja um mehr. Es geht um die Stimulierung dazu, dass Leute was machen, verstehst Du? Und, und deswegen toleriere ich, dass nicht alles perfekt ist. Das natürlich dabei die Gefahr ist, dass da die Verflachung praktisch überhand nimmt, ja das ist schon klar. Hi[rsch]: Also, ich kenn mindestens fünf, die Glasnost nicht mehr einschalten werden und sich die Zeit anders vertreiben werden [in der] nächsten Zeit bis sie wie[der] besser wird. Ja[hn]: Du … was ich, was mein Satz, den ich immer gesagt habe, Kritik bitte nur aktiv, verstehst Du ja und, und das ist der Haken eigentlich, verstehst Du, das wird so gut sein, wie es die Leute machen, ja und daran hängt’s, verstehst Du. Es ist mir ein Leichtes, Dir Beiträge zusammenzustellen, die auch wirklich Ansprüchen genügen, die auch für die Hörer interessant sind. Es ist mir wirklich ein Leichtes hier. Ja, da gibt es genügend Leute, ob ich es selbst mache, oder ob ich Leuten die Information gebe, die es dann zusammenstellen, dann wird es auch gut werden, verstehst Du, ja und dann hat es auch professionellen Anspruch, auch wie, als ob es auf einem anderen Sender kommt, ja. Bloß es ging ja mehr darum, dass Leute selbstständig was machen, ja und, und dass es natürlich noch dann Entwicklungsschwierigkeiten hat, das ist doch klar. Das hast Du doch auch bei den Zeitschriften gesehen. Hi[rsch]: Na dann sollen sie doch lieber was vorlesen, als, also das, das Letzte fand ich verheerend als das … Ja[hn]: Es war, es war. Hi[rsch]: Skinhead ist ja gar kein Problem … würden sie nicht weiterprügeln, wenn die Leute nicht schon am Boden liegen. Ja[hn]: Dann sage das, sage das bitte den Kollegen. Hi[rsch]: Das war die … das sage ich ihnen auch, also das war wirklich schlimm. Ja[hn]: Sage es bitte den Kollegen und sag’s nicht mir. Hi[rsch]: Das war, so etwas kann man einfach nicht bringen. Ja[hn]: Verstehst Du, ich greife in dem Moment auf ein Angebot zurück und natürlich hätte ich denn am Ende noch sagen können, nee, es fliegt raus, ja. […] Das hätte ich noch sagen können, ja, bloß das ist, es ist wirklich ein Punkt gewesen, wo ich gesagt habe, gut es ist einfach ’ne Sache, da haben sich welche Mühe gegeben, die haben’s gemacht, auch wenn da ich rein vom Journalistischen her unzufrieden bin, verstehst Du mich? […] Ja, es ist genauso wie wenn Du jetzt in der Redaktion von der Zeitung bist und sagst, na ja eigentlich der Artikel, das Richtige bringen sie nicht, aber wir nehmen den jetzt mal
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mit rein, damit es als ein Gesichtspunkt ist oder so, weißt Du. […] Und nicht von vornherein rausschmeißt, ja. Hi[rsch]: Na ja, da hätte man das ja was die Dame, ich will jetzt den Namen nicht sagen, noch stehen lassen sollen, das fand ich ganz sachlich und gut. Ja[hn]: Na ja, der Bericht, der Bericht und auch der erste Kommentar. Hi[rsch]: Hätte man stehen lassen sollen. Ja[hn]: Den hätte man stehen lassen sollen. Hi[rsch]: Und dann … was Neues. Ja[hn]: Diese Hintergründe und so hätte man rausschmeißen müssen. Hi[rsch]: Da war nichts an Hintergrund. […] Das war nur Geschwafel. Wir haben’s […] ja mitgeschnitten und uns noch mal angehört. Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Das war, also das war nur Geschwafel. Ja[hn]: Dann sage das bitte den Kollegen und nicht mir. Hi[rsch]: Sage ich Ihnen auch. Also ich bin richtig enttäuscht. […] Denn soll er sich lieber hinsetzen und was Schriftliches machen. […] Und es ablesen, als da so rumzueiern. Ja[hn]: Es ist natürlich schon klar, dass im Rundfunkhaus eine Form gewählt werden muss, die nicht nur immer nur mit [Vor]lesen von Pamphlet[en] geht, verstehst Du. Ich habe noch ein paar Pamphlete hier gehabt, die hätte ich auch verlesen lassen können, ja, bloß das, das wäre nicht gut gewesen. Hi[rsch]: Aber Du, das ist doch was anderes, als wenn du zu bestimmten aktuellen Sachen ein Kurzinterview machst, also per Telefon oder was, oder dann eine Analyse geben willst, das wird doch, ist doch ein riesen Unterschied. Das muss doch dann aber sitzen, oder gar nicht. Ja[hn]: Nee, man kann mit einem lebendigen Gespräch, da kann auch genau was anderes rüberkommen, da kann nämlich auch einiges rüberkommen, was, was bestimmte Wurzeln oder Ursachen mit darstellt, verstehst Du. Hi[rsch]: Na ja, da ist aber nichts außer »wa« und »verstehst Du« ist gar nichts rübergekommen. Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Es war wirklich schwach. Ja[hn]: Na dann sag’ das den Leuten. Hi[rsch]: Sag ich ja, ich mach’ Dir ja keinen Vorwurf. Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Du hast mich gefragt, wie ich es fand. Ja[hn]: Ja, ist richtig, ist richtig und mein Hauptargument, das kannst du allen sagen, Kritik muss aktiv gemacht werden, wenn mehrere Angebote da sind, wird immer das Beste ausgewählt, ja. Und wenn nur ein Angebot da ist, dann wird halt darauf zurückgegriffen. […] Ja, und ich achte schon drauf, dass es nicht zu einseitig wird, dass es nicht das Sprachrohr von einzelnen Leuten und einzelnen Gruppierungen wird, sondern dass eigentlich so ein bisschen die
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Breite dessen, was da ist, eigentlich reinkommt, ja. […] Du, ich hätte, ich hätte auch gerne noch, hätte diesmal die, die, die neue Platte von Stephan [Krawczyk] vorgestellt oder was, weißt du. 14 […] Bloß, da habe ich mir gesagt, der, der Stephan [Krawczyk] kommt ständig in anderen Medien zu Wort, da ist es nicht so schlimm, ja. […] Würde er ja auch so einsehen, das wahrscheinlich. Hi[rsch]: Deswegen rufen wir sowieso noch mal an, wenn Du kannst, wir haben gestern lange, über eine bestimmte Sache lange gesprochen. […] Wird er Dir ja selber mal sagen. Ja[hn]: Ja, ich weiß nicht, was eine bestimmte Sache ist. Hi[rsch]: Na, wird er dir selber sagen. Ich will da nicht vorgreifen. Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Es ist nichts Schlimmes oder so, ist ja nur, dass wir uns mal ein bisschen überlegt haben für, für längere Zeit, weißt Du. Ja[hn]: Ach so für, ja ich dachte schon, es gibt eine Kritik an mich. Hi[rsch]: Nee, nee, nee, na ja, im Prinzip geht es darum, dass man denkt, es müsste mal ein bisschen Ruhepause sein mit dem Rundfunk und Fernsehen und so. Ja[hn]: Es ist schon klar. Hi[rsch]: Weil sich das sonst schnell ganz toll totläuft, wa. Ja[hn]: Du, das brauchst Du mir nicht zu erzählen. Hi[rsch]: Und die ersten Ermüdungserscheinungen gibt es hier schon bei Leuten, die sagen, ach der schon wieder, wie ich den Tag reagiert habe.15 Ja[hn]: Ja, Du, es ist, es ist aber, es ist dann manchmal nicht mehr haltbar, verstehst Du? Hi[rsch]: Ja, ja … was in Zeitungen oder so läuft, kann man ja laufen lassen, bloß dass man das nicht noch antreibt, weißt Du. Ja[hn]: Nein, sag’ mal, es ist so, ich habe so für mich ein Limit gesetzt. […] Und das ist eigentlich Mitte Januar. […] Und dann wird von meiner Seite aus nichts mehr gemacht. 16 […] Das ist, das ist einfach, knallhart gesagt, ist es noch notwendig, es geht noch um Plattenverkauf. […] Das muss ich dir so knallhart sagen. Hi[rsch]: Ja, ja, ist mir ja auch irgendwie klar. Ja[hn]: Und, und das ist jetzt erst angelaufen. Die Händler. […] Die orientieren sich erstmal danach. […] Die Händler bestellen danach, verstehst Du? […] 14 Gemeint ist die LP »Wieder Stehen«, Krawczyks erste Solo-Platte, die 1987 im Westen herauskam. 15 Das ließ sich nicht sinnvoll aufschlüsseln. Eventuell hatte Ralf Hirsch mit »Ermüdungserscheinungen« auf häufige Meldungen über Stephan Krawczyk reagiert. 16 Damit war die Promotion für Krawczyks erwähnte LP gemeint. Roland Jahn hat nicht nur seine Medienkontakte dafür eingesetzt, sondern auch erhebliche finanzielle Mittel eingebracht, damit die LP produziert werden konnte und auch in die Läden kam.
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Und, und in dem Sinne ist das noch ganz positiv. Was, was natürlich schon jetzt sein muss, dass Stephan [Krawczyk] z. B. sich nicht in jede Sache reinhängen sollte, verstehst Du, deswegen habe ich vorhin etwas lächelnd hier bei dem Vorlesen unter ihnen auch vom Liedermacher Stephan Krawczyk ... Hi[rsch]: Ja, ja. Ja[hn]: Also, da muss er aufpassen. Hi[rsch]: Ja, ja, war gestern auf Tour gesprochen. Ja[hn]: Verstehst Du, es ist gut, dass er sich dazu bekennt. […] Bloß es gibt manchmal politisch-taktische Notwendigkeit. […] Ja, und bei solchen Sachen, da sollte er sich raushalten, weil da wird natürlich auch immer, wenn Leute mitkriegen, er ist dabei gewesen, sein Name rausgegriffen. […] Ja, und das kriegt auch so einen inflationären 17 Charakter. […] Ja, während, wenn jetzt mit einer Art Porträt die Platte vorgestellt wird, das ist eine Sache, die ist erst einmal notwendig, sonst läuft das Ding nicht, ja. […] Und, und dass das Ding läuft, das ist aus vielerlei Gründen wichtig, verstehst Du. Hi[rsch]: Ja, ja, ist ja logisch, hm. Ja[hn]: Ja. Es müssen ja erst mal die Produktionskosten reinkommen. […] Hi[rsch]: Habt ihr denn schon was verkauft? Ja[hn]: Ja, in manchen Läden ist sie schon ausverkauft, aber dann, dann läuft dann die zweite Variante, die zweite Phase erst dann mal an. […] Verstehst Du, die ersten Bestellungen. Hi[rsch]: Die hast Du alle aufgekauft! (Lachen) Ja[hn]: Um den Verkauf kann ich mich nicht noch kümmern. Hi[rsch]: Sei ehrlich, bist überall, hast die Platten aufgekauft. Ja[hn]: Nee, nee, aber andere Leute, die haben fleißig gekauft, aber teilweise haben sie keine mehr gekriegt, weil sie, die gehen da vorsichtig ran, die Händler, verstehst Du. […] Die kaufen da 20 Stück in einem Laden. […] Ne, oder größere Läden fangen mit 50 an. […] Das ist dann schon viel, ja. Hi[rsch]: Na ja klar, muss man erst mal sehen, wie es, wie es läuft, wa. Ja[hn]: Wie es läuft und wenn die ersten 20 weg sind, dann bestellen sie das nächste Mal 40. […] So geht das immer weiter. […] Ne, und in der Hinsicht ist das schon wichtig, dass da was kommt. […] Immer noch, ja, aber das ist bis Mitte Januar und dann ist nämlich auch der Informationswert weg und da verflacht das sonst … Hi[rsch]: So ist es. Ja[hn]: Da, wenn da selbstständig was läuft, ist das was anderes, ne. […] Aber das ist, das ist gut, dass es mir mehr bewusst [ist] als manch anderen, dass es Ruhezeit bedarf. […] Ich denke, dass es für ihn persönlich Ruhezeit bedarf, um mal einen Monat aus allem Mist heraus zu sein. 17 Im Original der Abschrift war zunächst ein Platzhalter eingefügt und dann mit dem Begriff »platzionären« aufgefüllt worden – was die Schwierigkeiten beim Abhören verdeutlicht.
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Hi[rsch]: Das kommt dazu, ja. Ja[hn]: Um mal zurückzuziehen und so. […] Ansonsten kannst’e dich ganz schnell verfransen in diesem politischen Alltag. […] Und es gibt immer was, ja, auch wenn das Gefühl da ist, unter Druck am besten schreiben zu können. […] Kann man nicht in jedem Fall so sehen. […] Na ja, so ist das, kauf dir mal die Prawda von gestern. 18 Hi[rsch]: Gibt es doch hier gar nicht, oder kaum. Ja[hn]: Vom Sonntag. Hi[rsch]: Was stand denn da drinne? Ja[hn]: Da wenden sie sich gegen Bürgerinitiativen. Hi[rsch]: Aha. Ja[hn]: Die im Moment für die Oppositionsparteien und freie Gewerkschaften antreten. Hi[rsch]: Ach so, das habe ich schon gehört, ja. Ja[hn]: Also, das ist dann schon mal ein klares Bekenntnis, ne. Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Das Diktat der Partei. […] Und dann machen sie das ganz geschickt, ja, sagen das dann, es wird keine Liberalisierung nach westlichem Muster bringen. […] Als ob es nicht noch andere Möglichkeiten gibt. Hi[rsch]: So ist es, sie denken immer nur einseitig. Ja[hn]: Nee das, nee, das ist bewusst eingesetzt, verstehst Du? Hi[rsch]: Ja, ja, natürlich. Ja[hn]: Bewusst eingesetzt, damit gerade Leute, die eigentlich ganz was anderes wollen, damit irgendwo denunziert werden können. […] Ob sie in eine westliche Gesellschaft wollen. […] Nach der Art der westlichen Gesellschaft, um, um somit auch im Lande selbst besser argumentieren zu können. […] Ist das Schlimme. Hi[rsch]: Läuft denn heute Abend was? Ja[hn]: Das ist noch nicht sicher, aber voraussichtlich in der Abendschau. Hi[rsch]: In der Abendschau – hm, na ich habe noch ein paar Minuten, habe ich noch offen. 19 Ja[hn]: Ja, na, ich muss mal zusehen, ob Du was kriegst.20 18 Richtig hätte es heißen müssen: »von vorgestern«. Vgl. den Leitartikel: Демократия и инициатива, in: Prawda vom 27.12.1987. Hier wurde die Zahl der »Initiativen von unten« (Bürgerinitiativen) in der UdSSR mit 30 000 angegeben. Zugleich wurde kritisiert, dass die Gefahr bestünde, diese würden unterwandert und dann nicht mehr den Zielen der kommunistischen Erneuerung, sondern der Überwindung des bestehenden Systems dienen. Zu den Hintergründen vgl. Olga Alexandrova: Informelle Gruppen und Perestrojka in der Sowjetunion: Eine Bestandsaufnahme. (Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien; 18/1988) Köln 1988. 19 Damit waren Aufnahmekapazitäten auf Videokassetten, die es in der DDR offiziell nicht gab und die Ralf Hirsch aus West-Berlin zumeist über Roland Jahn bezog, gemeint. 20 Er meinte neue Videokassetten.
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Hi[rsch]: Ein paar kann ich noch, das kann ich noch aufnehmen, glaube ich, wird noch reichen. Ja[hn]: Irgendwas löschen. […] Du musst ein bisschen was löschen. Hi[rsch]: Ach, dann schlagen mich andere wieder, was? Ja[hn]: Ich muss jetzt los, ja. Hi[rsch]: Ja, Okay. Ja[hn]: Tschüß, dann erst mal. Hi[rsch]: Alles klar. Tschüß! – Ende des Gespräches –
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Dokument 50 Konzeptionelle Vorstellungen zur weiteren Gestaltung der Vorgehensweise feindlich-negativer DDR-Bürger im Zusammenwirken mit äußeren Feinden (Originaltitel) 30. Dezember 1987 1 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 8, Bl. 78–91
Durch den zielgerichteten Einsatz inoffizieller Quellen wurden konzeptionelle Vorstellungen zur weiteren Gestaltung der Vorgehensweise feindlich-negativer DDR-Bürger im Zusammenwirken mit äußeren Feinden bekannt. Diese Vorstellungen wurden auf der Grundlage einer relativ umfassenden Analyse der bisherigen Entwicklungen der gegen die DDR gerichteten Tätigkeit feindlich-negativer Kreise in der DDR, insbesondere in der Hauptstadt, entwickelt. Diese Vorstellungen gehen auf Überlegungen zurück, die der ehemalige DDR-Bürger Jahn, Roland und der feindlich-negative DDR-Bürger Brückner, Reinhard 2 im Rahmen eines umfassenden Dialoges 3 entwickelten. Auffallend erscheint dabei, dass Jahn o. g. DDR-Bürger offenbar als echten Kontaktpartner betrachtet und ihm gegenüber in seiner Argumentation keinerlei Dogmatismus erkennen lässt. Im Gegenteil, Jahn liegt offensichtlich sehr viel daran, im Dialog mit Schult zu übereinstimmenden Auffassungen zu gelangen, wobei er (wider seinen sonstigen Gewohnheiten) auch bereit ist, ganz oder zumindest teilweise von seinen ursprünglichen Positionen abzuweichen. Konkret wurden aus dem Dialog zwischen Jahn und Schult zu folgenden Problemen und Sachverhalten operative Ansatzpunkte herausgearbeitet: 1. Weitere Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen inneren und äußeren Feinden und zwischen den einzelnen Gruppen in der DDR sowie deren strategischen Vorgehen. 2. Personelle Verantwortlichkeiten in verschiedenen Gruppierungen feindlichnegativer Kräfte in der DDR sowie die Einschätzung deren Wirksamkeit durch Jahn und Schult. 3. Einschätzungen und Meinungen zu den Ereignissen in der jüngsten Vergangenheit durch Jahn und Schult. 1 Zur Datierung des Telefonats siehe Anm. 5, das Datum bezieht sich hier auf den Tag der vom MfS angefertigten Verschriftlichung. 2 Es handelt sich um Reinhard Schult. Er telefonierte vom Apparat seiner Mutter aus, die nach einer Heirat mit Nachnamen Brückner hieß. Nachfolgend wird »Brückner« durch »Schult« ersetzt. 3 Damit ist konkret ein Telefongespräch gemeint.
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4. Hinweise zu persönlichen Problemen Jahns. Die zu diesen Punkten erarbeiteten Hinweise stellen sich im Detail wie folgt dar: 1. Weitere Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen inneren und äußeren Feinden sowie zwischen den einzelnen Gruppen sowie deren strategischen Vorgehen Schult zerstreute Jahns Befürchtungen, dass wegen der Vorgänge um die »Umweltbibliothek« 4 die Herstellung und Verbreitung der feindlich-negativen Druckerzeugnisse, wie »Gegenstimmen«, »Friedrichsfelder Feuermelder« und andere, eingestellt werden könnten. Nach Darstellung Schults werde auf diesem Gebiet die bisherige Arbeit in vollem Umfang weitergeführt. Er selbst sei gegenwärtig damit beschäftigt, dass die nächste Ausgabe des »Feuermelder« noch vor Ende des Jahres 1987 fertiggestellt ist und in Umlauf gebracht werden kann. 5 Auf ausdrückliche Bitte Jahns sicherte Schult zu, dass der ehemalige DDR-Bürger jeweils ein Exemplar dieser Druckerzeugnisse erhält. Dafür werde sich Schult persönlich einsetzen. Jahn seinerseits sicherte zu, dass Schult als Person in den Verteiler der sogenannten »dialog-Hefte« aufgenommen wird. 6 Obwohl Jahn, der maßgeblich an der Gestaltung dieser »dialog-Hefte« beteiligt ist, diese regelmäßig in die DDR verbringen lässt, erhält Schult diese nicht. Da Jahn jedoch die Auffassung Schults teilt, diese Hefte für die Gestaltung des »Feuermelders« unbedingt zu brauchen, stimmte er o. g. Verfahrensweise sofort zu. Darüber hinaus will Jahn den Vorschlag Schults, die Verteilung der in die DDR verbrachten Druckerzeugnisse generell neu zu überdenken und Veränderungen vorzunehmen, überprüfen und eventuelle Veränderungen in seine Überlegungen einbeziehen. Zu dieser Problematik führten Jahn und Schult folgenden Dialog:
4 Gemeint sind die Durchsuchung in der Zionsgemeinde, die Festnahme mehrerer Mitarbeiter der UB in der Nacht vom 24. zum 25.11.1987 sowie die Folgen dieser MfS-Aktion. 5 Noch im Dezember 1987 erschien die angesprochene Ausgabe. Dies deutet darauf hin, dass dieses Telefongespräch deutlich vor dem auf dem Dokument angegebenen Datum 30.12.1987 stattfand, wahrscheinlich einige Tage vor Weihnachten. In der Dezember-Ausgabe ist u. a. auf den MfSÜberfall auf die UB eingegangen worden, außerdem kam der Offene Brief von Freya Klier und Stephan Krawczyk an Kurt Hager zum Abdruck. 6 Jürgen Fuchs und Roland Jahn haben von 1985 bis 1989 die Text- und Lektüresammlung »dialog« für ihre Freunde in der DDR zusammengestellt, in denen sie von Zeitungsartikeln über Kopien aus Büchern bis hin zu unveröffentlichten Manuskripten Beiträge vereinten, die ihrer Meinung nach wichtig für grenzüberschreitende Diskussionsprozesse seien. Die Exemplare wurden von Politikern oder Journalisten in die DDR geschmuggelt. Insgesamt stellten sie 65 Ausgaben zusammen. Vollständig überliefert sind die Ausgaben im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin.
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Legende: – Schult + Jahn – »Die Verteilung ist ein bisschen ungünstig, weil das bei uns ja auch wieder über eine Extrageschichte läuft. Ich bin ja nicht automatisch an der ›Umweltbibliothek‹ mit dran. + Ja. Ist klar! Ich werde mal zusehen, dass Du das regelmäßig und sicher kriegst! – Das wäre mir schon ganz lieb. Auch von der Zeitung 7 ist im Prinzip nichts gekommen. Also ab September ist da Feierabend. + Ich hatte eigentlich erwartet, dass das automatisch geht, aber wenn das so nicht möglich ist, dann eben anders. – Ja, das läuft nicht, das klemmt irgendwo an irgendwelchen Ecken. Das sind dann auch immer verschiedene Gruppen und Kreise, die da mit dranne hängen und dazu ist es irgendwie zu wenig, habe ich das Gefühl, weil ja auch ein Teil in die Provinz geht und so. + Nein, nein! Es ist wichtig, dass ein paar Leute ein paar Sachen immer haben. Und gerade die Leute, die miteinander nicht so können, dass die auch unterschiedlich das Zeug haben. Also von der Stückzahl her müsste es eigentlich reichen. Ich werde mich darum kümmern, ich sehe mal zu.« Darüber hinaus wies Schult darauf hin, dass er mit der Gestaltung der Sendereihe »Radio Glasnost – außer Kontrolle« nicht in vollem Umfang einverstanden ist. Vor allem aus der Sicht, dass die in dieser Sendung zu Wort kommenden Personen in vollem Umfang das vorhandene Spektrum der Gruppierungen, deren teilweise konträren Auffassungen zum Ausdruck bringen. Gerade dies wäre aber eine Möglichkeit, einen breiteren Hörerkreis anzusprechen und die einzelnen Gruppierungen auf diese Weise einander näherzubringen. Jahn reagierte auf diesen Hinweis unsicher und ausweichend. Er zog sich auf die Position zurück, dass es oftmals sehr schwierig ist, die betreffenden Personen telefonisch zu erreichen oder diese nicht bereit sind, sich entsprechend zu äußern. Lediglich bei der Wollenberger, Vera sei Jahn diesbezüglich auf positive Reaktion gestoßen. Er wolle ja auch niemanden drängen. Diese Darstellungsweise ließ Schult nur bedingt gelten. Deshalb informierte er Jahn über eine prinzipielle Festlegung, die von ihm gemeinsam mit der Wollenberger 7 Wahrscheinlich war die »taz« gemeint. Roland Jahn organisierte auch, dass die »taz« in mehreren Exemplaren regelmäßig nach Ost-Berlin geschmuggelt wurde.
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[, Vera], Mißlitz, Frank-Herbert und Wolf, Wolfgang 8 getroffen wurde. Dieser Personenkreis habe beschlossen, dass sich alle, auch am Telefon, zu Problemen, gleich welchen Themas, für »Radio Glasnost – außer Kontrolle« äußern werden. Dieser Weg der Meinungsäußerung ist für Schult vor allem auch deshalb wichtig, weil er nach wie vor der Meinung ist, dass das Treffen von Vertretern feindlich-negativer Gruppierungen mit Kräften der CDU/CSUBundestagsfraktion am 12.10.1987 in der Hauptstadt der DDR offen diskutiert werden muss. Schult selbst steht derartigen Kontakten ablehnend gegenüber. 9 In diesem Zusammenhang übte Schult auch heftige Kritik am linksalternativen privaten Rundfunksender »Radio 100«. Von diesem Sender sei während der Ereignisse der letzten Wochen in der Hauptstadt der DDR keinerlei aktuelle Berichterstattung erfolgt, geschweige denn in irgendeiner Form Zeichen gesetzt worden. Dies ist für Schult bedauerlich und erschreckend zugleich, da nach seiner Meinung gerade über diesen Sender einiges möglich ist. Deshalb müsse in dieser Richtung unbedingt etwas unternommen werden. Jahn teilt diese Auffassung des DDR-Bürgers. Aus den Erklärungen Jahns zum Sender »Radio 100« verdeutlicht sich sehr anschaulich, welche Möglichkeiten der Einflussnahme er auf dessen Programmgestaltung hat. Deshalb werden die diesbezüglichen Aussagen Jahns im Originalwortlaut wiedergegeben: »Das soll alles ein bisschen besser werden in Zukunft. Mein Anliegen ist halt, immer wieder zu sagen, dass soll nicht so sein, dass es hauptsächlich von hier gemacht wird, sondern dass die Leute selbst mitkriegen, was sie alles tun können. Da müssen wir uns langfristig noch einmal etwas überlegen. Wir wollten eigentlich durch diese Lösung (Schaffung der Sendereihe ›Radio Glasnost – außer Kontrolle‹), die ich vorgeschlagen hatte, dass was Eigenständiges, was von Euch auch gestaltet wird, mit existiert. Da war uns klar, dass wir das erst einmal in dieser Form angehen. Was die aktuelle Form der Berichterstattung angeht, ist aber einiges besser geworden, trifft aber bisher nur auf den Nachrichtenteil zu. Aber ansonsten fehlt es noch. Die haben gerade in der letzten Zeit in einer absoluten Krise gesteckt, sie sind eigentlich noch immer in der Krise und froh, wir sind eigentlich froh, dass ›Glasnost‹ nicht von dem belastet wird, weil das ein bisschen eigenständig ist. Das muss sich jetzt erst ein bisschen einspielen. Ich denke, dass das so in den nächsten Monaten praktisch mit einer neuen Programmstruktur und so weiter, dann einigermaßen wieder in die Gänge kommt, sodass auch eine aktuelle Berichterstattung möglich wäre, wo man dann auch vielfach mal live auf den Sender geht. Das ist dann schon möglich. Aber das ist da noch extremer als bei der ›taz‹, also was die Dezentralisierung betrifft. Es gibt also ein paar Leute, die damit einfach nichts am Hut haben. Wenn die falschen Leute da sitzen, hast Du einfach von drü8 9
IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. Vgl. zu den Hintergründen Dok. 26 und 28.
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ben keine Chance, etwas unterzubringen. Das ist wirklich ein Lotteriespiel, wenn Du an den Richtigen kommst. Manche haben überhaupt keine Ahnung, verstehste, und es gibt ganz wenige Leute, die da drinne von der DDR Ahnung haben. Selbst die Leute, die sich damit beschäftigen, das merkst Du an der Sprecherin z. B., da kommen dann immer mal so, wenn sie von der Moderation, die vorgegeben ist, abweicht, da kommen ein paar falsche Töne. Das ist alles nicht so einfach. Aber das entwickelt sich alles. Du siehst ja auch, die ›taz‹Berichterstattung ist schon besser geworden und das wird auch besser werden.« Nochmals gesondert auf den Sendebeitrag »Radio Glasnost – außer Kontrolle« eingehend, bestimmte Jahn gegenüber Schult konkret den Platz und die Rolle, die dieser Sendebeitrag für die feindlich-negativen Kräfte in der Gegenwart und in Zukunft haben soll. 1. Dieser Sendebeitrag ist nicht das Sprachrohr von ein paar Personen aus der DDR, sondern die Plattform, auf der sich die Vielfalt dessen widerspiegelt, was an »alternativem« Potenzial in der DDR existent ist. Vor allem gelte es in der kurz- und längerfristigen Planung der einzelnen Sendebeiträge, diesem Aspekt mit aller Konsequenz Rechnung zu tragen. Werde dies nicht berücksichtigt, bestehe die Gefahr, dass sich die Beiträge »Radio Glasnost« zu einem öffentlich-rechtlichen Medium entwickeln. Zu diesem Sachverhalt entwickelte sich zwischen Jahn und Schult ein Dialog, der aufgrund seiner operativen Bedeutsamkeit im Originalwortlauf wiedergegeben wird. Legende: + Jahn – Schult + »Es ist halt oft ein falsches Bild entstanden, von dem was existiert. Und viele sind erstaunt gewesen, dass es auch noch etwas anderes gibt als Herrn Eppelmann! – Ja, das Bild kriegt man dann schwer wieder weg! Die Leute rennen dann doch anscheinend immer wieder zu Herrn Eppelmann, obwohl der für viele Sachen, für meine Begriffe, schon gar nicht mehr zuständig ist. + Ja, ja! Es ist sehr schwierig. Ich meine jetzt die Werbekampagne der Staatssicherheit in der Zionsgemeinde 10 hat da Einiges geradegerückt. Aber man kann ja nicht jeden Monat eine neue Werbekampagne für eine neue Gruppe machen. 10 Gemeint sind die Vorgänge um die »Umweltbibliothek« und die Zionsgemeinde seit der Nacht vom 24. zum 25.11.1987.
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– Ja! Nun ist ja auch nicht zu erwarten, dass jeden Monat eine Werbekampagne gemacht wird. Ist auch nicht zu hoffen. Also ich bin der Meinung, dass mein Bedarf an Werbeveranstaltungen für dieses Jahr gedeckt ist. + Klar, in dem Sinne finde ich auch, dass man mal langsam zu einer normalen Arbeit kommen sollte. Das finde ich auch wichtig.« 2. Das Anliegen von »Radio Glasnost« ist nach Ansicht Jahns nichts anderes als zu lernen, mit dem Medium Rundfunk umzugehen. Das Verlesen irgendwelcher Pamphlete könne dabei nur die Ausnahme bilden. Vielmehr muss »Radio Glasnost« dazu beitragen, neue Hörgewohnheiten herauszubilden, sich von Klischees zu lösen und neue Denkweisen, zumindest aber Ansätze für neues Denken, herauszubilden. Dazu gehöre neben der Profilierung der Wortbeiträge auch die unbedingte Verbesserung der Musikauswahl. 3. »Radio Glasnost« ist und bleibt für Jahn in allererster Linie ein »Sprachrohr« feindlich-negativer Kräfte in der DDR. Deshalb müsste die Themenauswahl, die Art und Weise der Sendebeiträge von DDR-Bürgern vorgenommen bzw. gestaltet werden. Notwendige Hilfe dafür könne er im Sinne von Vermittlung und Koordination leisten. 4. Über diesen Sendebeitrag müsse erreicht werden, ständig einen breiteren Hörerkreis zu erreichen. Dadurch erweise es sich als dringend erforderlich, dass nicht nur aktuelle Probleme im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr auch solche, die von allgemeinem Interesse sind. Auf die jüngsten Ereignisse in der [und] um die »Umweltbibliothek«, den Aktivitäten der »Kirche von unten« und anderen sogenannten unabhängigen Gruppen eingehend schätzte Schult den gegenwärtig aktuellen Stand und die für 1988 vorgesehene Grundorientierung vor allem im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit der Leitung der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg ein. Demnach sei für den 20./21. Januar 1988 vor allem von Vertretern der »Kirche von unten« ein weiteres Gespräch mit dem Konsistorialpräsidenten Stolpe, Manfred vorgesehen. Bereits jetzt stehe fest, diesen Schluss ließen entsprechende Äußerungen von Stolpe zu, dass die »Kirche von unten« und wahrscheinlich auch andere Gruppierungen ein »echter Partner« der offiziellen Kirche sein werden. Es könne davon ausgegangen werden, dass sehr schnell eine Lösung gefunden ist, auf welcher Grundlage diese Zusammenarbeit erfolgen soll. Übereinstimmend bewerten Jahn und Schult dieses offensichtliche Einlenken der offiziellen Kirche als das Ergebnis eines Umdenkungsprozesses, der maßgeblich durch die Vorgänge in der und um die »Umweltbibliothek« beeinflusst worden ist.
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Schult wies in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass es gerade die »Kirche von unten« war, die bei Vorgängen um die »Umweltbibliothek« besonders aktiv war. Demnach sei es diese »Bewegung«, die Kontakt in die DDR aufrechterhalten hatte, die Gottesdienste in verschiedenen Kirchen getragen habe und auch maßgeblich am Zustandekommen der ständigen Besetzung des »Krisentelefons« 11 in der »Umweltbibliothek« beteiligt war. Dadurch sei die »Kirche von unten« eine reale Größe geworden. Im Anschluss an diese Darlegungen Schults führte er mit Jahn folgenden Dialog: Legende: + Jahn – Schult + »Da müssen sie jetzt auch irgendwann handeln. – Ja, das hoffe ich. Es ist ihnen auch einigermaßen jetzt klar geworden, dass das jetzt nicht mehr ganz so geht und vielleicht denken sie auch, dass sie dem Staat gegenüber ihre Position stärken oder gegenüber empfehlen, wenn sie [sich] als Leute darstellen, die mit uns können. + Ja – aber nicht nur das. Ich denke, dass es durchaus sein kann, dass der Staat Interesse hat, dass das so gelöst wird. – Das kann sicherlich sein, dass das also irgendwie unter Kontrolle dann analysiert wird. Das ist ja immer bei solchen Sachen mit verbunden. + Auf alle Fälle soll man es mit im Kopfe haben, dass so etwas sein kann.« Weiterhin brachte Schult zum Ausdruck, dass o. g. Überlegungen auch der Hintergrund für die u. a. am 21.12.1987 geführten Gespräche zwischen führenden Vertretern der evangelischen Kirche und Kräften der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« sein könnten. 12 Für Jahn und Schult ist es un11 Vom 25.11.1987 bis zum 14.1.1988 gab es in der Zionsgemeinde ein Kontakttelefon, das dazu diente, einerseits Informationen innerhalb der DDR zu sammeln und zugleich zu verbreiten und das andererseits eine Anlaufstelle darstellte, über die Informationen an westliche Medienvertreter weitergegeben wurden. Am 18.1.1988 ist das Kontakttelefon reaktiviert worden, es existierten nun auch solche Einrichtungen in anderen Städten. Vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, passim. 12 An dem Treffen am 21.12.1989 nahmen vonseiten der IFM u. a. Bärbel Bohley, Martin Böttger, Peter Grimm, Gerd Poppe, Ulrike Poppe, Wolfgang Templin sowie die IM des MfS Manfred »Ibrahim« Böhme und Monika Haeger teil. Von der IFM ist überdies Rudi Pahnke gebeten worden, an den Gesprächen mit der Kirchenleitung teilzunehmen (Information von Rudi Pahnke am 28.9.2011). Vonseiten der Kirche nahm u. a. Manfred Stolpe teil. Es ging um das Verhältnis IFM und Kirche sowie um das Selbstverständnis der IFM. Ein weiteres Treffen war für den 25.1.1988 vereinbart worden, das auch stattfand und bei dem die verbliebenen IFM-Mitglieder die Kirchenhaltung im
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erklärlich, dass sich leitende Kräfte nach wie vor gegenüber Vertretern der »Initiative« sehr »dumm« stellen und immer wieder die Frage aufwerfen, was die »Initiative« überhaupt wolle und welchen Personenkreis sie vertreten. Einig sind sich die Kontaktpartner in diesem Zusammenhang in der Auffassung, dass bei vielen Kirchenvertretern der Hintergrund für dieses Verhalten tatsächlich Unwissenheit ist. Lediglich [Manfred] Stolpe wisse sehr genau, mit wem er es zu tun hat und welche Personenkreise durch die einzelnen »unabhängigen Gruppierungen« vertreten werden. Ursachen für das unschlüssige Verhalten der Kirchenleitung der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg sehen Schult und Jahn auch in den bestehenden Differenzen zwischen den einzelnen Gruppierungen bzw. zwischen einzelnen Personen in diesen Gruppierungen. In diesem Zusammenhang erörterten Schult und Jahn einige konkrete Beispiele für diese Differenzen. Demnach habe Schult noch während der »Mahnwachen« vor der Zionskirche Ende November 1987 eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Eppelmann, Rainer gehabt. Anlass dafür sei eine Aussage Eppelmanns gewesen, nach der mit der »Kirche von unten« solange nicht zusammengearbeitet werden könne, wie dort der Chaot XXX engagiertes Mitglied ist. XXX habe während des Kirchentages der evangelischen Kirche BerlinBrandenburg versucht, mit einer Bohrmaschine »bewaffnet« unter Anwendung von Gewalt in die Pfingstkirche einzudringen und daran ebenfalls nur mit Gewalt gehindert werden können. Diese Darstellung bewertete Schult als völlig absurd und habe dies auch Eppelmann unmissverständlich gesagt. Darauf habe Eppelmann äußerst aggressiv reagiert. Dafür habe Eppelmann folgende Worte gebraucht: »Vor Dir (Schult) mit der Machtfülle eines Erich Honecker habe ich genauso viel Angst wie vor Erich Honecker.« Aufgrund der Sinnlosigkeit derartiger gegenseitiger Angriffe hätten es Schult und Eppelmann dann vorgezogen, das Gespräch in »gegenseitiger Zurückhaltung« zu beenden. 13 Analoge Auseinandersetzungen habe es in der Vergangenheit mit Pahnke, Rudi 14 und Welz, Thomas 15 gegeben, die zumeist ihren Ursprung in den durch
Vorfeld des 17.1. kritisierten. Zu beiden Treffen sind mehrere IM-Berichte z. B. in den OV »Zirkel«, »Verräter«, »Bohle« überliefert. 13 Zur Geschichte der KvU und den damit verbundenen innerkirchlichen Problemen siehe die Dokumentation und Darstellung: Wunder gibt es immer wieder. Fragmente zur Geschichte der Offenen Arbeit Berlin und der Kirche von unten. Berlin 1997. 14 Rudi Pahnke (geb. 1943), 1972–1982 Pfarrer in Berlin-Prenzlauer Berg, 1982–1988 Dozent in einer kirchlichen Ausbildungsstätte, ab 1988 Mitarbeiter BEK, 1989 Mitbegründer des »Demokratischen Aufbruchs«, Dezember 1989 Austritt; 1992–1999 Studienleiter an der Ev. Akademie BerlinBrandenburg. 15 Thomas Welz, geb. Berndt (geb. 1957), zusammen mit Rainer Eppelmann Herausgeber und Autor mehrerer Samisdatpublikationen des Friedenskreises der Samaritergemeinde in BerlinFriedrichshain, 1989 Mitbegründer des »Demokratischen Aufbruchs«, von Oktober 1978 bis
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Vertreter der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« mit Kräften der CDU/CSU-Bundestagsfraktion durchgeführten Treffen und den dazu bestehenden unterschiedlichen Auffassungen hatten. Diese Spannungen konnten bisher auch noch nicht ausgeräumt werden. 16 Verstärkt werden und wurden diese Spannungen noch durch die verschiedenartigsten Berichte in westlichen Massenmedien. Schult brachte in diesem Zusammenhang zum Ausdruck, dass insbesondere der »Samariter-Friedenskreis« 17 ein »Spiel von Pressefreiheit« entwickelt hat, das er nicht mehr gewillt ist mitzutragen. Das von Schult angeschnittene Thema »Pressefreiheit« war für Jahn der geeignete Ansatzpunkt, um auf seine Weise Angriffe gegen das Presserecht in der DDR zu inspirieren. Jahn tat dies mit folgenden Worten: »Genauso wie man vom ›Neuen Deutschland‹ eine Gegendarstellung zu bestimmten Meldungen erwartet, muss das auch bei Euch sein. Ich denke, dass das übrigens noch ein interessantes Feld ist, das Thema Presserecht, weil ja auch einiges deutlich wird. Pressefreiheit bedeutet ja nicht nur, dass man irgendwelche Infos machen kann und da jeder wieder machen kann, [was er will,] sondern bedeutet auch, dass das, was man an Informationen verbreitet, wirklich fundierte Informationen sind und wenn man jemanden niedermacht, dass der das Recht auf Gegendarstellung hat. 18 Da muss wahrscheinlich noch mal grundlegend theoretisch gearbeitet werden. Ich denke, dass da noch einiges aufzuarbeiten ist. Man kann das durchaus gesamtgesellschaftlich sehen. Also die Chose mit dem ›Neuen Deutschland‹ und der ›Jungen Welt‹ hat es ja auch deutlich gemacht, dass die Fragestellung – was gibt es für rechtliche Möglichkeiten, da eine Gegendarstellung einzufordern? – dass man die irgendwo mal grundlegend aufgreift und dann in irgendeiner Art und Weise vorbringt. So müsste es eigentMärz 1979 Häftling der Militärstrafvollzugseinrichtung Schwedt; lebensgeschichtliches Interview bei Torsten Dressler: Stillgestanden – Blick zur Flamme! Berlin 2013, S. 101–116. 16 Karl-Rudi Pahnke merkte zu dieser Passage am 28.9.2011 an: »Das ist so absolut vage. Was heißt ›analoge Auseinandersetzungen‹? Ich finde diese Darstellung äußerst diffus. So stimmt da gar nichts!« 17 In der Samaritergemeinde in Berlin-Friedrichshain war Rainer Eppelmann Pfarrer, Thomas Welz war Leiter des Arbeitskreises Information des Friedenskreises der Samaritergemeinde und somit für die Herausgabe von Samisdatpublikationen mitverantwortlich. Dazu gehörten zwischen 1984 und 1989: »Schalom«, »Info-Brief«, »Aus Unveröffentlichtem«, »Dokumentation«, »Arbeitstexte«, »Schnellinfo«, »Wegzehrung«, »Wendezeit«, »Wendezeit-Dokumentation«. Vgl. die Angaben dazu in der Übersicht bei Ilko-Sascha Kowalczuk: Von »aktuell« bis »Zwischenruf«. Politischer Samisdat in der DDR, in: ders. (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 21–104, spez. S. 52–75. Die Ausgaben sind überliefert u. a. im Archiv der RobertHavemann-Gesellschaft sowie im Archiv der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. 18 In den genannten Samisdatpublikationen »wurde selbstverständlich allen namentlich genannten Beteiligten eine Gegendarstellung in unseren Publikationen eingeräumt. Sehr oft wurde diese Möglichkeit nicht wahrgenommen, obwohl der Platz dafür reserviert war. Eine andere Variante war die Veröffentlichung von Leserbriefen oder bereits anderweitig veröffentlichtem Material als Dokument« (schriftliche Mitteilung von Thomas Welz vom 12.10.2011).
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lich sein, dass jeder Möglichkeiten hat, sich dem Informationsmonopol entgegenzustellen. So wie es in Bezug auf das Staatliche ist, ist es dann auch in Bezug auf das Innerkirchliche bzw. Außerkirchliche.« Schult nahm diese Darlegungen Jahns kommentarlos zur Kenntnis. Darüber hinaus bat Schult seinen Kontaktpartner, ihm Kontakte vor allem zu klerikalen Gruppen in Westberlin zu vermitteln, die sich im Rahmen der Vorbereitungen des »Anti-IWF-Kongresses« durch Vertreter der Westberliner Alternativen Liste (AL) beteiligen. 19 Ziel sei, dass Mitglieder der »IWFGruppe« in der DDR zu dem »Anti-IWF-Kongress« im September 1988 in Westberlin eingeladen werden. Dies müsse aber über die kirchlichen Gemeinden in Westberlin geschehen, da die »IWF-Gruppe« in der DDR an die Kirche angeschlossen [sei] und vermutlich auch von Schult mitgetragen wird. Schult würde die offizielle Einladung von Vertretern aus der DDR zu diesem »Anti-IWF-Kongress« als »Politikum« bewerten, das außerordentlich wertvoll sei. Obwohl nach Jahns Wissen an den diesbezüglichen Vorbereitungen bisher keine klerikalen Westberliner Gruppen einbezogen sind, sieht er keine Probleme, dass Vertreter aus der DDR in der »gewünschten Form« nach Westberlin eingeladen werden. Er will in dieser Richtung einiges kanalisieren und sich zu einem späteren Zeitpunkt dazu nochmals detailliert mit Schult abstimmen und beraten. 2. Personelle Verantwortlichkeiten in verschiedenen Gruppierungen feindlichnegativer Kräfte in der DDR sowie die Einschätzung deren Wirksamkeit durch Schult und Jahn Schult traf aus seiner Sicht gegenüber Jahn folgende Aussagen über die personellen Verantwortlichkeiten 20 in den sogenannten unabhängigen Gruppierungen: Er selbst (Schult) betrachtet sich neben [Frank-Herbert] Mißlitz als den maßgeblichen Vertreter der »Kirche von unten«. Gleiches wäre, so Schult, bei der »Initiative Frieden und Menschenrechte« zu Hirsch, Ralf, Templin, Wolfgang und [Rainer] Eppelmann 21 zu sagen, wobei bei Eppelmann eine sehr kritische Elle anzulegen sei, da er oftmals auf eigene Initiative und unabgestimmt handele. Als die Vertreter von »Gegenstimmen«, die maßgeblich wä19 Anlässlich der IWF-Tagung im September 1988 in West-Berlin sind umfangreiche AntiIWF-Aktivitäten entwickelt worden. Linke Ostberliner und Potsdamer Oppositionsgruppen beteiligten sich daran, ausgelöst u. a. durch den Umstand, dass zahlreiche offizielle IWF-Vertreter in Ostberliner Hotels übernachteten. Die Proteste in Ost-Berlin sind ungefähr ein Jahr lang vorbereitet worden. Vgl. dazu ausführlich Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 413–427. 20 Reinhard Schult weist darauf hin, dass dies hier ein vom MfS eingeführter Begriff sei, es ging um die Einladungen zur Anti-IWF-Tagung (Mitteilung von Reinhard Schult am 10.11.2011). 21 Rainer Eppelmann gehörte nicht zur IFM.
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ren, benannte Schult das Ehepaar [Knud und Vera] Wollenberger, Mißlitz und Wolf, Wolfgang. 22 Letztgenannte müssten auch eine Art Sprecher benennen. 23 Bei der »Potsdamer Gruppe« 24 sei eigentlich nur [Thomas] Welz zu erwähnen. 25 Besonders die Rolle der »Kirche von unten« versuchte Schult an Darlegungen über die Vorgänge um die »Umweltbibliothek« zu belegen. Er äußerte sich dahingehend wie folgt: »Die Geschichte am Sonnabend vor der Aussetzung der Mahnwache im Elias, 26 dass versucht wurde, die Sache abzublocken. Bei [Pfarrer Hans] Simon war klar, dass der mit den Massen am Ende war, dass der durchgedreht ist. Aber es war deutlich zu merken der Einfluss von Wolfgang Schnur und von Wolfram Hülsemann, die ihn nicht aufgebaut, sondern ihn noch unter Druck gesetzt haben. Und da gab es diesen Eklat in der Kirche, wo die Leute fast ausgeflippt sind. 27 Vom Faktischen her hätte ich es falsch gefunden, sie fortzusetzen. Dann war die Frage, wie beendet man das und wie führt man die Geschichte dann weiter fort. Das konnte nur passieren, dadurch, dass wir den Sonntag gerettet haben und dann den Abschluss mit dem Kerzenmarsch durchgeführt haben. 28 Andersherum wäre es erschreckend gewesen, das wäre der totale Auseinanderlauf, die totale Demoralisation geworden. Dann wäre nie wieder etwas zustande gekommen. Denn der Freitag darauf, 29 wo wir uns alle noch einmal in der Zionskirche getroffen haben, da waren für meine Begriffe noch so viel vorher da gewesen, das waren 1 000 bis 1 200 in der Zionskirche, von denen natürlich auch Geschickte waren. Man hat da Genossen aus Betrieben hingeschickt, 22 Knud Wollenberger und Wolfgang Wolf waren beide IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 23 Reinhard Schult erklärt dazu, dass dies nicht sein Sprachduktus gewesen sei. Es ging weder um Sprecher noch um Verantwortlichkeiten, es handelte sich um Vorschläge (Mitteilung von Reinhard Schult am 10.11.2011). 24 Reinhard Schult war dort nur einmal, die Kontakte liefen nicht über ihn. Genauer erinnere er sich nicht, auch nicht an die »Potsdamer Gruppe« (Mitteilung von Reinhard Schult am 10.11.2011). 25 Thomas Welz war nie Mitglied einer »Potsdamer Gruppe« (schriftliche Mitteilung von Thomas Welz vom 12.10.2011). U.U. irrte hier das MfS generell bzw. hat etwas missverstanden, was die angebliche »Potsdamer Gruppe« anbelangt. 26 In der Eliaskirche (Prenzlauer Berg) kam es am 28. (Samstag) und 29.11.1987 zu zwei erregten Debatten mit jeweils mehreren hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Es ging um die Frage, wie auf die Ereignisse in und um die Zionsgemeinde/UB reagiert werden könne. Vor allem wurde darüber gestritten, ob die Mahnwache ausgesetzt werden soll. Manfred Stolpe erklärte – ähnlich wie Bischof Forck – am 29.11., dass er sich selbst an einer neuen Mahnwache beteiligen werde, käme es zu neuerlichen Verhaftungen. Darauf hin wurde die Mahnwache ausgesetzt. 27 Hans Simon, Wolfram Hülsemann und Wolfgang Schnur (IM des MfS) sprachen sich am 28.11. energisch für den sofortigen Abbruch der Mahnwache aus, was zu heftigen Gegenreaktionen führte. 28 Es kam zu einem geduldeten Protestzug mit Kerzen von der Elias- zur wenige Kilometer entfernten Zionskirche. 29 4.12.1987.
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mit der Auflage, dort für die richtige Fraktion zu stimmen. Aber ich hatte den Eindruck, dass ein Großteil der Leute dort bereit war, weiterzumachen. Und gleichzeitig die Bereitschaft aus sechs Städten dort anzufangen, wenn Berlin sagt, es geht dort weiter. Das fand ich gut. Diese Woche, die vier oder fünf Tage Pause waren nicht der totale Bruch gewesen, den viele befürchtet hatten. Unser Fehler war, dass wir in Elias gesagt hatten, hier wird nicht diskutiert, wenn dann wird in Zion mit allen diskutiert, weil da in Elias auch viele dabei waren, so manche Zaungäste, die sich die Tage nicht heiß gemacht haben, aber als die Altrevolutionären wieder mal nach vorne kommen und ihre Sprüche klopften. Das war für uns eine wichtige Lehre, wie Entscheidungsfindungen zu laufen haben. Das Problem, was bei Elias bestanden hat, war, die Leute, die sich da z. T. drei Nächte um die Ohren geschlagen haben, dass die auf einmal aus dem Entscheidungsprozess draußen waren und die Leute, die vorher nicht da waren, das Abstimmungspotenzial waren. Und das hat uns, [mich], Jör[g] [Zickler] 30 und Katharina [Harich], die unabgesprochen so ziemlich ähnliche Gefühle hatten, etwas [verunsichert]. Die Geschichte, ob nun der Kerzenmarsch erst einmal beendet oder abg[ebr]ochen werden soll, hat uns den Vorwurf eingebracht, dass die ›Kirche von unten‹ mit der Kirchenleitung gekuppelt hätte, dass es eine Absprache gegeben hat, unsere besten Freunde Wolfgang Wolf und so haben sofort einen Politbüroakt vermutet, was aber an keiner Ecke stimmte, es gab zwischen uns dreien nicht mal eine Absprache. Wir hatten dieselben Gefühle für die Situation. Und das ist dann schwer zu verstehen, für die Leute, die draußen geblieben waren, noch schwerer als für die, die drin waren. Und so haben wir auch einiges mitbekommen, wie es nicht laufen darf.« Entsprechend dieser Erfahrungen seien innerhalb der »Kirche von unten« und den mit ihr zusammengehenden Gruppierungen neue Festlegungen getroffen worden. Diese Festlegungen sind: 1. Der Begriff Basisdemokratie wird durch den Begriff Arbeitsdemokratie belegt. Dies heißt, dass nur die Personen in den Vollversammlungen zu entscheiden haben, die auch in den jeweiligen Arbeitsgruppen tätig sind. Nur damit könne sich gegen »Zaungäste« gewehrt werden. 2. [Dass] jeder an den Vollversammlungen teilnehmen kann, der will, dort aber kein Stimmrecht hat.
30 Jörg »Jolly« Zickler (geb. 1965) engagierte sich in der Offenen Arbeit und der Jungen Gemeinde Stadtmitte in Jena; Ausbildung zum Sozialdiakon; Mitte der 1980er Jahre zog er nach OstBerlin und war dort u. a. in der UB und KvU tätig, im Oktober 1989 u. a. aktiv in der Mahnwache in der Gethsemanekirche.
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Jahn bewertet das gesamte von Schult dargelegte Verhalten und taktische Vorgehen als genau der jeweiligen Situation entsprechend. In diesem Zusammenhang wiederholte er auch gegenüber Schult seine bereits in der Vergangenheit mehrfach ausgesprochene Forderung, wonach sich alle »unabhängigen Gruppen« gemeinsame »demokratische Entscheidungsstrukturen« schaffen. Den von der »Kirche von unten« eingeschlagenen Weg hält er für gut und weiter ausbaufähig, worin er sich einer Meinung mit Schult sieht. 3. Einschätzungen und Meinungen zu den Ereignissen in der jüngsten Vergangenheit durch Schult und Jahn Im weiteren Verlauf der Erörterung verschiedener Probleme gingen Jahn und Schult auf die in der jüngsten Vergangenheit viel diskutierte SkinheadProblematik 31 ein. Dabei ließ Jahn eindeutig erkennen, dass er den zu o. g. Problematik von Vertretern der »Umweltbibliothek« u. a. an den Westberliner Regierenden Bürgermeister Diepgen, Eberhard gerichteten Brief als taktischen Fehler betrachtet. 32 Damit meinte Jahn nicht den Brief an sich, sondern den Fakt, dass er auch an Diepgen gesendet wurde. Damit würde eigentlich, so Jahn, der offiziellen Terminologie der Partei- und Staatsführung der DDR entsprochen, die Skinheads haben ihren Ursprung im Westen und tragen ihr teilweise faschistisches Gedankengut in die DDR herein. Nach Jahns Auffassung sei zwar hinreichend bekannt, dass dem nicht so sei, aber ein solcher Brief an Diepgen erwecke eher den gegenteiligen Eindruck. Dies gelte es für die Zukunft auszuschließen, so sehr verständlich die emotionale Seite der Verfasser des Briefes auch verständlich und zu achten ist. Darüber hinaus sieht Jahn in derartigen Briefen noch eine weitere »Gefahr«, die auch auf die Tätigkeit feindlich-negativer Gruppierungen in der DDR zurückwirken könne. Diese 31 Am 17.10.1987 überfielen mehrere Dutzend Skinheads – darunter 5 oder 6 Westberliner – die Besucher eines Punk-Konzerts in der Ostberliner Zionskirche. Sie prügelten wahllos auf Besucher und Passanten ein, riefen neofaschistische und antisemitische Parolen. Anschließend kam es zu vielfältigen Debatten, weil das latente Problem rechtsradikaler Tendenzen in der DDR durch diesen Vorfall und durch die ausführliche westliche Medienberichterstattung nunmehr auch in der DDR heftig – wenn auch fast durchweg nicht-öffentlich – debattiert wurde. Vgl. dazu Kowalczuk: Endspiel, S. 168– 175. 32 Am 18.12.1987 wandten sich Pfarrer Hans Simon und Carlo Jordan (UB) an den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen und stellten wegen des Skinhead-Überfalls am 17.10.1987 Strafanzeige gegen Unbekannt (der Brief ist überliefert in: BStU, MfS, HA IX 9825, Bl. 10–11; er ist der Generalstaatsanwaltschaft der DDR vom Landgericht in West-Berlin zugestellt worden). Diepgen erhielt den Brief am 30.12.1987 und antwortete am 10.2.1988. Er teilte mit, dass der Generalstaatsanwalt beim Landgericht ein Ermittlungsverfahren eingeleitet habe (Reg. Bürgermeister an den Gemeindekirchenrat der Zionskirche, 10.2.1988. BStU, MfS, HA XX/AKG 1346, Bl. 118). Außerdem richtete dieser am 20.1.1988 ein Rechtshilfeersuchen an die zuständigen DDR-Behörden (ebenda, HA IX 9825, Bl. 3–10). Darüber berichteten auch westliche Medien, z. B.: Verfahren wegen West-Berliner Skins, in: taz vom 6.1.1988, S. 4.
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»Gefahr« liege darin, dass die zurzeit von den staatlichen Organen der DDR angewendete Praxis, alle »Andersdenkenden oder Aufsässigen in einen Topf zu werfen«, in breiten Bevölkerungskreisen Anerkennung findet oder jegliche Solidarität mit politisch Andersdenkenden verloren geht. Seine diesbezügliche Einschätzung untermauerte Jahn mit folgenden Worten: »1. ist es so, dass hier politische Persönlichkeiten keine Grundlage haben, irgendwo juristisch vorzugehen. Ich meine, man kann das schon in irgendeiner Art und Weise so gestalten, dass man den anspricht, aber man muss aufpassen, inwieweit man nicht jemanden anspricht, wo es genügend Gründe gibt, ihn in einem anderen Zusammenhang anzusprechen. 2. muss man beachten, dass das sehr gut in die staatliche Argumentation reinpasst, das kommt ja alles nur vom Westen, d. h. die guten Ansätze von Analysepapieren usw., wo sind die Ursachen in unserer Gesellschaft, die werden ein bisschen weggedrängt.« Des Weiteren besprachen Schult und Jahn in teilweise offener, teilweise gedeckter Form auch einige Detailfragen der materiellen und technischen Sicherstellung bei der Herstellung »unabhängiger Druckschriften« in der DDR. Schult wies Jahn darauf hin, dass es seit Oktober 1987 in den Intershops der DDR A4-Kopierer zum Preis für 2 250 DM zu kaufen gibt. Im Schnitt können mit diesen Geräten 3 000 Kopien gefertigt werden. Schult hat vor, solche Geräte zu beschaffen, zumal die Wartung und Pflege ohne »fremde Hilfe« möglich ist. Jahn steht dem nicht ablehnend gegenüber. Er will sich einmal mit diesem Problem befassen und hören, was möglich ist. Für Schult ist die Lösung dieses »Problems« zurzeit kein unbedingtes, sofort zu realisierendes Erfordernis. Er verfüge noch über genügend Matrizen und Papier, um den »Feuermelder« möglicherweise auch in einer noch höheren Auflage (darüber muss jedoch erst noch entschieden werden) herauszubringen. Jahn orientierte ausdrücklich auf eine Erhöhung der Stückzahl. 33 In diesem Zusammenhang bemerkte Schult mit Stolz, dass die neuesten »Umweltblätter«, 41 Seiten stark, herausgekommen und gut seien. 34 Er sicherte Jahn zu, dass er diese auf schnellstem Wege erhält. Dies empfand auch Jahn als gut. Weniger gut hingegen nahm er die Mitteilung auf, dass in den »Umweltblättern« auch die Mitteilung enthalten ist, wonach Jahn zum »Ehrenmitglied der ›Umweltbiblio-
33 Anfangs hatte der »Friedrichsfelder Feuermelder« eine Auflage von 200 Exemplaren, einzelne spätere Ausgaben erreichten eine Auflage bis zu 2 000 Heften. Vgl. ausführlicher zu den Produktionsbedingungen Kowalczuk: Von »aktuell« bis »Zwischenruf«. Politischer Samisdat in der DDR. 34 Die Ausgabe kam am 15.12.1987 heraus. U. a. ging es um die Vorgänge um die Zionsgemeinde/UB, um den Tag der Menschenrechte, um die Prozesse gegen Skinheads, um die Reaktionen auf den Kommentar von Schütt in der »Jungen Welt« sowie den Offenen Brief von Klier/Krawczyk an Hager.
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thek‹« ernannt worden ist. 35 Diesen Fakt hielt Jahn aus mehreren Gründen für unangebracht, ging jedoch nicht näher darauf ein. 4. Hinweise zu persönlichen Problemen Jahns Nach eigenen Aussagen hat Jahn die Absicht, Ende Januar 1988 Urlaub anzutreten. 36 Da er seit zwei Jahren keinen Urlaub hatte, fällt dieser geplante länger aus. Jahn rechnet mit einer Dauer von drei Monaten. Ohne den Urlaubsort bzw. das Urlaubsland genau zu benennen, gab er lediglich an, ganz weit in den Süden zu reisen. Jahn ist der Auffassung, dass das für ihn sehr wichtig ist, da er von bestimmten [Dingen] ein bisschen Abstand gewinnen und seinen »eigenen Horizont« durch andere Eindrücke erweitern müsse. Wörtlich äußerte er dazu: »Ich mit meinem Transitverbot und allen Sachen, ist alles etwas kompliziert. Die andere Seite ist, dass ich mich in den letzten zwei Jahren so ziemlich wieder in die DDR-Geschichten reingekniet habe, dass es auch mal wieder gut ist, einen Blick zu kriegen, was sonst noch in der Welt passiert. Ist einfach für den eigenen Horizont ein bissel gut. Die Gelegenheit mal nutzen, mal sehen. Also in dem Sinne ist es kein Urlaub dann. Aber halt dann nicht so, dass ich hier bin.« Für die Zeit seiner Abwesenheit benannte Jahn als seinen Vertreter den ehemaligen DDR-Bürger Rosenthal, Rüdiger als ständigen Ansprechpartner für feindlich-negative DDR-Bürger. Da Jahn davon sprach, dass sich Rosenthal 35 In einer Erklärung hatten sich die UB, der Umweltkreis der Zionsgemeinde und die Redaktion der »Umweltblätter« bei vielen solidarischen Unterstützerinnen und Unterstützern bedankt, u. a. hieß es: »Zum Ehrenmitglied der »Umweltbibliothek« haben wir wegen seiner besonders verdienstvollen Hilfe den in Westberlin lebenden Jenaer Roland Jahn gewählt.« (Umwelt-Blätter vom 15.12.1987, S. 9). Im Herbst 1988 ist ihm diese Ehrenmitgliedschaft wieder abgesprochen worden. SED und MfS hatten seit Anfang 1988 immer wieder öffentlich behauptet, Jahn wäre Mitarbeiter westlicher Geheimdienste. Diese Behauptung streuten sie auch mittels gefälschter Briefe sowie zahlreicher IM in West-Berlin und im Bundesgebiet. Einige Mitglieder der UB und der KvU glaubten diesen Gerüchten und setzten deshalb die Aberkennung durch. 36 Aufgrund der Ereignisse im Januar verschob Roland Jahn den Urlaub und fuhr vom 26.2. bis 29.4. nach Südamerika. Er flog zunächst nach Prag, wo er die Anschlussmaschine aufgrund einer Verspätung verpasste. Alle mussten in einem Hotel in der Innenstadt übernachten, nur er und sein Begleiter durften den Transitraum nicht verlassen. Als er am 26.2. aus Prag kommend in Havanna ankam, konnte er zunächst sein Hotel aufsuchen, ist aber morgens gegen 4.00 Uhr von der kubanischen Geheimpolizei in seinem Hotelzimmer festgenommen und bis zur Weiterreise in Gewahrsam gehalten worden. Am 2.3. flog er wie geplant weiter nach Buenos Aires. Bei seiner Transitrückreise von Buenos Aires nach Prag mit einem mehrstündigen Zwischenstopp in Havanna kam es zu keinen Zwischenfällen; er konnte den Tag sogar unbehelligt am Strand verbringen. Das MfS erhielt von der kubanischen Geheimpolizei nicht nur Kopien des Reisepasses, sondern auch die vollständigen Passagierlisten aller von Jahn benutzten Flugzeuge (BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 15, Bl. 7–20). Über einen Versuch am 19.2.1985 von Schönefeld nach Havanna zu fliegen, was letztlich trotz bereits erfolgter Abfertigung von der Stasi verhindert wurde, berichtete Roland Jahn am 20.2.1985 auf RIAS II (eine Abschrift des Interviews mit ihm findet sich in: BStU, MfS, BV Berlin, AOP 3319/88, Bd. 2, Bl. 48–49).
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dann »hier« aufhalten werde, ist anzunehmen, Rosenthal wird in der Wohnung Jahns erreichbar sein. Bemerkung: Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz erforderlich.
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Dokument 51 Aktivitäten innerer und äußerer Feinde (Originaltitel) 30. Dezember 1987 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 8, Bl. 93–99
Durch zuverlässige Quellen wurden weitere Hinweise zum Zusammenwirken innerer und äußerer Feinde erarbeitet. Teilweise haben diese Hinweise einen direkten Bezug zu der Fortführung der Ermittlungsverfahren gegen die vier feindlich-negativen DDR-Bürger, die in der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 in der »Umweltbibliothek« vorläufig festgenommen worden waren. 1 Aus den erarbeiteten Hinweisen wird erneut ersichtlich, dass der ehemalige DDR-Bürger Jahn, Roland, eine zentrale Figur bei diesen Gesamtvorgängen ist und gleichzeitig eine »Vermittler- und Inspiratorenrolle« ausübt. Konkret wurde erarbeitet: 1. In den Abendstunden des 30. Dezember 1987 führte Jahn einen ausführlichen Dialog mit Rüddenklau, Wolfgang. Im Rahmen dieses Dialoges wurden Probleme der Weiterführung der Ermittlungsverfahren gegen Rüddenklau und andere, der Herstellung der »Umweltblätter« sowie von »Grenzfall« sowie der gezielten Einflussnahme auf weitere Aktivitäten feindlich-negativer DDRBürger zu vorgenannten Problemen durch Jahn erörtert.Kennzeichnend bei der Erörterung dieser Probleme ist, dass Jahn gezielt ihn interessierende Fakten abfragte und sich zu den erhaltenen Antworten offensichtlich jeweils Notizen machte. Rüddenklau berichtete, dass am 29. Dezember 1987 wieder Vernehmungen der Personen durchgeführt wurden, gegen die in der jüngsten Vergangenheit Ermittlungsverfahren eingeleitet worden waren. Entgegen der Ankündigung durch Rechtsanwalt Schnur, Wolfgang 2 sind diese Vernehmungen nicht beim Generalstaatsanwalt, sondern durch einen Abteilungsleiter beim Generalstaatsanwalt in Zusammenarbeit mit Vernehmern des Untersu1 Es kam zu insgesamt 7 Festnahmen, aber nur Wolfgang Rüddenklau und Bert Schlegel blieben bis zum 28.11. in Haft. Ein Ermittlungsverfahren richtete sich gegen Wolfgang Rüddenklau, Till Böttcher, Bert Schlegel und Andreas Kalk. Das EV erbrachte keinen Beweis, dass die Beschuldigten die ihnen zur Last gelegte Tat, den »Grenzfall« hergestellt zu haben, begangen hätten. Am 7.1.1988 wurde den Betroffenen mitgeteilt, dass die EV eingestellt worden seien (Wenn die Katze nicht zu Hause ist … Nachgefechte um Zion, in: Umweltblätter 1/1988 vom 20.1.1988, S. 3; Ermittlungsverfahren gegen »Umweltbibliothek« eingestellt, in: taz vom 9.1.1988). Das EV gegen »Unbekannt« in dieser Angelegenheit hingegen ist erst am 31.8.1988 vorläufig und am 30.11.1989 endgültig eingestellt worden: BStU, MfS, AU 245/90, Bd. 1, Bl. 137–139, 173–174. 2 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang.
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chungsorgans des MfS durchgeführt worden. Für Rüddenklau und die anderen drei Personen sowie für Schnur ist es unverständlich, dass die eingeleiteten Ermittlungsverfahren offensichtlich weitergeführt werden. Dies stehe angeblich im krassen Widerspruch zu der Ankündigung gegenüber Schnur, dass die Ermittlungsverfahren eingestellt würden. 3 Wegen dieses Sachverhaltes wollte Schnur auch in den Vormittagsstunden des 30. Dezember 1987 beim Generalstaatsanwalt der DDR vorstellig werden […]. Nach Darstellung Rüddenklaus vermuten er und Schnur hinter den neuerlichen Vernehmungen einen Zusammenhang mit dem am 28. oder 29. Dezember 1987 erschienenen neuen »Grenzfall«, da es auch in den Vernehmungen ausschließlich um »Grenzfall« gegangen wäre. 4 Rüddenklau schätzt die Vernehmung als »lustig« ein. Er begründete seine diesbezügliche Aussage mit folgenden Worten: »Ich meine da insbesondere den Schluss. Da kam ein Hornochse rein, das war der Chef von den Vernehmern, und es erscheint so, dass da ab einem gewissen Dienstgrad sinkt dann offenbar der Intelligenzquotient wieder. Der wollte offensichtlich demonstrieren, wie es gemacht wird. Der hat dann noch zwei, drei Sätze, insbesondere nachdem der Blick nicht funktionierte und er wegschauen musste, auf privates Gebiet übergelenkt und so ein Zeug, also lächerlich.« Aufgrund der durchgeführten und der noch weiter zu erwartenden Vernehmungen zieht Rüddenklau in Erwägung, weitere Aussagen zu verweigern und bereits gemachte Aussagen zurückzuziehen. Die dazu von Rüddenklau konkret getroffenen Äußerungen werden im Folgenden im Originaltext wiedergegeben: »Es ging einfach für mich darum, dass ich zu dem Zeitpunkt, als ich da einfuhr, einfach nichts wusste. Ich wusste nicht, wer außerdem noch eingefahren ist und habe damit gerechnet, dass der [Hans] Simon mit dabei ist und habe daher von vornherein die Verantwortung auf mich genommen. Als verantwortlicher Redakteur von der ganzen Geschichte da und auch für den ›Grenzfall‹, der dort gefunden wurde, dass es meine private Geschichte ist und [ich] den da versteckt habe. Also die letztere Aussage werde ich dann zu gegebener Zeit, weil es ein Stück ist, wieder zurückziehen. Ich meine, das hängt ja nur an meiner Aussage, ich nehme sie dann aus Zweckmäßigkeitsgründen zurück. Denn ich bin deshalb doch ziemlich ausführlich geworden, weil ich 3 Am 4.12.1987 erklärte Wolfgang Schnur abends in der Zionskirche vor etwa 500 Menschen, dass er mittags die verbindliche Zusage von der Generalstaatsanwaltschaft erhalten habe, dass die Ermittlungsverfahren eingestellt würden. Dies teilte Schabowski am 8.12.1987 dem zuständigen SEDPolitbüromitglied Krenz auf der Grundlage von Informationen aus der Ost-CDU Berlin mit, die überliefert sind. Der Generalstaatsanwalt erklärte ebenfalls am 8.12.1987 gegenüber Krenz, dass eine solche Zusage an Schnur nicht ergangen sei und lediglich geprüft würde, ob die EV gegen Kalk und Böttcher eingestellt werden können (BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 34–39). 4 Vgl. Grenzfall 11–12/1987, in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 135–149.
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auf jeden Fall vermeiden wollte, dass die ›Umweltbibliothek‹ in diese Geschichte mit reingezogen wird. Die Sachlage ist jetzt aber eine andere.« Jahn teilt diese Ansichten Rüddenklaus in vollem Umfang. Gleichzeitig nahm er gezielten Einfluss auf Rüddenklau, um vor allem auch Schnur zu noch weitergehenden Maßnahmen zu veranlassen. Diesbezüglich unterbreitete Jahn folgende »Vorschläge«: 1. Rüddenklau sollte jede weitere Vernehmung ablehnen. Dafür müsse er einen »Dialog« fordern, der öffentlich in der »Umweltbibliothek« zu führen ist. 2. Bei der weiteren »Behandlung« dieser Gesamtproblematik müsse sich immer wieder der Kernsatz vor Augen gehalten werden, dass es hierbei nicht um Recht, sondern um Politik geht. Ausgehend von dieser These übte Jahn heftige Kritik am Vorgehen von Schnur, Rüddenklau u. a. sowie an Aussagen von Jordan, Karl-Heinz. Dazu wählte Jahn folgende Argumentation: »Diesen Kernsatz muss man sich immer vor Augen halten. All das ist falsch gewesen, auch das von eurem Anwalt, das Ganze auf eine juristische Ebene zu ziehen. Denn wer sich in diesen Diskussionen auf Strafgesetze beruft und auf der juristischen Ebene einsetzt, der ist verloren. Juristisch kann ich jeden DDR-Bürger, einbezogen Erich Honecker und Erich Mielke, verurteilen, das ist mir ein Leichtes. Und so kann man euch jeden Tag verurteilen.« Diesen »Vorschlägen« Jahns steht Rüddenklau im Wesentlichen aufgeschlossen gegenüber. Er bemerkte jedoch, dass die staatlichen Organe der DDR bei ihren gesamten Maßnahmen doch versuchen mussten, bestimmte »Spielregeln« zu beachten und so zu tun, als wenn die Dinge nach Recht und Gesetz vorgehen. In diesem Rahmen hätten die staatlichen Organe der DDR jedoch eine eindeutige Schlappe einstecken müssen, das hieße, »alles, was sie sich gedacht haben, war eine Niederlage«. Deshalb wäre das von Jahn kritisierte »formell juristische Vorgehen« durchaus vertretbar. Dem widersprach Jahn kategorisch. Er räumte zwar ein, dass Rüddenklaus Einschätzungen, oberflächlich betrachtet, durchaus zutreffen. Untersuche man die Vorgänge etwas genauer, werde man feststellen: 1. Die staatlichen Organe der DDR haben ihre Maßnahmen falsch konstruiert. 2. Aus diesen Fehlern hat man gelernt und wird künftig derartige Maßnahmen besser vorbereiten und durchführen. Folglich ist jederzeit rein juristisch konstruierbar, wer vor allem strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird. 3. Eine strafrechtliche Verfolgung sei jedoch in erster Linie immer eine politische Entscheidung. Dadurch ergebe sich die logische Konsequenz,
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dass solchen politischen Entscheidungen auch mit politischen Mitteln begegnet wird. 4. In diesem Sinne müsse deshalb auch die Presseerklärung Schnurs […] abzufassen sein. 5 Deshalb gebe es nur eine Schlussfolgerung, man darf die Strafgesetze der DDR »in dieser Form« nicht anerkennen. Genau das Gegenteil bestehe zurzeit, indem durch formell juristische Herangehensweisen die DDR-Strafgesetzgebung in Geist und Buchstaben anerkannt wird. Dies dürfe aber nicht sein. Nach diesen Darlegungen übernahm Rüddenklau diese Vorstellungen Jahns voll inhaltlich und sicherte dem ehemaligen DDR-Bürger zu, in diesem Sinne auch mit Schnur und anderen namentlich unbekannten Personen zu sprechen und Entsprechendes zu veranlassen. Jahn riet an, dass in die Presseerklärung auch der Fakt eingearbeitet werden solle, die Ermittlungsverfahren und Vernehmungen richten sich hauptsächlich gegen »Grenzfall«. Dies sei vor allem deshalb wichtig, um auch im Westen, vor allem in den Medien entsprechend zu reagieren und deutlich zu machen, dass es sich bei »Grenzfall« um ein Druckerzeugnis »politisch Andersdenkender« in der DDR handelt. Die erforderlichen Maßnahmen würde Jahn bei Notwendigkeit sofort veranlassen. Im Zusammenhang mit den neuerlichen Vernehmungen äußerte Rüddenklau, Ängste dahingehend zu verspüren, dass die staatlichen Organe der DDR jetzt mit aller Konsequenz gegen alles vorgehen, was irgendwie in Verbindung mit der »Umweltbibliothek« steht, um auf diese Weise zu dokumentieren, dass ihr bisheriges Vorgehen doch erfolgreich und richtig war. In diesem Sinne habe sich Rüddenklau in den jetzt in Umlauf gebrachten neuen »Umweltblättern« geäußert. 6 Dieser Hinweis auf die »Umweltblätter« war für Jahn das Stichwort, um mit Rüddenklau darüber zu debattieren. Dabei verschaffte er sich zuerst einen konkreten Überblick darüber, wo die »Umweltblätter« gedruckt wurden und wer dies realisiert hat. Nach Darstellung Rüddenklaus wurden die »Umweltblätter« im Konsistorium 7 der evangelischen Kirche in einem »Großeinsatz« innerhalb von 24 Stunden gedruckt. Die Matrizen und das Papier für deren Herstellung habe Rüddenklau geliefert. Gedruckt wurde von Mitarbeitern im Konsistorium, 5 Für die KKL-Sitzung am 8./9.1.1988 erarbeitete Schnur mit Datum vom 7.1.1988 eine »Erklärung«, in der er u. a. mitteilte, er habe die Verfügung gesehen, wonach die EV gegen die UBMitarbeiter eingestellt wurden (BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Bd. XII, Bl. 142). Das verbreiteten am 9./10.1.1988 auch westliche Nachrichtensendungen. Die Ermittlungsverfahren erstreckten sich gegen Wolfgang Rüddenklau, Till Böttcher, Bert Schlegel und Andreas Kalk. Siehe auch Anm. 1 und 3. 6 Vgl. Umwelt-Blätter vom 15.12.1987. 7 Das Konsistorium befand sich in Berlin-Mitte in der Neuen Grünstr. 19–22.
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denen dort eine Wachsmatrizendruckmaschine zur Verfügung steht. Das Konsistorium werde von einer Westberliner Firma (konkrete Angaben unbekannt) beliefert, hätte keine Probleme mit der Beschaffung von Druck[er]schwärze usw. Jahn sicherte zu, sich mit diesem Problem noch umfassend zu beschäftigen und Entsprechendes zu veranlassen. Gleichzeitig kritisierte Jahn die Darstellungsweise der Beiträge in den »Umweltblättern«. Diese müssten aus Jahns Sicht in folgenden Aspekten geändert werden: a) Die Beiträge sind so abzufassen, dass sie für jedermann verständlich sind und nicht nur in »Insiderkreisen« verwendbar sind. b) In den Beiträgen sollte nur zu solchen Problemen Stellung genommen werden, die überprüfbar und wahr sind. »Gerüchte« müssten als solche gekennzeichnet werden. c) Die »Umweltblätter« müssten dann erscheinen, wenn sie gebraucht werden, um jeweils aktuell zu bleiben. 2. In den Mittagsstunden des 30. Dezember 1987 vereinbarte Hirsch, Ralf, mit einem XXX aus Westberlin ein Treffen in der Hauptstadt der DDR, das am gleichen Tag um 15.00 Uhr offenbar in der Wohnung Hirschs stattfinden sollte. Bemerkung: Vom Sachverhalt wurde die HA XX/AKG telefonisch vorinformiert. 3. In den späten Nachtstunden des 29. Dezember 1987 suchte Jahn Kontakt mit dem DDR-Bürger Krawczyk, Stephan, um sich mit diesem über einen am selben Abend ausgestrahlten Beitrag in der »Berliner Abendschau« 8 auszutauschen. Obwohl beide die Art und Weise der Gestaltung dieses Beitrages über Krawczyk nicht besonders gut fanden, waren sie sich darüber einig, dass der Fakt an sich positiv ist. Für die nächste Zeit hielt es Krawczyk jedoch für angebracht, dass zu den Vorgängen um feindlich-negative Bürger als auch seine Person keine Beiträge mehr in den BRD-Medien gesendet werden. Jahn stimmte dieser Auffassung nur teilweise zu. Er äußerte, dass er hierüber bereits mit Hirsch diskutiert hätte, 9 es jedoch für erforderlich hält, diese Pause erst Mitte Januar (1988) eintreten zu lassen. Diese Sendepause werde von den Ereignissen bestimmt, wobei Jahn auf eine für den 3. Januar 1988, 21.55 Uhr geplante Sendung verwies. 10 Krawczyk war dieser Sendetermin 8 Eine tägliche Nachrichtensendung des SFB-Fernsehens. 9 Vgl. Dok. 49. 10 Am Sonntagabend (3.1.1988) strahlte die ARD die Reportage »Glasnost in der DDR« aus. Darin ging es um die Situation von Kunst und Kultur in der DDR. Neben anderen wurde Stephan Krawczyk porträtiert und kam selbst zu Wort (MfS, ZAIG, ARD 3.1.1988, 21.55 Uhr, Kulturrepor-
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bereits bekannt. Er sei vom Pfarrer Simon, Hans darauf aufmerksam gemacht worden. 4. Am 30. Dezember 1987 kam es zu einer Verbindungsaufnahme Jahns zu Rüddenklau, welcher sich zu diesem Zeitpunkt im »Mahnwachenbüro« in der Zionskirche aufhielt. Jahn wollte sich dabei durch Rüddenklau über die aktuelle Situation informieren lassen, was dieser auch tat. Nach Darstellung Rüddenklaus sehe es wahrscheinlich so aus, dass sich die Situation wieder zuspitze. Da sich der Konsistorialpräsident Stolpe, Manfred zurzeit in Budapest aufhalte, glaube man von staatlicher Seite wahrscheinlich, dass jetzt die Zeit günstig sei, um wieder aktiv zu werden. Rüddenklau erwartete »den Hauptschlag« für den 31. Dezember 1987, weshalb bereits alles »Gewehr bei Fuß« stehe. Nähere Hinweise dazu erwarte er gegen 11.00 Uhr, wenn der Rechtsanwalt Schnur von seinem Gespräch mit der Generalstaatsanwaltschaft der DDR zurückgekehrt sei. Rüddenklau schloss nicht aus, dass zu diesem Zeitpunkt die telefonische Erreichbarkeit des »Mahnwachenbüros« gesperrt sein könnte, ist aber zuversichtlich, dass Jahn über genügend Rufnummern verfüge, wo er sich sachkundig machen könne. Seine Vermutung auf ein härteres Vorgehen staatlicher Organe begründete er damit, dass faktisch gleichlaufend zum Gespräch Schnurs mit der Generalstaatsanwaltschaft der Pfarrer Simon, Hans und der Krusche, Günter um 12.00 Uhr einen Termin beim Staatssekretär für Kirchenfragen Genossen Klaus Gysi 11 hätten. Dort solle es um die Aktivitäten in der Gemeinde des Simon gehen. Rüddenklau geht davon aus, dass man beabsichtige, massiv gegen das »Mahnwachenbüro« vorzugehen und dieses zu schließen. Jahn solle sich gegen 15.30 Uhr nochmals melden, da er (Rüddenklau) dann mehr wissen würde und sich zu diesem Zeitpunkt alle im »Mahnwachenbüro« aufhalten würden. Man sei auf alles vorbereitet, hebe sich »den Druck« aber für den Fall von Verhaftungen auf. Um 16.00 Uhr nahm Jahn wie vereinbart Kontakt zu Rüddenklau auf. Dieser setzte ihn vom Verlauf des Gespräches beim Generalstaatsanwalt der DDR in Kenntnis. Wesentliche Punkte waren: – Vorhaltungen eines abgehörten Telefonates zwischen Jahn und Rüddenklau, das den Rüddenklau der Kenntnis von »Grenzfall« überführte, – voraussichtliche Einstellung der Ermittlungsverfahren am 7. oder 9. Januar 1988 und Beginn von Verhandlungen am 15. Januar 1988 über die Einziehung von Drucktechnik und anderen Materialien. tage »Glasnost in der DDR« (verschriftlichter Sendemitschnitt). BStU, MfS, HA IX 19053, Bl. 369– 382). 11 Klaus Gysi (1912–1999) war u. a. DDR-Kulturminister (1966–1973), Botschafter in Italien und Malta (1973–1978) sowie von 1979–1988 Staatssekretär für Kirchenfragen. Beim MfS war er als IM »Kurt« von 1956 bis 1965 erfasst.
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Jahn drängte in folgende Richtungen: – Noch keine Herausgabe einer Presseerklärung durch Rüddenklau, sondern abwarten einer für den 3. Januar 1988 geplanten Maßnahme (vermutlich Sendung der ARD). 12 – Orientierung wesentlicher Leute durch Rüddenklau, dass diese nicht durch die staatlichen Organe der DDR »ausgenutzt« werden können. Weiter wurde bekannt, dass Schnur und Simon nach den Gesprächen beim Generalstaatsanwalt mit vier weiteren Personen an der Erstellung eines nicht näher bekannt gewordenen Schriftstückes arbeiteten. 5. Der ARD-Korrespondent Börner, Holger 13 hielt sich am Nachmittag des 30. Dezember 1987 in der Hauptstadt der DDR auf und nahm an mehreren »Meetings« teil. Für 17.30 Uhr hatte er ein Filmaufnahmeteam an einen nicht bekannt gewordenen Ort bestellt. Die dabei gedrehten Filmaufnahmen sind für eine Sendung bestimmt, die am 3. Januar 1988 ausgestrahlt werden soll und sich mit Vorgängen um die »Umweltbibliothek« befassen soll. Weitere Beiträge dieser Sendung stehen mit Heym, Stefan, 14 einem Unteroffizier der NVA sowie einer »Tapetengeschichte« im Zusammenhang. 15 Börner hatte vor, am 30. Dezember 1987 zwischen 19.00 Uhr und 20.00 Uhr wieder in Westberlin zu sein. Neben einem »Schriftstück« wollte er dabei vermutlich auch die Filmaufnahmen von der Hauptstadt nach Westberlin verbringen. Bemerkung: Die HA II und die HA XX/AKG wurden um 18.40 Uhr telefonisch vorinformiert.
12 Siehe Anm. 10. 13 Der ARD-Korrespondent hieß Hans-Jürgen Börner – Holger Börner war ein bundesdeutscher Politiker. 14 Stefan Heym (1913–2001) lebte in der DDR seit 1953. In Konflikte mit der SED geriet er seit 1956 immer wieder, ist 3 Jahrzehnte lang vom MfS überwacht worden, mehrere seiner Bücher durften in der DDR nicht erscheinen. Vgl. von ihm die autobiografischen Bände: Wege und Umwege (1980); Reden an den Feind (1986); Nachruf (1988); Stalin verlässt den Raum (1990); Der Winter unsers Missvergnügens (1996); Offene Worte in eigener Sache (2003). 15 Siehe Anm. 10, Stefan Heym kam ebenso wie Rainer Eppelmann u. a. auch zu Wort.
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Dokument 52 Telefonische Mitteilung des IMB »Karin Lenz« 1 (Originaltitel) 30. Dezember 1987 Von: MfS, HA XX/2 An: MfS, HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, HA XX 20565, Bl. 240
Der IM berichtete, 2 dass am 30. Dezember 1987 ab 16.00 Uhr bis ca. 17.10 Uhr in der sogenannten »Umweltbibliothek« eine Zusammenkunft von Personen stattfand, die über weitere Schritte angesichts des Fortbestehens der Ermittlungsverfahren gegen Wolfgang Rüddenklau und andere beraten wollten. 3 Vom IM identifiziert wurden Rechtsanwalt [Wolfgang] Schnur, 4 [Wolfgang] Rüddenklau, [Bärbel] Bohley, [Werner] Fischer, U[lrike] Poppe, Reiner Dietrich, 5 Ralf Hirsch, W[olfgang] Templin, Monika Haeger, 6 Peter Grimm, Till Böttcher (ca. 25 Personen). Der ebenfalls anwesende Pfarrer [Wolfram] Hülsemann berichtete, man habe ihm am heutigen Tage im Staatssekretariat für Kirchenfragen mitgeteilt, es sei von vornherein dem Rechtsanwalt Schnur gesagt worden, dass die Ermittlungsverfahren wieder aufgenommen werden würden, wenn die Zeitschrift »Grenzfall« zur Verbreitung käme. (Hülsemann kann auch beim Magistrat von
1 Das war Monika Haeger. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 2 Wie aus dem Titel hervorgeht, rief Monika Haeger beim MfS an und informierte offenbar unmittelbar nach der Veranstaltung ihren Führungsoffizier. 3 Das Ermittlungsverfahren erstreckte sich gegen Wolfgang Rüddenklau, Till Böttcher, Bert Schlegel und Andreas Kalk. Am 4.12.1987 erklärte Wolfgang Schnur abends in der Zionskirche vor etwa 500 Menschen, dass er mittags die verbindliche Zusage von der Generalstaatsanwaltschaft erhalten habe, dass die Ermittlungsverfahren eingestellt würden. Dies teilte Schabowski am 8.12.1987 dem zuständigen SED-Politbüromitglied Krenz auf der Grundlage von Informationen aus der OstCDU Berlin mit, die überliefert sind. Der Generalstaatsanwalt erklärte ebenfalls am 8.12.1987 gegenüber Krenz, dass eine solche Zusage an Schnur nicht ergangen sei und lediglich geprüft würde, ob die EV gegen Kalk und Böttcher eingestellt werden können (BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 34–39). Das EV erbrachte keinen Beweis, dass die Beschuldigten die ihnen zur Last gelegte Tat, den »Grenzfall« hergestellt zu haben, begangen hätten. Am 7.1.1988 wurde den Betroffenen mitgeteilt, dass die EV eingestellt worden seien (Wenn die Katze nicht zu Hause ist … Nachgefechte um Zion, in: Umweltblätter 1/1988 vom 20.1.1988, S. 3; Ermittlungsverfahren gegen »Umweltbibliothek« eingestellt, in: taz vom 9.1.1988). Das EV gegen »Unbekannt« in dieser Angelegenheit hingegen ist erst am 31.8.1988 vorläufig und am 30.11.1989 endgültig eingestellt worden: BStU, MfS, AU 245/90, Bd. 1, Bl. 137–139, 173–174. 4 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 5 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 6 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang.
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Dokument 52 vom 30. Dezember 1987
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Berlin gewesen sein; das wurde dem IM nicht deutlich.) 7 Schnur gab sich empört über diese Mitteilung und betonte, es sei ausschließlich von der Einstellung der Ermittlungsverfahren gesprochen worden. Die Anwesenden waren sich einig, keine Protestaktionen (auch keine Mahnwachen) durchzuführen. Lediglich das »Mahnwachen-Büro« soll wie bisher geöffnet bleiben. 8 Grimm führte aus, bisher sei der »Grenzfall« nicht verbreitet worden, ab 6. Januar 1988 könne aber bei ihm nachgefragt werden, wie man diese Zeitschrift beziehen kann. Rechtsanwalt Schnur will bis zum 10. Januar 1988 von staatlicher Seite eine Klarstellung der von Hülsemann verbreiteten staatlichen Stellungnahme erreichen. Sollte diese Klarstellung nicht erfolgen, plant er eine »richtigstellende« Pressemitteilung. 9 […] 10
7 Das Gespräch fand im Staatssekretariat für Kirchenfragen statt, an dem neben Hülsemann u. a. auch Günter Krusche und Hans Simon teilnahmen. MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, Information zu einem Gespräch zwischen dem Ehepaar Eppelmann und Rechtsanwalt Schnur, 8.1.1988. BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Bd. XII, Bl. 131–135. 8 Das Büro blieb bis 14.1.1988 »geöffnet«, ist aber schon am 18.1. nach den Verhaftungen am Rand der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration als Kontakttelefon erneut eingerichtet worden. Zunächst diente der Privatanschluss von Bärbel Bohley dazu, einige Tage später gab die Generalsuperintendentur dazu in ihren Räumen eine Telefonverbindung frei. Auch in anderen Städten kam es zur Einrichtung eines Kontakttelefons, in Ost-Berlin erstritten Oppositionelle nach monatelangen Verhandlungen schließlich, dass im Januar 1989 ein ständiges Kontakttelefon in den Räumen der Gethsemanegemeinde eingerichtet werden konnte, das bis zum Herbst 1989 aktiv blieb. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 266–268, 282. 9 Für die KKL-Sitzung am 8./9.1.1988 erarbeitete Schnur mit Datum vom 7.1.1988 eine »Erklärung«, in der er u. a. mitteilte, er habe die Verfügung gesehen, wonach das EV gegen die UBMitarbeiter eingestellt wurde (BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Bd. XII, Bl. 142). Das verbreiteten am 9./10.1.1988 auch westliche Nachrichtensendungen. Siehe auch Anm. 7. 10 Abschließend geht es um den Ort der bevorstehenden Silvesterfeier.
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Dokument 53 Telefonat zwischen Ralf Hirsch und Roland Jahn 3. Januar 1988 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, Leiter HA XX, [Paul Kienberg] Quelle: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 8a, Bl. 25–29
Roland Jahn (Westberlin 36, Görlitzer Str. 66) nimmt Kontakt auf zu Ralf Hirsch, der um diese Verbindungsaufnahme gebeten hatte. Ralf H[irsch] wünscht dann Roland Jahn für das neue Jahr vor allem Gesundheit, wobei er wissen möchte, wie dieser »reingerutscht« ist. Wie Roland Jahn bemerkt, ging es. Weil er sich nicht so fühlte, ist er zu Hause geblieben. In diesem Zusammenhang bestellt Roland Jahn Ralf H[irsch] herzliche Grüße von dessen »Freundin aus Karlsruhe« 1, die sich noch in der Silvesternacht bei ihm telefonisch gemeldet hat. Dabei habe sie nach Roland Jahns Worten auch etwas von Schreiben erzählt, wozu sie aber bisher noch nicht gekommen sei, weil es zu viel zu tun gebe. Ralf H[irsch] bedankt sich für die Übermittlung der Grüße. Wie er bemerkt, hat er eine ganze Weile gebraucht, Roland Jahn zu erreichen. Weil immer besetzt war, möchte er wissen, mit wem denn Roland Jahn telefoniert hat. Dieser antwortet, dass es verschiedene Leute gewesen sind. Das Gesprächsthema wechselnd, teilt Ralf H[irsch] mit, gerade mit drei Leuten ein längeres Gespräch »deinetwegen« gehabt zu haben. 2 Wer das war, möchte Ralf H[irsch] am Telefon nicht sagen. Bezüglich des Inhaltes kann er aber so viel sagen, dass es böse Gerüchte über Roland Jahns Person gibt, wobei er da erst einmal ein bisschen gegengehalten hat. Er hat »ihnen« gesagt, dass es doch besser sei, da erst einmal nachzuforschen, ehe man »einer Ente« hinterher rennt. Als Roland Jahn etwas abwertend meint, dass es immer Gerüchte geben wird, stellt Ralf H[irsch] fest, dass diese Angelegenheit doch ein bisschen nahe geht und ein paar Leute darüber etwas betroffen sind. Weil er jetzt nicht so reden kann, verspricht Ralf H[irsch] Roland Jahn dazu einen Brief zu schreiben, dann auch mit Namen und anderen Einzelheiten. Jetzt kann er aber 1 Gemeint ist Birgit Voigt. 2 Es geht im Folgenden um die Frage, wie Roland Jahn die finanziellen und materiellen Mittel zur Unterstützung der Opposition, insbesondere der UB- und »Grenzfall«-Redaktionen verteilt. Naturgemäß konnte dies kein transparentes Verfahren sein, weshalb es zu Diskussionen darüber kam. Die UB bezog nach der Ausreise Bert Schlegels nach West-Berlin Anfang Februar 1988 dann auch stärker als bislang Materialien u. a. von anderen Unterstützungsgruppen als von Roland Jahn (schriftliche Information von Wolfgang Rüddenklau vom 2.11.2011).
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Dokument 53 vom 3. Januar 1988
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schon so viel sagen, dass es mehrere Aussagen gibt, wonach angeblich Spenden bei Roland Jahn eingegangen sind, die auch für den »Grenzfall« und nicht nur für die »Umweltbibliothek« (UB) bestimmt waren. Weil man seitens des »Grenzfalls« davon aber nichts weiß, ist man nun ein bisschen böse auf Roland Jahn, stellt Ralf H[irsch] fest. Wie er weiter ausführt, soll das hier wohl auch von der UB bestätigt worden sein bzw. soll jemand so eine Bemerkung fallengelassen haben, wonach das Geld alles in einen Topf kommt und es doch egal sei, für wen es verwandt werde. Als Roland Jahn erwidert, dass Ralf H[irsch] doch weiß, dass »ihr« in dieser Richtung keine Angst zu haben braucht, stellt Ralf H[irsch] fest, das auch so gesagt zu haben. Wie Ralf H[irsch] weiter ausführt, hat er »sie« deshalb aufgefordert, doch nicht solchen Gerüchten hinterher zu rennen, ohne dass man da nachgefragt hat. Dazu kommt, so Ralf H[irsch], dass für die nächste Ausgabe des »Grenzfalls« schon eine ganze Seite geschrieben worden ist: »Über so ein paar Fälle mit Namen aus dem Westen und von hier.« Wie Roland Jahn zum Ausdruck bringt, ist es für ihn ein Rätsel, weswegen ihr euch mit so etwas beschäftigt, vor allem wenn er daran denkt, dass sich doch eigentlich keiner zu kurz gekommen zu fühlen braucht. Das ist seiner Meinung nach eigentlich doch das beste Argument. Ralf H[irsch] bestätigt das und bemerkt, sich auch aus diesem Grund bei Roland Jahn gemeldet und um einen Rückruf gebeten zu haben. 3 Auf »deren« Argumente eingehend, schildert Ralf H[irsch], dass es doch so sei, dass der »Grenzfall« nicht wie die UB von der Kirche gestützt und getragen wird. Deshalb sei es etwas anderes, ob Geld für den »Grenzfall« oder die UB »reinkommt«. Ralf H[irsch]s Worten nach sind »die Leute« aber wahrscheinlich vor allem deshalb ärgerlich, weil sich die UB auch so ein bisschen zum Sprachrohr von »Grenzfall« macht. Auf die Forderung von Roland Jahn, diese Konkurrenzprobleme doch beiseite zu schieben, eingehend, meint Ralf H[irsch], dass das wirklich ein Problem ist. Roland Jahn zeigt sich dann interessiert an der Frage, von wem die Äußerung gemacht worden ist, dass etwas eingegangen sei. Er fordert Ralf H[irsch] auf, ihm das einmal detailliert zu schreiben, weil er das in dem Sinne nicht so bestätigen kann. Ralf H[irsch] sagt das zu. Den schriftlichen Weg findet er auch deshalb besser, weil er sonst wahrscheinlich das nächste Einreiseverbot provoziert hätte. 3 Am 5.1.1988 (handschriftlich irrtümlich mit 1987 falsch datiert) schrieb Roland Jahn an Ralf Hirsch einen Brief, in dem er u. a. seine Aussage erneuerte, mit Spenden u. dgl. sorgsam umzugehen und sie entsprechend zu verteilen. 1987 habe er zudem fast alles für die Drucktechnik aus eigener Tasche bezahlt. Solche Briefe sind nicht mit der Post befördert, sondern von »Kurieren«, meist befreundeten Journalisten, von Ost- nach West-Berlin und umgekehrt befördert worden (dieser Brief ist abgelegt unter: BStU, MfS, AU 131/90, Bd. 1, Bl. 219–221). Die meisten solcher Briefe sind von den Empfängern vernichtet worden, einige finden sich in den MfS-Unterlagen, andere im MatthiasDomaschk-Archiv und eine Reihe sind noch in Privatbesitz, so etwa bei Roland Jahn.
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Dokument 53 vom 3. Januar 1988
Roland Jahn bittet auch darum, dass Ralf H[irsch] allen anderen sagt, dass sie ihm einen Brief schreiben, weil sich auf diese Art und Weise noch alles klären ließ. Ansonsten steht er auf dem Standpunkt, dass man alles, was in diese Richtung geht, nicht breittreten sollte. Ralf H[irsch] findet das auch besser und weist in diesem Zusammenhang auf die Gefahren der Spontanität hin. Wenn jetzt nämlich in der Nummer 1 (Januar-Ausgabe des »Grenzfalls«) der böse Brief über »dich« (Roland Jahn) erscheint und dabei die Frage aufgeworfen wird, wie solche Sachen nach Aussage »von dem und dem« passieren können, dürfte der Einzige, der darüber lacht, die »Staasi« sein. 4 Roland Jahn stimmt dem besonders unter dem Gesichtspunkt zu, dass das auch inszeniert worden sein kann, was nach Meinung von Ralf H[irsch] zumindest vom Anstoß her so sein kann. Er wollte aber vor allem Roland Jahn deshalb informieren, damit dieser auf das Problem vorbereitet ist und vernünftig reagieren kann. Roland Jahn will Ralf H[irsch] einmal seine gesammelten Briefe schicken, damit dieser die Briefe einmal den Leuten vorlegen kann, die so etwas erzählen. Wie Ralf H[irsch] bemerkt, werden solche Gerüchte wahrscheinlich auch dadurch genährt, weil in letzter Zeit viel verlorengegangen ist. Roland Jahn kann sich vorstellen, woraus das resultiert. Er hat Angst, dass da etwas schief gelaufen ist. Ansonsten baut er ganz auf Ralf H[irsch]. Als weiteres Problem in diesem Zusammenhang erwähnt Ralf H[irsch] das Prahlen in der UB, wobei er es besser finden würde, wenn die ein bisschen »die Schnauze« halten könnten. Das müsste Roland Jahn seinen Freunden auch einmal klarmachen. Roland Jahn wirft ein, ihnen das schon gesagt zu haben. Trotzdem ist es nach den Worten von Ralf H[irsch] noch so, dass einem »die Schnürsenkel aufgehen können«, wenn man so hört, was Leute, die nicht vertrauenswürdig sind und nur so einmal in der UB spazieren gehen, alles mitbekommen. Er sieht zwar ein, dass einiges da sein muss, ist aber dagegen, dass dann auch noch darüber geredet wird. Roland Jahn sieht das auch so. Wie er danach lachend äußert, hätte er »das« eher verstanden, wenn die Vorwürfe andersherum gekommen wären, das heißt, dass er für andere etwas von dem UB-Ticket abzweigt. Seinen Worten nach ist es außerdem so, dass überhaupt nicht allzu viel geschieht. Das ist oft eine Illusion, stellt Roland Jahn fest. Wie Ralf H[irsch] feststellt, sagt er es ja deshalb. In diesem Sinne fordert er Roland Jahn auf, auf seine Freunde entsprechend einzuwirken, damit diese mündlich nicht mit solchen Beträgen herumschmeißen, was gleich zu einem ganz falschen Bild führen kann. Wie Roland Jahn zum Ausdruck bringt, sieht es aber doch gar nicht so rosig aus, wie manche denken. In diesem Sinne will er Ralf H[irsch] einmal ein paar Zeilen als Argumentationshilfe schreiben. Auf eine 4 Die geplante Ausgabe des »Grenzfalls« kam wegen der Januar-Verhaftungen und Abschiebungen nicht zustande.
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entsprechende Frage hin bestätigt Ralf H[irsch], »das« jetzt erst einmal abgebogen zu haben, wobei er den Entwurf dieser einen Seite einmal Roland Jahn zukommen lassen will. Roland Jahn weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass »die« sich doch auch einmal überlegen sollen, wer ihnen »das« gesagt hat und auf wen man bauen kann bzw. wen man länger kennt. Wie Ralf H[irsch] erwidert, liegt aber auch viel »an Leuten hier«, wenn diese mit Beträgen handeln, die schon unnormal sind und dann noch sagen, »das war so für die beiden Zeitschriften, aber es reicht ja jetzt, wenn wir das haben«. Ralf H[irsch] bittet dann Roland Jahn, die Pakete für ihn in Zukunft zu nummerieren, weil er den Eindruck gewonnen hat, es verschwindet immer mehr. Als Roland Jahn noch einmal sein Unverständnis von Diskussionen in so einer Richtung zum Ausdruck bringt, führt das Ralf H[irsch] mit »auf so eine Notlage zumindest bei der einen Gruppe« zurück, während die andere jetzt irgendwie im Überfluss schwimmt. Deshalb versteht Ralf H[irsch] solche Diskussionen auch ein bisschen. Ralf H[irsch] betont danach noch einmal, dass diese eine Gruppe »absolut in einer Notlage ist und man merkt, dass da selbst [die] ›UB‹ kalte Füße bekommt, weil es nach eurem Telefongespräch wieder einmal ein bisschen heiß geworden ist« (wörtlich). »Was heißt hier nach unserem Telefongespräch?«, möchte Roland Jahn wissen. Wie Ralf H[irsch] erklärt, meint er das Telefonat von Roland Jahn mit Wolfgang Rüddenklau. 5 Danach hatten wir die »Staasi« auf dem Hals, stellt Ralf H[irsch] fest. Roland Jahn entgegnet darauf, dass Ralf H[irsch] mit solchen Äußerungen vorsichtig sein soll, weil »das« nichts mit »unserem Telefongespräch« zu tun hat. Als Ralf H[irsch] aber auf seinem Standpunkt beharrt, verwahrt sich Roland Jahn gegen den Vorwurf »falsch telefoniert« zu haben, wobei man auch nicht Wolfgang Rüddenklau diesen Vorwurf machen kann. Wie Ralf H[irsch] richtigstellt, geht es hier nur um Wolfgang Rüddenklau, dem man einen Vorwurf macht. Roland Jahns Argumentation, dass Wolfgang Rüddenklau ihm gegenüber nur von seinem Verhör berichtet hat und von nichts anderem, wird von Ralf H[irsch] nicht geteilt, weil dieser eben doch noch von etwas anderem gesprochen hat. Sie haben das aber nun schon mit Wolfgang Rüddenklau geklärt und diesen aufgefordert, sich da herauszuhalten. Ralf H[irsch] bittet dann Roland Jahn mit darauf zu achten, dass der »Grenzfall« und die »Umweltblätter« nicht »in einen Topf« geworfen werden. Er führt das nicht nur auf eine bestimmte Eitelkeit zurück, sondern vor allem darauf, unter welchen Umständen beide erscheinen; und da gibt es doch große Unterschiede. Wie Roland Jahn bemerkt, achtet er selbst sehr darauf, hat dieses Problem aber nicht immer bis zum Endeffekt im Griff.
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Siehe Dok. 51.
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Wie Roland Jahn im Folgenden darlegt, hätte es ihm gut gefallen, wenn man taktische Gesichtspunkte ein bisschen mehr beachtet hätte. In diesem Sinne wäre es ihm wichtig erschienen, dass die SPD-Diskussion noch einmal reflektiert worden wäre. 6 Wenn etwas passiert, hätte man nämlich dann Leute, die sich auch besser dafür einsetzen würden. Ralf H[irsch] sieht das ein und erklärt dazu: »Aber die ist ja natürlich bald eine Notnummer, da konnte man nichts mehr machen, da konnte man nicht mehr ›rumfummeln‹« (wörtlich). Roland Jahn hat dafür Verständnis und es mehr unter dem Gesichtspunkt gesehen, dass man sich so Partner schaffen kann, »was auch bestimmte Schriftsteller betrifft«. Seinen Worten nach hat diese Verbindung des inhaltlichen Anliegens mit taktischen Gesichtspunkten doch bei dem »anderen Blatt« (»Umweltblätter«) gezeigt, wie sehr plötzlich Leute sensibilisiert waren, als sie davon hörten, dass so etwas beschlagnahmt worden ist. Ralf H[irsch] wird diese Gedanken weitergeben. Als Ralf H[irsch] Roland Jahn auffordert, an »die Tuben« 7 zu denken, meint dieser, jeden Tag daran zu denken. Ralf H[irsch] weist darauf hin, dass das wirklich ganz dringend ist. Lachend äußert Roland Jahn, nicht nur daran, sondern auch an viele andere Dinge zu denken. Er würde es gut finden, wenn Ralf H[irsch] »das« einmal ausrichten könnte. Wie Ralf H[irsch] zum Ausdruck bringt, hat er das schon gemacht, wobei das vor allem für solche Leute wichtig ist, die solche Wege überhaupt nicht kennen und nicht wissen, wie so etwas läuft. Deshalb wird er auch immer mit dazugeholt, um noch einmal zu 6 Am 27.8.1987, wenige Tage vor Erich Honeckers Besuch in der Bundesrepublik, veröffentlichten die SPD-Grundwertekommission und die SED-Parteiführung, offiziell vertreten durch die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, ein Papier unter dem Namen »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. In der Folge kam es zu vielschichtigen Debatten darüber. Vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 96–108; als Innensichten Beteiligter sind aufschlussreich z. B. Erich Hahn: SED und SPD. Ein Dialog. Ideologie-Gespräche zwischen 1984 und 1989. Berlin 2002; Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer: Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Frankfurt/M., New York 2002, sowie: Erhard Eppler: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik. Frankfurt/M. 2001; Sichtweisen der Opposition auf dieses Papier sind enthalten in: IlkoSascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; spätere Reflektionen, auch von Bürgerrechtlern, enthält u.a: Karl Giebeler, Alfred Geisel (Hg.): Das SPD/SED-Dialogpapier. Ist mit der Ideologie auch der Streit erledigt? Bad Boll 2003. Am 14.10.1987 kam es zudem in Freudenberg (Gustav-Heinemann-Akademie) zu einer Debatte über das SPD/SED-Ideologiepapier, an der neben bundesdeutschen Politikern auch Rolf Reißig (SED) sowie Jürgen Fuchs teilnahmen, aus dem Auditorium meldete sich Roland Jahn zu Wort, der unter Berufung auf das SPD/SED-Papier forderte, dass er auch in Ost-Berlin an Debatten teilnehmen wolle (vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 105–106). Das Wortprotokoll der Tagung ist in dem von Fuchs und Jahn zusammengestellten und in die DDR eingeschmuggelten Reader »dialog« (Nr. 8/87) enthalten. Das MfS verfügte zudem über Exemplare. Bei der Durchsuchung der »Umweltbibliothek« sowie daran anschließend von Privatwohnungen sind auch zahlreiche Exemplare dieser »dialog«-Ausgabe vom MfS konfisziert worden. Ausschnitte wurden auch veröffentlicht in: Umweltblätter vom 1.11.1987, S. 2–5. 7 Gemeint ist die Druckfarbe (Patronen).
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richten, wobei brisante Sachen nicht gemacht werden, ohne ihn vorher zu fragen, ob so etwas sein könnte. In diesem Zusammenhang vergewissert sich Roland Jahn, dass Ralf H[irsch] auch weiß, von wem manche Gerüchte ausgestreut werden. Unabhängig von diesen Gerüchten besteht nach Roland Jahns Worten auch der Ansatz, ihn zu instrumentalisieren. Wie Ralf H[irsch] erwähnt, ist in diesem Sinne die »Ehrenmitgliedschaft« Roland Jahns in der UB nicht gut, 8 was auch von Roland Jahn selbst bestätigt wird. Ralf H[irsch] erwähnt, dass dieser Fakt hier von ganz normalen Leuten bei uns überhaupt nicht lächerlich gefunden wird und man sich von dieser Methode distanziert; nicht von Roland Jahn. Wie Roland Jahn darlegt, ist doch so etwas verständlich. Obwohl er das selbst nicht gut findet, steht er aber gleichzeitig auf dem Standpunkt, dass man andererseits die »Ost-West-Trennung« nicht bis ins Letzte durchziehen sollte. Ralf H[irsch] ist der Meinung, dass diese Sache jedenfalls ungeschickt war. Wenn man schon so etwas macht, hätte man dafür fünf oder sechs Namen nehmen und sich nicht »die goldene Kuh« herauspicken sollen. Er befürchtet, dass es dazu noch ein Nachspiel geben dürfte. Erklärend führte Ralf H[irsch] an, dass das jedenfalls so von Manfred Stolpe geäußert worden ist, als dieser das gelesen hat. Er stand auf dem Standpunkt, dass man »denen« nicht noch schriftlich Beweismittel liefern sollte. Roland Jahn würde es gut finden, wenn Ralf H[irsch] einmal ausrichten würde, dass manches, was machbar ist, nicht nur an ihm liegt, sondern in manchen Dingen von anderen Leuten abhängig ist; ansonsten würde manches anders aussehen. Ralf H[irsch] gibt Roland Jahn fast zum Abschluss der Unterhaltung den Hinweis, dass das mit dem Gerücht »aus AL-Kreisen« kommt. Roland Jahn verspricht sofort, dazu Ralf H[irsch] etwas zu schreiben, weil es da anders läuft und das mit den »AL-Kreisen« in dem Sinne nicht mehr so stimmen dürfte. Von dieser Warte aus hat er außerdem eine Schweinerei angesprochen, die da passiert ist und womit er verhindern wollte, dass gerade etwas mit diesem Namen passiert. Diesbezüglich schätzt Roland Jahn diese ganze Angelegenheit als sehr problematisch ein und rät Ralf H[irsch], sich da auch einmal an Rüdiger (Rüdiger Teichert-Rosenthal) zu wenden. Dieser hat mit seinem »DDR8 In einer Erklärung hatten sich die UB, der Umweltkreis der Zionsgemeinde und die Redaktion der »Umweltblätter« bei vielen solidarischen Unterstützerinnen und Unterstützern nach dem MfS-Überfall bedankt. U. a. hieß es: »Zum Ehrenmitglied der Umwelt-Bibliothek haben wir wegen seiner besonders verdienstvollen Hilfe den in Westberlin lebenden Jenaer Roland Jahn gewählt.« (Umwelt-Blätter vom 15.12.1987, S. 9). Im Herbst 1988 ist ihm diese Ehrenmitgliedschaft allerdings wieder abgesprochen worden. SED und MfS hatten seit Anfang 1988 immer wieder öffentlich behauptet, Jahn wäre Mitarbeiter westlicher Geheimdienste. Diese Behauptung streuten sie auch mittels gefälschter Briefe sowie zahlreicher IM in West-Berlin und im Bundesgebiet. Einige Mitglieder der UB und der KvU glaubten diesen Gerüchten und setzten deshalb die Aberkennung durch. U. a. BStU, MfS, HA XX/AKG 724; schriftliche Mitteilung von Wolfgang Rüddenklau am 2.11.2011.
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Blick« erleben können, »wie manche hier mit ›euch‹ Schindluder treiben, politische Veranstaltungen und Diskussionen durchführen, um so hier ihre eigene intellektuelle Befriedigung zu erreichen«. Ralf H[irsch] bemerkt dazu, dass dann solche Gerüchte natürlich noch dadurch genährt werden, wenn solche unfairen Sachen laufen und angekündigte Dinge nicht ankommen. Durch so etwas entsteht natürlich Misstrauen. Roland Jahn erachtet es als wichtig, dass sie sich gleich noch heute oder dann morgen hinsetzen und sich etwas schreiben, worin ihm Ralf H[irsch] zustimmt. 9 Abschließend fordert Ralf H[irsch] Roland Jahn auf, unbedingt an die beiden Sachen zu denken, weil das dringend ist. 15.10 Uhr
9 Der Brief von Hirsch an Jahn ist bislang nicht aufgefunden worden, zu dessen Brief siehe Anm. 3. Mit diesem Brief ist auch die erwünschte Druckfarbe nach Ost-Berlin geschmuggelt worden.
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Dokument 54 Telefongespräch zwischen Roland Jahn und Wolfgang Templin 16. Januar 1988 1 Von: MfS Quelle: BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 7, Bl. 122–143 Anmerkung: Das Telefongespräch wurde vom MfS wortgetreu mit allen Füllwörtern verschriftlicht. Es kommt hier gekürzt zum Abdruck. Wurden Kürzungen nicht erklärt, handelt es sich um Streichungen von Interjektionen, Verzögerungslauten, Wiederholungen oder Unverständlichem.
Te [Wolfgang Templin]: Hallo, Ja, hattest Du das ausgelöst oder? 2 Ja [Roland Jahn]: Was? Te[mplin]: Hattest Du das ausgelöst? Ja[hn]: Nee, nee, die ham erst mal Bandwechsel gemacht. 3 Te[mplin]: Ach so, na, das muss ja auch sein, ist klar. Ja[hn]: Wahrscheinlich hat der Typ hier die Zeitung noch nicht gekriegt. Die haben ja nur eine beschränkte Auflage. Te[mplin]: Na ja, bei mir ist seit gestern Abend auch wieder viel Bandwechsel, ja, ja, doch. Ja[hn]: Bandwechsel? Ständig? Te[mplin]: Na ja, natürlich, det hält jetzt an. Ja[hn]: Wie, draußen vor der Tür? Te[mplin]: Ja, na klar, rund um die Uhr. Ja[hn]: Ja, also, es ist gerade drei Tage her, dass die DDR-Presse die hohen Leistungen der Volkswirtschaft des vergangenen Jahres feierte. 4 Te[mplin]: Hm. 1 Dieses Dokument ist Bestandteil eines Konvoluts von Anlagen, das die DDRGeneralstaatsanwaltschaft der Sektion Kriminalistik an der HUB, Prof. Christian Koristka, für die Anfertigung von phonetischen Gutachten übergab (BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 7; siehe Dok. 71 und 72). Das Dokument trägt kein Datum. Das Datum ergibt sich aus dem Inhalt des Telefongesprächs. 2 Das ist der zweite Teil des Telefongesprächs, der erste ist offenbar durch Dritte unterbrochen worden. 3 Mit der Anspielung auf einen vermuteten Wechsel des beim Abhören des Gespräches laufenden Tonbandes erklärten sich Roland Jahn und Wolfgang Templin die vorherige Gesprächsunterbrechung. Im weiteren Verlauf wird der Bandwechsel als Synonym für auch anderweitige Beobachtungsformen benutzt. 4 Roland Jahn liest einen Zeitungsartikel vor, den er offenbar bereits im ersten Teil des Telefongesprächs begonnen hatte vorzulesen. Es handelt sich um den Kommentar: Armutszeugnis, in: Frankfurter Rundschau vom 16.1.1988. Von diesem fehlen in dem MfS-Dokument lediglich die ersten Sätze, in denen der Neujahrsempfang Honeckers sowie die Neuregelung des Geldumtausches erwähnt werden.
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Ja[hn]: So hoch waren die Leistungen freilich nicht, um ein Ungleichgewicht in der Handelsbilanz durch vermehrte Exporte auszugleichen. Trotz aller Erfolgsmeldungen lahmt die DDR-Wirtschaft so sehr, dass eine der Errungenschaften, der finanziell unbegrenzte Reiseverkehr in das südliche Nachbarland, zurückgenommen werden musste. Es ist schon ein Armutszeugnis erster Klasse, dass die sozialistische Gesellschaftsordnung wieder wirtschaftliche Probleme auf dem Rücken ihrer Bürger austragen muss. Da werden hoffentlich den SED-Propagandisten die Floskeln vom maroden Kapitalismus künftig etwas weniger flott über die Lippen kommen. Die Augen der Menschen im 2. deutschen Staat werden sich nun mehr als bisher auf die seit 1986 erweiterten Westreisemöglichkeiten richten. Bei diesen kommen Verwandte und Freunde für den Aufenthalt auf und Bonn zahlt noch ein Zehrgeld von 100 Mark. Der Druck auf die SED-Führung, diese Westreisen auszuweiten, dürfte zunehmen, zumal Bonns Vertreter in der DDR [Hans Otto] Bräutigam 5 offenbar langfristig Möglichkeiten sieht, dass die Reisenden aus der DDR ihre Ostmark gegen Westgeld offiziell umtauschen können. […] Na ja, so sieht’s halt aus. […] Dann hat die [Frankfurter] »Rundschau« noch mal das reflektiert, was gestern schon in den anderen Zeitungen war, Klage gegen den, Klageandrohung gegen den Westberliner Umweltsenator. 6 […] DDR-Umweltschützer klagen an. […] Na ja, so sieht’s halt aus. […] Die »taz« hat da auch zu den Reisesachen leider nur eine Kurzmeldung. 7 […] Aber 5 Der parteilose Diplomat Hans Otto Bräutigam (geb. 1931) arbeitete seit 1962 im Auswärtigen Amt und war von 1982 bis Anfang 1989 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, anschließend bundesdeutscher Botschafter bei der UNO in New York und von 1990 bis 1999 Justizminister in Brandenburg. Vgl. Hans Otto Bräutigam: Ständige Vertretung. Meine Jahre in Ost-Berlin. Hamburg 2009; Jacqueline Boysen: Das »weiße Haus« in Ost-Berlin. Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR. Berlin 2010. 6 »Ostberliner Ökologen haben dem Westberliner Umweltsenator Starnick (FDP) eine Klage angedroht, falls die Sondermüllverbrennungsanlage Schöneiche wie geplant in Betrieb gehen sollte. ›Behalten Sie Ihren Müll, solange Sie die bestmögliche Umwelttechnik nicht mitliefern‹, heißt es in einem Offenen Brief der Ostberliner ›Umweltbibliothek‹ an den Umweltsenator. West-Berlin baut zurzeit vor den Toren der Stadt auf DDR-Gebiet eine mit veralteten Filtern ausgestattete Verbrennungsanlage für seinen Giftmüll – unter Umgehung bundesdeutscher Umweltgesetze. Mit dem Bau habe Starnick ›der deutsch-deutschen Zusammenarbeit im Umweltschutz einen schlechten Dienst erwiesen‹. Offenbar sei eine solche Sondermüllanlage ›in West-Berlin nicht zu errichten‹. Die Gruppe verweist auf die Ankündigung von Umweltminister Töpfer, solche Anlagen dort nicht zu errichten, ›wo die Leute nicht dagegen protestieren können‹. ›Wenn Sie der DDR ihren Müll verkaufen, verlangen Sie den Nachweis der ordnungsgemäßen Entsorgung‹, heißt es in dem Offenen Brief. ›Wir als Umweltschutzgruppe haben ausreichend Erfahrung, wie fahrlässig staatliche Stellen in der DDR die Müllprobleme angehen. Wir konstatieren, dass der Berliner Senat damit nicht anders umgeht.‹ Die ›Umweltbibliothek‹ fordert den Stopp des West-Berliner Müllexports in die DDR, solange es in der DDR keine öffentliche Kontrolle gebe, ob der Müll ordnungsgemäß gelagert wird.« (taz vom 15.1.1988) 7 »Die DDR hat mit Beginn dieses Jahres trotz aller Dementis Devisenbeschränkungen für Reisen in die Tschechoslowakei eingeführt und damit Fahrten ihrer Bürger in das bisher einzige ohne Visumzwang und nur mit Personalausweis zugängliche Reiseland drastisch eingeschränkt. Laut ADN
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die haben dafür alle die Meldung von dem sowjetischen Journalisten, der Dubček 8 und Sacharow, äh, Dubček und Gorbatschow vergleicht. Te[mplin]: Ein sowjetischer Journalist? Ja[hn]: Ja. Te[mplin]: Und wo? Ja[hn]: Warte mal – ich kann’s Dir gleich sagen – Chefredakteur der Wochenzeitschrift »Ogonjok« […] stellt Prager Frühling mit Perestroika auf eine Stufe. Unterschiede vor allem in den Persönlichkeiten der Führer. Te[mplin]: Ach! Ja[hn]: Ja. Der Chefredakteur der sowjetischen Zeitung »Ogonjok« Vitali Korotitsch 9 hat einen Vergleich zwischen dem früheren tschechoslowakischen Reformer Dubček und dem sowjetischen Parteichef Gorbatschow gezogen. Dabei vertrat er die Auffassung, dass der als Prager Frühling in die Geschichte eingegangene Reform[versuch in] der Tschechoslowakei vor 20 Jahren an der Führungsschwäche Dubčeks gescheitert sei. Dubčeks Schwäche habe dazu geführt, dass ihm die Reformprozesse aus der Hand geglitten sei[en], sagte Korotitsch am Donnerstag in Wien. Gorbatschow drohe dieses Schicksal nicht, da er den Erneuerungsprozess in allen Einzelheiten unter Kontrolle habe. 10 Ich meine, es ist ja nicht unbedingt ein Kompliment, ja. Te[mplin]: Also könnte man die berühmte Leninsche Verkürzung mit der Sowjetmacht und der Elektrifizierung 11 heute auf die Formel bringen: Gorbatschow gleich Dubček minus Führungsschwäche, wa? vom Donnerstag [14.1.1988] darf künftig jeder DDR-Bürger nur noch 11 Tagessätze zu je 40 DDRMark pro Jahr in tschechische Kronen wechseln.« (taz vom 16.1.1988) 8 Alexander Dubček (1921–1992), Slowake, 1968/69 Erster Sekretär der KPČ (Komunistická strana Československa, KSČ, dt. Kommunistische Partei der Tschechoslowakei, KPČ), nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« faktische Machtenthebung, 1970 Ausschluss aus der KPČ, anschließend in der Forstverwaltung Bratislava tätig. Im Zuge der Revolution wurde Dubček, die Symbolfigur für den »Prager Frühling«, am 28.12.1989 zum Parlamentspräsidenten der ČSSR gewählt. Er starb an den Folgen eines Autounfalls am 7.11.1992. 9 Vitali A. Korotitsch (geb. 1936) war von 1986 bis 1991 Chefredakteur der traditionsreichen Wochenzeitschrift »Ogonjok«, die er sofort zum Reformblatt im Sinne Gorbatschows umgestaltete. 10 Jahn las eine AP-Meldung aus der »taz« vom 16.1.1988 vor. 11 Am 21.11.1920 sagte Lenin: »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes – denn ohne Elektrifizierung ist es unmöglich, die Industrie hochzubringen.« (W. I. Lenin: Unsere außen- und innenpolitische Lage und die Aufgaben der Partei. Rede auf der Moskauer Gouvernementskonferenz der KPR(B), 21.11.1920, in: ders.: Werke. Bd. 31: April–Dezember 1920. 8. Aufl., Berlin 1983, S. 414; in der russischen Ausgabe, Bd. 25, Moskau 1935, findet sich das Zitat auf S. 491.) Auf dem 8. Gesamtrussischen Sowjetkongress, der vom 22. bis 29.12.1920 stattfand, bekräftigte er: »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes. Sonst wird das Land ein kleinbäuerliches Land bleiben, und das müssen wir klar erkennen. Wir sind schwächer als der Kapitalismus, nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch im Innern unseres Landes. Das ist allbekannt. Wir haben das erkannt, und wir werden es dahin bringen, dass die wirtschaftliche Grundlage aus einer kleinbäuerlichen zu einer großindustriellen wird. ... erst dann werden wir endgültig
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Ja[hn]: Ja, ja – nee, die andere Seite ist natürlich die, in der Form der Durchsetzung zeigt sich ja och ’ne inhaltliche Position. Ja – und – Te[mplin]: Na ja, sicher doch, na ja, aber was mich eben erstaunt, dass der das dort so ungeniert vergleicht und vertritt. Ich weiß nun nicht einmal, ob in dem Artikel oder Gespräch, das müsste man mal … Ja[hn]: In dem Gespräch, wie es aussieht. Te[mplin]: Na ja, da sagt man viel, wenn der Tag lang ist, aber – Ja[hn]: Ja, sie, manche Ostjournalisten selbst sind auch erstaunt, wenn sie sich dann gedruckt sehen. Te[mplin]: Aber hiesige –. Na ja klar, aber hiesige Chefredakteure sind wahrscheinlich auch inoffiziell ein bissel vorsichtiger bei der Wahl ihrer Vorlieben und ihrer und der Benennung ihrer Sympathien für uns, die sie unzweifelhaft haben werden. Ja[hn]: So, eine andere Meldung aus Wien: Die tschechoslowakische Bürgerrechtsbewegung Charta 77 unterstützt einen Appell ungarischer Dissidenten an alle Unterzeichnerstaaten des Helsinkiabkommens. […] Das verlauteten gestern Abend tschechoslowakische Kreise in Wien. In dem Appell war die Garantie des Rechts auf die Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen eingefordert und darauf aufmerksam gemacht worden, dass in Osteuropa Hunderte im Gefängnis säßen, weil sie den Wehrdienst verweigerten. […] Den Angaben zufolge veröffentlichte Charta 77 am 2. Januar in Prag ein Dokument, in dem es unter anderem heißt: In einem geteilten Europa kann es keine dauerhafte Entspannung geben, so lange es Leute gibt, die verfolgt werden, weil sie sich weigern, andere Leute als ihre Feinde zu betrachten. 12 […] Kennst Du den Appell schon? Te[mplin]: Nein, kenn ich nicht. Ja[hn]: Aha, na gut. Te[mplin]: Sag mal, jetzt soll ein Interview mit Dubček, das wohl ursprünglich in der »L’Unita« erschien, in verschiedenen gekürzten Fassungen »Frankfurter Rundschau« oder »Zeit«? Ja[hn]: Ja, als erstes war es in der »taz«. Te[mplin]: Ah so, »taz«, richtig. Das –.
gesiegt haben.« (Ders.: Bericht über die Tätigkeit des Rats der Volkskommissare, 22.12.1920, in: ders.: Werke. Bd. 31, S. 513; in der russischen Ausgabe, Bd. 26, Moskau 1935, findet sich das Zitat auf S. 46.) 12 Am 2.1.1988 gab die »Charta 77« zwei Erklärungen heraus (Charta 2/88 und 3/88). Neben den von Jahn erwähnten Sachverhalten rief die »Charta 77« zur Solidarität mit der rumänischen Bevölkerung auf und forderte die europäischen Gesellschaften auf, sich an dem für den 1.2.1988 von der »Charta 77« geplanten Rumänien-Tag zu beteiligen (das Dokument ist abgedruckt in: Blanka Císařovská, Vilém Prečan (Hg.): Charta 77: Dokumenty 1977–1989. Bd. 2: 1984–1989. Prag 2007, S. 971–973.
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Ja[hn]: Als erstes war es in der »taz«, weil ein »taz«-Redakteur sich über Nacht hingesetzt hat und hat die »L’Unita« übersetzt. […] Ja. Da war es Mittwoch drinne. Te[mplin]: Hm, jetzt Mittwoch? Ja[hn]: Was? Te[mplin]: Mittwoch. 13 Ja[hn]: Ja, frag mal den Kleenen 14, der müsste das schon haben. Te[mplin]: Wie umfangreich? Ja[hn]: Vollständig. Te[mplin]: Ah, das ist ja gut. Ja[hn]: Über zwei Seiten in der »taz«. Te[mplin]: Das ist ja sehr gut. Ja[hn]: Den Kleenen fragen, der hat’s glaube ich schon. […] Ja. Und ansonsten ist es in der »Zeit« dann och vollständig. 15 Te[mplin]: Das ist ja sehr gut. […] Ja[hn]: Du, ich hab’s noch gar nicht richtig gesehen. Te[mplin]: Ach so. Ja[hn]: Ich hab’ doch mit der anderen Sache zu tun gehabt, hier, ja. Mit der Müllgeschichte. 16 Te[mplin]: Ach so, richtig. Ja. Ja[hn]: DDR-Ideologe Hager hat ja gestern im Neuen Deutschland, – hast es gesehen? 17 […] Das letzte Neue Deutschland. Als Hager wieder was gesagt hat? Te[mplin]: Ja, ja. Ja[hn]: Eh, kein Nachholbedarf in Sachen Demokratie. […] Kennste, ja? Te[mplin]: Ja, ich weeß und das ausgesprochen vor der Eisernen Garde, weeßte, den ML-Grundpropagandisten. […] Das ist dann ihre Kohorte, die sie unbedingt zusammenhalten wollen. […] Fallen darf alles, aber nicht MLGrundstudium. Ja[hn]: Du hast’s zu Hause? Te[mplin]: Bitte? Ja, ja hab’ ich.
13 Vgl. Erich Rathfelder: Dubček setzt auf Moskauer Frühling. Interview in L’Unita. Prager Frühling und Moskauer Reform verglichen. Dubček hofft auf Rehabilitierung, in: taz vom 11.1.1988 (Montag). 14 Gemeint ist Ralf Hirsch. 15 Alexander Dubček über Gorbatschows Reformpolitik, den »Prager Frühling« von 1968 und die Gründe seines Scheiterns, in: Die Zeit vom 15.1.1988. 16 Es geht um die Proteste gegen die DDR-Mülldeponie Schönberg, an der innerdeutschen Grenze gelegen, wo gegen Devisen, aber unter maroden Umständen Müll und Sondermüll aus WestBerlin und der Bundesrepublik entsorgt wurde. Siehe Anm. 6. 17 Vgl. Unsere Gesellschaftskonzeption – eine Strategie von humanistischem Charakter. Kurt Hager über aktuelle Aufgaben des marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums. Von unserem Berichterstatter Holger Becker, in: ND vom 15.1.1988.
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Ja[hn]: Welche –. Ich hab’s nämlich noch gar nicht richtig gelesen. Welche Ausgabe war das, am Freitag? 18 Te[mplin]: Du, es ist nicht bei mir, sondern ist aber in der Nähe, weißt du, – so deswegen. Ja[hn]: Gut. […] Jetzt lese ich dir gleich die Meldung des Tages vor. […] Die Meldung des Tages, warte. So, wo ist se, wo isse. Die Meldung des Tages kommt. Aha hier: Die Konferenz der Evangelischen Kirchen, und das muss ich in der Westzeitung lesen. […] Die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung der DDR ist offenbar als Konsequenz aus den Vorgängen um die Ostberliner Zionskirche auf Distanz zu kirchennahen Friedens- und Umweltgruppen gegangen. 19 Wie aus einer gestern verbreiteten Pressemitteilung des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR hervorgeht, wurde auf der ersten Sitzung der Kirchenleitung in diesem Jahr in Frageform – . Te[mplin]: Also der Konferenz? Ja[hn]: Ja, ja. Te[mplin]: Ja, ja. Ja[hn]: In Frageform unter anderem kritisiert, dass einzelne kirchliche Mitarbeiter und Gruppen sich westlicher Medien bedienten, Zitat: um gesellschaftliche Kräfte und staatliche Instanzen zum Gespräch zu nötigen, zu nötigen. 20 […] Die in der Zionsgemeinde untergebrachte »Umweltbibliothek«, die sich in kircheninternen Publikationen kritisch mit der Umweltpolitik der DDR auseinandersetzt, war im November vorigen Jahres Ziel umfangreicher staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen, die mittlerweile aber eingestellt wurden. Die Vorgänge um die Kirchengemeinde im Prenzlauer Berg, im Bezirk Prenzlauer Berg 21 sollen im März auf einer Klausurtagung in der Kirchenleitung als politische Analyse der Situation erneut erörtert werden. Dazu wurden mehrere –. 18 Das Interview war abgedruckt in der Freitagsausgabe. 19 Vgl. MfS, ZAIG, Information Nr. 37/88 über die 115. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (KKL) in der DDR vom 8. bis 9. Januar 1988 in Berlin, 21.1.1988, in: Die DDR im Blick der Stasi 1988. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, bearb. von Frank Joestel. Göttingen 2010, enthalten auf der beigelegten CD-ROM oder unter www.ddr-im-blick.de. 20 Wörtlich hieß es in einer Erklärung »Folgerungen aus den Vorgängen bei der Zionskirchgemeinde«, die der Magdeburger Bischof Christoph Demke (geb. 1935) unterzeichnete: »Die Kirchenleitungen haben sich im Umfeld der Gründung des Bundes dafür entschieden, das Gespräch mit den gesellschaftlichen Kräften in unserem Lande direkt zu führen und nicht auf dem Umweg über westliche Medien. Zunehmend haben die Kirchenleitungen davon abgesehen, die westlichen Medien als Machtverstärker einzusetzen. Zugleich waren sie bemüht, durch diese Medien ein möglichst heutiges Bild vom kirchlichen Leben in unserem Lande auch in die Bundesrepublik hinein zu vermitteln. Einzelne Mitarbeiter und verschiedene kirchliche Gruppen sind jetzt allem Anschein nach der Auffassung, dass westliche Medien bewusst als Mittel für die Gestaltung der Verhältnisse in der DDR eingesetzt werden sollten, um gesellschaftliche Kräfte und staatliche Instanzen zum Gespräch zu nötigen. Dafür spricht die Erfahrung, dass Druck nicht nur Gegendruck, sondern Nachdruck auch Hörbereitschaft erzeugen kann.« (ebenda). 21 Die Zionskirche/Zionsgemeinde befindet sich nicht in Berlin-Prenzlauer Berg, sondern in Berlin-Mitte.
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Te[mplin]: Moment. Die Vorgänge sollen im März auf einer Klausurtagung erörtert werden? 22 Ja[hn]: Ja, ja. […] Dazu wurden mehrere Fragen formuliert, in denen Kritik an einzelnen Kirchenmitarbeitern und Gruppen laut wird. Te[mplin]: Kirchenmitarbeitern heißt auch Theologen oder? Ja[hn]: Durchaus möglich. Te[mplin]: Ja, ja. Hm, ja. Ja[hn]: Auf alle Fälle, der entscheidende Punkt ist dieses Zitat, dass sie sich [der] westlichen Medien bedienen, um gesellschaftliche Kräfte und staatliche Instanzen zum Gespräch zu nötigen. Te[mplin]: Na ja. Ja[hn]: Ich meine, das ist eine Unterstellung. Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Die, die durchaus ’ner Entschuldigung bedarf. Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Ich meine, ich würde sagen, dass solche Leute sollen doch fordern, dass die Mauer ein bissel höher gezogen wird, dass sämtliche Journalisten, wo auch immer her, ob von der kommunistischen Presse oder sonst woher, aus dem westlichen Ausland, ausgewiesen werden, ja –. Te[mplin]: Ja. Und jeder, und jeder, jeder Bischof, der hier weiter Westinterviews gibt, ein Disziplinarverfahren kriegt. Oder wie? Ja[hn]: Genau, genau, ja? Also das würde ich fordern. […] Also da muss ganz klar und deutlich mal … Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: … reagiert werden, denke ich. Te[mplin]: Also, det ist mehr als eine fette Sauerei. Ja[hn]: Ja. Und ich würde mich nicht auf die Diskussion einlassen des Umweges Westen, dass er notwendig ist, weil, weil –. Te[mplin]: Nee, auf keinen Fall. Ja[hn]: – im Osten das nicht möglich ist. Te[mplin]: Die Kirchenleitung gehört ja zu den Leuten, die Bemühungen, den Dialog direkt zu führen, weiß Gott nicht gerade unterstützt, indem sie nämlich die Praxis des verdeckten Gespräches betreibt und –. Ja[hn]: Erstens das und zweitens denke ich ist, dass es nirgends irgendwo ’nen Hinweis gab, dass irgendjemand sich direkt an Westpresse gewandt hat. Sondern, wenn hier Berichte im Fernsehen oder Zeitungen waren, war das nur 22 Vgl. MfS, ZAIG, Information Nr. 118/88 über die außerordentliche Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (KKL) in der DDR am 3. März 1988 in der Hauptstadt der DDR, Berlin, 5.3.1988, in: Die DDR im Blick der Stasi 1988. Die geheimen Berichte an die SEDFührung, bearb. von Frank Joestel. Göttingen 2010, S. 124–129; MfS, ZAIG, Information Nr. 146/88 über die 116. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (KKL) in der DDR vom 11. bis 13. März 1988 in Buckow, 21.3.1988, in: ebenda, S. 151–156.
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eine Reflexion dessen, was in der DDR abläuft. […] Ja. Und ich schätze, sie werden natürlich wieder Folgendes gemacht haben, die werden immer, vielleicht sind das auch die Ergebnisse von Telefongesprächsmitschnitten, die sie bei einigen Kirchenfürsten vorgespielt haben. Verstehst de? Te[mplin]: (Lachen) Ja, ja. Ja[hn]: Denn so wie sie dieses Gespräch zwischen [Wolfgang] Rüddenklau und mir am nächsten Früh schon den Kirchenfürsten im Staatssekretariat vorgespielt haben. 23 Ja. Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Nun kann durchaus sein, dass da irgendwelche Diskussionen, die geführt worden sind, vielleicht zwischen uns beiden oder sonst wem –. Te[mplin]: Muss ich noch um meine nächtlichen Plaudereien bangen. Ja[hn]: Wahrscheinlich. Te[mplin]: Nee, Roland, uns gesteht man überhaupt keine Intimsphäre mehr zu, was. Ja[hn]: Na ja. Und die andere Diskussion, die ich vielleicht führen würde, ist, also, so wie ich’s vorhin sagte, inwieweit es überhaupt noch ’ne Ost-WestTrennung gibt, ja? Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Wenn »Kennzeichen D« im Palast der Republik sendet, wenn Herr Reinhold im »Kennzeichen D« auftritt, ja? 24 Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Wenn, wenn Gemeinschaftssendungen […] während des HoneckerBesuches stattfanden […] mit Liveschaltungen und solche Sachen, in dieser Zeit versuchen hier einige ihr verinnerlichtes Denken, was sie sonst angreifen – Te[mplin]: Ja, ja. Ist klar. 23 Vgl. Dok. 51. 24 Das ZDF-Politmagazin »Kennzeichen D« konnte am 9.9.1987 erstmals live aus dem »Palast der Republik« eine Ausgabe aus der DDR ausstrahlen. Zur gleichen Zeit weilte Honecker zum Staatsbesuch in der Bundesrepublik. In der Sendung traten u. a. Egon Bahr, Max Schmidt (geb. 1932, SED-Funktionär, SED-Friedensforscher und Direktor des SED-Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft), Hermann Kant, Altbischof Albrecht Schönherr (1911–2009, Bischof in BerlinBrandenburg 1972–1981 und 1969–1981 Vorsitzender der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung), Hanns Werner Schwarze (1924–1991, Journalist und Publizist, der mit der ZDF-Sendung »Kennzeichen D« bekannt wurde), Katja Ebstein (geb. 1945, die Sängerin war auch in der DDR sehr beliebt und trat seit 1983 mehrfach dort auf) und die Gruppe »City« (eine 1972 in Ost-Berlin gegründete Rockband, deren LP »Am Fenster« von 1977 es als erste DDR-Rockproduktion in der Bundesrepublik – und Griechenland – 1978 zu Gold schaffte. Ihre LP »Casablanca« von 1987 war Teil der »Untergangsmusik« der DDR, der Sänger Toni Krahl war 1968 wegen seiner Proteste gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in der ČSSR zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Zur zeithistorischen Bedeutung von »City« Ende der 1980er Jahre vgl. knapp Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 166–167) auf. Das Interview von »Kennzeichen D« mit Otto Reinhold ist in der Sendung vom 26.8.1987 ausgestrahlt worden.
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Ja[hn]: Die haben das aber in den Köpfen drinne, weiter fortzusetzen. Also ich denke, dass wir da irgendwo mal ’n Schuss loslassen sollten. Mal sehen. Aber das ist, dies eines, die Meldung des Tages, ja. Te[mplin]: Ja, würde ich auch so sagen. Ja[hn]: Ganz versteckt hier. Te[mplin]: Für heute ist es diese. Ja[hn]: He? Te[mplin]: Ich sage, für heute ist es diese, ja! Ja[hn]: Das ist ja klar. Na gut, sag’ mal wie ist es denn bei anderen Leuten so. Haben die auch alle Aufgebot? Te[mplin]: Von einzelnen weiß ich’s. Bei anderen müsste ich noch einmal … Ja[hn]: Ich habe gehört, es soll einige ultimative Ausreisen gegeben haben oder heute geben? Te[mplin]: Bis gestern gab’s, ja, sehr kurzfristige. Ja[hn]: Wie? Sind die heute angekommen hier? Te[mplin]: Müssten, ja. Ja[hn]: Aha. Te[mplin]: Ja, ja, so nach und nach, ja. Ja[hn]: Innerhalb [von] wie viel Stunden? Te[mplin]: Zum Teil unter 24. Ja[hn]: Aha. Nee, ich hoffe nur, dass da keiner durch, durch eine öffentliche Äußerung jetzt einiges versucht, an Zusammenhängen herzustellen, die dann in ’ne falsche Richtung gehen. Te[mplin]: Nee, ich hoffe nicht. Ja[hn]: Ja! Te[mplin]: Ich hoffe nicht, also was ich bisher sehen kann, da denke ich nicht. Ach so, warte mal, ich les’ Dir mal was vor, ja. Ja[hn]: Ja. Te[mplin]: Det wäre doch ganz gut. Kleinen Moment mal. Hallo? Ja[hn]: Ja? Te[mplin]: Ja, det wird jetzt hier überall, das ist auch schon übergeben worden und wird jetzt überall verlesen, aber es ist einfach mal zur Information, ja? […] Initiativkreis der Gruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR distanziert sich im Voraus von Provokationen, die auf der Demonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 17.1. unter dem Namen unserer Arbeitsgruppe durchgeführt werden. Also werden könnten meint das ja, natürlich – Mitglieder unserer Arbeitsgruppe folgen dem allgemeinen Aufruf zur Kampfdemonstration und treten nicht als Organisation, Vereinigung oder Ähnliches auf. Wir haben auf der letzten Zusammenkunft unserer Arbeitsgruppe mehrheitlich folgende Zitate aus dem Werk Rosa Luxemburgs als Losung für diese Demonstration festgelegt: »Freiheit ist immer die Freiheit der
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Andersdenkenden«, 25 »Der einzige Weg zur Wiedergeburt: breiteste Demokratie«, 26 »Nur wer sich nicht bewegt, spürt auch die Fesseln nicht.« 27 Ausdrücklich wurde sich darauf geeinigt, keine anderen Losungen mitzuführen. Weitere Losungen und Aktivitäten gehen folglich nicht auf die Arbeit unserer Gruppe zurück. Provokationen und Störungen der Veranstaltung sind von uns nicht beabsichtigt und finden, auch wenn sie unter unserem Namen durchgeführt werden, nicht unsere Unterstützung. Elf Unterschriften. Ja[hn]: Gut! Te[mplin]: Das heißt, es kann natürlich andere Inhalte geben, die keine Provokation sind, die kommen dann aber von anderen Gruppen. Ja[hn]: Na ja, klar. Te[mplin]: Das ist also auch klar. Nur für die ist es wichtig, sich dadurch noch mal ausdrücklich … Ja[hn]: Es ist ein Fehler drinne. Man hätte durchaus den Bezug nehmen sollen, warum man diese Erklärung schreibt. Ja? Te[mplin]: Ja, weeß ich nicht, ob sie’s wollten. Ja[hn]: Ja, is klar. Te[mplin]: Ist klar, aber das wurde ja deutlich vorher so gesagt. Hm. Ja[hn]: Kannst Du mir noch mal vorlesen. Ich habe das nicht so richtig mitgekriegt? Te[mplin]: Ja. Der Initiativkreis der Gruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR distanziert sich im Voraus von Provokationen, die auf der Demonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 17.1.1988 28 unter dem Namen unserer Arbeitsgruppe durchgeführt werden. Ja[hn]: Könnten. Te[mplin]: Ja, müsste es heißen, aber steht hier nicht. Mitglieder unserer Arbeitsgruppe folgen dem allgemeinen Aufruf zur Kampfdemonstration und treten nicht als Organisation, Vereinigung oder Ähnliches auf. Wir haben auf 25 Dieses berühmte Zitat von Rosa Luxemburg hat sie selbst nie veröffentlicht. In einer handschriftlichen Bemerkung schrieb sie in einer Auseinandersetzung mit den russischen Revolutionären an den Rand eines unfertigen Manuskriptes: »Freiheit nur für Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird.« (Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: dies.: Gesammelte Werke. Bd. 4, Berlin 1974, S. 359, Anm. 3.) 26 Das Zitat lautet vollständig: »Der einzige Weg zu dieser Wiedergeburt: die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkte breiteste Demokratie, öffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft demoralisiert.« (ebenda, S. 362) 27 Dieses Zitat lässt sich nicht nachweisen und nicht Rosa Luxemburg zuordnen. Wir danken Bernd Florath für Gespräche und Recherchen zu diesem Zitat. Die Originalabschrift des MfS fügte übrigens alle drei Losungen zu einer einzigen zusammen und tat sich naturgemäß schwer, dabei eine sinnvolle Interpunktion zu finden. 28 Beim vorherigen Vorlesen wurde die Jahreszahl nicht genannt.
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der letzten Zusammenkunft unserer Arbeitsgruppe mehrheitlich folgende Zitate aus dem Werk Rosa Luxemburgs als Losung für diese Demonstration festgelegt: »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden«, »Der einzige Weg zur Wiedergeburt: breiteste Demokratie«, »Nur wer sich nicht bewegt, spürt auch die Fesseln nicht.« 29 Ausdrücklich wurde sich darauf geeinigt, keine anderen Losungen mitzuführen. Weitere Losungen und Aktivitäten gehen folglich nicht auf die Arbeit unserer Gruppe zurück. Provokationen und Störungen der Veranstaltung sind von uns nicht beabsichtigt und finden, auch wenn sie unter unserem Namen durchgeführt werden, nicht unsere Unterstützung. Ja[hn]: Hm. Na ja. Te[mplin]: Und det ist gestern auch noch zum Teil direkt übergeben worden dann. Ja[hn]: Wem? Te[mplin]: Inneres wohl, Abteilung Inneres zum Teil und anderen Institutionen. Also, wem nun jetzt darüber hinaus genau weiß ich nicht, auf jeden Fall den Leuten. […] Also, zum Teil wohl auch direkt, weil für manche wurde wohl das zwei-, dreimal wiederholt, diese Vorladung. 30 Ja[hn]: Ah, und jedes Mal in die Richtung Provokation und so. Te[mplin]: Zum Teil eben noch gestaffelt. Zunächst mal vor Missbrauch gewarnt und unter Missbrauch schon unabhängige Teilnahme verstanden. Denn wenn man sagt, also jeder Inhalt, der nicht vom Veranstalter vorab bestimmt ist, ist ein Missbrauch […] es is ’ne sehr idiotische Auslegung. Ja[hn]: Na ja, das ist ja sonst auch nicht so gegeben. Te[mplin]: Eben. Ja. Bis man sagt, sie können machen, was sie wollen, also, wenn’s zu anderen Inhalten kommt, beispielsweise, dann werden sie damit in Verbindung gebracht. Ja[hn]: He. Ist klar. Nee, da ham sich erstmal –. Te[mplin]: Ja, hm. Falls es direkt zu »Zuführungen« oder Verhaftungen kommen sollte, nehme ich an, dass das auch irgendwie bekannt wird. Ja[hn]: Ja ja, is schon klar! Te[mplin]: Und dann auch entsprechend andere Leute erreicht. Also –. Ja[hn]: Is klar. Ich werd beizeiten aufstehen. […] Te[mplin]: Kann sein, dass das um der Sicherheit willen heut schon angeht. Det weeß ich nicht, wie sie sich da, aber –. Ja[hn]: Na ja. Da schießen sie sich aber ein Selbsttor.
29 Die Losungen wurden auch hier in der MfS-Abschrift wieder nicht voneinander unterschieden, aber anders interpunktiert als in der vorherigen Variante – vgl. Anm. 27. 30 Im Vorfeld der Demonstration sind Dutzende Personen ermahnt worden, nicht zu dieser Demonstration zu gehen.
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Te[mplin]: Ja, allerdings, denn diesmal, diesmal müssen sie die Arme weit aufmachen also. Ja[hn]: Können wir ihnen deutlich, deutlich noch mal sagen. […] Dass sie eigentlich da die Sache nur populär macht. […] Wenn sie’s tolerieren, dann machen se nur Gewinn. Te[mplin]: Ja, dann machen sie es auch populär, aber das ist – dann machen sie noch ein Plus dabei, weeßte. Ja[hn]: Die machen das nicht populär. Te[mplin]: Äh, nicht. Also nicht annähernd so, verstehste? Ja[hn]: Ja, aber – Te[mplin]: Sicher nicht. Ja[hn]: Ja, aber sich selbst machen sie populär. Te[mplin]: Ja, das auch, na sicher, doch das gibt da ein Plus und das würde ich ihnen ja nur wünschen. Ja[hn]: Sich selbst und Rosa [Luxemburg] machen sie dann populär. Te[mplin]: Ja, doch. Ja. Ja[hn]: Das kann man ihnen nur wünschen. Ja. Te[mplin]: Natürlich. Ja[hn]: Und Kurt Hager hätte sogar ’ne Bestätigung (Lachen). Te[mplin]: Ja, na eben. Ja[hn]: Guck mal an, wir ham doch hier bei den ganzen Westreisen, da verweisen sie doch immer auf den Kirchentag. 31 […] Und da hätten sie endlich mal wieder nach der ganzen Zionsgeschichte, mal wieder ein Argument, ja. Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Kirchentag und Palmemarsch 32 haben sie immer verwiesen. Te[mplin]: Na eben. Ja[hn]: Jetzt könnten sie, nachdem dann immer die Vorwürfe – aber Zions, dann könnten sie sagen, ach das war nur […] ein Missverständnis. Te[mplin]: Ja eben. Ja[hn]: Es zeigt sich Kontinuität daran, wie das da bei Luxemburg war. Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Und das würde man ihnen raten können, dass sie das so machen. Ja. Na ja. Hast Du [den] neuen »Feuermelder« schon gesehen?
31 1987 fand erstmals seit 1951 in Ost-Berlin wieder ein evangelischer Kirchentag statt, zu dem zahlreiche westdeutsche Prominente einreisten. 32 Zwischen dem 1. und 18.9.1987 fand der Olof-Palme-Friedensmarsch statt. Erich Honecker hielt sich während dieser Zeit zu einem Besuch in der Bundesrepublik auf. So konnte die SED die Teilnahme von Oppositionsgruppen nicht verhindern, ohne ihre Selbstdarstellung als friedensfördernder Faktor in Europa zu beschädigen. Unbehelligt konnten Oppositionelle öffentlich ihre Forderungen erheben. Vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 245–246.
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Te[mplin]: Warte mal, ich habe einen vom, das ist wohl Dezember. Da ist so ’ne Art Resümee drin. 33 […] Da sind zum Teil ganz gute Sachen. 34 Ja[hn]: Na gut. Mal sehen. Sag mal. Te[mplin]: Na, ich musste erst mal den neuen »Grenzfall« lesen, der mir irgendwie in die Hände fiel, weeßte. 35 Ja[hn]: Ja, ist schon klar. Reinhard Weißhuhn ist ja ganz gut, ja? Te[mplin]: Ja. Das fand ich eben auch, also das hat mir sehr gefallen dort. 36 Ja[hn]: Na gut, vielleicht wird das am Monatsende auch noch mal reflektiert … Es wär’ übrigens ganz gut, sogar –. Te[mplin]: Moment, kleinen Moment. Hallo? (Te[mplin] sagt zu seinem Sohn Sascha 37: Ja, ich hab’ mich ein bisschen deines Stübchens angenommen, Sascha, wie du siehst.) Ich hab’ nur, ich hab’ nur unseren lieben Sohn begrüßt, der gerade nach Hause kommt, der mir jedes Mal die letzten Zahlen von unten mitbringt. Ja[hn]: Eh, was ich sagen wollte, falls jemand mal kommen sollte, kann man immer noch – ja mal kurz anrufen. Ist immer alles drinne. Te[mplin]: Ja, das sowieso. Das mach’ ich dann. Ja[hn]: Ja. Te[mplin]: Bevor ich die Polizei anrufe, um den Überfall zu signalisieren, werde ich noch ein, zwei Freunde benachrichtigen, falls mir was zustößt. Ja[hn]: Ja. Ja. Te[mplin]: Solange hält die Tür ja aus, das sage ich Dir. Na ja doch, die ist stabil genug. Meine Nachbarn werden wahrscheinlich das ganze Haus zusammenblöken. Die sind nun mittlerweile alle geladen, also, das ist dann jedes Mal Straßengespräch, wenn dann wieder so eine Verkehrsblockade einsetzt. Und da wird langsam der ruhigste Bürger sauer, wenn der sieht, was da für Arbeitskräfte […] übern Jordan gehen. Ja[hn]: Zumal ja, der Kommentar in der »Frankfurter Rundschau« das ja auf den Punkt bringt. 38 Te[mplin]: Ja.
33 Vgl. Alles wieder beim Alten?, in: Friedrichsfelder Feuermelder, Dezember 1987, S. 1–3. 34 U. a. waren ein Offener Brief an Manfred Stolpe und der Offene Brief von Klier/Krawczyk an Hager abgedruckt worden. 35 Vgl. Grenzfall 11–12/1987, nachgedruckt in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 135–149. 36 Vgl. Reinhard Weißhuhn: Resümee von unten, in: ebenda, S. 141–143. Dieser Beitrag ist nachgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 283–287. 37 Sascha Templin ist im September 1975 geboren worden. 38 Hier bezieht sich Roland Jahn offenbar auf den am Anfang vorgelesenen Zeitungsbeitrag (siehe Anm. 4).
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Ja[hn]: Dass wegen der hohen Aufwände für diese Arbeitskräfte es nicht möglich ist, das wirtschaftliche Defizit gegenüber der ČSSR auszugleichen. Te[mplin]: Ja. Na, vor allem, dit ist ja unbegreiflich. Da stolpert so’n wirklich Volltrunkener nachts friedlich seines Weges, weeßte. Denkt nun schon, er sieht weiße Mäuse und plötzlich sieht er mitten in der Nacht ein Auto voller Leute vor sich und will mit den Typen reden, was nun los ist, ob die irgendwas brauchen oder suchen und nischt ist, der ist total, total verstört (Lachen). Ja[hn]: Sag’ mal, hast Du was gehört, wie so in der Bevölkerung diskutiert wird über die Reisesache? 39 Te[mplin]: Na, ich schätze, das ist ein ganz empfindlicher Punkt. Also ich hab’ noch nischt gehört direkt. Aber ich nehme an, det wird einen mächtigen Wuteffekt geben. Also auch bei ganz biederen Bürgern, die sich nun wirklich –. Ja[hn]: Du, das war doch der einzige Trost –. Te[mplin]: Natürlich. Ja[hn]: Immer mal 14 Tage in die ČSSR zu fahren. Te[mplin]: Gereckt und gestreckter Arm und nun det nacheinander die schlechten Bedingungen nun auch noch auf sich genommen haben, weißt Du, so der kleinen Verteuerungen und Erschwernisse, und dann noch so’n Ding reingeknallt zu kriegen, na ja. Ja[hn]: Nee. Das ist ein ganz knallhartes Ding. Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Ich denke, ich denke und hoffe, dass es ein paar Leute von Euch auch mitkriegen. Es wäre an der Zeit, hier was zu formulieren, ja? Das ist wirklich zum ersten Mal der Punkt, wo die Chance besteht, zwischen denen, die praktisch immer auf der intellektuellen Ebene sich bewegt haben, ja –. Te[mplin]: Damit meinst Du hoffentlich nicht uns! Ja[hn]: Auch! Te[mplin]: Och, na sage mal, also, ich bin ja nun –. Ja[hn]: Nein Dich persönlich nicht. Te[mplin]: Na ja. Ja[hn]: Dich persönlich nicht. Nee, ich meine aber einfach, dass das die, sagen wir mal, mit ihren Problemen dastehen, immer so zumindest als das gesehen worden sind, ja, dass da mal irgendwo ’ne Brücke geschlagen wird. Te[mplin]: Ja, ja. Ja[hn]: Weeßte? Ich sag’ nur immer, zehn Jahre Charta, die hatten da einen hervorragenden Brief geschrieben. 40 An sowas kann man sich ja an Stil und 39 Der Geldumtausch für Reisen nach Ungarn, Rumänien und Bulgarien war auf einen jährlichen, niedrigen Satz beschränkt. Als ab 1988 auch die Umtauschsätze für Reisen in die ČSSR auf niedrigem Niveau auf ein jährliches Kontingent (438 Mark = 1320 Kčs) eingeschränkt und zudem der jährliche Satz für Ungarn abgesenkt (377 Mark = 2300 Forint) wurden, kam es zu erregten Debatten. 40 Mit Datum vom 1.1.1987 veröffentlichte die »Charta 77« »Ein Wort an die Mitbürger«. Darin forderten die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, sich
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Inhalt auch orientieren. […] Wenn man so etwas mal gestaltet. Das sollte natürlich nicht so lang sein. […] Auf alle Fälle erst mal die Chance –. Te[mplin]: Na ja, sicher. Ja[hn]: ’Ne Situation zu schaffen, dass die DDR-Regierung aufgrund von irgendwelcher Art und Weise von Äußerungen von ’ne Entscheidung zurücknimmt. […] Also, das ist jetzt natürlich ein Vortest. Man hat das nicht gemacht, als die erste Meldung kam. […] Hat man sie ja dementiert. Weil das zu einer Zeit war, als Zion noch im Gespräch war und jetzt dachte man, hat’s sich beruhigt, ja? Und wollten es jetze praktisch machen. Man muss sich vorstellen, dass ist ja normalerweise ab 1.1. gültig und wird im Nachhinein erst veröffentlicht. 41 Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Ich weeß nicht, ob Du die Sondersendung gestern gesehen hast, eben nicht wahrscheinlich. Te[mplin]: Nee. Ja[hn]: Es gab gestern eine Sondersendung im DDR-Fernsehen, wo der Vorstand des Schriftstellerverbandes sich gerechtfertigt hat über den Kongress und nur gegen die Westmedien hergezogen ist. 42 Te[mplin]: Ach. Die sie selber fett eingeladen haben. Ja[hn]: Was? Te[mplin]: Die sie selber fett eingeladen haben. Ja[hn]: Na selbstverständlich. Te[mplin]: (Lachen) Ja[hn]: Und dass die Westmedien so schlecht berichtet haben. Te[mplin]: Ei, ja. Ja[hn]: Tendenziös. Te[mplin]: Ach!? Ja[hn]: Und und und.
»endlich von unserer bequemen Ergebenheit an das Schicksal« zu befreien. »Wozu wir hier aufrufen, ist nichts anderes und nicht mehr als der Mut, zum Bürger im vollen, schöpferischen und stärksten Sinne des Wortes zu werden. Ohne die Bürger gibt es keine Demokratie und wird es sie nie geben.« Das umfangreiche Papier enthielt eine Reihe von ganz konkreten Möglichkeiten, in der Diktatur wahrhaftig und aufrecht zu leben. Vgl. das komplette Dokument »Ein Wort an die Mitbürger« der Charta 77 in: FAZ vom 7.1.1987, S. 4. Im »Grenzfall« ist das Dokument auszugsweise abgedruckt worden. Vgl. Grenzfall 1/1987, in: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989, S. 25. 41 Die neue Geldumtauschregelung wurde am 15.1.1988 bekannt gegeben. Vgl. Zum Valutaerwerb bei ČSSR- und Ungarn-Reisen, in: ND vom 15.1.1988. 42 An dem Fernsehgespräch nahmen Hermann Kant, Gerhard Holtz-Baumert und Rudi Strahl teil. Ein Wortprotokoll findet sich in: dialog 1–2/88, S. 96–103. Mit »Kongress« ist der X. DDRSchriftstellerkongress vom 24. bis 26.11.1987 gemeint, auf dem einige Autorinnen und Autoren heftige Kritik an Zensur und Reiseeinschränkungen übten.
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Te[mplin]: Ja, ja. Sie selber, also N[eues] D[eutschland] war da überhaupt nicht tendenziös. Ja[hn]: Ja, ja, ich meine, eine kritische Stimme saß ja nicht mit da. Es war Rudi Strahl 43 da, [Gerhard] Holtz-Baumert 44 und Hermann [Kant], ja. Te[mplin]: Ach so, ja. Ja[hn]: Es wurde auch in Richtung Westautoren gesprochen und sonst was. Es war jedenfalls eine ganz, ganz schlimme Sendung. Te[mplin]: Nee, hab’ ich nicht gesehen. Ja[hn]: Die andere Seite ist natürlich, dass dieser Vorstoß […] bei der Tagung der Kirchenleitung 45 […] und diese Sondersendung zeitgleich sind. Das muss nicht unbedingt ein Zufall sein. Te[mplin]: Ja eben, wa. Ja[hn]: Das muss nicht eben ein Zufall sein. Te[mplin]: Ja, ja, sag’ mal, das war die erste Sitzung der Konferenz der Kirchenleitung? Ja[hn]: Ich denke ja. Te[mplin]: Das müsste man noch mal rauskriegen, hm. Ja[hn]: In diesem Jahr ja, ja. Du kannst ja nur mal im Konsistorium vorbeigehen – Te[mplin]: Na ja, klar. Ja[hn]: – und das Ding abholen. Te[mplin]: Natürlich, ja. Ja[hn]: Die haben ja Kopierer da. Te[mplin]: Det stimmt, ja, ja. Wenn wir’s nächste Mal mit Herrn [Manfred] Stolpe frühstücken. Ja[hn]: Ich weiß nicht, ob das von Stolpe getragen ist. Te[mplin]: Nein. Ja[hn]: Es war ja als Fragestellung. Te[mplin]: Nee, ich denke, ich denke eben nicht. Det müssen paar andere Leute sein. Denn das System, was da letztens ’ne Rolle spielte, also entweder sind das totale Trickser, was ich ja nicht annehmen will, oder aber wirklich, hier die leisten untereinander eine ziemlich kräftige Beinarbeit. Ja[hn]: Nee, die leisten Beinarbeit und […] ich geh’ unter uns gesagt soweit, dass hier ganz klar Leute am Werke sind, die gezielt in Abstimmung mit offizi43 Rudi Strahl (1931–2001), Schriftsteller und Dramatiker, SED, seit 1978 Mitglied im Präsidium des Schriftstellerverbandes. 44 Gerhard Holz-Baumert (1927–1996), Kinderbuchautor, war 1969–1990 Mitglied des Vorstandes des Schriftstellerverbandes, seit 1977 dessen Vizepräsident, 1971–1990 Mitglied der Volkskammer, 1986–1989 Mitglied des ZK der SED und vom MfS als IM »Francois Villon« (!) erfasst. Vgl. Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1996. 45 Siehe oben Anm. 19 und 20.
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ellen Propagandakampagnen, wie halt gestern Abend, versuchen, hier die schlechte Stellung des Staates und och die schlechte Stellung bestimmter Kirchenfürsten auf die Art und Weise durch ’ne Denunziation von Gruppen und Einzelpersonen zu klären, verstehst du? Te[mplin]: Ja, ja. Ja[hn]: Da sie es auf der inhaltlichen Ebene ganz schwierig kriegen, kommt dann immer die formelle, ja. Das war ja schon bei [Wolf] Biermann so. Da wurde ja auch schon gesagt, … warum singt er seine Lieder im Westen, ja. […] Bloß diesmal darf man nicht den Fehler machen, wie es früher gemacht worden ist. Da wurde immer die Diskussion, na ja, solange es bei uns nicht geht, machen wir’s im Westen. Auf sowas darf sich nicht eingelassen werden […] deshalb, weil es ja nicht der Fall ist. […] Weil man ja sein eigenes Ding macht und das wird ja nur reflektiert. Das wär’ wichtig, da. Mal sehen. […] Jedenfalls die Sondersendung beschäftigte sich auch mit weggegangenen Autoren noch und da wurde och Günter Kunert 46 angegriffen, weil er wieder Hermann Kant kritisiert hatte, dass Hermann Kant nur aus dem offenen Fenster spricht, da haben sie gemeint, es wär’ unsachlich und so weiter. Aber hätten sie doch mal Kunert mit hinsetzen sollen. Te[mplin]: Na ja, eben. Ja[hn]: Ja, der hätte die, sie haben betont, sie würden sich gerne mal mit allen unterhalten – sachlich aber – mit den ganzen Westautoren, die jetzt im Westen sind, ja? Bloß, dass sie Erich Loest 47 nicht zulassen, das steht auch ein bissel im Widerspruch, ja? 48 Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Na ja, so schlimm ist das. Mal sehen, was man da noch machen kann. Vielleicht kann man das mal sogar noch reflektieren. Leider war’s, habe ich 46 Günter Kunert (geb. 1929 in Berlin), seit 1947 freischaffender Schriftsteller, 1949 SED, seit 1956 immer wieder im Visier des MfS, November 1976 Erstunterzeichner der Resolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns; Januar 1977 Ausschluss aus der SED, Oktober 1979 Ausreise in die Bundesrepublik. Sein vielschichtiges künstlerisches Werk ist vielfach geehrt und ausgezeichnet worden und Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Erörterungen. 47 Erich Loest (1926–2013), 1944 NSDAP, später SED, seit 1950 freischaffender Schriftsteller, 1957 Ausschluss aus der SED und Verurteilung zu einer über 7-jährigen Zuchthausstrafe, 1964 Entlassung auf Bewährung, vom MfS weiterhin beobachtet und verfolgt, 1981 Ausreise in die Bundesrepublik. Zu seinen wichtigsten Werken gehören: Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene (1977); Durch die Erde ein Riss (1981); Völkerschlachtdenkmal (1984); Der vierte Zensor (1984); Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze (1991); Nikolaikirche (1995); Prozesskosten (2007); Man ist ja keine Achtzig mehr (2011). 48 Am 25.6.1987 lud der DDR-Schriftstellerverband 2 Mitglieder des Verbandes deutscher Schriftsteller zum X. DDR-Schriftstellerkongress im November 1987 ein. Am 31.10. teilte die Vorsitzende des VS den Ostberliner Kollegen mit, dass u. a. Erich Loest kommen würde. Am 9.11.1987 wiederum wurde erklärt, dass »wir doch auf« Loests »Besuch verzichten«. Günter Grass hat dann am 16.11. gegenüber Stephan Hermlin protestiert. Am 21.11. wiederum verteidigte Kant gegenüber Grass wortreich, warum Loest unerwünscht sei. Dieser Vorgang ist wiedergegeben anhand der Originaldokumente, in: dialog 12/1987, S. 25–32.
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nicht alles mitgekriegt. Und auch nicht alles aufgenommen. Aber es gibt ja hier Institutionen, die alles aufzeichnen, was im DDR-Fernsehen gesendet wird. Te[mplin]: (Lachen) Ja[hn]: Der schwarze Kanal, umgedreht –. Na ja, so ist es halt. Te[mplin]: Ich werde jetzt in der nächsten Woche meinem Berufsverbotsdossier noch ein weiteres Stückchen zufügen, vielleicht sogar ein positives. Ja[hn]: Du wolltest übrigens. Te[mplin]: Ich steh doch vor dem Arbeitsantritt, das weeßte, das hat mich jetzt praktisch etwas beschäftigt. Ja[hn]: Ja, aber ich hatte dir doch gesagt, ich hatte dir auch mal etwas geschickt dazu, was der Kollege da von Bonn bearbeitet hat. Hast du das nicht gekriegt? Te[mplin]: Nee. Ja[hn]: Ich hatte dir was geschickt, was ein Abgeordneter von Bonn erarbeitet hat zu Berufsverboten. Te[mplin]: Nein, nee, nee, hab’ ich nicht. Ja[hn]: Das ist ein dickes Ding. Te[mplin]: Det hab’ ich eben nicht. Ich hab’ das im Zusammenhang mit dem Jugendkongress in Paris. Aber das ist was anderes, denke ich. Ja[hn]: Nein, eben, das ist vollkommen was anderes. Te[mplin]: Na ja eben, nee, ich wundere mich jetzt immer, das hab’ ich nicht. Ja[hn]: Ich hab’ dir das ganz sicher geschickt, extra für dich eingetütet. Na, frag’ mal irgendwo noch nach, wo es sein könnte. Te[mplin]: Ja, mach’ ich, och noch. Ja[hn]: Ja? Weil vielleicht ist es aus Missverständnis … wurde dein Name nicht gesehen oder so was. Auf alle Fälle ist das zu den – international gibt [es] da eine Arbeitsgruppe, die sich mit Berufsverboten beschäftigt. Te[mplin]: Versuch das auf jeden Fall noch mal also anzuklingeln oder dass das noch mal wird. Ja[hn]: Ja, ja, mach’ ich. Te[mplin]: Nee, denn hier det lief ein bissel zeitversetzt, das konnte ich mir auch nur so denken. Die haben also unter der Voraussetzung gar nichts [zu] überblicken, was da wirklich ist, sich in so ’ne Auflagen- und Zusagensituation gebracht. Und jetzt die letzte Zeit liefs fieberhaft nur noch als Versuch, det wieder rückgängig zu machen. Hieß dann also, mir immer Bedingungen vorzuhalten, wo sie meinten, auf die könnt ich nun wirklich nicht mehr eingehen, was ich dann auch gesagt habe. Det es eine einseitige Veränderung ist. Nun gehe ich natürlich dann in die Instanzen. Dat heißt also, entweder das wird als Übergangslösung auch festgeschrieben, was sie nicht wollen, oder sie sagen, nee dann bleibt’s so, dann sage ich: nee, so nich. Also, det heißt, ich werde dort am Montag hingehen, meine Arbeitsbereitschaft ausdrücken, dann wer-
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den die sagen, ja dazu ist ein Arbeitsvertrag notwendig, der ja vorliegt. Dann werde ich sagen, na ja, wenn der das und das festschreibt, dann geht’s nicht, dann muss rein, ab wann das verändert wird. Na entweder das geht oder sie sagen nee. Dann sage ich, dann halte ich hiermit meine Arbeitsbereitschaft fest. Ja[hn]: Ja, dann müssen sie Geld zahlen. Te[mplin]: Ja, wenn sie das praktisch verweigern, dann gut; wird’s sich anders klären. Ja[hn]: Zahlen. Te[mplin]: Und dann dauert dat nämlich, dann geht das nämlich seinen Weg und der ist vorgeschrieben und da passiert dann doch einiges. Ja[hn]: Nee, nee, ich meine, wir wissen ja wo’s Arbeitsgesetz außer Kraft gesetzt wird. Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Aber um das noch mal in Bezug auf die Meldung heute zu bringen, ich denke, dass in der DDR ’ne groß genug ’ne Öffentlichkeit existiert, die das durchaus nicht so ohne Weiteres hinnimmt. Te[mplin]: Das denke ich allerdings och, ja. Ja[hn]: Ja? Te[mplin]: Nee und so vor allem sind hier ja im Vorfeld bereits die politischen Vorhalte und Ängste deutlich ausgesprochen, also relativ deutlich ausgesprochen worden, was man sonst auch vermieden hat. Auf die werde ich mich natürlich ganz deutlich selber auch beziehen und fragen, wie ist es denn damit? Ja[hn]: Na ja, klar. Te[mplin]: Also insofern wird das direkt thematisiert. Das bleibt also nicht bei Formalia. Und da könnten sie vernünftig genug sein zu sagen, also dann finden sie lieber einen praktischen Weg, der das jetzt nicht dazu bringt, denn ich besteh’ nicht drauf. Wenn das also zu vernünftigeren Bedingungen anfängt, dann kann das ganz ruhig losgehen, aber wenn das nicht möglich ist, dann muss das halt andersrum laufen, ja? Ja[hn]: Na gut, werden wir mal alles im Überblick behalten, ja? Te[mplin]: Ja, ja denn sonst heißt es wirklich, also insofern könnte die ich euch sofort ein Patentrezept geben, wie man jede, die Arbeitslosigkeit bei euch abbaut. Det heißt also, ich betrachte Recht auf Arbeit als Vermittlung eines beliebigen Arbeitsplatzes. Nimmt ’n derjenige, na dann bitte, bin ich ihn los, nimmt er ihn nicht, ist es seine Schuld. Es ist wirklich schwer, ihm jetzt sogar irgend ’n anderen beliebigen Platz zu geben, beschäftige ich ihn solange mit zugewiesener Arbeit, dann ist er nämlich sozial zwar sehr schlecht gehalten, aber hat minimal was, kommt also nie in die Situation, dass er etwa –. Ja[hn]: Das hat nichts mit Recht auf Arbeit zu tun. Te[mplin]: Bitte? Ja[hn]: Das hat nichts mit Recht auf Arbeit zu tun.
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Te[mplin]: Allerdings nicht, aber, das wär’ dann, wär’ dann weiter nichts als ein Recht auf irgendeine bezahlte und schlecht entlohnte Arbeit. Ja[hn]: Das ist ein Recht auf Zwangsverpflichtung. Te[mplin]: Ja, sicher, aber verstehst du, dass das auf den Kopf gestellt wird, wird ja oft nicht zugegeben. Aber wenn das per Praxis immer mehr einreißt dann – Ja[hn]: Bei uns nennt man das Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Te[mplin]: Ja genau das, verstehst du. Ja[hn]: Die Terminologie da durchaus mal. Te[mplin]: Ja, und das kommt aus einer anderen etwas bewölkteren Zeit. […] Ja[hn]: Auf alle Fälle denke ich, dass in einer Zeit, wo jetzt noch mal ganz wesentlich, praktisch deutlich, von den Herrn und Damen da drüben, das Recht auf Arbeit in Mittelpunkt gerückt worden ist, […] muss ihnen das bewusst sein, dass, wenn das publik wird, dass das eins ihrer letzten Bastionen diesmal deutlich infrage stellen. […] Und da müssen sie sich klar sein, dass sie da nicht drauf eingehen. […] Ich denke schon, na gut, werden wir mal sehen. Wir können ja heut’ Abend noch mal kurz aktuellen Stand hören und sehen. Te[mplin]: Ja, ja, ist klar. Ja[hn]: Gut dann, tschüß erstmal. Te[mplin]: Ja Mensch, mach’s gut, hm. – Ende des Gesprächs –
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Dokument 55 Telefongespräch zwischen Roland Jahn und Wolfgang Templin 17. Januar 1988 Von: MfS 1 Quelle: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2, Bl. 102–107 Anmerkung: Das Telefongespräch wurde vom MfS wortgetreu mit allen Füllwörtern verschriftlicht. Es kommt hier gekürzt zum Abdruck. Wurden Kürzungen nicht erklärt, handelt es sich um Streichungen von Interjektionen, Verzögerungslauten, Wiederholungen oder Unverständlichem.
Te [Wolfgang Templin]: Ja. Ja [Roland Jahn]: Hallo. Te[mplin]: Hallo, na du. Ja[hn]: Na, dir muss ich noch mal ’ne elektrische Heizung schenken, hm? Te[mplin]: Ha, ha, ha wirklich wahr, du. […] Wär beinahe, wäre beinahe gut gegangen du. Ja[hn]: Hm, hast du die Kohlen oben? … Te[mplin]: Hm? Ja, das macht jetzt der Nachbar. Ich geh nicht noch mal in den Keller, is doch klar. Ja[hn]: Is ja Wahnsinn, is ja Wahnsinn, he? Te[mplin]: Ha, ha wirklich, hm. Ja[hn]: Der Nachbar muss die Kohlen holen. Te[mplin]: Im Pullover, verstehste, mit, mit, mit Kohleneimern in der Hand, ja, standen se an de, an de Ecke gepresst und wie ich da zum Keller rumbiege, da schnippen se raus und. Ja[hn]: Im Hausflur? Te[mplin]: Im Hausflur, im hinteren Teil des Hausflures, ja. Ja[hn]: Und wollten dich mitnehmen? Te[mplin]: Na klar, gleich mitnehmen! Ja[hn]: Haste, haste Kohleneimer stehen lassen? Te[mplin]: Nee, da war die Frage nach dem Ausweis und wie sie nach meinem Ausweis fragten, ja? – Ja[hn]: Ja.
1 Dieses Dokument ist Bestandteil eines Konvoluts von Anlagen, das die DDRGeneralstaatsanwaltschaft der Sektion Kriminalistik an der HUB, Prof. Christian Koristka, für die Anfertigung von phonetischen Gutachten übergab (BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2; siehe Dok. 71 und 72). Das Dokument trägt kein Datum. Dieses ergibt sich aus dem Kontext der beschriebenen Ereignisse.
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Te[mplin]: – habe ich die Kohleneimer fallen lassen, mich rumgedreht, bin die Treppe hochgerast, die hinter mir her […] und dachten nun, ich will zu mir rein […] hab’ aber noch mal angezogen und bin ’ne Treppe weiter zu Meier 2 hoch […] hab’ gegen die Tür gewummert […] und Andreas [Wiens] war nun glücklicherweise in der Nähe der Tür, riss die uff, ich stürze rein und hatte die beiden ja nun, die schon an mir zerrten hinter mir […] die zerrten mich raus, Andreas zog mich rein und ich steckte mitten drinne. […] Natürlich machten wir einen Riesenspektakel und brüllten wie die Wilden. Die brüllten, ich soll rauskommen. […] Andreas brüllte, ich sollte, sie sollten sich davon machen. Na es wurde immer lauter und dann, dann kamen Nachbarn an […] und da haben sie’s dann sein lassen. […] Also sonst – Ja[hn]: Und da hast du geguckt, ob die Luft rein ist und bist wieder runter? Te[mplin]: Ja. Na ja so ungefähr. Ja[hn]: Das sind ja Zustände. Te[mplin]: Und jetzt ist, jetzt ist also der ganze Hausflur blockiert. Ja[hn]: Der ganze Hausflur? Te[mplin]: Na Sascha, Sascha3 meinte, er kam kaum rin, also da stand, die stehen zu viert, zu fünft vor der Tür. Ja[hn]: Ach vor der Tür unten. Te[mplin]: Vor der Tür unten, wahrscheinlich och im Hausflur, je nachdem. […] Ja[hn]: Das ist ja ’ne Überschrift Mensch, die Kohlen muss der Nachbar holen. Te[mplin]: (Lachen) Ja[hn]: Das ist ja Wahnsinn. Na hoffentlich, wir feixen jetzt ja, hoffentlich verlieren sie nicht die Nerven, die Jungs. Te[mplin]: Na ja, das sah mir wirklich nicht so gut aus. Ja[hn]: Hm? Te[mplin]: Dies sah mir wirklich nicht so gut aus. Ja[hn]: Bei den Jungs? Te[mplin]: Bei den Jungs, na eben, ach, ick selber hatte überhaupt, einfach, also ich hätte sie nicht für so unverschämt gehalten, […] dass sie einem nu, wenn sie klar sehen, dass man, dass man im Haus zu tun hat. Ja[hn]: Nee, ich denke, dass das [ein] Einschüchterungsversuch ist. Te[mplin]: Nee, nee, nee, das war, das war schon, das war schon die Order, die Order, mich mitzunehmen. Ja[hn]: Aha.
2 Gemeint ist die Nachbarin und Freundin Templins Maja Wiens (geb. 1952). Sie war freiberufliche Schriftstellerin, arbeitete als IM einige Jahre für das MfS, ehe sie selbst in einem OV der Stasi verfolgt wurde. 3 Ein Sohn von Wolfgang und Regina Templin, Jahrgang 1975.
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Dokument 55 vom 17. Januar 1988
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Te[mplin]: Und wahrscheinlich nur, ich hab’, ich hab’, in der Tür halb drinne, halb draußen, natürlich auch geblökt, dass ich Kinder zu Hause habe. Ja[hn]: Ist Lotte 4 da? Te[mplin]: Nee, Lotte ist nicht da. Ja[hn]: Aha. Te[mplin]: Wir haben diesmal ein bissel umgeplant, weißt du. Ja[hn]: Alles klar. Te[mplin]: Ich bin da. Nee und wären, ich denke, wären die Nachbarn nicht gekommen, die wären dort in die Wohnung ringestürmt. Ja[hn]: Aha. Te[mplin]: Die waren also, die waren druff und dran, das war nicht die – Ja[hn]: Ich meine, ich meine, dass können sie ja jederzeit machen, wenn hier Gefahr in Verzuge, ja. Te[mplin]: Ja, aber das ist, das ist jetzt genau also in dem Moment, wo sie mich ohne noch mehr Aufsehen gekriegt hätten, dann hätten sie mich sofort mitgenommen. Ja[hn]: Ja, ist klar. Te[mplin]: Aber jetzt müssten sie ja massive Türen eintreten. Ja[hn]: Sag mal, gib mir mal die Nummer von der Maja [Wiens] eigentlich. […] Also das ist wahrscheinlich, die einzige, na ja, sowieso die beste Möglichkeit, so viel, so viel Theater machen wie möglich. Te[mplin]: Ja ja, ist schon klar. […] Warte mal, hier habe ich sie doch. Ja[hn]: Ach, ich hab’ sie – 489XXX. Te[mplin]: Warte mal, ich vergleich noch mal: 489XXX, ja, ja richtig. Ja[hn]: Gut alles klar. Te[mplin]: Das ist direkt über mir. […] Ja[hn]: Wir können ja noch mal sehen. Te[mplin]: Wenn sie damit erreichen wollten, dass ich zu Hause bleibe, dann (Lachen) hat das sehr viel an meinen ursprünglichen Plänen geändert. Ja[hn]: Na gut. Te[mplin]: Also, ist sonst noch was angekommen bei dir? Ja[hn]: Wie, an Informationen? Te[mplin]: Ja, ja, jetzt. Ja[hn]: Nee noch nicht. Te[mplin]: Vom Nachmittag her. Ja[hn]: Noch nichts da. Te[mplin]: Mittlerweile scheint’s auch in Provinzstädten loszugehen. Ja[hn]: Ja. Te[mplin]: Einen aus Leipzig, der sich hier mal gemeldet hatte, auch um einen Antrag […] ist jetzt im Handumdrehen in’n Zug gesetzt worden. 5 4
Spitzname von Regina Templin.
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Ja[hn]: Du meinst, er durfte kurzfristig ausreisen (Lachen). Te[mplin]: (Lachen) Nenn es mal so, bitte sehr. Ja[hn]: Also ich bin da sehr eigen, gell? Te[mplin]: Also ganz kurzfristig, aber weißte, also nur auf den, nur auf den vagen Verdacht hin, dass er vielleicht och dabei ist oder irgendwas. Ja[hn]: Hast du schon was gehört, ob Berlinverbote6 ausgesprochen sind? Te[mplin]: Nee, das hab’ ich bis, ach so warte mal, nein, es wurde aber ein, es wurden Leipziger vorgeladen […] und mit dem also insofern doch wurde, natürlich, – Ja[hn]: Ja. Te[mplin]: – also in Leipzig, ja, mit den klaren Anwürfen, staatsfeindliche Elemente würden das in Berlin missbrauchen wollen. […] Und deswegen. Ja[hn]: Das ist ja interessant. Te[mplin]: Ja. Ja[hn]: Also das wurde da eindeutig gesagt? Te[mplin]: Das letzte wurde ganz eindeutig gesagt und es ist ja ein faktisches Berlinverbot. Ob dies so formuliert wurde, das – Ja[hn]: Wie? Ihnen wurde nur mitgeteilt, dass staatsfeindliche Elemente, wie nennt sich das eigentlich offiziell, ich hab’ das Neue Deutschland jetzt nicht da? Te[mplin]: – die Kampfdemonstration zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht missbrauchen wollen. Ja[hn]: Das ist der 69. Jahrestag. Te[mplin]: Ja, ja richtig. Und nun weiß ich nicht, ob man ihnen deswegen … Ja[hn]: … war ja Donnerstag schon. Te[mplin]: … geraten, empfohlen oder verordnet hat, nicht hinzufahren. Ja[hn]: Hm, ich werd mal hören. […] Gut, gut, ich muss mal sehen, ja. […] Vielleicht kann ich noch mal rumhören. Te[mplin]: Der Kleene will jetzt auch zu Hause bleiben …7 Ja[hn]: Der soll ein bisschen rumhören. Te[mplin]: (Lachen) Ja, ja. Ja[hn]: Was die Provinz sagt, ja? Te[mplin]: Ja, ja, schon klar. Ja[hn]: Gut, alles klar. Te[mplin]: Okay, also dann achte mal gut drauf, wenn du Kohlen holen gehst. Ja[hn]: Ich hab’ doch Ölheizung. 5 Es sind kurzfristige Genehmigungen für Ausreisen in die Bundesrepublik gemeint. Nach dem 17.1.1988 sind davon Hunderte erteilt worden. 6 Ein gängiges Strafmittel der SED, um politisch Unangepasste von Ost-Berlin, »dem Schaufenster der Republik«, fernzuhalten. 7 Gemeint ist Ralf Hirsch.
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Dokument 55 vom 17. Januar 1988
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Te[mplin]: Ja, ja ist schon klar, aber du manche, manche müssen doch ihr Öl aus dem Keller holen von euch. Ja[hn]: Was? Das sind nur die Hausmeister. Te[mplin]: Ach so. Ja[hn]: Wir haben Sammelheizung. Te[mplin]: Ja siehste, da wär die Überschrift: Statt seiner wurde der Hausmeister gefasst, oder wie. Ja[hn]: Ich habe, ich habe dieses Jahr noch gar nicht geheizt. Weißt du warum? Te[mplin]: Nee. Ja[hn]: Bei mir gehen die Rohre durch die Wohnung. Da brauche ich nicht zu heizen. Te[mplin]: (Lachen) Das ist ja scharf. Ja[hn]: Gut, ha? Te[mplin]: Ja, na klar. Ja[hn]: Ja, so ist das halt. Te[mplin]: Okay Mensch. Ja[hn]: Tschüß, dann erstmal! Te[mplin]: Also, ist klar, bis bald, gut, Tschüß! – Ende des Gesprächs –
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Dokument 56 Telefongespräch zwischen Bärbel Bohley und Roland Jahn 1 17. Januar 1988 Von: MfS Quelle: BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 12, Bl. 202–207
Angerufener (A) [Bärbel Bohley]: Ja? Anrufer (B) [Roland Jahn]: Ja, Roland. A [Bohley]: Ja, Tag Roland. B [Jahn]: Wollt nur mal hör’n, wie es Dir geht. A [Bohley]: Ja, ja, turbulent wie immer. B [Jahn]: Ja, ja, Du weißt auch nichts weiter außer das, was Ralf [Hirsch] weiß, mehr nicht. A [Bohley]: Ja, ich weiß jetzt gar nicht so ganz genau was Ralf weiß, aber inzwischen hat sich herausgestellt, dass 90 Prozent alle aus der Staatsrechtsgruppe sind. 2 B [Jahn]: Die Festgenommenen? A [Bohley]: Ja, und dann eben noch ein paar andere und bis jetzt sind sie noch alle weg, also ich weiß jetzt nur von einem Mädchen, die wieder draußen ist. B [Jahn]: Ach, weißt Du noch welche namentlich, die drinne sind? A [Bohley]: Ja, ich weiß ja nicht, aber hat Ralf Dir schon welche gesagt? B [Jahn]: Ja, ja, ja, ja. A [Bohley]: Na warte mal, eigentlich, wo hab’ ich denn den Zettel hingetan, eigentlich hat die … gehabt und guckst du mal auf Dein Ding, ob da die so drauf sind XXX und XXX und so! B [Jahn]: Ja, ja, das hab’ ich. A [Bohley]: Ja. B [Jahn]: Mir ging es darum bei den Leuten, wo eventuell möglich ist, dass die schon an der U-Bahn weggefangen worden sind, von UB-Leuten und so. A [Bohley]: Ja. 1 Der Mitschnitt des Telefongesprächs erfolgte im Rahmen des Untersuchungsvorganges gegen Bärbel Bohley (BStU, MfS, AU 140/90) und war offiziell vom DDR-Generalstaatsanwalt beim Fernsprechamt angeordnet worden. Das vorliegende Dokument ist eine Abschrift, die vom Staatsanwalt beglaubigt werden sollte. Das Dokument enthält den Vermerk: »Konkreter Zeitpunkt und Herkunft des Anrufes sind nicht feststellbar.« 2 Es kam am Rande der offiziellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration zu 105 »Zuführungen«, darunter 70 unmittelbar in der Nähe der Demonstration, die anderen im Wohnumfeld. In den Tagen vor dem 17.1.1988 sind knapp 120 Personen vorbeugend belehrt worden, nicht an der Demonstration teilzunehmen. Mit der angesprochenen Gruppe war die AG Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR gemeint.
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Dokument 56 vom 17. Januar 1988
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B [Jahn]: Also ich weiß jetzt nur, dass [Frank-]Herbert [Mißlitz] und Vera [Wollenberger]. A [Bohley]: Ja, die sind auch weg. B [Jahn]: Und von den UB-Leuten wollten einige dort hingehen. A [Bohley]: Ja, also ich nehme an, das ist jetzt wirklich ein bisschen fragwürdig, aber da eigentlich Till [Böttcher] sich natürlich bestimmt bei mir meldet. B [Jahn]: Ach Till, Till ist auch weg, hat Ralf gesagt. A [Bohley]: Ja? B [Jahn]: Ja. A [Bohley]: Till und Bert [Schlegel]. B [Jahn]: Hat man ihn, ne ne ach ne Till nicht, Bert, Bert. A [Bohley]: Na ja, dann ist Till auch weg, der hat dieses Plakat gemacht, nicht? B [Jahn]: Ja. A [Bohley]: Und, und der, na wie heißt er, Andreas [Kalk], ja die müssten dann auch weg sein. B [Jahn]: Ja, na gut ... das ist sone Sache, ich interessier mich, warum da keiner ausgemacht hatte, dass die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo melden. A [Bohley]: Ja, das war ja ausgemacht, dass die sich bei mir melden, deshalb nehm’ ich das jetzt auch an, weißt Du, ich hab’ jetzt bloß niemand erlebt, der also gesagt hat, er hat gesehen, dass der weggekommen ist oder so. 3 B [Jahn]: Ach so, Du hattest mit wem eins ausgemacht, mit dem Bert? A [Bohley]: Nein, mit Till. B [Jahn]: Mit Till, ja? A [Bohley]: Also, die waren gestern Abend bei mir und da hab’ ich eben gesagt, dass die sich bei mir melden, ich meine, man weiß das ja nicht immer hundertprozentig, weil ja auch was dazwischen gekommen sein kann oder man sieht eben dass vor der Haustür zwei Autos stehen, dann lässt man es gleich sein, nicht. B [Jahn]: Ja, ja. A [Bohley]: Insofern gibt … B [Jahn]: Trotzdem hätten sie dann angerufen. A [Bohley]: Ja, also bis jetzt nehm’ ich an ja, also bis heute Mittag war das noch ziemlich ungewiss, weil das natürlich schon abhält, wenn da irgendwelche Autos stehen und man das ein paar Mal mitgemacht hat, aber bis jetzt hätten sie sich … B [Jahn]: … der Andreas, wer ist das? A [Bohley]: Kalk. 4 B [Jahn]: Ach, so Andreas Kalk, ja. 3 4
Die genannten Personen sind festgenommen worden. Die MfS-Protokollanten verstanden »Kalb« statt »Kalk«.
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Dokument 56 vom 17. Januar 1988
A [Bohley]: Ja. B [Jahn]: Ja, na gut, dann kommst Du mit den jungen Leuten ganz gut zurecht? A [Bohley]: Na, ich bin die Mutti. B [Jahn]: Was? A [Bohley]: Ich bin die Mutti, nein die sind doch alle so in Anselms 5 Alter, weißt Du. B [Jahn]: Ach. A [Bohley]: Und das ist dann eigentlich mehr, dass ich immer schon mich immer überleben muss mit schlafen gehen, wenn hier die Bude voll wird. Ja, sonst ist eigentlich, na ich meine, irgendwie ist das ja sowieso ein Thema, da muss man überhaupt mal mehr drüber reden, nicht. B [Jahn]: Ja. A [Bohley]: Nein, ich meine jetzt nicht über die Jugendlichen, sondern über diese ganze Sache jetzt am Wochenende. B [Jahn]: Ach so, ja, ja, ja, ja. A [Bohley]: Ich denke, dass Du das schon verstehst, was ich meine. B [Jahn]: In verschiedene Richtungen kann man darüber reden. A [Bohley]: Ja, ja. B [Jahn]: Es ist Gott sei Dank nichts irgendwie falsch rübergekommen, was eine Art Ausreisedemo war, was man von manchen so ein bisschen nebenbei gesagt worden ist. In Meldungen war es jedenfalls nirgends so dargestellt. Und da bin ich erst mal froh drüber. A [Bohley]: Na, ja, bloß die Realität ist natürlich eine andere, nicht? B [Jahn]: Die Realität, kann sein, dass das eine andere ist. A [Bohley]: Also sagen wir mal, die DDR lebt jetzt erst komplizierter, die ist jetzt nicht so einfach. B [Jahn]: Ja, ja, bloß anders herum ist sie auch wieder zu einfach. A [Bohley]: Anders herum ist sie auch zu einfach, das ist völlig klar. A [Bohley]: Es ist so rum schon besser, als wenn es heißen würde ihre erste Ausreisedemo … A [Bohley]: Ja, das wäre natürlich wahr, nun ich meinte jetzt eigentlich nur so die Probleme, die sich so daraus überhaupt für ein’ selber auch ergeben und für uns so und da es natürlich schon schwierig ist, wenn man plötzlich hier 15 Adressen oder 20 Adressen kriegt und hier jetzt kümmert euch mal und ich meine, ich kenne genug Leute, die hier bleiben wollen, um die ich mich dann erstmal kümmern möchte, weißt Du. B [Jahn]: Ja, ja.
5 Anselm ist der Sohn von Bärbel Bohley, Jahrgang 1970. Böttcher ist auch 1970 geboren worden, Schlegel und Kalk 1967.
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A [Bohley]: Also man wird hin und her gerissen und gerät leicht ins Verzetteln und außerdem ist es natürlich klar, dass sehr leicht man auch auf die, hallo? B [Jahn]: Ja. A [Bohley]: Dass man auch auf diesem Rücken auch ganz gut reiten kann, weißt Du. B [Jahn]: Ja, das ist das Problem, ja. A [Bohley]: Ja, also das ist mir ja so am 10. klar geworden, als alle gesessen haben, wo ich eigentlich die »Initiative« vertreten habe in der Kirche, dass also schon die Ausreiser plötzlich da waren ja, und dann steht da oben son Junge und sagt also ich möchte euch mal erleben hier, ihr habt das alles noch nicht hinter euch, als ich meinen Antrag gestellt habe, welche bürokratischen Fallen mir gestellt wurden und mehr, also ’ne Diskussion ist an dem Punkt eigentlich schon fast nicht mehr drin. 6 B [Jahn]: Das ist das Problem (unverständlich), das Problem, dass der Wille der innerlichen Auseinandersetzung mit dem, was in dem Land noch abläuft, selbst wenn er da ist, das ist einem nicht mehr so richtig möglich. A [Bohley]: Ja, weißt Du, das wird auch alles unter diesem Punkt Wegkommen gesehen, also der eine sagt, ich gehe weg, und das ist auch ganz richtig, weil nachdem ich das gesagt habe, ist mir die Arbeit weggenommen worden, ja. Und der Nächste sagt also, ich muss jetzt meine Arbeit weglegen und auf den Friedhof gehen, weil ich sonst nie wegkomme. B [Jahn]: Ja, ja. A [Bohley]: Also ganz egal, an bestimmten Punkten ist es denen natürlich nicht mehr recht zu machen, weil im Kopf diese Schraube ist, ich muss weg, nicht. Und das ist eine ganz menschliche Kiste, aber mit der ist es jetzt sehr schwer auszukommen, wenn man also nicht diese Absicht hat und eigentlich find ich das als Selbsthilfe natürlich fantastisch, ja, wenn die sich so als Selbsthilfegruppe organisieren. B [Jahn]: Ja, das ist klar, das ist auch mal wichtig gewesen, dass das mal stattfindet. A [Bohley]: Ja, bloß ich weiß jetzt nicht, inwieweit da nicht auch sehr stark mit anderen gerechnet wird und ob man das erfüllen kann, ich sehe, dass da ganz schöne Schwierigkeiten zukommen, auch selbst so unter Leuten jetzt … B [Jahn]: Das wäre alles kein Problem, wenn Kapazitäten genug da wären. A [Bohley]: Ja, genau. B [Jahn]: Ja auch wirklich, wenn man ’ne ständige (unverständlich) die sich dann auch damit beschäftigt, wenn Leute (unverständlich) Konflikt kommen mit dem Staat, dann ist ja das alles möglich, ja.
6 Gemeint ist die Veranstaltung in der Gethsemanekirche am Tag der Menschenrechte, am 10.12.1987. Zuvor waren mehrere IFM-Mitglieder festgenommen worden. Siehe dazu Dok. 44.
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A [Bohley]: Ja, ja, na ja, wie soll ich das sagen, ich meine ich find’ das ja auch wichtig, weißt Du, bloß das ist an ’ner falschen Ecke aufgerollt das Problem, also viel interessanter wäre nur zum Beispiel mal sone Selbstanalyse, auch ne ehrliche, weißt Du, die natürlich immer auch mit Verdrängungen lebt oder so, warum gehen die Leute weg, wenn die das mal auf die Beine bringen würden und nicht immer dass sie von außen gesehen werden. Na ja, das wird (unverständlich). B [Jahn]: Also ich muss ja aufpassen, wenn die Leute hier ankommen, die leben ständig im Selbstgefühl, ja und das ist, das ist die große Schwierigkeit, ja. A [Bohley]: Ja. B [Jahn]: Weil, weil es ist ganz ganz schwierig, erstmal weil sie immer das Gefühl haben, sie lassen zu Hause jemand im Stich in den Verhältnissen, zumindest dort zurück und die entfliehen denen, ja, und hier ist es dann wieder so, dass sie ständig in der Rechtfertigung leben müssen, wenn das nicht klappt. A [Bohley]: Na ja, weißt Du Roland, das ist ja auch so, die Ausreiser sind ja sozusagen das Spektrum der DDR-Bevölkerung, nicht. B [Jahn]: Das stimmt. A [Bohley]: Also gehen, sagen wir mal, 90 Prozent weg, weil der Konsum irgendwo verheißungsvoller ist, und 5 Prozent gehen weg, weil sie aus irgendwelchen Dingen nicht mehr auf die Beine kommen und sie also diese ganze Macht abgekriegt haben, und 5 Prozent gehen weg, weil sie müde sind, und also das setzt sich zusammen aus den verschiedensten Leuten, ja. 7 B [Jahn]: Ja, ja, ist mir schon alles klar. A [Bohley]: Und das ist also das Schwierige, weil die natürlich in einem Punkt einig sind, weg, und plötzlich als diese Gruppe auf einen zukommen. Also ich meine, ich war ja an diesem Sonnabend da in der Zionskirche, als die Leute sich getroffen haben 8, und ich war entsetzt, muss ich dir sagen, wirklich, also mir ist klar geworden, ich war, erst war ich so dafür, na warum nicht, und die sind dann auch und warum, aber als ich die gesehen habe, da war eben kein Punk dabei, weißt Du, da waren eben wirklich solche Leute, die sind von sonst wo angekommen mit dem Auto, so’ne klein’ Handwerker und Friseure und 7 Solche »Prozentangaben« über die Beweggründe für die ständige Ausreise aus der DDR waren sehr weit verbreitet. Sie enthalten eine abwertende Grundannahme: Es gebe positive und negative Gründe für den Wunsch wegzugehen. In der Forschung ist das Problem bis heute umstritten geblieben. Für eine andere Perspektive, die sowohl den damaligen Deutungen der »Zurückgebliebenen« als auch dem Mainstream der Forschungen widerspricht vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009. 8 Wahrscheinlich meint sie das Treffen der AG Staatsbürgerschaftrecht in der DDR am Samstag, den 9.1.1988 in der »Umweltbibliothek«, in Räumen der Zionskirchgemeinde mit über 150 Teilnehmern und Teilnehmerinnen. Vgl. dazu Günter Jeschonnek: Ausreise – das Dilemma des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates?, in: Ferdinand Kroh (Hg.): »Freiheit ist immer die Freiheit …« Die Andersdenkenden in der DDR. Frankfurt/M., Berlin 1988, S. 254–255.
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also einfach so’ne Poppertypen, also mit denen ich ja hier sonst auch überhaupt nichts zu tun habe. B [Jahn]: Kind, das ist aber Realität. A [Bohley]: Das ist die Realität, ja. B [Jahn]: Was Du richtig sagtest, das wäre schon DDR-Bevölkerung. A [Bohley]: Ja, bloß ich meine, warum soll plötzlich [ich] was mit den’ zu tun haben, bloß weil die ausreisen wollen. B [Jahn]: Ja, bloß was ich meine, ist auf die ganzen Anliegen, die die haben, eingehen zu können, bedeutet gleichzeitig auch Fähigkeiten entwickeln, auf die DDR-Bevölkerung an sich einzugehen. A [Bohley]: Na ja, bloß Roland, da bist Du auf’m Holzweg, weil nämlich ihre ganze Tour wird davon bestimmt, so schnell wie möglich hier wegzukommen. Und ich kenn’, sagen wir mal, dann soundso viele DDR-Leute, die hier bleiben wollen, aber auch Probleme haben, also sozusagen vor dieser Entscheidung stehen, weißt Du. B [Jahn]: Ja, ja. A [Bohley]: Und mit den kann ich dann auch, da kenn ich ja auch welche mit Popperjacken oder, weißt Du, also da ist mir das dann lieber, als wenn die Entscheidung gefallen ist, ich will weg. Da hab’ ich dann lieber so’n Punk, von dem [ich] weiß, der kommt hier wirklich nicht auf die Beine und der hat wirklich hier einstecken müssen an allen Ecken und Enden, der hat nur eine Disco und ansonsten hat der hier gar nichts mehr. Oder, weißt Du, so welche aus der Friedensbewegung oder eben solche Leute, die sich abgerappelt haben, mit denen kann ich dann wirklich besser als mit denen. B [Jahn]: Ja, ich versteh’ schon. A [Bohley]: Na ja, ein Grundsatz wird das nicht so leicht. B [Jahn]: Ne, ist einiges ein bisschen zu notwendig, die andere Seite ist, ob wir’s wirklich zeitig alles schaffen, alles zu diskutieren, ja. A [Bohley]: Na, ja, doch das müssen wir ja schaffen, weißt Du, weil das ja zwei mal 50 Leute sind und die stellen Ansprüche, weißt Du. B [Jahn]: Ich sag’ Dir, diese Arbeitsgruppe 9 wird die sein, die am schnellsten wächst. A [Bohley]: Die wächst am schnellsten, die ist beim nächsten Mal 500 Mann groß. B [Jahn]: Ja? A [Bohley]: Na, das ist doch völlig klar. B [Jahn]: Und, und wird immer, immer weitergehen. Jetzt, nachdem die ČSSR-Reisen noch eingeschränkt worden sind 10, wird das wieder weitergehen. 9 Gemeint ist die AG Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR. 10 Der Geldumtausch für Reisen nach Ungarn, Rumänien und Bulgarien war auf einen jährlichen, niedrigen Satz beschränkt. Ab 1988 sind auch die Umtauschsätze für Reisen in die ČSSR auf
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A [Bohley]: Weißt Du, so lange das ’ne Selbsthilfegruppe ist, und die wird irgend Selbsthilfe machen wollen, dann find’ ich, kann man auch irgendwie, sagen wir mal sie so zu befähigen, Selbsthilfe zu machen, denn da zählen ja auch irgendwie sone psychologische Betreuung und sone Hilfe und, und, nicht. Aber wenn die so kommen und sagen, nun macht ihr mal was als »Initiative für Frieden und Menschenrechte«, das geht eben nicht, weißt Du, also da fällt auch wirklich absolut, das ist zu viel. B [Jahn]: Nee, das ist wirklich zu viel. Da habt ihr noch genug andere Dinge zu tun, es war nicht nötig denn. A [Bohley]: Ja, ja. B [Jahn]: Alleine wenn ich jetzte dran denke, mit den Umtauschsätzen ja, ich denke, dass das ’ne wichtige Situation ist, sagen wir mal, zum ersten mal eine Chance besteht, die Interessen der gesamten Bevölkerung mitzuformulieren, weißt Du. A [Bohley]: Ja. Jetzt klingelt es bestimmt gleich bei mir, mein Hund bellt, hörst Du ihn? B [Jahn]: Ich hoffe nur, dass diese Chance nicht verpasst wird. A [Bohley]: Na ja, ja. B [Jahn]: Mal sehen, aber die Ereignisse, die lenken immer ein bisschen ab. A [Bohley]: Na klar. B [Jahn]: Auf alle Fälle, denk ich, ist das ’nen Grund, wo jetzt in den nächsten Wochen wirklich Diskussion (unverständlich). A [Bohley]: Jetzt klingelts, wartest Du ’ne Sekunde? B [Jahn]: Gut, ja. A [Bohley]: Der Hund wittert in jedem Klingeln einen Staatssicherheitsbeamten. Der ist wirklich süß. Muss den immerzu aussperren. Na gut, Roland. B [Jahn]: Na gut. Ist aber nen Freund, ja. A [Bohley]: Ja ja, ist Peter [Grimm]. Machn wir (unverständlich) vielen Dank für die Sachen hier, für die Luftsachen. B [Jahn]: Ja. A [Bohley]: Also, es war sehr lieb, ja. B [Jahn]: Mich würde interessieren, was Du meinst. A [Bohley]: Ach so, na dann war das vielleicht gar nicht von Dir. Okay. B [Jahn]: Eh. A [Bohley]: So’n Medikament. B [Jahn]: Ach so, ja das war klar. A [Bohley]: Ja. niedrigem Niveau auf ein jährliches Kontingent (438 Mark = 1320 Kčs) eingeschränkt worden und zudem ist der jährliche Satz für Ungarn abgesenkt (377 Mark = 2300 Forint) worden. Es kam zu erregten Debatten, weil dies praktisch eine weitere Einschränkung der Reisemöglichkeiten bedeutete. Die neue Geldumtauschregelung wurde am 15.1.1988 bekannt gegeben. Vgl. Zum Valutaerwerb bei ČSSR- und Ungarn-Reisen, in: ND vom 15.1.1988.
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B [Jahn]: Ja, ja. A [Bohley]: Eh, sage mal, eh, mein lieber Schwager 11 hat mir erzählt, dass für mich ein Stempel unterwegs sein soll, ist der irgendwie schon bei Dir gelandet? B [Jahn]: Bis jetzt noch nicht. A [Bohley]: Na dann kommt er sicher noch. B [Jahn]: Ich weiß ja nicht, ich habe lange nicht mit ihm gesprochen. A [Bohley]: Weil nämlich das so schwierig ist, in der DDR Stempel herstellen zu lassen, und ich muss meiner lieben Angestellten 12 mal einen Stempel reindrücken in den SV-Ausweis 13. B [Jahn]: Ach, ja. Ich seh ihn immer nur in irgendwelchen Spannungszeiten. A [Bohley]: Ach, na ja. B [Jahn]: Ich hab’ ihn drei Jahre nicht gesehen gehabt und vor Kurzem sahen wir uns mal wieder. A [Bohley]: Ach. B [Jahn]: Der war gut. Ich komm’ immer gut mit ihm hin. A [Bohley]: Ja. Ist ja auch ein freundlicher Mensch. B [Jahn]: Na, denk ich auch. A [Bohley]: Könnt ihr ruhig mal ein bisschen mehr rangehen. B [Jahn]: Nee. Du das mit den Medikament das (unverständlich) lange bei mir, hat keine Möglichkeit war. A [Bohley]: Okay. B [Jahn]: Aber es ist rechtzeitig noch gekommen. A [Bohley]: Ja. B [Jahn]: Ja. A [Bohley]: Sie schnappt noch nach Luft. B [Jahn]: Gut, na wenn es Probleme gibt, dann müssen wir sonst die Feuerwehr einsetzen. A [Bohley]: Okay. B [Jahn]: Ich hab’ je nämlich schon einen Anruf gekriegt gehabt, da hab’ ich dann mich nicht richtig drumm gekümmert. Wenn was ist, kann man immer
11 Es handelte sich um den Schwager Karl Bohley (geb. 1942). Er war Anfang 1977 verhaftet, wegen »Staatsverleumdung« verurteilt und etwa nach einem halben Jahr in die Bundesrepublik abgeschoben worden. Alle sieben Bohley-Brüder waren in eigenen OV/OPK des MfS bearbeitet worden: Karl Bohley – OV »Anarchist«, Peter Bohley (geb. 1935) – OV »Ring«, Jochen Bohley (geb. 1937) – OPK »Bruder«, Eckart Bohley (geb. 1939) – OV »Arzt«, Reiner Bohley (1941–1988) – OV »Treffpunkt«, Michael Bohley (geb. 1945) gemeinsam mit seiner Ehefrau Heidi (geb. 1950) – OV »Emotion« und Dietrich Bohley (geb. 1941) gemeinsam mit seiner Ehefrau Bärbel – OV »Bohle«. Zur Familie siehe Peter Bohley: Sieben Brüder auf einer fliegenden Schildkröte. 2. Aufl., Norderstedt 2005. Zu Karl Bohley vgl. zudem Udo Grashoff: Erhöhter Vorkommnisanfall. Aktionen nach der Biermannausbürgerung im Bezirk Halle. Halle 2001, S. 40–53. 12 Katja Havemann arbeitete offiziell im Atelier von Bärbel Bohley. 13 SV-Ausweis = Sozialversicherungsausweis.
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mich mal anstoßen, dann weiß ich um die Dringlichkeit und kann dann noch mal sehen, was möglich ist. A [Bohley]: Okay. B [Jahn]: Ja. A [Bohley]: Ja. B [Jahn]: Gut, wir werden sehen, grüß den Peter [Grimm] schön. A [Bohley]: Mach ich, Roland. Tschüß! B [Jahn]: Tschüß! – Ende des Gesprächs –
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Dokument 57 Telefonat zwischen Wolfgang Templin und Jürgen Fuchs 18. Januar 1988 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/5, Leiter [Hans Buhl] Quelle: BStU, MfS, AOP 22047/91, Beifügung Bd. 1, Bl. 62–64
Wolfgang Templin meldet sich bei Jürgen Fuchs in Westberlin und bittet, zurückzurufen. 1 Fuchs macht dann die Feststellung, dass es nicht sehr erfreulich ist. T[emplin] ist der Ansicht, es sieht so aus, als wenn die im Moment noch außer Rand und Band sind. Fuchs interessiert, ob sie T[emplin] in Ruhe ließen. T[emplin] erläutert, dass er sich nicht aus der Wohnung trauen konnte. Seit Sonntagmittag ist in dieser Hinsicht Ruhe eingetreten. Er schildert, wie die Kontrolle seiner Wohnung bzw. die Umgebung seines Hauses vonstatten ging. 2 T[emplin] betont, dass sie sowieso vereinbarten, dass er nicht dort hingegangen wäre, 3 sondern wegen des Telefons und der Kinder zu Hause bleiben wollte. Seine Ehefrau Regina hatte die Absicht, hinzugehen. Sie wurde dann aber bei ihrer Freundin blockiert. Fuchs denkt insgesamt, dass es doch sehr vieles zeigt. Auch von den Bildern und von dem, wie es abläuft, ist es ein richtiger ganz großer Vorgang. Fuchs braucht T[emplin] wohl nicht zu sagen, dass dies eine große Symbolik hat. Es hat eine, über das, was geschieht, hinausgehende Bedeutung. Es ist sehr wichtig, was jetzt geschieht und dass es dazu beiträgt, die »Öffnung« zu erreichen. Das wird über Konflikte und Kämpfe gehen, wie sie eben so sind. T[emplin] erwähnt, dass Fuchs sicher weiß, dass ein Teil, die mitgemacht haben, einen Ausreiseantrag stellten. Aber wir sind von vornherein so rangegangen, dass wir uns nicht wieder in die Nur-Vorurteilsposition bringen lassen, um sich innerlich voneinander wegzuisolieren. Denn gerade diese »Staatsbürgerschaftsrechtsgruppe« 4, die ein Konzept hat, was im Grunde genommen auf der Unteilbarkeit dieser Rechte beruht, will sich genauso um die Probleme kümmern, die mit dem ebenso würdelosen Zustand zusammenhängen, wenn man unsere Staatsbürgerschaft erwerben will als Ausländer. Dies ist genau so unsicher und miserabel, was da passiert. Insofern sind dort Leute, die arbeiten wollen und die sich zum großen Teil klar entschieden haben für ihr Leben, aber davon 1 Ein Telefongespräch von West- nach Ost-Berlin kostete nur den Ortstarif, was deutlich kostengünstiger war als in entgegengesetzter Richtung. 2 Siehe Dok. 55. 3 Gemeint ist die offizielle Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17.1.1988. 4 Gemeint ist die Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR.
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nun nicht alles kurzfristig (ph.) (od. kurzsichtig) abhängig machen. T[emplin] denkt, dass hier doch mehr Verständnis für einander jetzt wächst. Die Festgesetzten sind ja aus verschiedenen Gruppen. Und ähnlich ist auch jetzt die Zusammensetzung derer, die überlegen, was wir weitermachen können. Fuchs bringt zum Ausdruck, dass es auf Unverständnis stößt, wenn gerade so etwas anlässlich einer Demonstration des Todestages von Luxemburg/Liebknecht passiert. Nach seiner Auffassung hat diese Einheitspartei – vor allem Respekt vor der Vergangenheit ihrer Führer – überhaupt kein Recht, es für sich zu pachten. Er erinnert, dass Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in einer infamen und schrecklichen Weise umgebracht wurden. Das Antasten von Menschen liegt ja in der Symbolik drin. Wer wurde hier angetastet? T[emplin] glaubt, dies löst bei vielen diese Reaktion aus. Diese ganz normale Mitbeteiligung – dieser Anspruch, der jetzt immer noch auf diese wahnsinnige Neurose stößt. Fuchs erinnert an den Palme-Friedensmarsch 5, wo schon einiges gewesen war, einiges möglich war. Dies hätte ja auch bei der Demonstration sein können. Offenbar gibt es da keine Fähigkeit. T[emplin] denkt, es zeigt genau den Unterschied. Es soll kein Recht sein, sondern es wird im Einzelfalle zugestanden und gewährt. Und wenn’s der andere als Recht nimmt und nicht auf die Gewährung wartet, dann aber –. Was Fuchs hörte und wie es gewesen ist, war es ja auch eine ganz bescheidene politische Beteiligung, ganz im sogenannten Rahmen. Fuchs erinnert, dass am Freitag im 1. DDR-Fernsehen eine Sondersendung kam, wo u. a. [Hermann] Kant sprach. 6 T[emplin] hat diese Sendung nicht gesehen. In dieser Sendung, so Fuchs, wurde Verschiedenes gesagt, u. a. wurde nochmals ein Angebot gemacht, dass diejenigen, die in der Vergangenheit ziemlich schlecht behandelt worden sind, dass man mit denen also sachlich sprechen will usw. Es wurden angesprochen S[arah] Kirsch, J[urek] Becker und G[ünter] Kunert. Fuchs hat mit den Beteiligten noch einmal gesprochen und er verweist auf Günter Kunerts Interview im »Vorwärts«. 7 Fuchs bringt daraus einige Zitate und macht aufmerksam, dass das auch im »dialog 12« steht. 8 Zwei Tage später, so betont Fuchs, kommt es dann zu dieser »Sonntagsaktion«, 9 für die Kant ja nicht einmal verantwortlich ist für diese Eigento-
5 Olof-Palme-Friedensmarsch, siehe Glossar. 6 An dem Fernsehgespräch nahmen Hermann Kant, Gerhard Holtz-Baumert und Rudi Strahl teil. Ein Wortprotokoll findet sich in: dialog 1–2/88, S. 96–103. Vgl. Dok. 54. 7 Kunert hatte in diesem Interview u. a. die Arbeitsbedingungen von Schriftstellern und Schriftstellerinnen in der DDR kritisiert. Vgl. »Kant redet zum Fenster hinaus.« Interview mit DDRAutor Günter Kunert, in: Vorwärts Nr. 50, 12.12.1987, S. 47–48. 8 In den uns vorliegenden Ausgaben von »dialog« fehlt das Interview. 9 Gemeint sind die Festnahmen am Rande der offiziellen Luxemburg-LiebknechtDemonstration am 17.1.1988.
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re. Fuchs telefonierte darüber mit S[arah] Kirsch. Fuchs kann sich nur an den Kopf greifen. Fuchs denkt, T[emplin]s Familie geht es gut, was dieser bejaht. Sie sind gegenwärtig dabei, alles zu sortieren. Sie wollen die 48 Stunden abwarten, die ja morgen Mittag herum sind. Von diesem Stand aus, muss dann konzentriert überlegt werden. Fuchs findet das richtig und betont, es soll natürlich jetzt auch Angst gemacht werden, keine Verbindungen sollen hergestellt werden, auch die Solidarität soll nicht sein. Aber soviel Angst ist nicht herstellbar. Sie ist auch unbegründet. Er glaubt, es ist auch ein Anlass, um zu zeigen, was man denkt. Also, diese Demokratie einzufordern, ist ein guter Anlass, auch zu kämpfen in einer gewaltfreien Weise. Fuchs beneidet Stephan Krawczyk in keiner Weise, wenn sie jetzt seine Zelle zuriegeln. 10 [Aber] eine bessere Stelle hätte er sich nicht aussuchen können, als diese. Seine Platte ist jetzt erschienen, 11 er kann ruhig noch ein bisschen drin bleiben, die können dann noch ein bisschen Propaganda machen. Fuchs erinnert, als er persönlich drin war, war es natürlich auch schwer. Er dachte aber auch, die »Gedächtnisprotokolle« 12 sind erschienen, da kann ich noch ein paar Monate –. Sicher weiß T[emplin] wie Fuchs das meint. Sie wollen in Verbindung bleiben. Er bittet, Grüße an die Freunde zu übermitteln. Er denkt, es wird nicht zu lange gehen. Wenn es der Paragraf »Zusammenrottung« 13 ist, der ihnen vorgeworfen wird, dann ist es ein solches deutsches oder symbolisches Wort, dass sich auch der Letzte im letzten Inselstaat daran erinnern wird. Fuchs wünscht viel Kraft und Mut. 23.39 Uhr
10 Stephan Krawczyk ist am 17.1.1988 festgenommen worden. 11 Gemeint ist die LP »Wieder Stehen«, Krawczyks erste Solo-Platte, die 1987 im Westen herauskam. 12 Vgl. Jürgen Fuchs: Gedächtnisprotokolle. Mit Liedern von Gerulf Pannach und einem Vorwort von Wolf Biermann. Reinbek bei Hamburg 1977. Die erschienen im Februar 1977, seit November 1976 saß er in Untersuchungshaft. Im August 1977 ist Fuchs in die Bundesrepublik ausgebürgert worden, 1978 erschienen dann die »Vernehmungsprotokolle« im selben Verlag. 2009 kam eine Neuausgabe mit einem Nachwort heraus, das die Entstehungsgeschichte anhand der MfS-Akten aufzeigt. Vgl. Jürgen Fuchs: Vernehmungsprotokolle. November ’76 bis September ’77. Mit einem Nachwort von Hubertus Knabe. Berlin 2009. 13 Im DDR-Strafgesetzbuch zu dieser Zeit (Fassung vom 28.6.1979) hieß es unter § 217 »Zusammenrottung«: »(1) Wer sich an einer die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Ansammlung von Personen beteiligt und sie nicht unverzüglich nach Aufforderung durch die Sicherheitsorgane oder andere zuständige Staatsorgane verlässt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, mit Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Wer eine Zusammenrottung organisiert oder anführt (Rädelsführer), wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft. (3) Der Versuch ist strafbar.«
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Dokument 58 Telefongespräch zwischen Bärbel Bohley und Roland Jahn 1 19. Januar 1988 Von: MfS Quelle: BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 12, Bl. 237–242 Anmerkung: Das Telefongespräch wurde vom MfS wortgetreu mit allen Füllwörtern verschriftlicht. Es kommt hier gekürzt zum Abdruck. Wurden Kürzungen nicht erklärt, handelt es sich um Streichungen von Interjektionen, Verzögerungslauten, Wiederholungen oder Unverständlichem.
(Herkunft des Anrufes ist nicht feststellbar) Angerufener (A) [Bärbel Bohley]: Ja. Anrufer (B) [Roland Jahn]: Bärbel? A [Bohley]: Ja. B [Jahn]: Hast schon geschlafen, ja? A [Bohley]: Ja, grad schon, ja. B [Jahn]: Pass auf beim Rüdiger [Rosenthal] auf dem Anrufbeantworter […] war was draufgesprochen aus Ostberlin. […] Dass in der Metzer Str. 23, 2 […] da, wo der Hilli 3 wohnt, […] irgendwie ein Hungerstreik gemacht worden wäre. A [Bohley]: Ein Hungerstreik? B [Jahn]: Ja, irgend so etwas wurde da drauf gefaselt. A [Bohley]: Metzer Str. 23. B [Jahn]: Ja und gegen 0.30 Uhr wären drei Leute zugeführt worden. […] Und es hätte auch irgendeine Hausdurchsuchung gegeben. A [Bohley]: Also warte mal, einen Moment, Metzer Str. 23, drei Leute Hungerstreik. […] Drei Leute zugeführt. B [Jahn]: Zugeführt und Hausdurchsuchung. 4 […] So war das auf dem Anrufbeantworter gesprochen. […] Ja, was da dran ist, ob das irgend ’ne Ente ist oder sonst was. 1 Der Mitschnitt des Telefongesprächs erfolgte im Rahmen des Untersuchungsvorganges gegen Bärbel Bohley (BStU, MfS, AU 140/90) und war offiziell vom DDR-Generalstaatsanwalt beim Fernsprechamt angeordnet worden. Das vorliegende Dokument ist eine Abschrift, die vom Staatsanwalt beglaubigt werden sollte. 2 In Berlin-Prenzlauer Berg gelegen. 3 Gemeint ist Gerold Hildebrand. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 4 Am 19.1.1988 hingen 4 junge Männer im Alter von 24 und 25 Jahren am linken Flügeleingangstor des Wohnhauses Metzer Str. 23 im Prenzlauer Berg ein Plakat mit folgender Aufschrift auf: »Hungerstreik als Forderung für die Freilassung der Inhaftierten vom 17.1.88 und Einstellung der
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A [Bohley]: Na, ich versuch das rauszukriegen. […] B [Jahn]: Gut und lass es dann morgen früh um 8 [Uhr] rum, wann stehst Du auf. A [Bohley]: Ja, ja, steh ich auf, Roland, ja, kannst Du noch mal, Du warst irgendwann nicht da ne. B [Jahn]: Ja. […] A [Bohley]: Na ja, wir müssten über die ganze komplizierte Situation sprechen, es spitzt sich ja irgendwie immer mehr zu. B [Jahn]: Ja, ja. […] A [Bohley]: Also morgen früh um acht. B [Jahn]: Lass uns morgen früh erst mal sprechen und im Laufe des Tages versuchen wir mal länger zu sprechen. A [Bohley]: Okay. […] B [Jahn]: Auf alle Fälle, ich habe hier einiges versucht, dass die Ausreisegeschichte nicht zu sehr in den Vordergrund kommt. A [Bohley]: Ja, ja, das ist das Problem. B [Jahn]: Aber, das ist nicht so einfach möglich gewesen. A [Bohley]: Ja, das versteh’ ich och. B [Jahn]: Und, ich hab’ da morgen früh noch mal ein Gespräch mit den Betroffenen in Gießen 5. […] Die begreifen nicht, dass sie selbst für ihre Ausreiseleute das Gegenteil erreichen. A [Bohley]: Also sag’ denen mal, wenn die nicht endlich irgendwie kapieren, kann man wieder anfangen anzufordern, dass alle Leute, die aus der DDR ausreisen dürften, also wieder einreisen dürfen, also Knast. B [Jahn]: Ja. […] A [Bohley]: Dann kapieren sie vielleicht mal endlich. […] Also es wird langsam hier dramatisch. B [Jahn]: Ja, ich hab’s schon mitgekriegt. A [Bohley]: Also ich hab’ schon versucht, Dich anzurufen, aber Du warst nicht da. B [Jahn]: Ja, ja, ich war mal kurz weg. […] Ich hab’ mit dem Ralf [Hirsch] und der Freya [Klier] noch mal drüber gesprochen. […] Und die denken so ähnlich wie Du. A [Bohley]: Ja, bloß die Situation ist eben gerade, weil ich mit Freya [Klier]
Ermittlungsverfahren!« (VPI Prenzlauer Berg, Kriminalpolizei, Ltn. Kauschke, Protokoll, 19.1.1988. BStU, MfS, BV Berlin, AKK 3961/88, Bd. 2, Bl. 17). Ein ZDF-Kamerateam konnte noch Aufnahmen machen – einer der Initiatoren hatte dieses zuvor informiert –, dann wurde das Plakat von der Polizei entfernt und die 4 jungen Männer wurden festgenommen (MfS, HA XX, Tagesbericht zur Aktion »Störenfried«, 20.1.1988. BStU, MfS, HA XX/AKG 6800, Bl. 18–19). 5 Im hessischen Gießen lag das Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge, das seit 1986 dann Bundesaufnahmestelle hieß.
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heute Abend diese Diskussion hatte, alle Leute sind am Rande ihrer Kräfte. 6 […] Hören gar nicht mehr genau zu. […] Und es geht viel daneben, weißt Du. B [Jahn]: Das geht dann so im Selbstlauf. […] Und wenn man dann nicht irgendwas in die Hand nimmt […] und gestaltet, dann ist es nämlich vorbei. A [Bohley]: Ich wollte Dir jetzt eigentlich nur sagen, noch so als Bitte. B [Jahn]: Ja. A [Bohley]: Dich irgendwo mal in Deinem Kopf mal etwas langsam einordnen kannst, wer was will, die Leute wissen es ja manchmal selber nicht mehr. […] Die Verbündeten sind eben, was du manchmal mahnst, noch mal nachzufragen. B [Jahn]: Das sowieso. […] Ich habe auch hier allen Leuten, die so oberflächlich arbeiten […], den[en] habe ich einiges gesagt und haben auch schon einiges schon, sagen wir mal in die Hand genommen und haben bissel gründlicher gearbeitet. […] Da ist das dann auch anders geworden. A [Bohley]: Nee, das ist ja jetzt auch mit Freya [Klier] klar, aber irgendwie entscheidet sich langsam mal an dem Punkt DDR-Geschichte. B [Jahn]: Na klar. A [Bohley]: Und das wird ganz schön schwierig. B [Jahn]: Ja, ja, das denk’ ich auch. Ich meine, man kann das Problem nicht wegdrängen. A [Bohley]: Nee, nee, überhaupt nicht, das wäre völlig falsch. B [Jahn]: Das wäre grundsätzlich ein Fehler. A [Bohley]: Aber die sitzen plötzlich wie die Geier da. B [Jahn]: Du, ich hab’ das schon mal durchgemacht, ’83 persönlich. 7 6 Freya Klier drängte stärker als viele andere auf öffentliche Aktionen. 7 Roland Jahn wurde im September 1982 verhaftet und am 18.1.1983 zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt (StGB §§ 220, Abs. 1, 222 u. 63, Abs. 2) (BStU, MfS, BV Gera, AU 728/83). Aufgrund nationaler und internationaler Proteste kam er am 25.2.1983 frei. Am 8.6.1983 wurde Jahn, er hatte seinen im Gefängnis gestellten Ausreiseantrag nicht schriftlich zurückgezogen und seinem Rechtsanwalt Schnur am 23.5.1983 schriftlich bestätigt, dass er den Ausreiseantrag nicht unter dessen Druck gestellt habe (BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2, Bl. 136), der als IM wiederum diese Information umgehend an die Stasi weiterreichte, in die Bundesrepublik abgeschoben (vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: »Aktion Gegenschlag«, in: Gerbergasse 18 1 (2013) 66, S. 17–23; Roland Jahn, in: Heiner Sylvester (Hg.): Wir wollten nur anders leben. Erinnerungen politischer Gefangener im Zuchthaus Cottbus. Cottbus 2013, S. 298–315). Kurz nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik berichtete Jahn ausführlich über die Umstände seiner Abschiebung und darüber, dass Landesbischof Werner Leich ihm und anderen gegenüber bei einem Gespräch am 1.3.1983 erklärte, die Kirche könne und wolle sie nicht schützen (Roland Jahn: Du bist wie Gift, Teil II, in: Der Spiegel Nr. 26 vom 27.6.1983, S. 68–77). 5 Jahre später, am 3.3.1988, kam es zu einem offiziellen Treffen zwischen Honecker und Leich. Nach dem beide längere, vorbereitete Ansprachen vorgetragen hatten, reagierte Honecker auf Leichs Ausführungen. Das SED-Protokoll vermerkt: »E. Honecker erinnerte dabei an sein Gespräch mit W. Leich anlässlich der Wiedereröffnung der Wartburg [am 21.4.1983], in dem W. Leich bekanntlich die Frage aufgeworfen habe, wie man ihm helfen könne, den Gottesdienst in Jena ohne Störungen durchzuführen. Damals habe es Übereinstimmung gegeben, den Bürger Jahn aus
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A [Bohley]: Ja, ja. B [Jahn]: Ich weiß, wie das dann ist. […] Wie die dann plötzlich von überall herkommen. […] Und was zu … wollen. […] Und ich denke, dass da noch einiges möglich sein wird. A [Bohley]: Gut. B [Jahn]: Dass man da noch etwas korrigieren kann, die andere Seite ist, was das von hier aus betrifft, wird das verebben, wenn, wenn die selbst dann nicht kurbeln wie die Wilden. Vor allen Dingen, kurbeln können sie dann nur noch an, auf Ebenen, die der Sache auch nicht dienlich sind. […] Also, ich hab’ nur Angst, dass sie morgen nicht noch mit Herrn [Gerhard] Löwenthal 8 Sendegast machen. 9 A [Bohley]: Der kommt ja morgen. B [Jahn]: Was. A [Bohley]: Das kommt doch morgen. B [Jahn]: Na ja, klar, und wenn sie da was gemacht haben. A [Bohley]: Hamse bestimmt. B [Jahn]: Ja, dann könnse sich langsam wegstecken. 10 A [Bohley]: Hm. Ach Mensch Roland, das kocht an allen Ecken und Enden und Rosa [Luxemburg] ist weit und Karl [Liebknecht] auch. B [Jahn]: Ja, ja, ich werd mal sehen, was morgen machbar ist. A [Bohley]: Ja. Jena zu entfernen. Damit habe man der Kirche die Möglichkeit geschaffen, ungestörte Gottesdienste abzuhalten, und in Jena Ruhe und Ordnung einkehren zu lassen. Diese Bemerkung wurde von W. Leich zustimmend bestätigt.« (Protokoll Nr. 10 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 8.3.1988, Anlage 1: Niederschrift über das Gespräch … [von] Erich Honecker mit … Werner Leich am 3.3.1988. BArch DY 30, I IV 2/2/2263, Bl. 23; diese Anlage ist auch publiziert worden, vgl. Utopie kreativ 1992/19–20, S. 107–119, bes. S. 116). Ob Werner Leich tatsächlich darauf nicht reagiert hat, ist nicht überliefert – es handelt sich um ein SED-Dokument. Bärbel Bohley wiederum war gemeinsam mit Ulrike Poppe am 12.12.1983 vom MfS festgenommen und nach nationalen und internationalen Protesten am 24.1.1984 wieder freigelassen worden. Den Hintergrund bildeten ihr Engagement in der unabhängigen Friedensbewegung, in der Gruppe »Frauen für den Frieden« sowie die damit verbundenen internationalen Aktivitäten und Kontakte. Das eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde eingestellt (BStU, MfS, AU 320/87; ebenda, AU 14377/84). 8 Gerhard Löwenthal (1922–2002) überlebte die NS-Diktatur als einer der wenigen Berliner Juden, viele Familienangehörige sind ermordet worden. Er studierte zunächst nach 1945 in OstBerlin, zählte dann zu den studentischen Mitbegründern der FU Berlin und war seit 1951 hauptberuflich als Journalist tätig (siehe auch Anm. 9). Der Konservative, der sich von der SPD wegen deren Ostund Deutschlandpolitik abgewendet hatte, zählte zu den in Ost wie West umstrittensten Journalisten und galt bei Linken als eine Hassfigur, die immer wieder demagogisch mit Karl-Eduard von Schnitzler verglichen wurde. Löwenthal hat wie kaum ein anderer Fernsehjournalist unentwegt auf die Menschenrechtsverletzungen in der DDR aufmerksam gemacht. 9 Gemeint ist das alle 2 Wochen ausgestrahlte ZDF-Magazin. Gerhard Löwenthal moderierte die Sendung von 1969 bis Ende 1987. Bevor sie Ende März 1988 endgültig eingestellt wurde, moderierte sie u. a. Fritz Schenk (1930–2006), der 1957 aus der DDR geflohen war. 10 In den vorherigen Passagen ging es immer wieder um die Frage, wie sich die in diesen Tagen Ausgereisten mit Ausreiseantrag verhalten.
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B [Jahn]: Ich hab’ da ein paar Gespräche, die, wo ich durchaus was machen kann. A [Bohley]: Ja, okay. B [Jahn]: Ja. A [Bohley]: Ja, also ab 8 [Uhr], ja. B [Jahn]: Bloß das Wichtige und das habe ich auch Freya [Klier] noch mal gesagt, ist das Beste, das … ich bei Euch … was mit Inhalt zu tun. […] A [Bohley]: Bloß, verstehst Du, das ganze Problem ist doch einfach, Roland, man kann die Leute nicht unter den Tisch fallen lassen. B [Jahn]: Nein, nein das. A [Bohley]: Und das meine ich eben und das war heute Abend das Problem mit Freya [Klier]. B [Jahn]: Ja, ja, das ist vollkommen klar, man kann sie nicht unter den Tisch fallen lassen. […] Bloß man kann seine eigene Sache auch machen. A [Bohley]: Ja, man muss sich solidarisieren und gleichzeitig differenzieren. 11 B [Jahn]: Na klar. A [Bohley]: Und das ist das Problem. B [Jahn]: Man muss eine eigene Sache machen, es ist doch so, dass vieles läuft über Öffentlichkeit. […] Man hat vieles mitgekriegt, wenigstens bei Zion 12 ja. […] Und, und, in der Öffentlichkeit wird das dann gesehen, wenn der Hintergrund da ist, ja. […] Das heißt, man muss auch offen dazu sein, wenn jemand was wissen will über Stephan [Krawczyk], dann muss man was erzählen. A [Bohley]: Schon klar. B [Jahn]: Und nicht sagen, so (Störung durch Husten von A) verstehst Du. A [Bohley]: Ich habe schon Lungenkrebs. 13 B [Jahn]: Zuviel geraucht. A [Bohley]: Ja. B [Jahn]: Das sind selbst banale Sachen ja. […] Dass, dass Bücher und Manuskripte beschlagnahmt wurden, die erzählt werden, füllt schon so was aus. A [Bohley]: Na klar, das ist doch alles da. B [Jahn]: Und, und auch Lebensläufe von Herbert [Mißlitz] und von Vera [Wollenberger]. 14 […] Da steht doch was dahinter an Biografie. […] 11 Das war eine verbreitete Haltung in Oppositionskreisen den Ausreiseantragstellern gegenüber, was politische Gründe hatte, aber auch dem eigenen Schutz dienen sollte, nicht in den Westen abgeschoben zu werden. 12 Gemeint sind die Vorgänge um die Zionsgemeinde und die UB ab 24./25.11.1987. 13 Bärbel Bohley litt zu dieser Zeit nicht an Lungenkrebs; die Krankheit brach bei ihr erst etwa 20 Jahre später aus. 14 Biografien und Fotos von bekannten Oppositionellen waren schon seit 1985/86 nach WestBerlin, v. a. zu Roland Jahn, geschmuggelt worden, um im Falle von Verhaftungen sofort anschaulich berichten und den Verhafteten auch medial »Gesichter« verleihen zu können. Dieser Fundus ist ständig erneuert und vervollständigt worden.
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Dokument 58 vom 19. Januar 1988
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A [Bohley]: Na klar. B [Jahn]: So was muss alles angestellt werden jetzt. […] Und damit, indem man das macht, geht das automatisch von den ganzen Ausreisediskussionen weg. […] A [Bohley]: Gut. B [Jahn]: Indem man einfach sagt, hier sind die Leute, die jahrelang gearbeitet haben. A [Bohley]: Gut. B [Jahn]: Und darin besteht doch auch das Interesse, so etwas darzustellen, ja. A [Bohley]: Ja. B [Jahn]: Dazu ist es aber auch wichtig, dass ein bisschen was vorhanden ist. A [Bohley]: Ja. B [Jahn]: Lebensläufe, Fotos und so. A [Bohley]: Gut. B [Jahn]: Denkt mal an so was. A [Bohley]: Okay. B [Jahn]: Tschüß dann. A [Bohley]: Tschüss. – Ende des Gesprächs –
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Dokument 59 Telefonate Lutz Rathenow 23. Januar 1988 1 Von: MfS, BV Gera, Abt. XX, Major [Reiner] Krumbholz 2 An: MfS, BV Gera, Abt. XX/2, XX/AI, sowie MfS, BV Gera, KD Jena, HA XX/9 Quelle: BStU, MfS, AOP 1076/91, Beifügung Bd. 14, Bl. 21–22
1. Rathenow informierte telefonisch Personen in Jena über die Ereignisse in Berlin im Zusammenhang mit der Kampfdemonstration am 17.1.1988. – Von staatlicher Seite wäre dies die härteste Aktion seit 1953, es wären 30 Haftbefehle 3 ausgesprochen worden u. a. gegen [Stephan] Krawczyk, [Vera] Wollenberger, [Frank-Herbert] Mißlitz 4, [Bert] Schlegel sowie weiteren zwei Mitgliedern 5 der »Umweltbibliothek«. – Der Personenkreis »Kirche von unten« hätte sich nicht beteiligt an der Aktion am Sonntag. [Uwe] Kulisch war in Hirschluch 6. – Die Westmedien würden gegenwärtig über die Ereignisse nur bagatellisierend berichten. – Verantwortliche der Kirchenleitung würden sich bisher nicht sehr darum kümmern, da die Aktivitäten nicht in der Kirche waren. Außerdem wurde durch die Kirchenleitung die Feststellung getroffen, dass verschiedene Leute falsch mit den Medien umgehen. – Solidarisierende Maßnahmen waren gut, evtl. Soli-Telegramm an »Umweltbibliothek«. 1 Aus dem Kopf des Dokuments geht hervor, dass der zuständige Stasi-Mitarbeiter die Informationen, die hier niedergeschrieben worden sind, am 19.1.1988 erhielt. 2 Reiner Krumbholz (geb. 1938), Werkzeugmacher, 1956–1958 Bereitschaftspolizei Meiningen, SED 1967; seit 1973 MfS, Sachbearbeiter (Oberfeldwebel) in der BV Gera, Abt. XX, ab 1976 dort stellv. Referatsleiter; 1980 Abschluss als Fachschuljurist (MfS); anschließend seit 1980 Referatsleiter in der Abt. XX der BV Gera; im Oktober 1987 zum Major befördert. 3 Es gab über 100 »Zuführungen«, die genaue Zahl der Haftbefehle ist bislang unbekannt, da die meisten der Antragsteller auf ständige Ausreise überwiegend unmittelbar in den Westen abgeschoben wurden. Es gab mehrere dutzend Haftbefehle und zahlreiche Verurteilungen, die meistens anschließend mit einer Abschiebung in die Bundesrepublik ausgesetzt wurden. 4 Im Original: Misselwitz, tatsächlich aber ist Frank-Herbert Mißlitz festgenommen worden. Die Theologen Ruth (geb. 1952) bzw. Hans (geb. 1950) Misselwitz gehörten zur Ostberliner Opposition, namentlich zum »Pankower Friedenskreis«. Vgl. dazu Marianne Subklew-Jeutner: Der Pankower Friedenskreis. Geschichte einer Ost-Berliner Gruppe innerhalb der Evangelischen Kirchen 1981– 1989. Osnabrück 2004. 5 Es handelte sich um Andreas Kalk und Till Böttcher. 6 In Hirschluch (in der Nähe von Storkow) befand sich ein evangelisches Jugendrüstheim.
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Dokument 59 vom 23. Januar 1988
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– Über die Ereignisse sollen die entsprechenden Leute im Territorium informiert werden. – Bei den verhafteten 30 Personen handelt es sich überwiegend um ÜSE 7. Heute soll es eine ADN-Meldung geben, wo mitgeteilt würde, dass eine Gruppe von ÜSE zur Durchsetzung ihrer ÜSE die Aktivitäten unternommen habe. Krawczyk würde mit einbezogen werden in diese Richtung. – Es hätten sieben Hausdurchsuchungen stattgefunden, u. a. auch [bei] Freya Klier. Die staatlichen Organe würden durchdrehen. Man müsste abwarten, ob dies eine totale Umkehr wäre oder nur vorübergehende Reaktionen des Staates. Zu diesem Zeitpunkt findet auch eine Veranstaltung zur Kernkraftproblematik statt. 8 – Rathenow hätte über das Wochenende 16./17.1.1988 in Berlin unter Beobachtung gestanden. Es wäre aber nichts gegen ihn unternommen worden.
7 ÜSE – Übersiedlungsersuchende; also Antragsteller auf Ausreise aus der DDR. 8 Wahrscheinlich war die Veranstaltung am 23.1.1988 in der Ostberliner Sophiengemeinde/Sophienkirche gemeint.
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Dokument 60 Telefongespräch zwischen Roland Jahn und Ralf Hirsch 19./20. Januar 1988 1 Von: MfS Quelle: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2, Bl. 224–241 Anmerkung: Das Telefongespräch wurde vom MfS wortgetreu mit allen Füllwörtern verschriftlicht. Es kommt hier gekürzt zum Abdruck. Wurden Kürzungen nicht erklärt, handelt es sich um Streichungen von Interjektionen, Verzögerungslauten, Wiederholungen oder Unverständlichem.
Hi [Ralf Hirsch]: Hirsch. Ja [Roland Jahn]: Ja, hallo, Herr Hirsch? Hi[rsch]: Hallo. Meldest dich och? Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Warum hast’n vorhin nicht bei Freya [Klier] angerufen, so zwischen achte und halb zehne. Ja[hn]: Ich? Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Warum? Hi[rsch]: Na, weil ich da mal auf deinen Anruf gewartet hab’. Ja[hn]: Ich habe überall angerufen, außer bei Freya [Klier]. Hi[rsch]: Ach, hier och? Ja[hn]: Bärbel [Bohley] hat mir gesagt, dass du zu Hause bist. Hi[rsch]: Was, dass ich zu Hause bin? Ja[hn]: Ja, und bei dir hat bloß keener gehört. Hi[rsch]: He, he, komisch. Ja[hn]: Na, ja. Hi[rsch]: Ja. Ick wollt dir nämlich was verlesen, aber nun ist es schon zu spät. Ja[hn]: Welches, das Ding? Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Das hab’ ich doch schon. Hi[rsch]: Das wollte ich –. Das dachte ich mir och schon. Ja[hn]: Außerdem ist es doch ziemlich schnell rausgegangen. 1 Dieses Dokument ist Bestandteil eines Konvoluts von Anlagen, das die DDRGeneralstaatsanwaltschaft der Sektion Kriminalistik an der HUB, Prof. Christian Koristka, für die Anfertigung von phonetischen Gutachten übergab (BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2; siehe Dok. 71 und 72). Das Dokument trägt kein Datum. Es ergibt sich aus dem Gesprächskontext. Das Gespräch fand am späten Abend oder nach Mitternacht statt. Jahn las aus der »taz« vor, die erst am nächsten Morgen erscheinen würde, aber abends in bestimmten Westberliner Kneipen bereits verkauft wurde. Er erhielt zudem immer frühzeitig ein redaktionelles Exemplar vom Andruck.
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Dokument 60 vom 19./20. Januar 1988
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Hi[rsch]: Ja, wa. Ja[hn]: Das war schon um halb zehn in den Nachrichten. Hi[rsch]: Auch die Erklärung der »Initiative [Frieden und Menschenrechte]«? Ja[hn]: Der »Initiative« selbst? Hi[rsch]: Ja? Ja[hn]: Nee, ich hab’ nur die Sammelerklärung. 2 Hi[rsch]: Ach so, die, ja ist sehr gut. Hm. Ja[hn]: Ja, hat die »Initiative« extra noch was gemacht? Hi[rsch]: Na ja, wegen der Staatsbürgergruppe 3, weil die ja jetzt behaupten, die gehören zur »Initiative« im Westen, wa. 4 Ja[hn]: Na ja, das haben sie nicht gesagt. Hi[rsch]: Na ja doch, so etwas kam schon durch. Ja[hn]: Nee, nee, nee, nee. Hi[rsch]: Doch, in Telefongesprächen hierher kam schon durch, dass sie jetzt überziehen wollen. Ja[hn]: In Telefongesprächen? Hi[rsch]: Ja, ja. 2 Am 19.1.1988 um 18.00 Uhr gaben Vertreter der UB, KvU, IFM, »Gegenstimmen«, »Friedenskreis Friedrichsfelde«, AKSK und Punks Erlöser folgende Erklärung heraus: »Dem öffentlichen Aufruf folgend, wollten Bürger der DDR mit eigenständigen Losungen im Geiste von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an der Demonstration am 17.1.1988 in Berlin teilnehmen. Mit Unverständnis und Betroffenheit nehmen wir, wie viele andere Bürger unseres Landes, das repressive Vorgehen der Sicherheitsorgane zur Kenntnis. Wir protestieren gegen wiederholte massive Einschränkung bei der Ausübung verfassungsmäßig garantierter Rechte. Dies verschärfte den weithin erkennbaren Widerspruch zwischen dem friedlichen außenpolitischen Anspruch der DDR und ihren innenpolitischen Verhältnissen. Voller Empörung und aus gesellschaftlicher Verantwortung solidarisieren wir uns mit den Betroffenen und fordern: 1. Die unverzügliche Freilassung aller in diesem Zusammenhang Festgenommenen und Inhaftierten; 2. Die Einstellung aller Ermittlungsverfahren; 3. Die Einstellung sämtlicher Repressalien gegen gesellschaftlich Engagierte.« (abgedruckt in: Umweltblätter vom 20.1.1988, S. 10). 3 Gemeint ist die Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR. 4 Die IFM gab folgende Erklärung am 19.1.1988 abends heraus: »Für die Friedensbewegung hat sich im Verlauf der letzten Jahre immer deutlicher die Notwendigkeit gezeigt, die Problematik von Menschenrechtsverletzungen und Rechtsbeugung zu bearbeiten. Aufgrund dieser Entwicklung entstand u. a. Anfang 1986 die »Initiative Frieden und Menschenrechte«. Im Herbst 1987 entstand eine eigenständige Gruppe »Staatsbürgerschaftsrecht«, die sich insbesondere mit den vielfältigen Problemen (z. B. Rechtsunsicherheit, soziale und politische Ausgrenzung) von Menschen, die die DDR verlassen wollen, beschäftigt. Entgegen anderslautenden Darstellungen ist diese Gruppe keine Arbeitsgruppe der »Initiative Frieden und Menschenrechte«. Mitglieder dieser Gruppe beteiligten sich gemeinsam mit Mitgliedern anderer Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen an der Demonstration anlässlich des Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 17.1.1988, ohne dabei, wie teilweise berichtet wurde, die Ausreiseproblematik zu plakatieren. Wir halten die Bearbeitung der Probleme derer, die ihr Grundrecht auf Verlassen des Landes in Anspruch nehmen wollen, für wichtig. Sie stellen jedoch keinen Schwerpunkt unserer Arbeit dar, weil wir uns für Veränderungen innerhalb der DDR-Gesellschaft engagieren, die auch dahin führen sollen, dass zunehmend weniger Menschen aus politischen Gründen Ausreiseanträge stellen.« (abgedruckt in: Umweltblätter vom 20.1.1988, S. 9–10).
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Dokument 60 vom 19./20. Januar 1988
Ja[hn]: Nein, es ist, es ist eindeutig in allen Berichten, die ich gesehen habe –. Hi[rsch]: Ja? Ja[hn]: Ist den Leuten selbst der wenigste Vorwurf zu machen. Mit dem, was sie gesagt haben. Ja? Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Die einzigen Vorwürfe sind die, die gehen an die oberflächlichen Journalisten. […] Ja? Also ich hab’ extra wirklich druff geachtet, und ich bin da ja sehr empfindlich, gerade das Thema Abschiebung, ja? […] Aber von denen hat jeder gesagt, wir sind in der Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht usw., ja. […] Das Einzige, was jetzt noch gekommen ist und was ganz schlimm ist, das ist och in den Nachrichten gekommen, dass irgend so ein XXX so’n DPA-Typ da aus Gießen, ja. […] Der ist dann hin –, hingefahren wahrscheinlich und hat, weil er sie im Fernsehen gesehen hatte, und hat mit denen dumm geschwatzt und weiter nichts Gescheites erzählt haben, neues, hat er einfach gemeldet, na ja, die fahren jetzt nach Berlin, ja? 5 […] Und von dort aus wollen sie mit ihren Freunden in Verbindung treten, um ihnen zu helfen! […] Das ist wieder dieses schöne Argument der Fremdsteuerung, und das greift dann wieder. Hi[rsch]: Na ja, natürlich. […] Na ja, wir müssen das Ding trennen, das geht nicht. Det nimmt Überhand. Ja[hn]: Ja, denk’ ich och fast, ja. Hi[rsch]: Jetzt muss getrennt werden zwischen Ausreiser und uns. 6 Ja[hn]: Ja. Und, und, ich hab’ schon einiges versucht, ich hab’ och schon Kontakt aufgenommen usw., ja. […] Und ich hab’ heute och schon einiges bremsen können. […] Also so wär’ manches noch schlimmer gelaufen. Hi[rsch]: Hm, kann ich mir vorstellen. Ja[hn]: Am Tag, ja. Und es kam’n dann aber och ganz gute Kommentare vom Hartung 7 usw., ja, die das zwar alles erwähnt haben. Man kann das nicht negieren. Hi[rsch]: Ja, ja, ist klar. 5 Vgl. z. B. die auf diesem dpa-Bericht basierenden Beiträge: »Ost-Berlin hat Angst vor uns«, in: Berliner Morgenpost vom 20.1.1988; Ausweisung kam »Knall auf Fall«. DDR-Bürgerrechtler wollen in West-Berlin leben, in: Volksblatt vom 20.1.1988. Die Aufregung von Jahn und Hirsch über diese Beiträge ist nur schwer nachvollziehbar, bezieht sich aber offenbar auf den Umstand, dass in diesem dpa-Bericht erstens nur Personen behandelt werden, die tatsächlich vor dem 17.1.1988 einen Ausreiseantrag gestellt hatten, und dass zweitens mit einem wörtlichen Zitat (Volksblatt) betont wurde, die Ausgereisten würden ihre Freunde in Ost-Berlin nicht vergessen und würden Kontakt zu ihnen suchen. 6 Dahinter verbirgt sich auch die Angst, dass neuerlich Abschiebungen in den Westen gegen den eigenen Willen erfolgen könnten. 7 Im Original: »Hartwig«, gemeint ist folgender Kommentar: Klaus Hartung: Streit ums Erbe. Zu den Demonstrationen in Ost-Berlin, in: taz vom 20.1.1988. Weiter unten liest Roland Jahn diesen vor.
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Ja[hn]: Das geht nicht. Es steht och in der »taz« heute. […] Aber da steht’s och so drinne, dass, na ja, dass das irgendwo relativiert ist. […] Und also die Aussage von [Manfred] Stolpe och, ja? […] Ich kann dir ja mal kurz sagen, Seite 1, ja? […] Stör dich nicht an den Begriffen Opposition, das wird hier verwandt, damit das richtig erklärbar ist, ja. […] »Die DDR-Staatsanwaltschaft hat gestern gegen sechs, besonders« –. Das ist natürlich och vom Redaktionsschluss abhängig gewesen, ja. […] »… gegen sechs besonders aktive Mitglieder oppositioneller Gruppen Haftbefehle erlassen. Unter ihnen ist auch der Ostberliner Liedermacher Stephan Krawczyk, der seit zwei Jahren Berufsverbot hat. Die Staatsanwaltschaft wirft den sechs Verhafteten einen Verstoß gegen den § 217, Abs. 1, des DDR-Strafgesetzes vor, nach dem auf ›Zusammenrottung‹ bis zu 2 Jahre Haft stehen. Gegen den Liedermacher wird außerdem nach § 214 wegen der ›Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit‹ ermittelt. Alle sechs Verhafteten hatten am Sonntag in Ost-Berlin an der offiziellen ›Kampfdemonstration‹ zu Ehren Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts teilgenommen.« – Es hätte heißen müssen: teilnehmen wollen. – »Dort waren sie zusammen mit rund 120 anderen Vertretern unabhängiger DDRMenschenrechtsgruppen festgenommen worden. Sie hatten auf Transparenten mit dem Rosa-Luxemburg-Zitat darauf hingewiesen, dass ›Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden’ ist. Gestern Nachmittag befanden sich nach Angaben aus Ostberliner oppositionellen Kreisen noch rund 80 der Festgenommenen in Haft.« – Ich weiß nicht, wo die Zahl jetzt her ist. – »Da in der DDR Festgenommene maximal 72 Stunden festgehalten werden können, ohne einem Haftrichter vorgeführt zu werden, war gestern Nachmittag noch unklar, ob weitere Haftbefehle folgen werden. Der Ostberliner Vertreter,« – da hätte er schreiben müssen, einer – »der Ostberliner Vertreter der ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹, Ralf Hirsch, bezeichnet es als ›grotesk‹, dass die DDR-Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen Menschen erlassen habe, die dem Aufruf der SED nachgekommen seien, sich an einer Kampfdemonstration für Rosa Luxemburg zu beteiligen. Unter den sechs Verhafteten sind Vera Wollenberger und Herbert Mißlitz, die die ›Kirche von unten‹ mitbegründet haben und zu den exponierten Vertretern der Ostberliner Friedens- und Menschenrechtsgruppen gehören. Bereits am Montag waren ihre Wohnungen durchsucht und zahlrei-« –. Warte, das ist dann Seite 3. Übrigens vorne, große Aufmache, auf Seite 1, ja. […] ».. che Manuskripte und Bücher beschlagnahmt worden. Bei der Durchsuchung der gemeinsamen Wohnung des Liedermachers Krawczyk und der Regisseurin Freya Klier ließen die Ermittler auch Liedtexte mitgehen. Die drei anderen Haftbefehle wurden gegen die Mitglieder der ›Umweltbibliothek‹ Till Böttcher, Andreas Kalk und Bert Schlegel erlassen. Gegen alle drei war nach der Razzia in der ›Umweltbibliothek‹ im November schon einmal ermittelt worden. Der Ostberliner Konsistorialpräsident Stolpe erklärte gegenüber der »taz«, die Kirchenleitung müsse diesmal
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besonders ›behutsam‹ vorgehen. Staatliche Vertreter hätten im Gespräch mit der Kirchenleitung erklärt, dass unter den Festgenommenen zu 90 Prozent Ausreisewillige seien, die die Demonstration nur als ›Vorwand missbraucht‹ hätten, um ihre Ausreise zu beschleunigen. Stolpe versprach jedoch, sich für die Vertreter der unabhängigen Friedensgruppen ›ganz besonders‹ einzusetzen. Vertreter Ostberliner Menschenrechtsgruppen wiesen gestern die Darstellung staatlicher Stellen zurück, dass die Aktion der unabhängigen Gruppen von Ausreisewilligen geleitet worden sei. An der Aktion habe sich auch eine Gruppe Ausreisewilliger beteiligt, betonte Ralf Hirsch von der »Initiative Frieden und Menschenrechte«. Die Aktion sei jedoch von vielen unabhängigen Gruppen gemeinsam getragen worden. Ende letzter Woche hatten die DDRBehörden überraschend eine Gruppe von 24 DDR-Bürgern ultimativ aufgefordert, das Land innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Alle 24, die jetzt im Aufnahmelager Gießen untergebracht sind, hatten schon vor einiger Zeit einen Ausreiseantrag gestellt. Dass sie jetzt innerhalb weniger Stunden ihre Zelte in der DDR abbrechen mussten, bringen sie mit ihrem Engagement in einer ›Staatsbürgerschaftsrechts-Gruppe‹ in Verbindung. Im Vorfeld der alljährlichen ›Kampfdemonstration‹ zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren Mitglieder dieser Gruppe von DDR-Behörden vor einer Teilnahme gewarnt worden.« 8 Das war’s. Hi[rsch]: Hm. Ick hab’ zwar nicht gesagt, getragen, sondern aufgerufen wurde von verschiedenen Gruppen und nicht getragen, aber ist ja auch egal. […] Bleibt sich gleich. Ja[hn]: Ja, das ist, man muss ja noch ’nen Oberzensor anschaffen. Hi[rsch]: Ach macht nichts, nee, nee, ist ja nebensächlich. Ja[hn]: Da darf man nicht zu kleinlich sein. Ich bin da immer kleinlich, aber das ist auch richtig so. Hi[rsch]: Ja, ja. Ja[hn]: Dazu ist noch ein Kommentar, den hat mir aber jetzt irgendeiner geklaut. Hi[rsch]: Aha, bis du in ’ner Kneipe? Ja[hn]: Ja, ja. Ist türkische Musik im Hintergrund. Hi[rsch]: Ja, ich hör’ schon. Wer ist denn da alles? Kenn ick da een? Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Kenn ick da jemand? Ja[hn]: Ja, ja, kennste. Hi[rsch]: Dann grüß mal.
8 DDR. Haftbefehle im Namen Rosa Luxemburgs, in: taz vom 20.1.1988 (Jahn las den kompletten Artikel vor).
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Ja[hn]: Ja, Clara. 9 Hi[rsch]: Ach ja, grüß mal. Ja[hn]: Ja. Ihren Kommentar lese ich dir noch vor. 10 Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Da war auch ein kleiner Fehler drinne. »Streit ums Erbe. Zu den Demonstrationen in Ost-Berlin«, so Überschrift war das, »Streit ums Erbe.« »Bei den Festnahmen nach der Gedenkfeier von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ist es nicht geblieben. Die DDR-Behörden verschärfen die Auseinandersetzungen ins Grundsätzliche: Gegen drei Mitglieder jener protestierenden Dissidentengruppe wird wegen ›Zusammenrottung‹ ermittelt, wofür zweijährige Haftstrafen möglich sind. Außerdem erklärten DDR-Vertreter, man überprüfe, ob es ›Hintermänner der generalstabsmäßig organisierten Aktion in West-Berlin‹ gegeben habe – die traditionelle Formel für ideologische Generalprävention und Hexenjagd. Überreaktion? Sieg der Stasi-Fraktion über Honecker-Tauben? Das wären befangene Deutungen von außen. Die subversive Kraft des Protestes jener kleinen Gruppe (auch der persönliche Mut) sollte nicht unterschätzt werden. Die Meldungen über Empörung und Erregung der DDR-Funktionäre kann wörtlich genommen werden. So direkt hatte sich der Dissens noch nie ins staatliche Ritual des heiligen Klassenkampfes eingemischt. Am Sonntag haben jene hundert, hundertfünfzig Protestierenden eine Schattenlinie im Kleinkrieg zwischen Dissens und Staat überschritten: Sie sind aus dem Protestghetto von Umwelt, Frieden, Abrüstung und Kirche herausgetreten, in dem sie geduldet wurden, indem man ihnen das Leben schwer machte. Der Protest berührt eine Schlüsselstelle einer antiautoritären Rebellion, deren Latenz in der DDR längst schon zu spüren ist: Die Dissidenten haben begonnen, öffentlich das ›sozialistische Erbe‹ streitig zu machen. Mit jener Einmischung berühren sie einen schwelenden Widerspruch. Denn schon längst droht die staatliche Inszenierung des revolutionären Erbes ihrer eigenen Dialektik anheimzufallen: So sehr sie die Klassenkampfgeschichte ritualisiert, so sehr treibt sie das subversive Freiheitliche nach oben. Die Ohnmacht in der Übermacht der DDR-Behörden ist bedrohlich. Der Streit ums Erbe hat begonnen.«11 […] Hi[rsch]: Ist doch gut. Ja[hn]: Ja, ja. Es ist einfach die Grundaussage mal, die schon immer wieder steht. Die stand ja schon bei der ganzen Friedensfrage, inwieweit man gewisse Friedensvorschläge och für sich gepachtet hat, ja. 9 »Clara Roth« war ein Pseudonym der »taz«-Autorin Myriam Moderow. Das – wie auch »Karla Trux« u. a. – benutzte sie, wenn sie über die DDR und Ost-Berlin schrieb. Der von Jahn vorgelesene »taz«-Beitrag stammte von ihr. 10 Laut »taz«-Ausgabe stammt dieser nicht von ihr, sondern von Klaus Hartung. 11 Klaus Hartung: Streit ums Erbe. Zu den Demonstrationen in Ost-Berlin, in: taz vom 20.1.1988 (Jahn las den kompletten Kommentar vor).
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Hi[rsch]: So ist et, ja. Ja[hn]: Und die steht jetzt bei dem Erbe genauso. Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Ja, finde ich auch. Hi[rsch]: Ja, denke, det looft schon. Ja[hn]: Im SFBeat 12 kam heute der Hanns Werner Schwarze. Hi[rsch]: Wer ist denn dit? Ja[hn]: Das ist der Generalsekretär des PEN –. Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Der deutschen Sektion, und der hat ziemlich vom Leder gezogen. Hi[rsch]: Aha. Ja[hn]: War sehr gut, und das ja nich [allein, denn], das ist übrigens och der Studioleiter im ZDF, der im Prinzip das ZDF aus der Taufe gehoben hatte. 13 Hi[rsch]: Aha. Ja[hn]: Der taucht auch ab und zu mal auf im ZDF. […] Im Kennzeichen D, und der war sehr gut. […] Also, det war noch ’ne Variante zu dir, ja, aber es kann sein, dass sie sich bei dir och noch mal melden, ja. […] Und ansonsten noch was Positives. Bloß mal vorab für Dich und für die Herren, die zuhören. […] Ein paar Rockmusiker, »BAP« und Peter Maffay, Dein Freund –. Hi[rsch]: Ach! Ja[hn]: Die werden was machen. Hi[rsch]: Sehr gut! Ja[hn]: Ja? Hi[rsch]: Sehr gut! Ja[hn]: Das wird zwar ein bissel speziell och uff Stephan [Krawczyk] zugeschnitten sein –. Hi[rsch]: Du, pass mal uff, wir denken, wenn wir das jetzt uff Stephan [Krawczyk] zuschneiden, dann ziehen wir die anderen automatisch mit. Ja[hn]: Genau das ist es. Hi[rsch]: Da mach’ Dir jetzt keenen Kopf, weil es uff Stephan [Krawczyk] zugeschnitten ist. Ja[hn]: Nein, nein, ich hab’ extra gesagt, die einzelnen Sparten werden jeweils hier ihren besonderen Bezug herausstellen. Hi[rsch]: So is et. Ja[hn]: Und, die haben aber wirklich in ihrer Erklärung klaren Bezug genommen uff Rosa [Luxemburg] und och im Prinzip auf alle Inhaftierten. 12 SFBeat – eine werktägliche Jugendsendung des Senders Freies Berlin (SFB). 13 Hanns Werner Schwarze (1924–1991); er wurde 1963 erster Studioleiter des ZDF in Berlin, ab 1966 war er für die Sendung »drüben«, aus der 1971 »Kennzeichen D« hervorging, verantwortlich und als Moderator deren prägender Kopf. Von ihm stammte das umstrittene Buch: Die DDR ist keine Zone mehr. Köln, Berlin 1969 (darin finden sich z. B. relativierende Passagen über das DDRWahlsystem; ebenda, S. 253). Er wurde in Ost wie West angefeindet.
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Hi[rsch]: Ja, sehr gut. Sehr gut. Ja[hn]: Stephan [Krawczyk] nur als ein Beispiel –. Hi[rsch]: Ja, na klar. Ja[hn]: Um das noch mal mit Texten und Liedern zu untermauern. Hi[rsch]: Sehr schön. Und wann kommt det? Ja[hn]: Das kommt Donnerstag. 14 14 Am 22.1.1988 rief Freya Klier in einer Videobotschaft, die in der ARD ausgestrahlt wurde, alle bundesdeutschen Künstler und Künstlerinnen auf, so lange in der DDR nicht aufzutreten, so lange die Verhafteten, darunter ihr Ehemann Stephan Krawczyk, nicht wieder frei seien (abgedruckt u. a. in: Frankfurter Rundschau vom 26.1.1988). Am 23.1.1988 wurde ein Offener Brief an Honecker bekannt: »Sehr geehrter Herr Honecker, die Festnahmen am vergangenen Sonntag in Berlin/DDR anlässlich der Kundgebung zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht haben uns zutiefst erschüttert. Gerade die Friedens- und Menschenrechtsgruppen, gerade auch ein Liedermacher wie Stephan Krawczyk, setzen mit ihrer Arbeit eine Tradition im Sinne von Rosa Luxemburg fort. »Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden« – so zitierten sie am Sonntag Rosa Luxemburg und werden nun der »Zusammenrottung« und der »Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeiten« beschuldigt. Dass ausgerechnet in der DDR das Erbe Rosa Luxemburgs so eingeschränkt wird, erfüllt uns mit Trauer. Wir fordern die sofortige Freilassung aller Mitglieder von Friedens- und Menschenrechtsgruppen und die Aufhebung des Haftbefehls sowie des Berufsverbotes gegen Stephan Krawczyk. Mit freundlichen Grüßen« (taz vom 25.1.1988). Zu den Unterzeichnern gehörten neben Ina Deter, BAP, Herbert Grönemeyer, Klaus Hoffmann, Udo Lindenberg, Wolf Maahn, Peter Maffay, Münchner Lach- und Schießgesellschaft (Dieter Hildebrandt, Renate Küster, Jochen Busse, Henning Venske, Klaus Peter Schreiner und Bruno Jonas), Rio Reiser, Purple Schulz, Konstantin Wecker, Ulla Meinecke, Marius Müller- Westernhagen auch Barbara Sukowa und Margarethe von Trotta. Letztere war die Regisseurin des auch in der DDR gefeierten Films »Rosa Luxemburg« von 1986, Sukowa spielte in diesem Film Rosa Luxemburg. Freya Klier hatte im Juni 1987 einen Offenen Brief an von Trotta geschrieben, den sie in die Bundesrepublik über einen Kurier bringen ließ. Darin hieß es u. a.: »Ein Brief – vor einem halben Jahr schon fertig und in den Papierkorb gewandert – ist jetzt doch fällig. […] Sie sind vor ein paar Monaten korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste der DDR geworden – der Akademie eines Landes, in dem (in den letzten Jahren wie nie zuvor) die eigene kritische Kultur regelrecht ausgemerzt wurde. Ihr Schritt steht deshalb für mich in einem erschütternden Widerspruch zu Ihrem Auftreten im eigenen Land und vor allem zu Ihrer engagierten filmischen Arbeit. Vielleicht sind Sie sich nicht im Klaren darüber gewesen, was für einen Stellenwert die Kunstakademie innerhalb einer Minderheits-Diktatur hat … […] wo früher vielleicht antifaschistische Widerstandskämpfer, auch bürgerliche Humanisten ihren Funktionen einen gewissen persönlichen Glanz verliehen, da sitzen heute kalte und fehlerlose Funktionäre, zuvor lange und gründlich auf Eignung geprüft. […] Schauen Sie sich den Film der DDR an. Ist Ihnen nicht aufgefallen, was diesbezüglich für eine Öde herrscht? […] Die Kulturlosigkeit liegt wie ein Alpdruck auf diesem Land – und in diesem Klima erscheint plötzlich Ihr Rosa-Luxemburg-Film. Es ist ein großartiger Film – mit endlich einer Frau statt eines ideologischen Sprachrohrs (ich denke, Sie werden sich als Strafarbeit den Clara-Zetkin-Film auferlegt haben und wissen, wie hier Revolutionäre filmisch erledigt werden). Und auf einmal schütteln nun jene, die mit nicht nachlassender Rigorosität jeden künstlerischen Ansatz im eigenen Land, der nicht ins SED-Konzept passt, im Keime ersticken …, die aus dem Land gejagt haben, wer sich nicht mundtot machen ließ, und die zuverlässig dafür sorgen, dass möglichst kein kritischer junger Mensch mehr eine Kunsthochschule in diesem Lande betritt – auf einmal schütteln Ihnen jene Funktionäre überschwänglich dankend die Hand … ein ungewöhnlich großer Beifall tost auf und die Einheitspresse der Staatsfunktionäre veranstaltet wahre Jubelsaltos … – wie erklären Sie sich diese Begeisterung und vor allem den auftretenden Widerspruch? […] Das Berufsverbot des DDR-Liedermachers Stephan Krawczyk vor zwei Jahren wurde unter anderem mit jenem Text begründet, den er damals auf seinen Konzerten verlas: es war ein Zitat aus Rosa Luxemburgs Aufsatz zur
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Hi[rsch]: Sehr gut. […] Ja[hn]: Gut, wer’n mal sehen. Mal sehen, vielleicht macht Udo [Lindenberg] och noch mit, das ist bloß schwierig, die alle kurzfristig ranzukriegen […] Aber zumindest »BAP« und Peter [Maffay] sind schon sicher. Hi[rsch]: Ach, sehr schön. Ja[hn]: Ja? Kannst es och mal Freya [Klier] sagen, damit sie ein bissel Mut kriegt. Hi[rsch]: Ja, die braucht et och zurzeit. Ich war vorhin gerade da, die war ganz schön fertig. Ja[hn]: Ja? Und ich hab’ och mit dem Wolf [Biermann] gesprochen und, der hat och gehört, dass da einige sich empört haben. Na. Hi[rsch]: Ja. Det wär ganz gut, dass aus der Kunstecke och noch wat kommt –. 15 russischen Revolution. Sie werden ihn kennen. Dieser Aufsatz ist von entscheidender Bedeutung für Menschen, die in einem sozialistischen Land leben, weil hier R. L. schon früh den Keim einer Parteicliquenherrschaft in der jungen Sowjetmacht und den damit verbundenen Abbau von Demokratie aufspürt und kritisiert. Inzwischen hat sich dieser Keim über unserem Land zu einer alles plattwalzenden Frucht ausgeweitet; wir leiden unter ihr in einer Weise, die Sie sich in Ihrer freien Kulturwelt wahrscheinlich nicht vorstellen können. […] In Ihrem Film spielt dieser Ansatz keine Rolle – und das ist verständlich, denn es sind nicht Ihre Ansätze und nicht die wunden Punkte westlicher Länder. Aber der Applaus unserer Staatsfunktionäre hätte Sie zur Vorsicht mahnen müssen, denn … die Herren kommen in Ihrem Film nicht vor und danken Ihnen das auf profunde Weise. […] Ich meine, eine politische Haltung ist geografisch nicht teilbar – und wenn sie sich beim Überschreiten einer Grenze ins Gegenteil verkehrt, fehlt ihr die Glaubwürdigkeit. In einem Land, in dem der fundamentale Abbau jedes eigenständigen gesellschaftlichen Denkens durch eine bestimmte Macht betrieben wird, macht sich mitschuldig, wer sich in ihren Gremien ansiedelt.« Freya Klier geht dann auf die Darstellung der Festungshaft von Luxemburg ein, wie sie im Film, aber auch in den berühmten Gefängnisbriefen selbst zum Ausdruck kommt, und vergleicht diese mit den eigenen, gänzlich anderen Gefängniserfahrungen und jenen von Freunden. »Und wenn ich in Ihrem Film sehe, wie liebevoll Sie Ihre Rosa gerade auf die kleinen überlebensnotwendigen Dinge im Knast pochen lassen, muss ich lächelnd feststellen, dass Sie wohl eher aus einer behüteten Welt kommen. Sie sollten aufatmen, dass der biographische Zufall Sie in einem Land aufwachsen ließ, in dem Sie Ihre künstlerischen Talente und Ihr politisches Engagement überhaupt leben dürfen.« (Offener Brief von Freya Klier an Margarethe von Trotta, Ost-Berlin Juni 1987, RHG, Bestand Freya Klier). 15 Am 25.1.1988 gaben u. a. Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Reiner Kunze, Erich Loest, Hans Joachim Schädlich, Jürgen Fuchs, Herta Müller, Richard Wagner, William Totok, Helmuth Frauendorfer, Utz Rachowski, Horst Bienek, Michael »Salli« Sallmann, Christian Kunert folgende Erklärung heraus: »Ja, es ist Krieg: Eine neue Verhaftungswelle. Der kalte Krieg der Herrschenden in der DDR gegen andersdenkende Landeskinder eskaliert geradezu hysterisch. In der Sowjetunion versuchen viele Menschen, dass große Haus von Grund auf neu zu bauen. In der DDR werden nicht mal die Tapeten gewechselt, und es wachsen wieder die Gitterstäbe. Die Obrigkeit in der DDR fürchtet sich vor dem guten Beispiel des Großen Bruders. Bei der Kundgebung zu Ehren Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts wurden vor ein paar Tagen in Ost-Berlin Menschen zusammengeschlagen und weggeschleppt, die nichts taten, als das berühmte Zitat von der Freiheit Andersdenkender hochzuhalten. Rosa Luxemburg wurde von rechten Reaktionären 1919 viehisch ermordet. Das Andenken an diese Frau wird von den linksgetünchten Machthabern in der DDR jeden Tag neu beleidigt. Stephan Krawczyk, der Liedermacher, sitzt im VEB-Knast. Er weigert sich bis jetzt, ›freiwillig‹ in den Westen zu gehen. Freya Klier, seine Frau, ist heute Nacht verhaftet worden, weil sie sich für seine Freilassung einsetzte. Wolfgang Templin und Bärbel Bohley sind verschütt gegangen, und andere, deren Namen nicht so be-
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Ja[hn]: Also, das ist einfach so, man braucht da nichts dazu tun. Das ist ’ne ganz emotionale Empörung von vielen Seiten, die sich einfach jetzt regt. Hi[rsch]: Hm. Hm. Und denn ist es natürlich gut, wenn’s Leute machen auch aus der Kunstecke, die hier ganz schön vermarktet wurden, wa? Ja[hn]: Na ja, klar, auf alle Fälle. Hi[rsch]: So wie Peter [Maffay], dann ist es schon sehr gut. Dann wird sich, dann kriegen die hier och wieder kalte Füße, ob det allet wieder en bisschen zurückgeht. Ja[hn]: SPD-Vogel [Hans-Jochen] 16 hat sich ja heute och ge– Unterbrechung – Hi[rsch]: Roland! Roland! Ja? Ja[hn]: Es ist unterbrochen. Hi[rsch]: Ja, ja, habe ich schon mitgekriegt. Ja[hn]: Ich sage ja, deswegen och immer wieder, gucken, was bei ’ner Hausdurchsuchung beschlagnahmt worden ist und Methoden, ja? Hi[rsch]: Ja, ist klar. Also det SPD-Papier ist wohl nicht, da waren sie diesmal wohl vorsichtig. 17 Ja[hn]: Haben sie liegenlassen überall? Hi[rsch]: Ja, überall liegenlassen. kannt sind, sitzen in den Gefängnissen. Unseren verfolgten Freunden wird nicht mehr nur mit den Gummiparagrafen ›staatsfeindliche Hetze‹ oder ›Staatsverleumdung‹ oder ›Zusammenrottung‹ gedroht. In den Nachrichten von Radio DDR wurde nun schon von ›Agententätigkeit‹ und ›Landesverrat‹ gesprochen. Das bedeutet die Androhung von lebenslänglicher Haft. Dies hier ist keine Bittschrift. Vor elf Jahren gab es die Petition an Erich Honecker und seine Leute gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Spätestens seit dieser Erfahrung sind wir aufgeklärt über die Grenzen der Aufklärung bei Leuten, die davon leben, dass morgens die Sonne untergeht. Kein Mensch kann geben was er nicht hat. Also fordern wir nicht Gedankenfreiheit von Leuten, die sie gar nicht haben. Nein, wir bitten nicht. Wir können auch nicht drohen, denn wir haben keine Macht. Aber wir haben ein steinaltes Gedächtnis. Und wir haben das offene Wort und werden es einsetzen im Kampf um die Freilassung unserer Freunde in der DDR.« (abgedruckt in der »taz« vom 26.1.1988). 16 Hans-Jochen Vogel (geb. 1926) war u. a. 1987–1991 SPD-Vorsitzender. 17 Gemeint ist das am 27.8.1987 veröffentlichte Papier der SPD-Grundwertekommission und der SED-Parteiführung, offiziell vertreten durch die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. In der Folge kam es zu vielschichtigen Debatten darüber. Vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 96–108; als Innensichten Beteiligter sind aufschlussreich z. B. Erich Hahn: SED und SPD. Ein Dialog. Ideologie-Gespräche zwischen 1984 und 1989. Berlin 2002; Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer: Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Frankfurt/M., New York 2002, sowie Erhard Eppler: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik. Frankfurt/M. 2001; Sichtweisen der Opposition auf dieses Papier sind enthalten in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; spätere Reflektionen, auch von Bürgerrechtlern, enthält u. a. Karl Giebeler, Alfred Geisel (Hg.): Das SPD/SED-Dialogpapier. Ist mit der Ideologie auch der Streit erledigt? Bad Boll 2003.
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Ja[hn]: Wo »dialog« druff stand? 18 Hi[rsch]: Ja, auch. Det haben sie wohl vorgeahnt vom letzten Mal. Na ja, sie machen nicht öfter so’ne Fehler. […] Manchmal lernen sie ja. Ja[hn]: Ja, ja, ist schon klar. Hi[rsch]: Und da haben sie wieder an einer falschen Stelle für uns gelernt. Ja[hn]: Ja, ja, ist schon klar. Na gut, die Stimmung war heut Abend nicht so gut, habe ich gehört. 19 Hi[rsch]: Na ja, kann ja nicht, wenn die dreiviertel Leute davon Ausreiseleute sind. […] Und du mitkriegst, die halbe DDR ist da angereist, aber von Ausreiseleuten. […] Um jetzt hier Protestaktion für ihre Ausreise mit durchzuziehen. […] Und dann waren ja haufenweise Leute auch bei [Manfred] Stolpe, Angehörige von den jetzt Inhaftierten […], die sich beschwert haben, warum wir hier so wirbeln, wir sollen doch nicht so’n Wind machen, nicht, dass die hier wieder alle rausentlassen werden und nach der DDR kommen, sondern die woll’n ja, sollen ruhig noch ein bisschen drin bleiben, dass sie nach’n Westen kommen. […] Also, da gibt es ganz schöne Spannungsfelder, aber ich hab’, ich denke, die Gruppen, also wir sind uns einig, das muss morgen geklärt werden, muss sagen, fordern ganz klar, nur Entlassung in der DDR, müssen diese fünf Leute ohne Ausreiseantrag einfach trennen von –. Ja[hn]: Sechs Leute. Hi[rsch]: Na ja, fünf sind’s nur ohne –. 20 Ja[hn]: Ach so, wer hat’n von den UB-Leuten ’nen Antrag? Hi[rsch]: Na, rat mal! Ja[hn]: Wer denn, Bert [Schlegel]? Hi[rsch]: (Lachen) Ja[hn]: He? Hi[rsch]: Ick lach’ nur, ich sag’ dazu nichts. Ja[hn]: Na wer denn? Hi[rsch]: Ick lach’ nur. 18 Es ging um die von Jürgen Fuchs und Roland Jahn in West-Berlin für die Opposition in Ost-Berlin von 1985 bis 1989 regelmäßig zusammengestellte Pressesammlung »dialog«. Eine Gesamtausgabe liegt im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft. Hier geht es offenbar konkret um das Heft »dialog« 8/87, in dem das Wortprotokoll einer von der SPD am 14.10.1987 in Freudenberg organisierten Diskussionsveranstaltung mit bundesdeutschen Politikern sowie einem SED-Funktionär wiedergegeben worden ist. Das Besondere daran war, dass auch Jürgen Fuchs auf dem Podium saß und sich zudem Roland Jahn mit einem längeren Beitrag aus dem Publikum meldete (vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 105–106). Mit Rücksichtnahme auf die Beziehungen der SED zur SPD wollte die Stasi offenbar den Eindruck vermeiden, sie würde solches Material beschlagnahmen. 19 Am 19.1.1988 fanden mehrere Treffen statt, u. a. nachmittags und abends in der »Umweltbibliothek« sowie abends im Stadtjugendpfarramt und in der Wohnung von Bärbel Bohley. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren zum Teil identisch. Über diese Treffen sind zahlreiche IMBerichte und andere MfS-Dokumente überliefert. Siehe Anm. 22. 20 Gemeint sind Vera Wollenberger, Stephan Krawczyk, Frank-Herbert Mißlitz, Andreas Kalk und Till Böttcher.
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Ja[hn]: Wer denn, gibt ja nur dreie. Hi[rsch]: Ja, ja, warst schon uff’n Dampfer. […] Kriegt man so hinterhältig hinterm Rücken mit. […] Ist natürlich ’ne Sauerei, wa? Ja[hn]: Wann hat der den gestellt gehabt? Hi[rsch]: Ja, im September schon. Vor der UB-Sache noch. 21 Ja[hn]: Na gut, aber das darf er dann nicht so uff die Spitze treiben. Also die absolute Trennung würde ich nicht machen. Hi[rsch]: Hm? Ja[hn]: Die absolute Trennung kann man nicht machen. Hi[rsch]: Nee, kann man nicht, ich weiß, aber irgendwo musst du det machen, du. Ich weeß och nicht wie, wissen alle noch nicht wie. Ja[hn]: Die Trennung kann man da machen, indem man ein paar Leute besonders rausstellt, indem man ihren inhaltlichen Hintergrund besonders darstellt. Hi[rsch]: Ja, aber es wird hier nichts an Mahnwachen und Ähnlichem lofen, bevor det nicht hier bereinigt ist. Ja[hn]: Na gut. Was is aber wichtig, […] ein dauerhafter Protest […], der optisch sichtbar ist und somit auch dokumentierbar ist, ja. Hi[rsch]: Ja und den wirste erst kriegen, wenn det bereinigt ist. Ja[hn]: Ich sag’ bloß, der ist wichtig, ansonsten geht’s nach hinten los. Hi[rsch]: Ja, det is mir deutlich, Roland. Ja[hn]: Na gut. Hi[rsch]: Da appelliere ick ja wie so’n Verrückter jetze, aber det schaffste nur mit ’ner Trennung. Ja[hn]: Ja, ja gut, aber ich sag’ bloß, trotzdem muss das jedem bewusst sein. Es muss och den Kirchenleuten bewusst sein, wenn sie bestimmte Leute immer wieder wegschicken, ja? […] Manches lebt davon, ja? […] Dass irgendwo was dargestellt wird und es war ja nicht, es braucht ja bloß das, was abläuft, dokumentiert zu werden, nichts anderes. Hi[rsch]: Da ist schon wat in Arbeit. Ja[hn]: Gut, alles klar. Hi[rsch]: Sind wir schon, weil mit [Manfred] Stolpe noch mal gesprochen, wenn er det so macht wie heute, 22 dann muss er auch mit rechnen, dass wir nicht mit fairen Mitteln arbeiten. 21 Gemeint ist der MfS-Überfall auf die Zionsgemeinde/UB in der Nacht vom 24. zum 25.11.1987. 22 Am 19.1.1988 fand abends in der Galerie der »Umweltbibliothek« eine Versammlung mit 200 bis 250 Teilnehmern statt. Neben vielen bekannten Oppositionellen berichteten u. a. Rechtsanwalt Wolfgang Schnur und Konsistorialpräsident Stolpe über Erkenntnisse zu den Verhaftungen und eingeleitete Ermittlungsverfahren. Stolpe sicherte die Solidarität der Kirche zu, er habe aber noch keine konkreten Vorstellungen. Er mahnte zur Besonnenheit, weil angeblich große Teile der SED hinter der Regierung stünden wegen »Missbrauchs« der Demonstration. Er sagte offenbar zudem laut
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Ja[hn]: Na gut. Hi[rsch]: Damit haut er uns ja in die Pfanne, und da hat er dat auch eingesehen und da gibt’s schon, da sind schon erste Überlegungen und –. Ja[hn]: Wenn nicht, weißt du ja, mit welchen Freunden du mal sprechen musst! Hi[rsch]: Na ja, det weeß ick, daran hab’ ick ja gedacht. Ja[hn]: Und, und es geht dann darum, dass man parallel fährt, ja? Hi[rsch]: Ja, ja, daran hatte ick ja gedacht. Ja[hn]: Parallel fährt und, ich sag’ dir bloß mal, Stichwort ist nächster Mittwoch 23, ja? Hi[rsch]: Hehe. Ja[hn]: Nächsten Mittwoch gibt es da einige Möglichkeiten, ja? […] Und das sollte so von der Zeit her bedacht sein. Hi[rsch]: Hm. Aber, det sag’ mal, nur als Notlösung, sollte –. Ja[hn]: Selbstverständlich. Hi[rsch]: Aber es ist von ihm daraufhin schon ’ne Zusage […] dass am Donnerstag wat passieren wird. […] Och ’ne ganz gute Idee –. Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Och ’ne ganz gute Idee ist da entstanden […] Aber dit schreibe ick dir oder teile ick dir mündlich durch irgendeinen mit. Ja[hn]: Die andere Seite ist aber, aber, och, och morgen da schon wichtig, ja? Hi[rsch]: Ja, ja, da müssen wa drücken. […] Det Schlimme wär, bloß zum Glück, dass die heut’ nicht bei waren. Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Zum Glück, dass die heut’ nicht bei waren. Ja[hn]: Ja, ja, klar. Hi[rsch]: Dann wär es ’ne Ausreiseveranstaltung geworden. Ja[hn]: Ja, ja, is klar, is klar. IM-Berichten, man müsse zwischen Ausreiseantragstellern (persönliche Interessen) und denjenigen unterscheiden, die nicht weg und der Gesellschaft Anstöße geben wollten. Prinzipiell aber werde die Kirche niemanden fallen lassen, der in Not geraten sei. Unpassend allerdings finde er es, wenn mit Luxemburg-Zitaten für die Ausreisen demonstriert werde. Anschließend fand in der Wohnung von Bärbel Bohley noch ein Treffen der IFM und einiger anderer Oppositioneller statt (HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMS »Dietmar Lorenz« am 20.1.1988, 20.1.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 25, Bl. 330–333; HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Martin« vom 19.1.1988, 20.1.1988. Ebenda, AOP 1057/91, Bd. 13, Bl. 345–349). 23 Offenbar ist Mittwoch, der 27.1.1988 gemeint. An diesem Tag strahlte das ZDF sein erfolgreiches Politikmagazin »Kennzeichen D« aus, da war Ralf Hirsch bereits verhaftet (25.1.1988). In der Sendung kamen u. a. Wolf Biermann, Roland Jahn, Stefan Heym zu Wort und es wurde ein Porträt von Stephan Krawczyk und Freya Klier gesendet (HA XX/2, Information über das Auftreten des Schriftstellers Stefan Heym in der Sendung »Kennzeichen D« des BRD-Fernsehens ZDF am 27.1.1988, 28.1.1988. BStU, MfS, HA XX/9 1466, Bl. 750–751). Ralf Hirsch gab u. a. am 21.1.1988 dem SFB ein längeres Telefoninterview (wörtliche Wiedergabe des SFB-Interviews mit Hirsch vom 21.1.1988 um 2.33 Uhr. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 3319/88, Bd. 2, Bl. 165-170).
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Dokument 60 vom 19./20. Januar 1988
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Hi[rsch]: Wäre also überhaupt nicht dienlich. Ja[hn]: Is bloß wichtig –. Es darf jetze –. Diese Woche muss es noch mal auftauchen, weeßt de? […] Sonst ist es nicht gut, ja. […] Ja? Und, nächste Woche sind dann schon feste Sachen, wo andere, och andere Möglichkeiten wären. Hi[rsch]: Hm. Kam denn heute Abend wat im ZDF oder so, in »heute«? Ja[hn]: Nee, nur in Nachrichten. Aber Erwähnung hat es immer gefunden. Hi[rsch]: Ja, aber Bild nicht? Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Bild nicht? Ja[hn]: Nee, nee. Hi[rsch]: ARD och nicht? Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: ARD och nicht? Ja[hn]: Nee, nee. Hi[rsch]: Na ja, müssen wir uns noch was einfallen lassen. Ja[hn]: Gut, sag’ mal, hast du die Telefonnummer von dem XXX da? Hi[rsch]: Nee. Ja[hn]: Nicht? Hi[rsch]: Nee. Ja[hn]: Gut. Hi[rsch]: Was macht denn der? Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Wat is denn dit für ener? Ja[hn]: Von der UB. Hi[rsch]: Ach so, nee. Ja[hn]: Gut, muss ich mal sehen noch, ja? Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Alles klar sonst erst mal? Hi[rsch]: Allet klar. Ich bin morgen unter der Nummer 68 hinten zu erreichen, ja? 24 Ja[hn]: 68 hinten. […] Wo ist denn morgen Bärbel [Bohley] erreichbar? […] Bärbel [Bohley] ist sonst erreichbar? Hi[rsch]: Ick gloobe ja. Ja[hn]: Und Freya [Klier] och, ja? Hi[rsch]: Ja. Ick gloob schon. Ja[hn]: Freya [Klier] sollte sich och’n bisschen zur Verfügung halten. Hi[rsch]: Ja, ist auch bereit, soll ick dir sagen. Ja[hn]: Ja? Hi[rsch]: Hab’ mit ihr heute lange darüber diskutiert. 24 Es handelte sich um Ralf Hirschs dienstliche Telefonnummer in der Berliner Auferstehungsgemeinde.
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Dokument 60 vom 19./20. Januar 1988
Ja[hn]: Ja? Gut. Hi[rsch]: Ick hab’ ja heut nur gewirbelt deswegen. Ja[hn]: Ja, gut. Nee, das ist wichtig, dass da ’ne Offenheit da ist. Hi[rsch]: Sie hat vorhin ein paar Leute abgewimmelt. Ja[hn]: Ja? Hi[rsch]: Und nach unserem Gespräch, ist klar, ist jetzt ’ne Offenheit da. Ja[hn]: Ja, ja. Das ist sehr wichtig, darf sie niemand abwimmeln groß. Hi[rsch]: Ich sage, hab’ ick ihr bei –. Haben wir darüber gesprochen, dass –. Ja[hn]: Da ist es nämlich, weil, ansonsten greifen die nämlich auf die Typen da zurück. 25 Hi[rsch]: So is et, so is et. Wenn man nichts anderes kriegt, nimmt man dit, wat man gerade in der Situation, wat man findet, ja? […] Aber da ist grünes Licht, soll ick dir noch mal sagen. […] Ja[hn]: Gut, die Notbehelfe, ja? Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Die sollte ich bis Sonntag haben. Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Ich bin in Berlin, ja? Hi[rsch]: Bist in Berlin? Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Du wolltest doch irgendwann in Urlaub fahren, wa. Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Wolltest du irgendwann in Urlaub fahren? Ja[hn]: Ach, das vertag’ ich. […] Das vertage ich. Hi[rsch]: Wann war denn dit, jetzt wa? Ja[hn]: Ja irgendwann, ja. Hi[rsch]: Vertagste? 26 Ja[hn]: Wird etwas vertagt, ja! Sag’ mal, ja, die Notbehelfe müsste ich bis Sonntag irgendwie haben, ja? Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Und ansonsten das neue Ding von Stephan [Krawczyk], ja? 27 Hi[rsch]: Komm doch mit. 28 Ja[hn]: Was? 25 Gemeint sind die Ausreiseantragssteller, die sonst allein in den bundesdeutschen Medien vorkämen. 26 Vgl. zu Jahns Abwesenheit Dok. 50, Anm. 36. 27 Am 22.1.1988 rief Freya Klier in einer Videobotschaft, die in der ARD ausgestrahlt wurde, alle bundesdeutschen Künstler und Künstlerinnen auf, so lange in der DDR nicht aufzutreten, so lange die Verhafteten, darunter ihr Ehemann Stephan Krawczyk, nicht wieder frei seien. Die Videobotschaft war unter Mithilfe von Ralf Hirsch in den Räumen des Ostberliner Konsistoriums aufgezeichnet worden, der ARD-Korrespondent Hans-Jürgen Börner brachte das Band in den Westen. 28 Wahrscheinlich sagte Hirsch: »Kommt ooch mit«.
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Dokument 60 vom 19./20. Januar 1988
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Hi[rsch]: Komm doch mit. […] Ja[hn]: Ja, das mal ener dran denkt? Hi[rsch]: Oh, jetzt ist es schwer aufzufinden, ja. Ja[hn]: Ja, ich sag’s bloß. Hi[rsch]: Ja, ich denk dran. […] Ja[hn]: Gut und, und ansonsten och von den ganzen Leuten Lebensläufe und Bilder usw. […] Das wär wichtig. Ja? Hi[rsch]: Okay. Ja[hn]: Dass mal einer dran denkt, ja? Hi[rsch]: Ja. Ja[hn]: Tschüß dann erst mal! Hi[rsch]: Tschüß, grüß Clara schön. 29 Ja[hn]: Ja. Hi[rsch]: Und besauft euch nicht beide. Ja[hn]: Was? Hi[rsch]: Besauft euch nicht beide. Ja[hn]: Nee, wir arbeiten hier. Hi[rsch]: Ihr arbeitet? Ja[hn]: Ja, ja, hier ist ’ne Veranstaltung gewesen, DDR-Bürger. Da treten DDR-Künstler auf. Hi[rsch]: Aha. Und schreibst’n Artikel zu. Ja[hn]: Ich nicht. Hi[rsch]: Sie? Ja[hn]: Andere, andere. 30 Hi[rsch]: Na, grüß’ mal schön. Ja[hn]: Vorhin sagte [Manfred] Stolpe zu Clara, na ja, ich kenn’ Sie ja, Sie kennen sich ja ganz gut aus in der Materie. Hi[rsch]: He, ach, darauf hab’ ick ja gleich mit [Manfred] Stolpe gesprochen –. Ja[hn]: Ja, und? Hi[rsch]: Der hatte, hatte sie wohl falsch verstanden. Er hat also nicht dementiert, dass es Haftbefehle gibt. Er hat dementiert, dass die Freilassung in Aussicht, dass die Freilassung nicht mehr da sein könnte, weil ja die 72 Stunden noch nicht abgeloofen sind. Ja[hn]: Ach so. Hi[rsch]: Und Haftbefehle sind da. Ja[hn]: Ja, ja, ist schon klar. Hi[rsch]: Und da hat man gesagt, soll er sich deutlicher ausdrücken. Ja[hn]: Ja, ja, ist klar. Na gut, das haben wir schon irgendwie hingekriegt. Hi[rsch]: Ja. 29 30
Gemeint ist die »taz«-Autorin Myriam Moderow, siehe Anm. 9. Ein entsprechender Artikel konnte nicht gefunden werden.
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Dokument 60 vom 19./20. Januar 1988
Ja[hn]: Alles klar erst mal. Hi[rsch]: Okay, tschüss. – Ende des Gespräches –
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Dokument 61 Telefonat zwischen Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs 22. Januar 1988 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/5, Leiter [Hans Buhl] Quelle: BStU, MfS, AOP 22047/91, Beifügung Bd. 1, Bl. 65
Lutz Rathenow meldet sich bei Jürgen Fuchs und informiert diesen, dass [Frank-]Herbert Mißlitz rausgelassen wurde. Ebenso sollen 20 in den Westen entlassen worden sein, wie [Manfred] Stolpe sagte. Rathenow weiß zu berichten, dass bei Mißlitz 56 Bücher beschlagnahmt wurden, darunter alle, außer das Berlin-Buch, 1 von ihm (R.) und alle von Fuchs. Damit sind sie in eine besondere Reihe gestellt. Diese Ehre wird Fuchs zuteil, und das kann man dem PEN-Club schon mitteilen. Die Freilassung von Mißlitz habe bei Freya Klier Euphorie ausgelöst, die denkt, [Stephan] Krawczyk und andere kommen jetzt auch raus. Deshalb möchte sie nicht, dass andere Schriftsteller ihren Appell unterschreiben, sie will auch nicht, dass dafür gesammelt wird. 2 Fuchs denkt, dass sich jeder äußern kann, wie er will. Rathenow berichtet weiter, dass die ersten Solidaritätsbekundungen aus anderen Städten eintrafen, ebenso das erste gesammelte Geld. Es besteht massivster Kirchendruck, dass keine Mahnwache durchgeführt wird. Rathenow wertet das als Reaktion auf staatlichen Druck. Das geht soweit, dass [Wolfgang] Schnur öffentlich sagt, dass er seine Mandate niederlegt, wenn eine Mahnwache kommt. Rathenow glaubt, dass »die« die Zahl weiter reduzieren werden, um das länger durchhalten zu können gegen den Krawczyk. Fuchs sagt dazu, wenn sie so doof sind, sollen sie es machen. 3 […] 4
1 Gemeint ist: Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ostberlin. Die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern. München, Zürich 1987. 2 Am 22.1. rief Freya Klier in einer Videobotschaft, die in der ARD ausgestrahlt wurde, alle bundesdeutschen Künstler und Künstlerinnen auf, so lange in der DDR nicht aufzutreten, bis die Verhafteten, darunter ihr Ehemann Stephan Krawczyk, wieder frei seien. Siehe auch Dok. 60, Anm. 14. 3 Es wurde spekuliert, dass die anderen Festgenommenen nach und nach frei gelassen würden, während Stephan Krawczyk als bekanntester und populärster der Verhafteten im Zentrum der Ermittlungen stünde, ihn eine hohe Haftstrafe und eine anschließende Abschiebung in die Bundesrepublik erwarte. 4 Das Dokument enthält ein zweites Abhörprotokoll. In diesem Telefonat zwischen Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs ging es vor allem um Literaturfragen und die Situation von Schriftstellern in der DDR.
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Dokument 62 Telefonat zwischen Wolfgang Templin und Roland Jahn 1 27. Januar 1988 Von: MfS Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 13, Bl. 439
Am 24.1.1988, gegen 21.00 Uhr, informierte [Roland] Jahn den [Wolfgang] Templin, dass es nicht notwendig wäre, den Kommentar Templins für die Sendung »Glasnost« von Radio 100,6 2 zu aktualisieren, da er allgemein gehalten besser sei. 3 Jahn ergänzte, dass nach dem letzten Satz: »Es werden immer mehr Karl und Rosa beim Wort nehmen«, noch ein Zitat kommen wird. Er kündigte in dieser Sache einen weiteren Anruf an. Templin informierte Jahn, dass in Dresden eine große geplante Veranstaltung von der Sächsischen Landeskirche untersagt worden wäre.
1 Es handelt sich um das letzte Telefonat Wolfgang Templins vor seiner Verhaftung, die am 25.1.1988 morgens gegen 5.00 Uhr erfolgte. 2 Hier verwechselte das MfS den Sender »Radio 100« mit »Hundert,6«, das sich bis September 1987 mit »Hundert,6« die Frequenz teilen musste, was auch zu politischen Irritationen führte, da die Programme extrem unterschiedlich waren. 3 Am 25.1.1988 ist »Radio Glasnost – außer Kontrolle« ausgestrahlt worden. Im Zentrum standen die Ereignisse seit dem 17.1.1988, u. a. wurde Freya Kliers Appell ausgestrahlt, Erklärungen von Stolpe und Forck u.v.a. Von Wolfgang Templin, der zum Zeitpunkt der Ausstrahlung bereits in der Untersuchungshaft saß, ist folgender Kommentar zu den Ereignissen ausgestrahlt worden: »Am 10.12.1987 wurden die neuen Käfige in Rummelsburg eingeweiht. 7 Freunde der »Initiative Frieden und Menschenrechte« saßen dort Probe. Am letzten Sonntag waren es schon 100 aus verschiedenen Gruppen, die dort hingebracht wurden. Sie hatten die Einladung zur Gedenkdemonstration für Luxemburg und Liebknecht ernst genommen, zu ernst für die hiesigen Vorstellungen von Demokratie und Sozialismus. R. Luxemburgs Worte wurden zum Straftatbestand. Solange die Anmaßung unserer Mächtigen fortbesteht, nicht für sich selbst und ihre eigenen Interessen, sondern für uns alle zu sprechen, und das dann auch noch Sozialismus zu nennen, wird Luxemburgs und Liebknechts Erbe eine Provokation bleiben. Solidarität und der Mut zu einem eigenen selbstbestimmten Leben prägen viele Ereignisse und Aktionen der letzten Zeit, nicht nur in der Friedensbewegung. Vorladungen, Verhöre und Verhaftungen bewirken immer öfter das Gegenteil des Erhofften. Angst und Gleichgültigkeit werden durch ein Übermaß an Druck eher in ihr Gegenteil verkehrt. Freunde, Nachbarn und selbst Unbeteiligte werden mit Situationen konfrontiert, die zum Handeln herausfordern. Erfahrungen und das Bewusstsein der eigenen Kraft sind im letzten Jahr gewachsen. Die Regierenden in unserem Land werden immer öfter beim Wort genommen. Wolfgang Templin, Ost-Berlin« (MfS, ZAIG, Überblick über die inhaltliche Gestaltung der 6. Sendung von »Radio Glasnost – außer Kontrolle« am 25. Januar 1988, 26.1.1988. BStU, MfS, ZAIG 22320, Bl. 327–328; ebenda, HA XX/9 771, Bl. 388).
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Dokument 63 Telefonat zwischen Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs 27. Januar 1988 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/5, Leiter [Hans Buhl] Quelle: BStU, MfS, AOP 22047/91, Beifügung Bd. 1, Bl. 70–71
Jürgen Fuchs meldet sich bei Lutz Rathenow. Nach seinem Befinden befragt, berichtet Rathenow, dass es ihm gut geht, aber er diskutiert mit einer ganzen Reihe von Leuten und nimmt allabendlich an diesen Kirchenveranstaltungen teil und empfindet diese ganze Situation als deprimierend. Er muss das schon einmal so hart sagen. Es ist eine komische Situation entstanden, da er in persönlichen Gesprächen nur auf Zustimmung stößt und auch kaum jemand etwas entgegnen kann. Es ist zurzeit wie in einem Zug, der sich in Bewegung gesetzt hat, dessen Fahrt niemand mehr ändern kann. Rathenow hält das aber alles für falsch, was da gemacht wird. Wie es jetzt aussieht ist nichts mehr an gegenwehrenden Maßnahmen drin. Höchstens noch einige Aktionen einzelner Leute. Die Situation entspricht auch nicht der Stimmung der Leute. Der wesentliche Faktor, der das zuwege brachte, ist Wolfgang Schnur 1. Fuchs sieht das auch so. Sie müssen jetzt aber die Situation sehen und auf ihre Kinder achten und spazieren gehen. Rathenow geht auf den Ton von Fuchs ein und stimmt ihm zu. Im Vergleich zu der Sache im November 2 denkt Rathenow, dass es da noch ein paar Sachen geben würde, die die Menschen in Lebensgefahr bringen würden. Allerdings ist es ein Wettlauf mit der Zeit, der diesen Ausreisedruck erzeugt. Fuchs weiß dies schon, denkt aber, dass »die« in nicht allzu ferner Zeit ihre Politik umfassend ändern werden. Davon ist Fuchs mehr als vorher überzeugt. Jetzt wird die Politik nicht entschieden. Rathenow ist der Ansicht, dass ein paar deutlichere Denkanstöße kommen könnten. Fuchs stimmt dem zu. Aber er denkt, dass es jetzt ganz viel wert ist, wenn man sich um die Kinder kümmert. Das andere ist alles in der Welt. Die Wirklichkeit existiert … Rathenow fragt dazwischen, ob denn solche Tatsachen wie der Aufenthalt der Kinder von Templins im Heim bekannt sind. 3 Fuchs bestätigt dies. 1 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 2 Gemeint sind die Durchsuchung in der Zionsgemeinde, die Festnahme mehrerer Mitarbeiter der UB in der Nacht vom 24. zum 25.11.1987 sowie die Folgen dieser MfS-Aktion. 3 Obwohl Regina und Wolfgang Templin noch am Tag ihrer Verhaftung eine Betreuung für ihre beiden minderjährigen Söhne verfügten, kamen beide zunächst am Morgen in ein Ostberliner Kinderheim. Erst am 27.1.1988 sind beide Kinder an Freundinnen der Templins übergeben worden
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Dokument 63 vom 27. Januar 1988
Rathenow verweist auf die SFB- und RIAS-Nachrichten, die auch sehr unklar wirken. Es ist noch immer kein richtiger Überblick erreicht. Die Vermischung mit diesen Ausreiseantragleuten und die niedrigen Strafen gegen einige Leute wird ja bewusst von der hiesigen Seite betrieben. Fuchs stimmt dem zu. Auch er spürt immer den großen Druck, der auf der Situation liegt und auf den Menschen. Was er bis jetzt sagte, ist sein Denkergebnis und er kann sich sehr gut in diese Situation hineinversetzen. Dennoch meint er, dass das, was zu tun ist, getan wurde. Diese Thematik wird nicht in den Möglichkeiten, die sie jetzt haben, entschieden. Aber, so betont Fuchs, dies ist nicht das letzte Wort. Das ist auch nicht so sehr im Sinne von einem Krampf oder einer Anstrengung … sich widersprechende Interessen sind ziemlich wahrscheinlich. Rathenow verweist auf die Solidaritätsveranstaltung am Freitag in der Erlöserkirche, zu der aber leider noch keine prominenten Künstler ihre Bereitschaft erklärt haben. 4 Rathenow möchte wissen, ob Fuchs jemand aus der DDR (BStU, MfS, AU 155/90, Bd. 3, Bl. 24–28). Viele Oppositionelle hatten für den Fall von Festnahmen und Verurteilungen vorsorglich Vollmachten geschrieben, die die Betreuung der eigenen minderjährigen Kinder regelte. 4 Am 29.1.1988 fand in der Ostberliner Erlöserkirche eine Andacht mit integrierter Informationsveranstaltung und künstlerischen Beiträgen statt. Lutz Rathenow trug u. a. einen politischen Text vor, neben anderen Beiträgen und Punkmusik stellte Rechtsanwalt Wolfgang Schnur die Situation dar (u. a. MfS, HA XX, Tagesbericht zur Aktion »Störenfried«, 29.1.1988. BStU, MfS, HA XX/AKG 6800, Bl. 128–166; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Martin« am 29.1.1988, 30.1.1988. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 14, Bl. 45–47). Lutz Rathenows Erklärung hatte folgenden Wortlaut: »Zum ersten Mal seit 1980 stehen wieder künstlerische Arbeiten im Zentrum eines E-Verfahrens. Die Beschlagnahme von Büchern und Manuskripten stellen eine gezielte Einmischung der Staatssicherheit in das literarische Leben der DDR dar. Wir fordern die Freilassung der Inhaftierten, Einstellung des E-Verfahrens und Rückgabe des beschlagnahmten Materials. Wir hoffen, dass es nicht der Staatsanwaltschaft allein überlassen bleibt, was der literarischen Entwicklung der DDR nützt und was sie schädigt. Der letzte Schriftstellerkongress hat die Forderung nach mehr Offenheit und Abschaffung der Zensur erhoben. Stützt solche Hoffnungen! Wir bitten alle Schriftsteller, Kunst- und Kulturschaffende sich öffentlich in ihren Berufsverbänden in diesem Sinne einzusetzen.« (BStU, MfS, AOP 1076/91, Bd. 14, Bl. 19) Rathenow fand nur wenige Künstler, die bereit waren, diesen Text mitzutragen. (Im Herbst 1980 waren die Schriftsteller Thomas Erwin, Frank-Wolf Matthies und Lutz Rathenow verhaftet worden. Aufgrund heftiger nationaler und internationaler Proteste kamen Matthies und Rathenow nach 10 Tagen, Erwin nach 4 Monaten frei, die EV wurden eingestellt. – Auf dem X. Schriftstellerkongress im November 1987 hatten u. a. Günter de Bruyn und v. a. Christoph Hein mit teils drastischen Worten die Abschaffung der Zensur eingefordert.) In einem Dokument vom 9.2.1988 heißt es u. a.: »In einem mit dem hinlänglich bekannten Jahn, Roland am … geführten Gespräch beteuerte Rathenow mehrfach, dass er nicht der Verfasser der am 29.1.1988 von ihm in der Erlöserkirche verlesenen Erklärung sei. Nach nochmaliger Rücksprache mit dem IMB ›Gerhard‹, dem der Text aus der »Frankfurter Allgemeinen [Zeitung]« vom 1.2.1988 vorgelegt wurde, bestätigte der IM eindeutig, dass der Text mit dem als Protestbrief junger Autoren, den Rathenow ihm u. a. Personen zur Unterschrift vorlegte, übereinstimmt. Damit ist eindeutig, dass Rathenow in dem Gespräch mit Jahn von sich ablenken wollte und die Aussage eine Schutzfunktion darstellte. Bisher konnte nicht festgestellt werden, wer außer Rathenow und [Detlef] Opitz Unterzeichner der Erklärung sind. Aus Gesprächen mit Jahn und [Jürgen] Fuchs ist ersichtlich, dass Rathenow wegen des offensichtlich niedrigen Bekanntheitsgrads der Unterzeichner vor einer Bekanntgabe zurückschreckte, da er sich nicht blamieren wollte.« (MfS, HA XX/9, Major Günther Heimann,
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Dokument 63 vom 27. Januar 1988
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kennt, der sich zu dieser Sache geäußert hat. Fuchs verneint. Vor dieser Frage steht jetzt jeder Einzelne, wie auch jeder Künstler im Westen und auch jeder Politiker dazu steht. Fuchs glaubt nicht, dass sich so eine Politik bestätigt, wie sie sich jetzt zeigte, als man Ceauşescu zum 70. Geburtstag den Karl-MarxOrden verlieh. 5 Allerdings ist es jetzt schon eine harte Zeit und Fuchs findet die Einstellung von Rathenow und seine Einschätzung richtig, wie er rechnet. Auf Rathenows Frage hin bestätigt Fuchs den Erhalt seines Briefes. Es war richtig, was Rathenow schrieb. Rathenow selbst betont, dass jetzt viermal Dinge passierten, mit denen keiner rechnete. Er dachte auch nicht, dass er noch einmal die Adresse von Jahn und Rosenthal im ND liest. 6 So etwas ist nicht ohne Wirkung. Sie wissen auch genau, warum andere nicht aufgetaucht sind. Innerhalb dieses blindwütigen und sehr brutalen Sachverhaltes wurden einige sehr kluge Entscheidungen getroffen, auf die man bislang verzichtet hat, Information zu einer Erklärung von Lutz Rathenow, 9.2.1988. BStU, MfS, AOP 1076/91, Beifügung Bd. 14, Bl. 12). Der IMB »Gerhard« war der Schriftsteller Rainer Schedlinski. 5 Aus Anlass des 70. Geburtstages des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu ist ihm von der SED-Führung der »Karl-Marx-Orden« verliehen worden (vgl. Neues Deutschland vom 26.1.1988, S. 1). Das führte in der DDR-Gesellschaft zu vielfältigen Debatten und Protesten (vgl. exemplarisch Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 80–81). Der Orden ist ihm am 17.11.1988 anlässlich seines Staatsbesuches in der DDR von Honecker überreicht worden. Zu Protesten siehe auch demn. Georg Herbstritt: Rumänien im Blick der DDR-Staatssicherheit (deutlich erweiterte deutsche Fassung des rumänischen Buches: Stasi şi Securitatea. Bukarest 2004). 6 Auf Seite 2 veröffentlichte das »Neue Deutschland« am 26.1.1988 einen Beitrag von Hubert Reichel: »Leute, mit denen wir im engen Kontakt stehen …«. »Friedensstreiter« Jahn organisiert von Westberlin aus den Nachschub für die heißersehnte »DDR-Opposition«. Das war ein Nachdruck aus der DKP-Zeitung »Unsere Zeit« vom 23.1.1988; er wurde am 26.1.1988 auch von der SEWTageszeitung »Wahrheit« nachgedruckt. Der Beitrag entstand unter MfS-Regie. Ziel dieser Kampagne war es, Roland Jahn und seine Mitstreiter in West-Berlin als geheimdienstgesteuerte Organisatoren der DDR-Opposition darzustellen. U. a. ist auch ein Faksimile eines Briefes (Ausschnitt) abgedruckt worden, den Rüdiger Rosenthal und Roland Jahn an westliche Firmen geschickt hatten mit der Bitte um Geld- und Sachspenden für die »Umweltbibliothek«. Dieser Brief wiederum sorgte in Teilen der Ostberliner Opposition, nachdem dessen Echtheit von Jahn in Telefongesprächen bestätigt wurde, für Unruhe und Irritation. Der Brief ist mit 15.12.1987 datiert, handschriftlich unterzeichnete ihn nur Rosenthal (ein Exemplar unter: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 3, Bl. 31). Er ist an etwa 20 Konzerne verschickt worden, von keinem kam eine positive Reaktion (siehe etwa die Antwort von Sony vom 22.12.1987. RHG, RJ 02). Jahn sagte noch am 26.1.1988 in einem SFB-II-Interview, das Christian Booß mit ihm führte, dass er zu seinem Brief voll stehe, nichts Ungewöhnliches darin sehen könne und im Übrigen die Kirchen im Osten doch seit Jahren um Spenden aus dem Westen bitten (SFB II, Interview mit Roland Jahn zum »ND«-Nachdruck des UZ-Artikels, 26.1.1988, 18.05 Uhr. BStU, MfS, U 34/89, Bd. 3, Bl. 76). Am 18.2.1988 kam es im Geschäftsführenden Ausschuss der AL zu einer Diskussion in Anwesenheit von Jahn und Rosenthal. Im Ergebnis wurde das Vorgehen der beiden unterstützt, was sie dort auch verteidigt hatten, und zugleich öffentlich die Solidarität sowohl mit den beiden wie mit der Opposition in der DDR bekundet (Protokoll der GA-Sitzung der AL vom 18.2.1988. BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 15, Bl. 214). Mit dem zuerst genannten UZJournalisten, Hubert Reichel, ist am 26.1.1988 ein Interview ausgestrahlt worden, in dem er seine angebliche Unabhängigkeit betonte: SFB II, Gespräch mit dem UZ-Journalisten Hubert Reichel, 26.1.1988, 18.05 Uhr. BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 15, Bl. 241–242.
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Dokument 63 vom 27. Januar 1988
um es ein paar Tage oder ein paar Wochen länger durchführbar zu machen. Es ist einiges analysiert worden, was hier ein paar Leute fast überfordert hat. Es ist aber klar, dass das nicht auf Dauer so sein wird. Rathenow muss das ja jetzt mit dem vergleichen, was in den letzten Jahren so lief. Für Jena wäre es gigantisch gewesen, 7 wenn sich der Bischof Leich so hingestellt hätte, 8 wie das jetzt Stolpe macht. 9 Das Maß an menschlicher Anteilnahme in der Kirche ist sehr groß. Leute, die aus der DDR dazukommen, sind davon sehr beeindruckt.
7 Hier sind die Vorgänge zwischen 1976 und 1983 gemeint. 8 Kurz nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik berichtete Roland Jahn ausführlich über die Umstände seiner Abschiebung und darüber, dass Landesbischof Werner Leich ihm und anderen gegenüber bei einem Gespräch am 1.3.1983 erklärte, die Kirche könne und wolle sie nicht schützen (Roland Jahn: Du bist wie Gift, Teil II, in: Der Spiegel Nr. 26 vom 27.6.1983, S. 68–77). 5 Jahre später, am 3.3.1988, kam es zu einem offiziellen Treffen zwischen Honecker und Leich. Nachdem beide längere vorbereitete Ansprachen vorgetragen hatten, reagierte Honecker auf Leichs Ausführungen. Das SED-Protokoll vermerkt: »E. Honecker erinnerte dabei an sein Gespräch mit W. Leich anlässlich der Wiedereröffnung der Wartburg [am 21.4.1983], in dem W. Leich bekanntlich die Frage aufgeworfen habe, wie man ihm helfen könne, den Gottesdienst in Jena ohne Störungen durchzuführen. Damals habe es Übereinstimmung gegeben, den Bürger Jahn aus Jena zu entfernen. Damit habe man der Kirche die Möglichkeit geschaffen, ungestörte Gottesdienste abzuhalten, und in Jena Ruhe und Ordnung einkehren zu lassen. Diese Bemerkung wurde von W. Leich zustimmend bestätigt.« (Protokoll Nr. 10 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 8.3.1988, Anlage 1: Niederschrift über das Gespräch … [von] Erich Honecker mit … Werner Leich am 3.3.1988. BArch DY 30, I IV 2/2/2263, Bl. 23; diese Anlage ist auch publiziert worden, vgl. Utopie kreativ 1992/19–20, S. 107–119, bes. S. 116). Ob Werner Leich tatsächlich darauf nicht reagiert hat, ist nicht überliefert. 9 Obwohl die Rolle Manfred Stolpes nicht unumstritten war und ist, hat er sich unmissverständlich für die Verhafteten eingesetzt. Auch seine öffentlichen Erklärungen waren deutlich und gegen die staatliche Vorgehensweise gerichtet. Zugleich versuchte er die Protestbewegung zu kanalisieren und davon abzuhalten, Mahnwachen und andere öffentliche Proteste durchzuführen.
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Dokument 64 Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten (Originaltitel) 27. Januar 1988 Von: MfS, HA Untersuchung [HA IX] Quelle: BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 5, Bl. 138–143
Beginn der Vernehmung: 10.00–13.00 Uhr/14.00–15.00 Uhr Familienname: geboren am: Beruf: Arbeitsstelle: Wohnanschrift: Staatsangehörigkeit:
Templin Vorname: 25.11.1948 in: Diplom-Philosoph zuletzt:
Wolfgang Jena Bibliotheksfacharbeiter
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Gemäß § 106 StPO 1 wird der Vernehmungsverlauf zusätzlich mittels Schallaufzeichnung dokumentiert. Frage: In Ihrer Vernehmung vom 25.1.1988 sagten Sie auf Vorhalt hin aus, die in Westberlin wohnhafte Person Roland Jahn persönlich zu kennen. Sie werden nochmals aufgefordert, zum Charakter und Umfang Ihrer Verbindungen zu Jahn auszusagen. Antwort: Dazu mache ich keine Aussagen. Frage: Im Verlaufe der Beschuldigtenvernehmung Ihrer Ehefrau Regina Templin vom 26.1.1988 gab Ihre Frau zu Protokoll, dass Sie beide seit etwa ein bis zwei Jahren »recht häufige telefonische Gespräche« mit Roland Jahn führen. Sie werden zur Stellungnahme aufgefordert. 2 Antwort: Ich habe keinen Grund, die Aussagen meiner Ehefrau infrage zu stellen, werde mich aber selbst nicht dazu äußern. Frage: Weiterhin geht aus der angeführten Beschuldigtenvernehmung hervor, dass Sie – Aussagen Ihrer Frau zufolge – Jahn »noch von früher« kennen. Sie erhalten auch hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme!
1 Im § 106 der Strafprozessordnung ist geregelt worden, was das Vernehmungsprotokoll zu enthalten habe, was der Vernommene zu unterschreiben habe und wie mit Schallaufzeichnungen umzugehen sei. 2 Die Vernehmungen fanden seit dem 25.1.1988 statt (Regina Templin: BStU, MfS, AU 155/90; Wolfgang Templin: BStU, MfS, AU 156/90).
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Dokument 64 vom 27. Januar 1988
Antwort: Als gebürtiger Jenenser habe ich auch hier keinen Grund, die Aussagen meiner Frau in Zweifel zu ziehen, werde mich aber selbst auch hierzu nicht äußern. Frage: Aussagen Ihrer Frau zufolge, wurde von Ihnen die Telefonnummer von Roland Jahn mehrfach in dem gemeinsam geführten Telefonbuch notiert. Ist dies zutreffend? Antwort: Auch hierzu werde ich mich nicht äußern. Frage: Im Rahmen der durchgeführten Durchsuchung Ihrer Wohnräume am 25.1.1988 wurde unter anderem ein graues Telefonverzeichnis in den Abmessungen 13 x 9 cm sichergestellt, in dem unter dem Buchstaben »J« die Eintragung Jahn, Roland 618XXX vorgenommen wurde. Darüber hinaus wurde ein blaues Telefonverzeichnis in den Abmessungen 16 x 10 cm sichergestellt, in dem unter dem Buchstaben »J« die Eintragung Jahn 618XXX sowie unter dem Buchstaben »R« die Eintragung Roland 618XXX sowie die Anschrift 1000 Berlin 36, Görlitzer Str. 66 vorgenommen wurde. Ihnen werden auszugsweise diese Eintragungen zur Stellungnahme vorgelegt. Antwort: Die bei der Hausdurchsuchung beschlagnahmten Telefonverzeichnisse sind unser persönlicher Besitz. Bekanntschaft oder Kontakt mit darin enthaltenen Personen werden von mir und meiner Frau natürlich nicht in Abrede gestellt, wozu hätten wir sonst diese Telefonbücher. In deren Beschlagnahme und dem Versuch, sie zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, erblicke ich erneut das Bestreben, unsere gemeinsamen Kontakte innerhalb der Friedensbewegung mit dem Strafvorwurf in Verbindung zu bringen und damit zu kriminalisieren. Darum werde ich mich zu weiteren Fragen dieser Art auch nicht mehr äußern. Frage: Aus welchen Gründen unterhielten Sie und Ihre Ehefrau zu Jahn Verbindung? Antwort: Ich unterhielt zu Jahn Verbindung aus Gründen, die mit unserem gemeinsamen Engagement in der Friedensbewegung im Zusammenhang stehen. Nähere Angaben werde ich in Beantwortung dieser Frage nicht machen. Frage: Äußern Sie sich zum Inhalt der zwischen Ihnen, Ihrer Frau sowie Roland Jahn geführten Telefonate! Antwort: Dazu werde ich mich nicht äußern. Frage: Aus Aussagen Ihrer Ehefrau Regina Templin vom 26.1.1988 geht weiter hervor, dass Jahn mit Ihrer Frau u. a. Gespräche führte, die die Ereignisse staatlicher Maßnahmen im Zusammenhang mit der sogenannten »Umweltbib-
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Dokument 64 vom 27. Januar 1988
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liothek« der Zionskirchgemeinde, die Aktivitäten von Angehörigen der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« am 10.12.1987 – dem Tag der Menschenrechte – sowie die Ereignisse am 17.1.1988 im Zusammenhang mit der Demonstration der Berliner Werktätigen zu Ehren von K[arl] Liebknecht und R[osa] Luxemburg beinhalteten. Nehmen Sie zu diesen Aussagen Ihrer Frau Stellung! Antwort: Bevor ich zu diesen Aussagen meiner Frau Stellung nehme, möchte ich erst in das entsprechende Vernehmungsprotokoll einsehen. Frage: Ihnen wird hiermit die Seite 4 des Vernehmungsprotokolls der Beschuldigten Regina Templin vom 26.1.1988 zur Stellungnahme vorgelegt. Äußern Sie sich nunmehr detailliert zu den Aussagen Ihrer Ehefrau! 3 Antwort: Ich habe keinen Grund, die Aussagen meiner Ehefrau in Zweifel zu ziehen, werde mich aber nicht weiter dazu äußern. Unsere Friedens- und Menschenrechtsarbeit war eine grundsätzlich gemeinsame Arbeit. Weitere Angaben habe ich dazu nicht zu machen. Frage: Über welche Sachzusammenhänge zu der von Ihnen benannten »Friedens- und Menschenrechtsarbeit« haben Sie Roland Jahn telefonisch unterrichtet? Antwort: Meine Kontakte zu Roland Jahn hatten nie den Charakter einer Unterrichtung, sondern den eines gemeinsamen Austausches von Engagierten der blockübergreifenden Friedensbewegung. Das Motto dieser Friedensbewegung lautet sinngemäß: »Nicht gegenüber den Regierenden des eigenen Landes, sondern untereinander solidarisch zu handeln« – bei Wahrung der Verfassungsgrundsätze des jeweiligen Landes. Über konkrete Inhalte unserer Gespräche werde ich keine Aussagen machen. Diese konkreten Inhalte ergeben sich aus den Aufgaben, Inhalten und Aktionen der internationalen blockübergreifenden Friedensbewegung. An den Tagungen und Kongressen dieser Friedensbewegung haben im Gegensatz zu uns regelmäßig auch Vertreter der offiziellen Friedensbewegung der DDR, des Friedensrates 4 und anderer gesellschaftlicher Organisationen teilgenommen. Sie erklärten ihre Verbundenheit mit den entscheidenden Zielen der internationalen Friedensbewegung. Von daher setzte ich auch deren Vertrautheit mit den Zielen und Aufgaben dieser blockübergreifenden Friedensbewegung voraus. Mitglieder der unabhängigen Friedensbewegung der DDR wurden über Jahre hinweg immer wieder an der Teilnahme an internationalen Begegnungen der Friedensbewegung in Mailand, Paris, Coventry, Perugia, Warschau, Ljubljana und Budapest gehindert. Darum blieb für den Austausch inhaltlicher Fragen zwangsläufig dann nur der 3 Regina Templins Aussagen waren allgemein, unverfänglich, enthielten keine Details und belasteten weder Jahn noch einen anderen (BStU, MfS, AU 155/90). 4 Eine von der SED-Führung gesteuerte Organisation, die im In- und Ausland die SEDFriedenspolitik propagierte.
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Dokument 64 vom 27. Januar 1988
schriftliche oder telefonische Weg. Unsere Proteste, d. h. die Proteste von Mitgliedern der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR, gegen die Reiseverbote in westliche und östliche Nachbarländer sind in zahlreichen Briefen und Eingaben dokumentiert, ebenso unsere zahlreichen Versuche der Kontaktaufnahme mit dem Friedensrat und anderen gesellschaftlichen Organisationen der DDR, letztere dienen einer Zusammenarbeit in Friedens- und Menschenrechtsfragen und der Möglichkeit gemeinsamer Delegationen zu internationalen Zusammenkünften auf diesen Gebieten. Unsere Gespräche bewegten sich daher im vorgenannten Rahmen. Frage: Was wurde Ihnen über das Engagement Roland Jahns in dieser Friedensbewegung bzw. in anderen gesellschaftlichen Organisationen im kapitalistischen Ausland im Einzelnen bekannt? Antwort: Das Engagement Roland Jahns in der Friedensbewegung und anderen gesellschaftlichen Organisationen wurde in den Publikationsorganen der Friedensbewegung und darüber hinaus in den Massenmedien nicht nur des westlichen Auslands, sondern auch östlicher Nachbarländer, umfangreich dokumentiert. Nach seiner widerrechtlichen, gewaltsamen Ausbürgerung aus der DDR wurde er von offiziellen Stellen und Medien der DDR noch im Nachhinein diskriminiert und verleumdet. Bevor nicht eine umfassende öffentliche Information über sein Friedensengagement und die Aufklärung der Umstände seiner widerrechtlichen Ausbürgerung erfolgen, sehe ich keine Veranlassung, von mir aus zu seiner Person Stellung zu nehmen. Meine Haltung zu ihm setze ich im Übrigen als bekannt voraus. Wir sind befreundet. Frage: Welche Kontakte unterhält Roland Jahn zu linksorientierten wie auch bürgerlichen Publikationsorganen in der BRD und Berlin (West)? Antwort: Dazu werde ich keine Stellung nehmen. Frage: Inwieweit wurden von Ihnen verfasste Stellungnahmen und Publikationen durch Roland Jahn an derartige Publikationsorgane vermittelt? Antwort: Auch dazu werde ich keine Stellung nehmen, weil mir der Inhalt dieser Frage auf eine bestimmte Absicht abzielt. Nach meinem Eindruck wird versucht, unsere Kontakte zu Roland Jahn innerhalb der Friedensbewegung in eine andere Richtung zu bringen. Unter meinen zahlreichen Kontakten zu Vertretern und Mitgliedern der internationalen Friedensbewegung, darunter auch der in den sozialistischen Ländern, nahm der Kontakt zu Roland Jahn, wie auch zu Jürgen Fuchs, nicht den Stellenwert ein und hatte vor allem nicht den Charakter, den die Fragen suggerieren sollen. Weiteres möchte ich dazu nicht äußern.
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Dokument 64 vom 27. Januar 1988
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Ich habe das Vernehmungsprotokoll gelesen. Die darin wiedergegebenen Antworten wurden von mir diktiert. 5
5 Das Protokoll wurde von Wolfgang Templin unterschrieben. Der letzte Satz ist vergleichsweise untypisch für die Vernehmungsprotokolle des MfS und zeugt vom Durchsetzungsvermögen des Vernommenen.
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Dokument 65 Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten 28. Januar 1988 Von: MfS, HA Untersuchung [HA IX] Quelle: BStU, MfS, AU 156/90, Bd. 5, Bl. 150–152
Beginn der Vernehmung: 8.00–11.00 Uhr Familienname: geboren am: Beruf: Arbeitsstelle: Wohnanschrift: Staatsangehörigkeit:
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Gemäß § 106 StPO 1 wird der Vernehmungsverlauf zusätzlich mittels Schallaufzeichnung dokumentiert. Frage: Sie geben im Verlauf vorangegangener Vernehmungen an, den in Westberlin wohnhaften Jürgen Fuchs zu kennen. Charakterisieren Sie den Umfang Ihrer Kontakte zu dem Genannten im Einzelnen. Antwort: Jürgen Fuchs, den ich nicht persönlich kenne, der mir aber durch seine Arbeiten als Schriftsteller und durch sein Engagement in der Friedensbewegung bekannt und vertraut ist, gehört zu meinen Gesprächspartnern. Ich würde mich glücklich schätzen, ihn zum Freund zu haben. Art und Inhalt unserer Kontakte entsprechen denen, die ich bereits im Vernehmungsprotokoll zur Person Roland Jahns vom 27.1.1988 skizzierte. 2 Mehr werde ich dazu nicht sagen. Frage: Im Rahmen der Durchsuchung Ihrer Wohnräume wurden jene beiden Adressverzeichnisse sichergestellt, die Ihnen im Verlaufe der Vernehmung vom 27.1.1988 bereits vorgelegt wurden. In beiden Verzeichnissen ist jeweils unter dem Buchstaben »F« die Eintragung Fuchs, Jürgen 785XXX bzw. Fuchs 78(5)XXX vorgenommen worden. Äußern Sie sich nach Vorlage von zwei Fotokopien, auf denen jene Seiten abgebildet sind, zu diesen Eintragungen! 1 Im § 106 der Strafprozessordnung ist geregelt worden, was das Vernehmungsprotokoll zu enthalten habe, was der Vernommene zu unterschreiben habe und wie mit Schallaufzeichnungen umzugehen sei. 2 Siehe Dok. 64.
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Dokument 65 vom 28. Januar 1988
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Antwort: Ich habe zu diesen Eintragungen nichts zu sagen und verweise auf meine Aussagen zu Roland Jahn in der Vernehmung vom 27.1.1988. Ich bin auch heute nicht bereit, uns vorgelegte Fotokopien von persönlichen Unterlagen zu unterzeichnen, da ich die Praxis der Durchsuchung, Beschlagnahme und des erkennungsdienstlichen Umgangs mit diesen Unterlagen, vonseiten der Organe des MfS zutiefst ablehne. Eine andere Form des Protestes, als die Verweigerung meiner Unterschrift unter diesen Fotokopien, habe ich zurzeit nicht. Frage: In welchem Umfang unterhielten Sie mit Fuchs telefonische Kontakte? Antwort: Telefonische Kontakte zu Fuchs unterhielt ich in dem Umfang, der durch unser gemeinsames Engagement in der blockübergreifenden Friedensbewegung geboten war. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass sowohl Jürgen Fuchs als auch Roland Jahn sich mehrfach bereit erklärt haben, an einem öffentlichen politischen Dialog in der DDR teilzunehmen. Allein diese Art der Auseinandersetzung mit ihnen und mit uns halte ich für legitim. Nicht dagegen die Ebene sicherheitsdienstlicher Ermittlungen in der U-Haftanstalt Hohenschönhausen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Frage: Was wurde Ihnen im Einzelnen zum Engagement von Fuchs in der von Ihnen genannten »blockübergreifenden Friedensbewegung« bzw. im Rahmen von Organisationen und Einrichtungen oder Publikationseinrichtungen im kapitalistischen Ausland bekannt? Antwort: Auch in Beantwortung dieser Frage möchte ich auf meine Antworten im Zusammenhang mit der Person Roland Jahns verweisen. Darüber hinaus ist seine Bedeutung als Schriftsteller, seine Mitarbeit im Schriftstellerverband in der BRD sicher zu berücksichtigen. Für eine Beurteilung dieser Seite von Jürgen Fuchs erscheinen uns aber seine Schriftstellerkollegen, seine internationale Leserschaft als kompetenter. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Frage: Welche Kontakte unterhalten Jahn und Fuchs zu der Redaktion der Westberliner Zeitung »taz« sowie der Programmredaktion des »Radio Glasnost«? Antwort: Dazu werde ich keine Aussagen machen. Frage: Aus welchem Grund machen Sie in Beantwortung dieser Frage keine Aussagen? Antwort: Nur auf diese Art und Weise habe ich die Möglichkeit, mich gegen die Praxis und die Absichten des Ermittlungsverfahrens zu verwahren. Aussagen über dritte Personen, soweit sie mich selbst oder allgemein bekannte Zusammenhänge übersteigen, werde ich generell nicht machen. Frage: Aus welchen Gründen unterhielten Sie Verbindung zu Jürgen Fuchs? Antwort: Ich unterhielt Verbindung zu Fuchs, weil ich ihn achte und schätze. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.
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Dokument 65 vom 28. Januar 1988
Ich habe das Vernehmungsprotokoll gelesen. Die darin wiedergegebenen Antworten wurden von mir diktiert. 3
3 Das Protokoll wurde von Wolfgang Templin unterschrieben. Der letzte Satz ist vergleichsweise untypisch für die Vernehmungsprotokolle des MfS und zeugt vom Durchsetzungsvermögen des Vernommenen.
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Dokument 66 Operative Kurzauskunft zum Entstehen der Kontaktnummer in Verbindung mit IMB »Raffelt« 1 (Originaltitel) 29. Januar 1988 Von: MfS, BV Dresden, Abt. XX, Leiter Oberst [Ernst] Tzscheutschler 2 Quelle: BStU, MfS, BV Dresden, AIM 254/89, Teil I, Bd. VI, Bl. 298–299
Während des Treffs am 28. Januar 1988 teilte der IM mit, dass von XXX 3 am 27. Januar 1988 anlässlich eines Treffens von »Friedensgruppen« im Jugendpfarramt Dresden die Telefonnummer des IM 801XXX verkündet und gleichzeitig einstimmig beschlossen wurde, diese Telefonnummer als Kontrollnummer 4 zum Berliner Kontaktbüro und zurück zu nutzen. Aus dem Informationsbericht 26/175 der Abteilung vom 28.1.1988 geht in einem Gespräch zwischen dem IM und der Person XXX hervor, dass XXX den IM [darauf] aufmerksam machte, dass von XXX und Kalex, Johanna 5 seine Telefonnummer im Jugendpfarramt vor versammelten Teilnehmern bekannt gegeben wurde. Weiter äußerte XXX, dass er mit Berlin gesprochen und die Telefonnummern-Bekanntgabe ihn in Berlin berühmt gemacht habe. Im Informationsbericht 26/177 der Abteilung vom 28. Januar 1988 äußerte ein XXX vom Berliner Kontaktbüro, dass sie auch schon gehört hätten, dass »sie« ein Kontaktbüro hätten, womit dieser den Telefonanschluss des IM meinte.
1 Es handelt sich um Manfred Rinke. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 2 Ernst Tzscheutschler (geb. 1929), 1949 SED, 1950–1952 VP, seit Ende 1952 MfSMitarbeiter in der BV Dresden, KD Görlitz als Oberfeldwebel; ab Ende 1958 Leiter der Abt. II der BV Dresden; 1962–1968 Leiter der KD Bautzen; Fernstudium an der JHS zum Diplom-Juristen, Abschlussarbeit: »Die Analyse des Wirkens der politisch-ideologischen Diversion auf das Netz der inoffiziellen Mitarbeiter im VEB Waggonbau Bautzen und die sich daraus ergebenden Aufgaben für das Studium und die Überprüfung der IM«; 1.5.1968–1.10.1989 Leiter der Abt. XX der BV Dresden (Invalidisierung), 1984 Beförderung zum Oberst. 3 Hier erfolgte eine Anonymisierung, weil die im Dokument genannte Person erklärte, an diesem Treffen nicht teilgenommen zu haben und deshalb sein Name gestrichen werden solle. 4 Gemeint war: Kontaktnummer. 5 Johanna (eigentlich Annett) Kalex (geb. 1964, geb. Ebischbach) war seit Anfang der 1980er Jahre an allen wichtigen Aktivitäten der Opposition in Dresden beteiligt, einige initiierte sie. Sie war in den gesamten 1980er Jahren Verfolgungen und Bearbeitungen durch das MfS und vielfältigen Repressionen ausgesetzt. Die Oppositionsgruppe »Wolfspelz«, die aus der »Initiative 13. Februar« (Ursprünge 1981) mehrerer Friedenskreise Dresdner Kirchengemeinden hervorging, war 1985 als kirchenunabhängige Gruppe u. a. von ihr und ihrem Ehemann Roman Kalex (geb. 1964; verh. 1982) gebildet worden. Dazu vgl. z. B. Karin Urich: Die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 62–65.
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Dokument 66 vom 29. Januar 1988
Zum Sachverhalt im Jugendpfarramt in Verbindung mit der Bekanntgabe äußerte der IM, dass diese Veranstaltung von Kalex, Johanna und XXX organisiert wurde und im Zusammenhang die Verbindung der Kontaktnummer erfolgt wäre, zumal er bereits als eine Art Kontaktstelle während des Zeitraumes der Aktionen in der Berliner Zionsgemeinde fungiert hätte. Die Kontaktstelle wird von dem IM von 10.00 bis 24.00 Uhr täglich besetzt und existiert seit 28. Januar 1988. Mit dem IM wurde am 28. Januar 1988 während des Treffs eindeutig festgelegt, dass er sich einverstanden erklärt, die Kontaktstelle zu »spielen«. Damit wurde zudem seine Glaubwürdigkeit gegenüber anderen Personen erhöht und der von der Kalex, Annett 6 ausgesprochene Verdacht der Zusammenarbeit mit dem MfS zerstreut. Der IM wurde zur Problematik wie folgt instruiert: – Auftrag steht im Zusammenhang mit den Aktivitäten der PUT in Dresden (»Wolfspelz« 7) und mit der Aktion »Störenfried« in Berlin. – Alle ihm bekanntwerdenden Fakten sind uns sofort mitzuteilen. – Alle eingehenden Informationen bei dem IM sind vor der Weiterleitung nach Berlin bzw. innerhalb des Bezirkes mit uns abzustimmen; das gilt auch für Halle, Leipzig und Jena. – Die bisher eingeschlagene Linie der Beschwichtigung ist konsequent fortzuführen.
6 7
Das ist Johanna Kalex. Vgl. dazu Anm. 5.
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Dokument 67 Kontakte des IMB »Raffelt« 1 30. Januar 1988 Von: MfS, BV Dresden, Abt. XX, Leiter Oberst [Ernst] Tzscheutschler 2 Quelle: BStU, MfS, BV Dresden, AIM 254/89, Teil I, Bd. VI, Bl. 300–301
Die Bekanntschaft des IM mit [Roland] Jahn reicht in die Zeit zurück, in der Jahn noch in Jena lebte. 3 Die derzeitige Verbindung zu Jahn besteht in unregelmäßigen telefonischen Kontakten, die vom IM von seiner Wohnung aus bzw. in Berlin über die Telefonanschlüsse der Personen Hirsch, Ralf – Berlin [und] Mißlitz, Frank-Herbert – Berlin realisiert werden. Dem IM ist bekannt, dass o. g. Personen sowie die Personen Kulisch, Uwe – Berlin, Templin, Wolfgang – Berlin, Poppe, Gerd und Ulrike – Berlin im telefonischen Kontakt mit Jahn standen. Des Weiteren wurde bekannt, dass Hirsch sowie Kulisch über namentlich und von der Organisation her nicht bekannte Kurierlinien mit Jahn in Verbindung gestanden haben. Kulisch erwähnte gegenüber dem IM, dass er über eine Rollstuhlfahrerin einen direkten Kontakt nach WB habe, Einzelheiten wurden nicht bekannt und Kulisch beließ es bei dieser einmaligen Bemerkung. Über direkte und kontinuierliche Verbindungslinien der Personen Kulisch, Uwe, Hirsch, Ralf, Poppe, Gerd und Ulrike, Krawczyk, Stephan, Klier, Freya, Mißlitz, Herbert [und] Templin, Wolfgang (alle Berlin) zur »Umweltbibliothek« Berlin, Griebenowstr., konnte keine Aussage getroffen werden. Bekannt wurde, dass die Personen Hirsch, Ralf und Krawczyk, Stephan die Person Rüddenklau, [Wolfgang] aufgrund seines persönlichen Auftretens und der Ausstrahlung ablehnen. Darüber hinaus konnte der IM bei seinem letzten Aufenthalt in Berlin vom 7. bis 11. Januar 1988 persönlich feststellen, dass eine gewisse Unruhe innerhalb der Führung der »Initiative Frieden und Menschenrechte« herrschte, die in Streitigkeiten zwischen Hirsch und [Gerd] Poppe zum weiteren Vorgehen ausarteten. Hirsch beklagte sich in diesem Streit, 1 Es handelt sich um Manfred Rinke. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 2 Ernst Tzscheutschler (geb. 1929), 1949 SED, 1950–1952 VP, seit Ende 1952 MfSMitarbeiter in der BV Dresden, KD Görlitz als Oberfeldwebel; ab Ende 1958 Leiter der Abt. II der BV Dresden; 1962–1968 Leiter der KD Bautzen; Fernstudium an der JHS zum Diplom-Juristen, Abschlussarbeit: »Die Analyse des Wirkens der politisch-ideologischen Diversion auf das Netz der inoffiziellen Mitarbeiter im VEB Waggonbau Bautzen und die sich daraus ergebenden Aufgaben für das Studium und die Überprüfung der IM«; 1.5.1968–1.10.1989 Leiter der Abt. XX der BV Dresden (Invalidisierung), 1984 Beförderung zum Oberst. 3 Bis zum 8.6.1983.
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Dokument 67 vom 30. Januar 1988
dass er es für erforderlich hält, in den Besitz aller Namen, Adressen bzw. Telefonnummern der Mitglieder der »Initiative Frieden und Menschenrechte« zu kommen, um notfalls sich untereinander rechtzeitig verständigen zu können. Es dürfe nicht wie im November 1987 geschehen, dass Jahn, Roland die Aufgaben der Warnung und Information der Mitglieder von Westberlin aus übernehmen müsse. 4 Des Weiteren war ein Treffen zwischen Jahn und dem IM im Oktober 1987 in Budapest geplant, an dem auch Hirsch teilnehmen sollte. Dieses Treffen kam wegen Einreisesperre des Jahn in die UVR nicht zustande. 5 Hierzu liegt eine persönliche Notiz des Jahn in Vorbereitung der Reise mit Terminvereinbarungen vor. Diese Notiz wurde vom IM übergeben und liegt als Anlage bei. Zurzeit liegen keine Terminvereinbarungen für ein erneutes Treffen zwischen Jahn und dem IM im SW vor. Die telefonischen Kontakte des IM zu Jahn beinhalteten in der Regel den Austausch von persönlichen Problemen, wie Gesundheit, Urlaubsabsichten, und Austausch über gemeinsame Bekannte, wie z. B. XXX, wh.: XXX/BRD [und] Rösch, Peter, 6 wh.: WB. Während der Kontakte forderte Jahn den IM nicht unmittelbar zu feindlichen Aktionen auf.
4 MfS, HA XX/5, Bericht über den durchgeführten Treff mit IMB »Raffelt« am 8.1.1988 von 10.15 bis 11.45 Uhr in der IMK/KW »Quartier« durch Genossen Oberleutnant Niederlag, BV Dresden, Abt. XX, Teilnehmer Major Graupner, HA XX/5, 8.1.1988; BStU, MfS, AIM 254/89, Teil II, Bd. 11, Bl. 287–290. Dazu auch: MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMS »Dietmar Lorenz« am 8.1.1988, 8.1.1988. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 13, Bl. 253–256; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Wolf« am 8.1.1988, 8.1.1988; BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 13, Bl. 257–261; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 8.1.1988, 8.1.1988; BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 8, Bl. 3–6. (Wolfram Niederlag (1951–1989) war der letzte Führungsoffizier des IMB »Raffelt«; er war seit 1976 im MfS tätig, zuerst in der KD Pirna, ab 1982 in der HV A und ab 1986 in der Abt. XX der BV Dresden, seit 1988 als Hauptmann.) 5 Über Ralf Hirsch war ebenfalls eine generelle Reisesperre verhängt worden. 6 Rösch, Peter »Blase« (geb. 1953), Feinmechaniker, 1971–1982 engagiert in der »Offenen Jugendarbeit« der Jungen Gemeinde Stadtmitte/Jena, 1978–1979 Bausoldat, 1981 zusammen mit Matthias Domaschk (1957–1981), der dabei ums Leben kam, Inhaftierung in der Stasi-U-Haftanstalt Gera, 1982 Ausreise nach West-Berlin, seither Unterstützung der Opposition in der DDR; seit 1983 Restaurator im Deutschen Technikmuseum.
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Dokument 68 Telefoninterview von Lutz Rathenow 3. Februar 1988 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, Major [Günter] Heimann Quelle: BStU, MfS, HA XX/AKG 862, Bl. 170–173
Peter [Wensierski] 1 – Westberlin – erkundigt sich bei Lutz Rathenow, ob sie sich am Nachmittag noch einmal unterhalten können. Er hat heute Morgen mit Interesse gelesen, was R[athenow] gesagt hat. 2 Er möchte gern ein Gespräch mit ihm dazu führen, was dann heute Abend in der ARD gesendet wird. Lutz R[athenow] ist damit einverstanden. Er ist aber nur bis 15.30 Uhr zu erreichen. 14.45 Uhr Peter [Wensierski] meldet sich nochmals bei Lutz Rathenow und erwähnt, dass sie heute Abend vor den »Tagesthemen« noch einen »Brennpunkt« senden. Sie werden da ein Foto von ihm einblenden. Er möchte ihm jetzt einige Fragen stellen. 3 Peter [Wensierski]: Stephan Krawczyk in der Bundesrepublik. 4 Wie hat man in der Solidaritätsbewegung in der DDR darauf reagiert? R[athenow]: Betroffen. 1 Peter Wensierski (geb. 1954), Journalist, Dokumentarfilmer und Sachbuchautor, u. a. 1987– 1991 beim SFB-Politmagazin »Kontraste«, seit 1993 beim »Spiegel«; in den 1980er Jahren mehrere einschlägige Bücher und Editionen zur Opposition und Jugend in der DDR; er und Roland Jahn arbeiteten viele Jahre sehr eng zusammen. Vgl. z. B. die Filmauswahl: Kontraste: Auf den Spuren einer Diktatur (3 DVDs). Mit einem Begleitheft von Ilko-Sascha Kowalczuk, Bundeszentrale für politische Bildung und Rundfunk Berlin-Brandenburg. Bonn 2005. 2 Lutz Rathenow gab am Vormittag dem Radiosender RIAS II ein live ausgestrahltes Telefoninterview. 3 Der ARD-Brennpunkt, moderiert von Jürgen Engert, ist am 3.2.1988 um 22.00 Uhr ausgestrahlt worden. Neben Passagen aus dem Interview mit Lutz Rathenow sind Ausschnitte aus einer Aktuellen Stunde im Bundestag vom selben Tag zu den Ereignissen gezeigt worden (vgl. Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 57. Sitzung, 3. Februar 1988, S. 3952–3963), u. a. mit Reden von Eduard Lintner, Horst Ehmke, Wilhelm Knabe, Dorothee Wilms und Petra Kelly. Hinzu kamen ein Gespräch zwischen Klaus Bölling und Jürgen Fuchs sowie ein Interview mit Stephan Krawczyk sowie ein Auszug aus der Pressekonferenz von ihm und Freya Klier. 4 Am 3.2.1988 sind Stephan Krawczyk und Freya Klier direkt aus dem MfSUntersuchungsgefängnis in die Bundesrepublik verbracht worden.
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Dokument 68 vom 3. Februar 1988
Peter [Wensierski]: Hat man beschlossen, den Protest gegen die Verhaftungen jetzt einzustellen oder wie soll es weitergehen. R[athenow]: Die Bittgottesdienste und andere Aktionen gehen weiter, bis alle Inhaftierten frei sind. Peter [Wensierski]: Wie schätzen Sie denn die Rolle und die Stärke der Solidaritätsbewegung in der DDR ein. Hat die dabei eine Rolle gespielt? R[athenow]: Das hoffe ich schon. Mich macht das persönlich, das will ich einmal dazwischen sagen, doch schon betroffen, dass es leichter ist, in die Bundesrepublik entlassen zu werden, als offenbar in die DDR, denn die anderen im N[euen] D[eutschland] namentlich genannten Inhaftierten sind ja bis heute noch nicht entlassen. 5 Peter [Wensierski]: Haben Sie die Erklärung Stephan Krawczyks von heute schon vernommen, dass er nicht freiwillig die DDR verlassen hat und seinem Wunsch, unverzüglich aus der Haft in die DDR entlassen zu werden, nicht entsprochen wurde? 6 R[athenow]: Ja, das wird neue heftige Diskussionen auslösen. Meine Meinung dazu ist sowieso, dass eine Entscheidung im Gefängnis keine freiwillige Entscheidung sein kann. Wenn alles so normal und freiwillig vonstatten geht, kann man ja jemand nach Hause schicken und der kann dann mit seinen Freunden beraten, in Ruhe seine Sachen packen und es seinen Freunden erklären. Aber man hat offenbar Angst gehabt, dass eine Entscheidung, die unter suggestiven Bedingungen getroffen wurde, dann eben nicht mehr aufrechterhalten wird. Peter [Wensierski]: Wie hat sich die Ausweisung Stephan Krawczyks, also der Aufenthalt jetzt in der Bundesrepublik, psychologisch ausgewirkt auf diejenigen, die in den letzten Wochen in Fürbittandachten und anderen Aktionen ihren Protest, ihren Willen … ausgedrückt haben? Es gibt die Beurteilung, dass sich Resignation breit gemacht hat. Andererseits hört man natürlich, dass sich der Protest ausgeweitet hat. Wie hat sich das jetzt ausgewirkt? 5 Neben Freya Klier waren Ralf Hirsch, Bärbel Bohley und Wolfgang Templin genannt worden (vgl. Neues Deutschland vom 26.1.1988), Regina Templin und Werner Fischer blieben unerwähnt, Vera Wollenberger, Andreas Kalk, Till Böttcher und Bert Schlegel sind erst anlässlich ihrer Verurteilung erwähnt worden (Neues Deutschland vom 29.1., 30./31.1. und 2.2.1988, B-Ausgabe). 6 Am 3.2.1988 erklärten Freya Klier und Stephan Krawczyk in der Bundesrepublik: »Wir haben die DDR nicht freiwillig verlassen. Unserem Wunsch, unverzüglich aus der Haft in die DDR entlassen zu werden, wurde nicht entsprochen. Unsere Alternativen waren: entweder Haftstrafen von 2 bis 12 Jahren unter dem ungeheuerlichen Vorwurf landesverräterischer Beziehungen oder sofortige Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. So stellten wir in einer extremen Zwangssituation einen Antrag auf Ausreise. Eine freie Entscheidung über Bleiben und Gehen ist aber nur außerhalb von Gefängnismauern möglich. Wir fordern, in die DDR zurückkehren zu können, um unsere Arbeit als Künstler dieses Landes fortzusetzen. Wir fordern zudem die sofortige Haftentlassung unserer Freunde in die DDR, damit sie frei und ohne Zwang entscheiden können, in welchem Land sie leben wollen.« Abgedruckt in: Peter Grimm, Reinhard Weißhuhn, Gerd Poppe (Hg.): Fußnote 3. Berlin Juli 1988 (Samisdat), Dok. Nr. II/13.
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Dokument 68 vom 3. Februar 1988
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R[athenow]: Um das zu beurteilen, ist es erst einmal zu früh, weil jetzt doch sehr inständig gewartet wird auf die Freilassung der anderen. Jeder hofft natürlich, dass sie, wie sie es auch wollen, in die DDR entlassen werden. Ich nehme allerdings mit Besorgnis die Pressekampagne zur Kenntnis und ich hoffe, dass diese Kampagne nicht zum Ziel hat, die noch Inhaftierten unter Druck zu setzen, um sie doch noch zum Ausreiseantrag zu nötigen. Peter [Wensierski]: Sie meinen das N[eue] D[eutschland]? R[athenow]: Ja, dieses meine ich, denn es macht mich schon stutzig, dass [Stephan] Krawczyk und Freya Klier gestern entlassen wurden und die anderen nicht zur selben Zeit entlassen werden, weil man ja normalerweise solche Fälle dann mit einem Mal bereinigt und die Ankündigung von Rechtsanwalt [Wolfgang] Vogel – bis Ende der Woche würden die anderen entlassen werden – 7 lässt ja noch drei Tage Zeit im Gefängnis für gewisse psychologische Beeinflussung. Das andere, was Sie fragten, ist einfach jetzt noch nicht zu stellen. Dazu ist alles noch zu sehr im Fluss. Stephan Krawczyk war natürlich ein beliebter Sänger, gerade bei Jugendlichen, gerade auch außerhalb der künstlerischen Szene. Dort gibt es, wie ich glaube, doch sicher sehr viel Betroffenheit und auch Ansätze zur Resignation. Innerhalb der aktiven Gruppen hier in Berlin ist diese ganze angelaufene Solidarisierung doch auf ein solches qualitatives Niveau gekommen, dass man das vielleicht auch als Erfolg ansieht, dass jetzt überhaupt alle entlassen werden. Es wird sich aber in der nächsten Zeit zeigen, wie es weitergeht und es wird noch heftige Diskussionen geben. Peter [Wensierski]: Wie beurteilen Sie das Zusammenwirken Bonn, Ostberlin und der Kirche in diesem Teil? R[athenow]: Ich will da sehr vorsichtig sein. Bevor ich nicht alle Einzelheiten dieses Zusammenwirkens weiß. Es ist schon ein komischer Zustand, dass einem landesverräterische Beziehungen vorgeworfen werden zu einem anderen Staat oder einzelnen Vertretern dieses Staates und dann sitzt man in der Zelle und dann bietet die Regierung dieses Staates, des zweiten deutschen Staates, einem dann die Ausreise an. Das ist ja so etwas wie ein positiver Druck, diese Einladung. Das sehe ich schon etwas skeptisch. Die Kirche hat hier menschlich sehr viel getan, hat sich sehr engagiert. Politisch muss sie von ihrer Situation auf Ausgleich bedacht sein, auch wenn ich in bestimmten Situationen andere Entscheidungen mir gewünscht hätte. Ich möchte jetzt solche Vorbehalte alle zurückstellen. Die Kirche hat keinesfalls versagt. Eher ist das Schweigen von prominenten DDR-Künstlern zu beklagen, die vielleicht dazu hätten beitragen können, dass dieses Verfahren hätte rascher beendet werden können.
7 Das hatte Rechtsanwalt Vogel am 2.2.1988 erklärt. Vgl. Die DDR verstößt ihre Kritiker, in: taz vom 3.2.1988; »Eine solche Ausreise ist nie freiwillig.« Interview mit Lutz Rathenow, in: taz vom 3.2.1988.
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Dokument 68 vom 3. Februar 1988
Peter [Wensierski]: Glauben Sie, dass die Kampagne im N[euen] D[eutschland] und in anderen Medien in der DDR, [die] in den letzten Tagen, gelaufen ist, dass die eine Wirkung hat in der Bevölkerung. Es waren ja auch viele Leserbriefe im N[euen] D[eutschland] abgedruckt. 8 Spiegeln die die Stimmung in der Bevölkerung wider? R[athenow]: Also. Leserbriefe in Zeitungen spiegeln nichts wider als die Stimmen derer, die solche Leserbriefe veranlassen. Natürlich gibt es heftige Diskussionen und es ist eine ganz seltsame Sache, da wird über Leute, über Liedersänger, über ehemalige DDR-Bürger berichtet, die ja normalerweise keiner kennen kann, weil nie zuvor etwas in der Zeitung über sie zu lesen war und das führt natürlich zu ganz vielen Fragen, was haben die eigentlich gemacht und worum geht es da. Das hat einen gewissen Popularisierungseffekt. Es hat natürlich auch einen Vorsichtseffekt, es wird bei einigen auch zur Vorsicht führen, z. B. gegenüber Westkorrespondenten, wenn die so pauschal bezichtigt werden einer bundesnachrichtendienstlichen Tätigkeit in einem nicht sehr beweiskräftigen Artikel 9 und manche Dinge hier in aktiveren Kreisen, wie die Vorwürfe gegenüber Radio »Glasnost«, 10 wo jeder weiß, dass es ja eigentlich ein völlig unbedeutender, chaotischer linker Sender ist. Peter [Wensierski]: Ich … wie sich die Solidaritätsbewegung in der DDR entfaltet hat. R[athenow]: Auch das wird man in vollem Umfang erst im Nachhinein feststellen können. Ich höre nur aus sehr vielen Städten Zeichen großer Betroffenheit und musste und konnte, wie andere, registrieren, dass die Zahl der in Kirchen sich versammelnden Leute, in Andachten, auch in anderen Städten, ständig wuchs und dass sie sicher auch weiter angewachsen wäre und dass schon für sehr viele Leute hier ganz prinzipielle Fragen, unabhängig von Personen, einfach auf der Tagesordnung waren, wird also Literatur und Kunst und publizistische Arbeit, denn die anderen wie Ralf Hirsch, Bärbel Bohley und so, haben vielleicht so etwas versucht, indem sie ganz selbstverständlich ihre Meinung verbreitet haben, wird so etwas wieder kriminalisiert, werden wieder die Argumente aus den dreißiger Jahren aus der ideologischen Mottenkiste geholt. Und wie geht man damit jetzt um? Da ist natürlich auch die Art und Weise, wie nun der Fall Krawczyk im Sinne der Regierung hier gelöst wurde, ein Rückfall eigentlich in die Zeit der Biermann-Ausbürgerung und in
8 Vgl. Neues Deutschland vom 2.2.1988. 9 Vgl. Journalisten auf Gehaltsliste der BRD-Geheimdienste, in: Neues Deutschland vom 3.2.1988 (Hier ist auch neuerlich behauptet worden, Jürgen Fuchs und Roland Jahn wären »geheimdienstgesteuert«.) 10 Vgl. Dichtung und Wahrheit, in: Neues Deutschland vom 2.2.1988 (Hier findet sich der bemerkenswerte Satz: »Dieser Sender nennt sich bekanntlich ›Glasnost‹« – Hervorhebung durch d. Hg.).
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Dokument 68 vom 3. Februar 1988
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die anschließende Hinausekelung von dem Schriftsteller Jürgen Fuchs und dem Liedersänger Gerulf Pannach 11. Peter [Wensierski] bedankt sich für dieses Gespräch. Eventuell wird er sich im Laufe des Tages noch einmal melden. Lutz R[athenow] findet dies nur nötig, wenn im Verlaufe des Abends noch andere Leute entlassen werden, denn dann müsste man etwas dazu sagen. Bisher ist in dieser Richtung nichts bekannt geworden und das macht ihn so stutzig. 12 15.28 Uhr
11 Gerulf Pannach (1948–1998), Liedermacher, nach Protesten gegen die BiermannAusbürgerung im November 1976 verhaftet und im August 1977 aus der Haft in die Bundesrepublik abgeschoben; vgl. Salli Sallmann (Hg.): Gerulf Pannach – Als ich wie ein Vogel war. Die Texte. Berlin 1998. 12 Am 29.2.1988 ist Lutz Rathenow vom MfS in der Untersuchungshaftanstalt Magdalenenstr. förmlich belehrt worden, insbesondere die seit dem 17.1.1988 von ihm für westliche Medien abgegebenen Erklärungen und Interviews künftig zu unterlassen, sonst drohten ihm bis zu 5 Jahre Haft (§ 219 StGB »Ungesetzliche Verbindungsaufnahme«, § 220 StGB »Öffentliche Herabwürdigung«). Die »Belehrung« unterzeichnete Rathenow nicht (BStU, MfS, AOP 1076/91, Bd. 14, Bl. 45). Das Interview für den ARD-Brennpunkt (3.2.1988, siehe Anm. 3) hatte, da es die größte Verbreitung fand, den Ausschlag dafür gegeben. Solche »Belehrungen« erhielt auch eine Reihe anderer Oppositioneller.
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Dokument 69 Telefongespräch zwischen Lutz Rathenow und Roland Jahn 4. Februar 1988 Von: MfS, Hauptabteilung Untersuchung [HA IX] 1 Quelle: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 9, Bl. 201–204
Auf staatsanwaltschaftliche Anordnung gemäß § 115 Absatz 4 StPO 2 über die Überwachung des Fernmeldeverkehrs des Fernsprechanschlusses 588XXX sowie dessen Aufnahme auf Tonträger wurde am 4.2.1988 das nachfolgende Telefongespräch zwischen dem Anschlussinhaber Lutz Rathenow, 1035 Berlin, XXX, und einem von der Deutschen Post, Fernsprechamt Berlin, als (Herkunft des Anrufes ist nicht feststellbar) ausgewiesenen Fernsprechteilnehmer auf Magnetband aufgezeichnet: Angerufener (A) [Bettina Rathenow]: Ja, bitte. (weibliche Person) Anrufer (B) [Roland Jahn]: Ich bin’s, hallo. A [B. Rathenow]: Ja, hallo. B [Jahn]: Der Lutz noch da? A [B. Rathenow]: Ja. B [Jahn]: Gib [ihn] mir Mal! A [B. Rathenow]: Ja, Moment mal! C [Lutz Rathenow]: Ja, hallo. B [Jahn]: Ich bin’s noch mal. C [Rathenow]: Na, haste weitere Details? 1 Der Mitschnitt des Telefongesprächs erfolgte im Rahmen der Ermittlungen gegen Lutz Rathenow und des Untersuchungsvorganges gegen Roland Jahn und war offiziell vom DDRGeneralstaatsanwalt beim Fernsprechamt angeordnet worden. Das vorliegende Dokument ist eine Abschrift, die vom Staatsanwalt beglaubigt werden sollte. 2 § 115, Abs. 4 StPO: »Die Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger kann angeordnet werden. Sie darf nur erfolgen bei Vorliegen des dringenden Verdachts von Straftaten, die nach § 225 des StGB der Anzeigepflicht unterliegen; von Straftaten der Luftpiraterie, des Rauschgifthandels und anderen Straftaten, deren Bekämpfung in internationalen Konventionen gefordert wird; von Straftaten, die unter Benutzung von Telefonanschlüssen vorbereitet oder begangen wurden und mit Freiheitsstrafe von mehr als 2 Jahren bedroht sind. Diese Anordnung darf sich nur auf Anschlüsse erstrecken, die dem Beschuldigten gehören oder die der Beschuldigte allgemein benutzt oder von denen Nachrichten, die der Straftat dienen, übermittelt werden sollen. Die Anordnung ist unverzüglich aufzuheben, wenn der Grund ihres Erlasses weggefallen ist. Aufzeichnungen, die nicht mit der Straftat in Verbindung stehen, sind zu vernichten.« Sämtliche politische Straftatbestände waren nach § 225 StGB anzeigenpflichtig. Die Mehrzahl der in diesem Band dokumentierten Telefonabhöraktionen durch die Stasi erfolgte jedoch ohne richterliche Genehmigung.
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Dokument 69 vom 4. Februar 1988
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B [Jahn]: Na ja, klar hab’ ich schon, aber brauchen wir jetzt nicht so auszuführen. C [Rathenow]: Hm. B [Jahn]: Du kannst noch einmal versuchen mit dem Wolfgang Schnur 3 zu sprechen, ja. C [Rathenow]: Das wird schwer werden heute, weil der ist so was von umlagert, und ich komme schwer an den ran, also persönlich komm’ ich schwer an den ran. B [Jahn]: Warum? C [Rathenow]: Er hat so’ne Art, der ist mir gegenüber misstrauisch. B [Jahn]: Ja, pass auf, pass auf, du kannst ihm trotzdem, sagste du, hast einen Brief von mir bekommen, ja und Stephan [Krawczyk] und Freya [Klier] bitten ihn, doch keine solchen Äußerungen mehr zu machen, wo er doch von Freiwilligkeit spricht und auch von der Möglichkeit spricht, in [den] Osten entlassen worden zu sein. Ich weiß nicht, ob er das überhaupt gesagt hat. 4 C [Rathenow]: Das hat er wahrscheinlich gar nicht gesagt. Das Letzte, was ich in den Nachrichten höre, war gar nicht so, dass die Äußerungen von den beiden falsch sind, sondern nur für die anderen nicht dienlich sind, die machen das ganze (unverständlich) B [Jahn]: Wann kam’n das? C [Rathenow]: – die Ecke. B [Jahn]: Wann kam’n das? C [Rathenow]: 15.00 Uhr. B [Jahn]: Was? C [Rathenow]: 15.00 Uhr. B [Jahn]: 15.00 Uhr. C [Rathenow]: (unverständlich) Becker und andere (unverständlich) B [Jahn]: Aber haben nicht gesagt, dass sie falsch sind? C [Rathenow]: Sie haben nicht gesagt, dass sie falsch sind. B [Jahn]: Gut, ich will dir das noch mal ausdrücklich sagen. Die Kirche hat in den Gesprächen mit Freya [Klier] und Stephan [Krawczyk], ich meine, ich
3 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 4 Wolfgang Schnur hatte am Abend des 4.2.1988 auf einer Informationsandacht in der Gethsemanekirche vor etwa 2 000 Personen erklärt, Klier und Krawczyk wären aus freien Stücken und ohne äußeren Druck in die Bundesrepublik ausgereist, hätten sich nicht an die Absprache gehalten, im Westen keine Erklärungen abzugeben, und hätten mit ihrer Erklärung den noch in Haft befindlichen Personen erheblich geschadet. Diese Erklärung des Rechtsanwalts, die er als IM im Auftrag des MfS abgab, hat viele Menschen erheblich irritiert und hat dem Ansehen von Klier und Krawczyk erheblich geschadet. Vor allem Mitglieder der IFM bzw. Personen wie Rathenow wiesen diese Deutung jedoch zurück und betonten, im Gefängnis sitzend könne nicht davon gesprochen werden, eine freie Entscheidung treffen zu können.
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Dokument 69 vom 4. Februar 1988
meine jetzt in den Gesprächen mit Stephan [Krawczyk], gesagt, wenn ihr jetzt nicht geht, gibt es für die anderen keine Lösung. 5 C [Rathenow]: Das ist natürlich ein erheblicher Druck. B [Jahn]: Ja, ja. C [Rathenow]: Ja. B [Jahn]: Das heißt, man hat ihnen die Verantwortlichkeit für ihre Freunde (unverständlich) C [Rathenow]: Das heißt der Bischof [Gottfried Forck] hat’s gesagt. B [Jahn]: Was? C [Rathenow]: Der Bischof hat’s übermittelt. B [Jahn]: Das kann nur der Schnur gesagt haben. C [Rathenow]: Aha. B [Jahn]: Und der Forck wahrscheinlich auch, dafür hab’ ich jetzt aber noch nicht die Bestätigung. C [Rathenow]: Na ja. B [Jahn]: Ja. Auf alle Fälle, das sollte man nicht öffentlich machen, ja. C [Rathenow]: Ja. B [Jahn]: (unverständlich) hat aus Hintergrundinformationen. C [Rathenow]: Ja, ja versteh ich. Ist klar. B [Jahn]: Und, und Schnur, Schnur sollte (unverständlich) ausrichten, halt nicht mehr solche Äußerungen gegen Stephan [Krawczyk] und Freya [Klier] machen, weil die sich sonst gezwungen sehen, es so darzustellen, wie es wirklich abgelaufen ist. C [Rathenow]: Hm. B [Jahn]: Da würde die Kirche vollkommen hinten runter fallen. C [Rathenow]: Hm. B [Jahn]: Das kannste mal – C [Rathenow]: Ja, ich werde versuchen auszurichten. B [Jahn]: Mit ’nem persönlichen Gruß von mir auch. C [Rathenow]: (Lachen) (unverständlich) wie er das auffasst, aber ich werd’ es sagen. Ja. Gibt es sonst noch was Aktuelles? Ich hab’ nur gehört vom katholischen Bischof, der katholische Bischof hat eine Aufforderung an die Angehörigen der katholischen Kirche hier gerichtet, die Betroffenen nicht allein zu lassen. 6 5 Hier wird die MfS-Strategie deutlich. Vgl. dazu auch Freya Klier: Aktion »Störenfried«. Die Januar-Ereignisse von 1988 im Spiegel der Staatssicherheit, in: Hans Joachim Schädlich (Hg.): Aktenkundig. Berlin 1992, S. 91–153; Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 251–291. 6 Am 1.2.1988 schrieb der Bischof von Berlin, Kardinal Joachim Meisner (geb. 1933; Bischof in Berlin 1980–1989, seither Erzbischof von Köln), einen Brief an »alle Priester und Diakone im Ostteil des Bistums Berlin«. Er betonte, dass es besorgt mache, wenn Menschen ihre Heimat glauben verlassen zu müssen und wenn Menschen ihrer Heimat verwiesen werden. Keiner dürfe mit seinen
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Dokument 69 vom 4. Februar 1988
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B [Jahn]: Gut, um die, wenn die Kirche glaubwürdig, sich glaubwürdig machen will, ja, dann müssten sie jetzt die Forderung nach der Rückkehr von Stephan Krawczyk stellen, damit der die Möglichkeit hat, innerhalb der Ostberliner Kirche darzustellen, wie das wirklich war. C [Rathenow]: Na ja, die werden ganz auf diese Sache kommen, solange die anderen nicht raus sind und wenn sie heute nicht entlassen werden, was ich – B [Jahn]: (unverständlich) die Kritisierungsgruppe, die Kritisierungsgruppe die gibt es ja auch. 7 C [Rathenow]: Ja, ja davon hab’ ich gehört. 8 B [Jahn]: (unverständlich) mal das deutlich, was sie immer gesagt haben, Alternative ist der Ausreiseantrag, ja. C [Rathenow]: Ja, das denk ich, denk ich auch. B [Jahn]: Gut, ich muss jetzt weiter, ich muss ja. C [Rathenow]: Sag mal, hast du mitgekriegt, dass, was von mir in der Basler Zeitung stand. 9 B [Jahn]: Was? C [Rathenow]: In der Basler Zeitung. B [Jahn]: Nein, nicht mitgekriegt. C [Rathenow]: Recht ausführlich. B [Jahn]: Gut alles klar, ja. C [Rathenow]: Gut, tschüß. B [Jahn]: Gehst du heute zur Koordinierungsgruppe 10, ja. C [Rathenow]: Ich geh … heute hin, ja. B [Jahn]: Und du kannst die Details ruhig mal so als Hintergrund so sagen, ja. Sorgen allein gelassen werden. Die kommunistische Propaganda und die damit einhergehende Religions- und Kirchenfeindlichkeit, wie sie sich nach dem 17.1.1988 neuerlich zeigte, kritisierte er scharf. Aber er schrieb auch: »Besorgt macht uns aber auch, wenn im Gefolge der Ereignisse und Maßnahmen des 17. Januar Veranstaltungen, die vorrangig Informationszwecken und politischen Zielen dienen, als Gottesdienst bezeichnet werden – aus welchen Gründen auch immer. Wenn ein Gottesdienst nicht mehr zuerst der Gottesverehrung dient, dann ist das nach unserem katholischen Verständnis ein fragwürdiges Unterfangen. Es müsste sich für den Dienst der Kirche letztlich schädlich auswirken.« (BStU, MfS, HA IX 3213, Bl. 127–130, hier 129). 7 Hier liegt wohl ein »Mithörfehler« der Stasi vor. Wahrscheinlich war die Koordinierungsgruppe (oft auch Kontaktgruppe genannt) gemeint. Darin hatten sich Vertreter verschiedener Ostberliner Oppositionsgruppen am 18./19.1.1988 zusammengeschlossen, um u. a. die Solidaritätsaktionen zu koordinieren und die Informations- und Fürbittandachten in Ost-Berlin vorzubereiten. 8 Lutz Rathenow wusste von der Koordinierungsgruppe; siehe gleich weiter unten in diesem Dokument. In Telefongesprächen reagierte er oft so wegen der mithörenden Geheimpolizei. 9 Auf der Grundlage eines Telefoninterviews ist am 28.1.1988 in der »Basler Zeitung« ein ganzseitiges Interview mit Lutz Rathenow erschienen. Vgl. »Der Staat versucht immer, Erfahrungen zu zerstören.« Ein Gespräch mit dem Ostberliner Autor Lutz Rathenow über die Situation der Opposition in der DDR nach den jüngsten Verhaftungen, in: Basler Zeitung vom 28.1.1988, S. 41. U. a. forderte Rathenow, dass kein Schweizer Schriftsteller in der DDR auftreten solle, so lange Klier und Krawczyk im Gefängnis eingesperrt sind. 10 Siehe Anm. 7.
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Dokument 69 vom 4. Februar 1988
C [Rathenow]: Das werd ich dort in der Gruppe so sagen, ja. B [Jahn]: Kannst das sagen, aber C [Rathenow]: Aber nicht öffentlich, nee ist klar, das hab’ ich schon verstanden, find ich auch so richtig. Tschüß! – Ende des Gespräches –
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Auf staatsanwaltschaftliche Anordnung gemäß § 115 Absatz 4 StPO 2 über die Überwachung des Fernmeldeverkehrs des Fernsprechanschlusses 588XXX sowie dessen Aufnahme auf Tonträger wurde am 5.2.1988 das nachfolgende Telefongespräch zwischen dem Anschlussinhaber Lutz Rathenow, 1035 Berlin, XXX und einem von der Deutschen Post, Fernsprechamt Berlin, als (Herkunft des Anrufes ist nicht feststellbar) ausgewiesenen Fernsprechteilnehmer auf Magnetband aufgezeichnet: Angerufener (A) [Bettina Rathenow]: Ja bitte. (weibliche Person) Anrufer (B) [Roland Jahn]: Alles okay. A [B. Rathenow]: Ja, okay, ist gut. B [Jahn]: (unverständlich) A [B. Rathenow]: Schlechtes Wort. B [Jahn]: Ich sag’ du (unverständlich) A [B. Rathenow]: Bitte? B [Jahn]: Ich sag’, du bist so (unverständlich) A [B. Rathenow]: Ja, klar. Na ja, Lutz [Rathenow] ist im Moment nicht da. B [Jahn]: Haste das von Bärbel [Bohley] gehört? 1 Der Mitschnitt des Telefongesprächs erfolgte im Rahmen der Ermittlungen gegen Lutz Rathenow und des Untersuchungsvorganges gegen Roland Jahn und war offiziell vom DDRGeneralstaatsanwalt beim Fernsprechamt angeordnet worden. Das vorliegende Dokument ist eine Abschrift, die vom Staatsanwalt beglaubigt werden sollte. 2 § 115, Abs. 4 StPO: »Die Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger kann angeordnet werden. Sie darf nur erfolgen bei Vorliegen des dringenden Verdachts von Straftaten, die nach § 225 des StGB der Anzeigepflicht unterliegen; von Straftaten der Luftpiraterie, des Rauschgifthandels und anderen Straftaten, deren Bekämpfung in internationalen Konventionen gefordert wird; von Straftaten, die unter Benutzung von Telefonanschlüssen vorbereitet oder begangen wurden und mit Freiheitsstrafe von mehr als 2 Jahren bedroht sind. Diese Anordnung darf sich nur auf Anschlüsse erstrecken, die dem Beschuldigten gehören oder die der Beschuldigte allgemein benutzt oder von denen Nachrichten, die der Straftat dienen, übermittelt werden sollen. Die Anordnung ist unverzüglich aufzuheben, wenn der Grund ihres Erlasses weggefallen ist. Aufzeichnungen, die nicht mit der Straftat in Verbindung stehen, sind zu vernichten.« Sämtliche politische Straftatbestände waren nach § 225 StGB anzeigenpflichtig. Wie nicht zuletzt dieser Band dokumentiert, erfolgten die meisten Telefonabhöraktionen durch die Stasi ohne richterliche Genehmigung.
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Dokument 70 vom 5. Februar 1988
A [B. Rathenow]: Nee. B [Jahn]: Die wollen se ins Flugzeug setzen nach England mit ’nem DDR-Pass und einem Halbjahres-Visum. 3 A [B. Rathenow]: Aha, und sie ist damit einverstanden? B [Jahn]: Ja. A [B. Rathenow]: Hm. B [Jahn]: Ansonsten beginnen morgen [Prozesse] wegen Hochverrat. 4 A [B. Rathenow]: Was bitte? B [Jahn]: Sonst würde die Hochverratsanklage erhoben morgen. A [B. Rathenow]: Hm, und, und was ist mit den anderen, die noch da sind. B [Jahn]: Es sind ja einige jetzt gekommen. A [B. Rathenow]: Ja, das hab’ ich mitgekriegt, also Templins [Regina und Wolfgang] und – B [Jahn]: Die haben Pässe. A [B. Rathenow]: DDR-Pässe. B [Jahn]: Ja. A [B. Rathenow]: Hm, alle auch der [Ralf] Hirsch? B [Jahn]: Möglicherweise, ich weiß es nicht. 5 A [B. Rathenow]: Weil er, weil er sich irgendwie geäußert hatte, ich weiß das alles nur aus Nachrichten ja, er hätte sich bei seiner Ankunft so geäußert, dass er so wie [Stephan] Krawczyk, dass er vor der Alternative gestanden hätte, na 9 Jahre Knast oder Ausreise. 6 B [Jahn]: Ja, so ging’s allen. A [B. Rathenow]: Das ist ein abgekartetes Spiel, das glaubt man gar nicht. B [Jahn]: Ich habe gerade den [Gert] Bastian und [mit] der Petra Kelly gesprochen, die sind ganz erschüttert darüber. A [B. Rathenow]: Also, ich hab’ gerade im Radio, im Fernsehen hier die ZDFNachrichten an, ich weiß nicht, ob du das gesehen hast, was der [Otto Graf]
3 Am 5.2.1988 reiste Ralf Hirsch dauerhaft in die Bundesrepublik aus, Regina und Wolfgang Templin gingen mit ihren Kindern für 2 Jahre in die Bundesrepublik, Bärbel Bohley und Werner Fischer für ein halbes Jahr nach England. Am 8.2. folgte Vera Wollenberger ebenfalls nach England mit zwei Kindern, der älteste Sohn (16 Jahre) blieb in der DDR. Bert Schlegel, er hatte schon zuvor einen Ausreiseantrag gestellt, war bereits am 3.2. ausgereist. 4 Das wurde den Inhaftierten mitgeteilt. 5 Er hatte keinen DDR-Ausweis mehr, weil er im Gefängnis unter dem beschriebenen Druck einen Ausreiseantrag gestellt hatte. 6 Auch Ralf Hirsch hat erst nach seiner Ausreise erfahren können, dass sich eine breite Protestund Solidarisierungswelle entfaltet hatte. Zudem erhob er schwere Vorwürfe gegen den Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, von dem er sich getäuscht fühlte, weil er ihm zugesichert hatte, er könne in die DDR entlassen werden und dann kurzerhand das Mandat niedergelegt hatte (vgl. z. B. Inhaftierte sollen in den Westen, in: Volksblatt vom 7.2.1988; Ost-Berlin entlässt die ersten Verhafteten in die DDR, in: FAZ vom 8.2.1988).
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Dokument 70 vom 5. Februar 1988
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Lambsdorff gesagt hat, 7 also weißte, wenn die keine Ahnung haben, dann sollen sie sich lieber gar nicht äußern, ich finde das, na ja, wie son Faustschlag ins Gesicht, ja, weißte. B [Jahn]: Ja, ja. A [B. Rathenow]: Na ja, kann man nichts machen. Ach so ist das, da haben sie Pässe, aber wer garantiert denn das, dass sie mit diesen Pässen jemals wieder hier einreisen dürfen. B [Jahn]: Niemand. A [B. Rathenow]: Hm. B [Jahn]: Bloß es ist eben jetzt einiges öffentlich geworden. A [B. Rathenow]: Ich meine, weißte, ich, ich war noch nicht lange im Gefängnis, ich kann mich in diese Situation schlecht reindenken, ja. B [Jahn]: Ja. A [B. Rathenow]: Irgendwie ist es ja auch gut, dass sie erstmal nicht mehr da drinne sind. B [Jahn]: Ja. A [B. Rathenow]: Aber andererseits weißte, wenn man sich das überlegt, wenn also, na ja, ich will lieber nicht darüber nachdenken. B [Jahn]: (unverständlich) sehen. A [B. Rathenow]: Bitte? B [Jahn]: Man muss es von den Betroffenen weghalten und auf die Entscheidungsträger gucken. A [B. Rathenow]: Na ja, irgendwie ist das, vor allen Dingen was hier so gespielt wurde, was, was man sich so nach und nach so denkt kann, weißte, man hat ja schon immer so’n bisschen geahnt, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. B [Jahn]: Na, … spricht mit [Michail S.] Gorbatschow, jetzt sind die Rehabilitierungen ausgesprochen, einigen die aber schon tot sind gegenüber, die fliegen eben mal nach England. Na gut. A [B. Rathenow]: Na ja. B [Jahn]: Bettina, bis bald, ja. A [B. Rathenow]: Ja, Tschüß, schöne Grüße. B [Jahn]: Viele Grüße an Lutz, ja. 7 Am 4.2.1988 traf der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff (1926–2009) im Beisein von Hans Otto Bräutigam (geb. 1931), Leiter der Ständigen Vertretung, in Ost-Berlin Erich Honecker. Bei dem Gespräch, das doppelt so lange wie geplant dauerte, ging es auch um die Ereignisse seit dem 17.1. Lambsdorff berichtete anschließend, für Honecker stelle dies keine Auseinandersetzung mit Andersdenkenden dar, sondern es gehe schlicht um Gesetzesübertretungen, die geahndet werden müssten (vgl. Otto Graf Lambsdorff vor der Presse: In der Zusammenarbeit erheblich vorwärts gekommen, in: Neues Deutschland vom 5.2.1988). Zugleich betonte Lambsdorff, Honecker rechne nicht mit einer weiteren Verschärfung der Lage (vgl. Honecker: Keine Verschärfung der Lage, in: taz vom 5.2.1988). Dadurch, dass Lambsdorff sich diese Lesart mehr oder weniger zu eigen machte und zugleich auf einen scharfen Protest gegen die Inhaftierungen, Abschiebungen und Verurteilungen verzichtete, zog er Kritik auf sich.
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Dokument 70 vom 5. Februar 1988
A [B. Rathenow]: Hm. B [Jahn]: Tschüß! – Ende des Gespräches –
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Dokument 71 Anforderung eines Gutachtens 9. Februar 1988 Von: Generalstaatsanwaltschaft der DDR, 1040 Berlin, Abteilungsleiter [Eberhard] Heyer An: Humboldt-Universität zu Berlin, Sektion Kriminalistik, 1 Prof. Dr. Christian Koristka 2 Quelle: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 5, Bl. 108
Sehr geehrter Genosse Professor Dr. Koristka! Im Ermittlungsverfahren/Fahndung gegen den Einwohner von Berlin (West) Jahn, Roland, geb. am 14. Juli 1953 in Jena, wohnhaft: Berlin (West) 36, Görlitzer Str. 66 wurde auf der Grundlage § 115 Abs. 4 StPO die Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger angeordnet. 3 Hinsichtlich der aufgenommenen Fernmeldegespräche zwischen [Roland] Jahn und den Personen 1 Zur Sektion Kriminalistik, faktisch dem MfS unterstellt, vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Humboldt-Universität zu Berlin und das Ministerium für Staatssicherheit, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden. Bd. 3: Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die Humboldt-Universität zu Berlin 1945–2010. Berlin 2012, S. 437–553, spez. 537–541. 2 Christian Koristka (geb. 1938), 1959–1963 Studium in Halle, anschließend Aspirant an der HUB, 1960 SED; nach der Promotion 1966 Oberassistent, Dozent und schließlich 1980 Professor an der Sektion Kriminalistik der HUB. Koristka ist u. a. Experte für Geräusch-, Stimmen- und Schriftidentifizierung; er arbeitete eng mit mehreren Diensteinheiten des MfS zusammen, erstellte Gutachten und Expertisen, hatte aber weder eine offizielle noch inoffizielle Anbindung an das MfS (BStU, MfS, HA II 20670). In den 1990er Jahren war er Professor an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin; 2014 ist er an der privaten School of Governance, Risk & Compliance in Berlin tätig. 3 § 115, Abs. 4 StPO: »Die Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger kann angeordnet werden. Sie darf nur erfolgen bei Vorliegen des dringenden Verdachts von Straftaten, die nach § 225 des StGB der Anzeigepflicht unterliegen; von Straftaten der Luftpiraterie, des Rauschgifthandels und anderen Straftaten, deren Bekämpfung in internationalen Konventionen gefordert wird; von Straftaten, die unter Benutzung von Telefonanschlüssen vorbereitet oder begangen wurden und mit Freiheitsstrafe von mehr als 2 Jahren bedroht sind. Diese Anordnung darf sich nur auf Anschlüsse erstrecken, die dem Beschuldigten gehören oder die der Beschuldigte allgemein benutzt oder von denen Nachrichten, die der Straftat dienen, übermittelt werden sollen. Die Anordnung ist unverzüglich aufzuheben, wenn der Grund ihres Erlasses weggefallen ist. Aufzeichnungen, die nicht mit der Straftat in Verbindung stehen, sind zu vernichten.« Sämtliche politische Straftatbestände waren nach § 225 StGB anzeigenpflichtig. Wie nicht zuletzt dieser Band dokumentiert, erfolgten die meisten Telefonabhöraktionen durch die Stasi ohne richterliche Genehmigung.
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Dokument 71 vom 9. Februar 1988
Templin, Wolfgang, wohnhaft: 1100 Berlin, Neue Schönholzer Str. 12, Telefon-Nr.: 489XXX Hirsch, Ralf, wohnhaft: 1017 Berlin, Leninallee 38, Telefon-Nr.: 437XXX Bohley, Bärbel, wohnhaft: 1058 Berlin, Fehrbelliner Str. 91, Telefon-Nr.: 282XXX bitte ich Sie, zur Feststellung der Identität der gesprächsführenden Personen um eine Expertise über die vorliegenden Aufzeichnungen. Als Anlage werden Ihnen dazu das Originalaufzeichnungsmaterial sowie Vergleichsaufnahmen der Stimmen von Roland Jahn, Wolfgang und Regina Templin, Bärbel Bohley und Werner Fischer übergeben.
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Dokument 72 Gutachten 1 im Verfahren gegen Ralf Hirsch, Wolfgang und Regina Templin, Bärbel Bohley (Originaltitel) 12. Februar 1988 Von: Humboldt-Universität zu Berlin, Sektion Kriminalistik, 2 Prof. Dr. Christian Koristka 3 An: Generalstaatsanwaltschaft der DDR, Berlin Quelle: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 5, Bl. 109, 111–126
In der Anlage übersenden wir Ihnen die Sprecheridentifizierungsgutachten mit eindeutigen Identifizierungsergebnissen zu den jeweils relevanten Sprechern. Als Anlage gehen Ihnen weiterhin die übersandten originalen Ausgangs- und Vergleichsmaterialien zu unserer Entlastung mit gleicher Post zu. Humboldt-Universität zu Berlin Sektion Kriminalistik DDR – 1086 Berlin Postfach 1297 Exp.-Nr. A 31/88 Gutachten 1. Mit Schreiben vom 5. Februar 1988 4 hat der Generalstaatsanwalt der Deutschen Demokratischen Republik den Direktor der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin gemäß § 39 StPO 5 um die Erstattung eines 1 Das Gutachten erarbeitete Heinz Felfe, wie das Dokument selbst festhält (siehe Anm. 7). 2 Zur Sektion Kriminalistik, faktisch dem MfS unterstellt, vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Humboldt-Universität zu Berlin und das Ministerium für Staatssicherheit, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden. Bd. 3: Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die Humboldt-Universität zu Berlin 1945–2010. Berlin 2012, S. 437–553, spez. 537–541. 3 Christian Koristka (geb. 1938), 1959–1963 Studium in Halle, anschließend Aspirant an der HUB, 1960 SED; nach der Promotion 1966 Oberassistent, Dozent und schließlich 1980 Professor an der Sektion Kriminalistik der HUB. Koristka ist u. a. Experte für Geräusch-, Stimmen- und Schriftidentifizierung; er arbeitete eng mit mehreren Diensteinheiten des MfS zusammen, erstellte Gutachten und Expertisen, hatte aber weder eine offizielle noch inoffizielle Anbindung an das MfS (BStU, MfS, HA II 20670). In den 1990er Jahren war er Professor an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin; 2014 ist er an der privaten School of Governance, Risk & Compliance in Berlin tätig. 4 Das abgedruckte Dok. 71 ist mit 9.2.1988 datiert. Das erwähnte Schreiben vom 5.2.1988 ist bislang nicht aufgefunden worden. 5 § 39 StPO bestimmte die »Auswahl der Sachverständigen« und regelte die Pflicht zur Erstattung eines Gutachtens, sofern man dazu aufgefordert wurde.
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Dokument 72 vom 12. Februar 1988
Sachverständigengutachtens zu den Ermittlungsverfahren gegen Ralf Hirsch und sechs andere wegen landesverräterischer Nachrichtenübermittlung (§ 99 StGB) bzw. landesverräterischer Agententätigkeit (§ 100 StGB) ersucht. Es soll zu folgenden Fragen Stellung genommen werden: 1. Wie ist die Interessenlage der Geheimdienste der BRD in Bezug auf die innere Lage der DDR, insbesondere hinsichtlich der Formierung einer sogenannten inneren Opposition, einzuschätzen? 2. In welchem Maße stimmen die durch die vorliegenden Beweismaterialien belegten Informationsanforderungen des Agenten [Roland] Jahn und die durch die Beschuldigten ausgelieferten Nachrichten mit dieser Interessenlage überein? Für das Gutachten standen folgende Unterlagen zur Verfügung: 1. Vernehmungsprotokoll des Zeugen Tiedge, Hansjoachim vom 2.2.1988 2. Vernehmungsprotokoll des Zeugen Zobel, Peter vom 3.2.1988 3. Vernehmungsprotokoll des Zeugen Dr. Frauendorf, Stefan vom 5.2.1988 4. Aus dem EV Kalix, Christian Auszüge aus dem Beschuldigtenvernehmungsprotokoll vom 23.6.1977 (S. 1–6) Auszüge aus dem Beschuldigtenvernehmungsprotokoll vom 8.9.1977 (S. 1–2) Auszüge aus dem Beschuldigtenvernehmungsprotokoll vom 1.8.1977 (S. 1, 8) 5. Aus dem EV Höhn, Kurt Auszüge aus dem Beschuldigtenvernehmungsprotokoll vom 29.1.1982 (S. 1, 3–5) Auszüge aus dem Beschuldigtenvernehmungsprotokoll vom 31.1.1982 (S. 1–2) Beschuldigtenvernehmungsprotokoll vom 30.1.1982 6. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Mann, Dietmar vom 1.2.1988 7. Auszüge aus einer persönlichen Niederschrift von Prof. Hennig, Klaus vom 10.3.1987 (S. 12–14) 8. Auszüge aus dem Beschuldigtenvernehmungsprotokoll XXX vom 28.12.1983 (S. 1–13) Weiter lagen die auf Anordnung des Generalstaatsanwaltes der DDR abgehörten Telefongespräche der Beschuldigten 1. Hirsch, Ralf 2. Templin, Wolfgang 3. Templin, Regina 4. Bohley, Bärbel mit dem in Westberlin lebenden Jahn, Roland in inhaltlicher Wiedergabe vor.
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Dokument 72 vom 12. Februar 1988
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2. Das Gutachten wird erstattet durch Prof. Dr. Heinz Felfe, Leiter des Wissenschaftsbereiches Imperialismusforschung der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin, der sich seine Sachkunde auch erworben hat durch langjährige Tätigkeit in der Organisation Gehlen 6 und der Nachfolgeorganisation »Bundesnachrichtendienst« (BND) der BRD, zuletzt als Leiter »Gegenspionage Sowjetunion« in der Pullacher Zentrale des BND. 7 Der Gutachter wurde über seine Rechte und Pflichten gemäß §§ 40, 41 und 42 StPO sowie § 230 StGB belehrt. 8 3. Die Behörden der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und deren Mitarbeiter sind an das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 und die vom Bundesverfassungsgericht dazu ergangene Rechtsprechung gebunden. Als allgemein bekannt, wird auf das sogenannte Wiedervereinigungsgebot in der Präambel dieses Grundgesetzes verwiesen – auch vom Bundesverfassungsgericht erläutert und festgeschrieben – wonach die Deutsche Demokratische Republik als selbstständiges Völkerrechtssubjekt nicht anerkannt wird, sondern eine »Wiedervereinigung«, d. h. ein Aufgehen des Staatsgebietes und Staatsvolkes der DDR in der Bundesrepublik angestrebt und erwartet wird. Aus diesem Grund wird die Staatsbürgerschaft der DDR im völker- und staatsrechtlichen Sinne nicht anerkannt. Vor diesem rechtlichen Hintergrund haben die Behörden der BRD ihre Arbeit zu leisten. Staatliche Behörden, die an das Wiedervereinigungsgebot gebunden sind, sind auch die Geheimdienste der BRD – der Bundesnachrichtendienst (BND) dem Bundeskanzleramt unterstellt und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) unter 6 1946 von der Siegermacht USA in Hessen gebildeter Nachrichtendienst, der nach seinem ersten Leiter, Reinhard Gehlen (1902–1979), benannt wurde. Daraus ging 1956 der BND hervor, dem Gehlen bis 1968 als Präsident vorstand. 7 Heinz Felfe (1918–2008) arbeitete als SS-Mitglied seit 1939 im Reichssicherheitshauptamt. Kurzzeitig nach der Kriegsgefangenschaft für den britischen Geheimdienst aktiv, ist er 1950 vom KGB angeworben worden und trat in dessen Auftrag 1951 in die »Organisation Gehlen« ein. Zuletzt war er dort als Leiter des Referats »Gegenspionage Sowjetunion« beschäftigt. Durch seine KGB-Anbindung gelang es dem Osten, Hunderte westliche Spione zu enttarnen, Felfe übermittelte Zehntausende Dokumente nach Moskau, lancierte ungezählte Fehlinformationen in die westlichen Kanäle und warnte immer wieder, wenn Agenten des Ostblocks, die im Westen agierten, vor einer Verhaftung standen, sodass diese kurzfristig zurückgezogen werden konnten. Der enge Vertraute von Gehlen ist Anfang November 1961 verhaftet und 1963 zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt worden. 1969 ist er gegen 21 bundesdeutsche Häftlinge, die in DDR-Gefängnissen einsaßen, ausgetauscht worden. An der Humboldt-Universität zu Berlin erhielt er 1978 eine Professur an der Sektion Kriminalistik, die dem MfS faktisch unterstand. Er hat sich in den 1980er Jahren mehrfach mit Gutachten an der Verfolgung und Kriminalisierung der Opposition beteiligt. 8 § 40 StPO: Wahrheitspflicht, § 41 StPO: Verweigerung des Gutachtens kann mit einer Ordnungsstrafe belangt werden, § 42 StPO: Für das Gutachten kann er Zeugen, Beschuldigte, Angeklagte und deren Angehörige befragen, außerdem können ihm Akteinsicht gewährt und Beweismittel zur Verfügung gestellt werden. § 230 StGB: eine vorsätzlich falsche Aussage kann mit bis zu 3 Jahren Haft belangt werden.
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der Dienstaufsicht des Bundesministeriums des Innern arbeitend. Im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Gutachtens spielt der dritte bundesdeutsche Geheimdienst, das Amt für Sicherheit der Bundeswehr (ASBw) mit seinem Militärischen Abschirmdienst (MAD) keine Rolle und wird deshalb nicht weiter in die Untersuchung einbezogen. 4. Die Arbeit dieser Geheimdienste – Bundesnachrichtendienst und Bundesamt für Verfassungsschutz – mit den fachlich unterstellten Landesämtern für Verfassungsschutz, wird also auch mit den einem Geheimdienst eigentümlichen Mitteln und Methoden betrieben. Dazu gehört, dass über die DDR Informationen beschafft werden, und zwar Informationen, die sämtliche Lebensgebiete betreffen. So wurde bereits bei der Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienstes, der Organisation Gehlen, unterm 29. Juli 1952 in der »Abhandlung Nr. 6600«, auch »Juno-Programm« genannt, als Aufgabe die »Aufklärung im Hinterland des Gegners« festgeschrieben. Es hieß wörtlich: »Beobachtung von Ansatzpunkten zur Bildung und Verstärkung von Widerstandszentren ..., Angaben über das Menschenpotential, seinen Ausnutzungsgrad und seine Aufteilung auf Wehrmacht und Industrie.« (siehe: Felfe, Im Dienst des Gegners, Hamburg 1986, S. 165) 9 Diese Zielstellung gilt nach wie vor, denn der ehemalige leitende BNDMitarbeiter Generalmajor a. D. Erich Dethleffsen 10 hat im Jahre 1969 in einem Zielkatalog die Ziele der geheimdienstlichen Aufklärung erneut beschrieben; es heißt da: »… Im Bereich subversiver Tätigkeit: Einmischung in gesellschaftspolitische Vorgänge anderer Länder, psychologische Kampfführung…«; »… Im Bereich der Innenpolitik: Verhältnis Regierung/Volk, politische Parteien, Opposition, Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur, psychologische Lage …«. Diese Ausführungen wurden in einem Artikel »Die Aufgabe eines Auslandnachrichtendienstes«, veröffentlicht in der Zeitschrift »Außenpolitik«, Heft 11, 20. Jahrg., gemacht. 11 5. Auch die dem Gutachter zur Verfügung gestellten Unterlagen belegen diese Aufgabenstellung des BND und ihre Realisierung aus aktueller Sicht.
9 In der DDR erschienen diese Erinnerungen 1988. 10 Erich Dethleffsen (1904–1980) trat 1923 ins Reichsheer ein, wurde später Chef der Führungsabteilung im Oberkommando der Wehrmacht, zuletzt im Range eines Generalmajors. Im BND rückte er bis zum Chefauswerter als General auf. 11 Vgl. Außenpolitik 28 (1969) 11, S. 655–660.
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5.1. So sagte der als Zeuge am 3.2.1988 12 vernommene BND-Spion Zobel, Peter 13 aus, dass er neben Informationen aus seinem beruflichen Bereich auch »bei fast allen persönlichen Zusammenkünften mit den Mitarbeitern des BND zur Auslieferung von Informationen über die innere Lage der DDR aufgefordert…« (wurde). » … Dabei interessierte alles, was über die innere Situation in der DDR in ihrer gesamten Vielfalt Aufschluss geben konnte … Generell hatte ich den Eindruck, dass meine Auftraggeber vorrangig an solchen Informationen über die innere Lage in der DDR interessiert waren, die in der jeweiligen konkreten Situation von besonders hoher politischer Bedeutung waren und für die Regierung der DDR ein politisch brisantes Problem darstellten. Ich hatte den Eindruck, dass es dabei um solche Nachrichten ging, die geeignet waren, z. B. durch ihre Verwertung in den Massenmedien der BRD, Druck auf die DDR auszuüben und solche Personenkreise in der DDR zu Aktivitäten anzuregen, die mit bestimmten Verhältnissen sowie der Regierungspolitik nicht einverstanden sind …«
12 Diese Zeugenvernehmung führte die HA IX/1 des MfS, zuständig für EV bei Spionageverdacht, durch: MfS, HA IX, Beweiskonzeption zum Nachweis geheimdienstlicher Zusammenhänge im Strafverfahren gegen Hirsch und 4 andere, 2.2.1988. BStU, MfS, AOP 15667/89, Bd. 1, Bl. 32. 13 Peter Zobel (geb. 1937) erlernte zunächst den Beruf eines Möbeltischlers (1954), 1962 legte er ein Fachschulexamen als Innenarchitekt ab, arbeitete in verschiedenen Betrieben und Orten, 1964/65 in Algerien, auch anschließend als Reisekader mehrfach in westlichen Ländern tätig, ab 1984 war er in der DDR-Handelsvertretung in Düsseldorf. Seit 1963 Mitglied der NDPD war er von 1970 bis 1984 Abgeordneter in der Stadtbezirksversammlung Dresden-West. Als Reisekader verfügte er über Kontakte zum MfS, seit 1977 war er als IMS/IME »Wetzel« für das MfS (BV Dresden/KD Dresden-Stadt, ab 1984 HV A/IX/B, ab Oktober 1989 für die HA II) tätig. Den Decknamen »Wetzel« verwendete er auch schon vor 1977. In seinen IM-Berichten machte er auch Angaben über Kollegen, Nachbarn und Bekannte. 1984 soll Zobel unter dem Decknamen »Hamburger« vom BND angeworben worden sein. Die Anwerbung erfolgte nach eigener Auskunft unter Druck, da er mehrfach bei kleineren Kaufhausdiebstählen ertappt wurde. Er soll dem BND über seine Zusammenarbeit mit dem MfS, die handelspolitische Abteilung der Ständigen Vertretung und die Geschäftsbeziehungen des AHB Holz und Papier – für den er tätig war – berichtet haben. Wegen Verdachts auf BNDTätigkeit wurde Zobel am 31.7.1986 festgenommen und am 1.6.1987 vom MOG Berlin wegen Spionage nach § 98 StGB zu 12 Jahren Haft verurteilt. Der Vollzug erfolgte in Bautzen. Ab August 1986 war Zobel in der Untersuchungshaft als ZI tätig. Er berichtete intensiv über Insassen. Nach seiner Überstellung in den Strafvollzug sind, trotz seiner Bereitschaftserklärung, weiter inoffiziell mit dem MfS zusammenzuarbeiten, keine Berichte mehr überliefert. Unterlagen zur Vernehmung vom 3.2.1988, die in diesem Gutachten zitiert wurden, sind bislang nicht gefunden worden. Die Fragen und Antworten entsprechen Vernehmungen, die mit ihm 1986 gemacht wurden. Neben zahlreichen dezentralen Überlieferungen sind zu Zobel folgende, umfangreiche Vorgänge überliefert: BStU, MfS, GH 54/87; BStU, MfS, AIM 16799/89; BStU, MfS, AZI 7429/87; BStU, MfS, ZAIG 15365, sowie zur Ehefrau, die eine Haftstrafe in Höhe von 7 Jahren erhielt: BStU, MfS, GH 70/87. Außerdem gibt es MfS-Lehrfilme über die Geschehnisse: »Greif – Vom anerkannten Reisekader der DDR zum Spion des BND der BRD« (BStU, MfS, HA II/Vi 115); »Verräter« (BStU, MfS, HA II/ Vi 130). Schließlich ist auch der Gerichtsprozess filmisch aufgezeichnet worden: BStU, MfS, HA II/ Vi 170–172.
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5.2. Der BND-Spion Dr. Frauendorf, Stefan 14 als Zeuge vernommen, sagte am 5.2.1988 15 aus: »… dass der BND-Mitarbeiter Weber an allen Informationen, die auf oppositionelle gegen die Regierungspolitik gerichtete Erscheinungen und Aktivitäten hinwiesen, stets besonders interessiert war und mir viele Einzelfragen zu derartigen Problemen stellte. Dabei knüpfte er zum Teil an ihm bekannt gewordene Geschehnisse an und trug mir auf, mein Wissen und meine Einschätzung dazu darzulegen bzw. darüber Informationen einzuholen. So kann ich mich noch konkret erinnern, dass mein Auftraggeber Fragen der Bewegung ›Schwerter zu Pflugscharen‹ 16, insbesondere meine Kenntnisse über Gegenmaßnahmen des Staates wissen wollte …«; »… interessierte sich der BND für Bestrebungen der Kirche, den Grundwehrdienst in der NVA für bestimmte Personenkreise durch einen Wehrersatzdienst im zivilen Bereich, z. B. in Krankenhäusern, zu ersetzen … Großes Interesse zeigte der BND auch an Informationen über die Existenz und das Wirken von oppositionellen Gruppen in der DDR, vor allem im Raum Dresden … Ich möchte einschätzen, dass der BND den Aufträgen zur Aufklärung der inneren Situation in der 14 Stefan Frauendorf (geb. 1945) studierte bis 1968 an der TU Dresden Physik, anschließend ging er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Zentralinstitut für Kernforschung in Rossendorf. 1971 promovierte er an der TU Dresden, 1982 verteidigte er seine Promotion B. 1971 bis 1974 war er am Kernforschungszentrum Dubna tätig, seit 1976 regelmäßig Gastwissenschaftler am Niels-BohrInstitut in Kopenhagen, 1981/82 Gastprofessor an der University of Tennessee. Im März 1977 ist er von der HV A unter dem Decknamen »Stefan Bauer« als IM angeworben worden. Nach der Flucht des hauptamtlichen MfS-Mitarbeiters (HV A) Werner Stiller (geb. 1947) im Jahr 1979 ist aus Sicherheitsgründen eine Reisesperre über Frauendorf verhängt worden, die aber nach wenigen Wochen bereits wieder aufgehoben wurde. Ab Anfang 1980 ist er als IM von der BV Dresden, Abt. XVIII geführt worden. Bei seinen längeren dienstlichen Aufenthalten in Kopenhagen geriet er ins Visier des BND. Dem BND war von Stiller bekannt gegeben worden, dass Frauendorf mit dem MfS zusammenarbeite. Unter Druck gesetzt, arbeitete er nunmehr auch mit dem BND zusammen und soll den Decknamen »Siggi Townsman« gehabt haben. 1984 eröffnete das MfS gegen ihn den OV »Hydra« wegen Verdachts der Spionage, zugleich arbeitete das MfS mit Frauendorf nur noch zum Schein inoffiziell zusammen. Im November 1984 erfolgte die Verhaftung, er bekannte sich schuldig, dem BND Details über seine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS verraten zu haben. Am 19.9.1985 ist er vom MOG Berlin zu 11 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Neben zahlreichen dezentralen Überlieferungen sind vom MfS erhalten geblieben: BStU, MfS, BV Dresden, AIM 3187/84; BStU, MfS, BV Dresden, AOP 3682/86; BStU, MfS, GH 26/86; BStU, MfS, Abt. X, AP 8678/86; BStU, MfS, 2068/85. Die Vernehmungen im Ermittlungsverfahren sind auch als Tondokumente überliefert: BStU, MfS, HA IX/Tb 1995–2027; auch der Strafprozess ist mitgeschnitten worden: BStU, MfS, HA IX/Tb 682. Kurz auf den Vorgang geht ein: Thomas Wegener Friis: East German espionage in Denmark, in: ders., Kristie Macrakis, Helmut Müller-Enbergs (Hg.): East German Foreign Intelligence. Myth, reality and controversy. London, New York 2010, S. 155. Die Verhaftung und Verurteilung Frauendorfs erregte 1984/1985 erhebliche internationale Aufmerksamkeit: BStU, MfS, ZAIG 15302. 15 Diese Zeugenvernehmung führte die HA IX/1 des MfS, zuständig für EV bei Spionageverdacht, durch: MfS, HA IX, Beweiskonzeption zum Nachweis geheimdienstlicher Zusammenhänge im Strafverfahren gegen Hirsch und 4 andere, 2.2.1988. BStU, MfS, AOP 15667/89, Bd. 1, Bl. 32. 16 Motto der unabhängigen und kirchlichen Friedensbewegung in der DDR seit November 1980. Wegen des Tragens des Symbols sind Tausende, v. a. Jugendliche, belangt worden.
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DDR große Bedeutung beigemessen hat. … dass ich bei jedem persönlichen Zusammentreffen mit dem Mitarbeiter des BND mit Aufträgen zur Erforschung der inneren Lage in der DDR betraut wurde, werte ich als Indiz für das große Interesse meiner Auftraggeber an diesen Problemen. Aus Inhalt und Art der Fragestellungen konnte ich entnehme, dass aus dem gesamten Themenkomplex diejenigen Informationen für den BND von besonderer Bedeutung waren, die Hinweise auf gegen die Regierungspolitik gerichteten Aktivitäten, oppositionelle Regungen und Protesterscheinungen enthielten. Ich konnte des Weiteren feststellen, dass sich der BND auf solche Angaben konzentrierte, die für die DDR mit Problemen und Schwierigkeiten behaftet waren …« 5.3. Der BND-Spion Kalix, Christian 17 sagte in seinem Ermittlungsverfahren am 23.7.1977 18 u. a. aus: »… dass ich den generellen Auftrag des BND hatte, ständig das Stimmungsbarometer der DDR-Bevölkerung zu erkunden …«; »Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Bevölkerung, … wie die Einstellung der Bevölkerung zur Politik des Staates ist … welche Bürger ausreisewillig (illegal oder legal) sind … innerhalb dieser allgemeinen Auftragslage, die ständig galt, musste ich einzelne bestimmte Aufgaben lösen. Dabei handelte es sich insbesondere über [sic!] die Stimmung und Meinung der DDR-Bevölkerung bei politischen Ereignissen …« Bei einer Vernehmung am 8.9.1977 sagte er aus: »… In erster Linie habe ich Militärspionage … betrieben. In zweiter Linie hatte ich die innere Lage in der DDR aufzuklären, von deren Ergebnissen ich annehme, dass sie zu Propagandazwecken genutzt werden. Insbesondere ging es dabei um folgende Probleme: – Stimmung der Bevölkerung in der DDR, – Versorgungslage und sonstige Veränderungen, – Auffassung der DDR-Bürger zu besonderen politischen Ereignissen,
17 Christian Kalix (geb. 1953), ein Bundesbürger, der des Öfteren seine Verwandtschaft in der DDR besuchte. Seit 1970 unterhielt der BND Kontakte zu ihm. In den Bezirken Potsdam und Magdeburg soll er Militärspionage betrieben haben. Er spielte dem BND auch DDR-Quellen als Mitarbeiter zu, die tatsächlich aber, was er nicht wusste, in Diensten des MfS standen. Im Juni 1977 ist er festgenommen und im November 1977 zu 11 Jahren Haft verurteilt worden. Seit September 1977 arbeitete er noch in der Untersuchungshaft als ZI mit dem MfS inoffiziell zusammen, diese Tätigkeit setzte er auch nach seiner Verlegung in den Strafvollzug fort. Seit 1979 war er als IM »Zukunft«, später auch unter dem Decknamen »Heinrich Zukunft« aktiv. Im März 1981 wurde er in die Bundesrepublik entlassen, anschließend fanden noch weitere Gespräche und Treffs mit dem MfS statt, auch in Ost-Berlin. 1983 beendeten das MfS und wohl auch der BND die inoffizielle Zusammenarbeit mit ihm. Die in dem Gutachten verwendeten Zitate sind dem Untersuchungsvorgang zu entnehmen: BStU, MfS, AU 8986/79; siehe auch BStU, MfS, BV Potsdam, AIM 117/86. Der Prozess gegen ihn und zwei weitere Angeklagte ist als Tondokument überliefert: BStU, MfS, HA IX/Tb 1771–1775. 18 Muss heißen: 23.6.1977 (BStU, MfS, AU 8986/79, Bd. 7, Bl. 121).
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– Erkundung von negativen Kräften in der DDR, die mit ihrem Staat unzufrieden sind …« 5.4. Der DDR-Bürger Professor Klaus Hennig, 19 Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, wurde bei einem Aufenthalt in der BRD von Angehörigen des BND einer Befragung unterzogen. Über den Gesprächsinhalt berichtete er in einer Niederschrift: »… Interesse bestand darin, inwieweit Unruhen in der DDR unter der Bevölkerung erzeugt werden können: gibt es da Widersprüche, Möglichkeiten der Beeinflussung solcher Prozesse von westlicher Seite …, … die Befrager waren der Meinung, die westlichen Medien müssen Gorbatschows politische Ziele breit propagieren, um in der DDR Unruhe unter der Bevölkerung zu schaffen, ihr Ziel ist die Konstruierung von Widersprüchen zwischen der Politik Gorbatschows und Erich Honeckers …« 5.5. Der BND-Agent Bayer, René, 20 ehemals als Journalist in der DDR akkreditiert, hat den DDR-Bürger Höhn, Kurt 21 in zahlreichen Gesprächen zu inneren Angelegenheiten der DDR ausgehorcht, u. a. sagte Höhn am 29.1.1982 und 30.1.1982 dazu aus: »… dass sich Bayer bei einem Zusammentreffen mit mir stets für die jeweils aktuellen innen- und außenpolitischen Probleme interessierte … Fragen zur Stimmung in der DDR zu bestimmten Ereignissen, z. B. VR Polen, ČSSR 1968, Fragen zur Versorgungslage …, ist die Meinung im Politbüro einheitlich oder gibt es Meinungsverschiedenheiten, 19 Klaus Hennig (geb. 1934) studierte von 1956 bis 1962 Angewandte Mechanik an der TU Dresden, anschließend arbeitete er am Zentralinstitut für Mathematik und Mechanik der Akademie der Wissenschaften, seit 1974 als Abteilungsleiter. 1976 wurde er stellvertretender und 1981 Direktor des nunmehrigen Instituts für Mechanik. Im Februar 1987 nutzte er eine Dienstreise, um in der Bundesrepublik zu bleiben. Er wurde dort intensiven Befragungen vom BND unterzogen und gab nach eigenen Angaben auch großzügig Antwort. Am 6.3.1987 kehrte er über Wien und vom MfS organisiert in die DDR zurück. Er berichtete dem MfS ausführlich über seine BND-Kontakte. Hennig hatte schon vor dieser Reise konspirativ mit dem MfS und dem sowjetischen Geheimdienst zusammengearbeitet, war außerdem mit militärischen Geheimforschungen befasst und wies intensive Kontakte zum Bereich Kommerzielle Koordinierung (Koko) auf. Die kurzzeitige Flucht hatte für ihn keinerlei Folgen. Er blieb in Amt und Würden, erhielt keine Parteistrafe, kooperierte weiter mit dem MfS und dem MfNV, erhielt Unterstützung vom Bereich Koko und durfte später auch wieder ins westliche Ausland fahren (BStU, MfS, AIM 11863/84; BStU, MfS, AOPK 7670/91). 20 Im Original: »Beyer«. René Bayer (geb. 1904) war ein Journalist, der bereits für die Gestapo arbeitete, nach 1946 dann auch für die Organisation Gehlen bzw. den BND. Seit 1954 war er Korrespondent in West-Berlin für verschiedene Zeitungen. Er versorgte den BND mit Informationen aus DDR-Regierungskreisen und der Ost-CDU, wo er Bekannte hatte. 1969 wies das MfS ihm erstmals direkte Verbindungen zum BND nach. Ab diesem Zeitpunkt stand Bayer unter der direkten Beobachtung des MfS. Am 28.1.1982 wurde er in Ost-Berlin im Parteibüro der Ost-CDU festgenommen. Am folgenden Tag wurde er freigelassen und abgeschoben. 21 Kurt Höhn (1907–1991), Journalist, 1933 NSDAP, seit 1948 Ost-CDU, von 1952–1982 Mitarbeiter bzw. Mitglied im Hauptvorstand der CDU, ab 1966 Mitglied des Präsidiums. 1982 Ruhestand.
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z. B. bei Parteitagen, wer ist im Politbüro für harten bzw. milden Kurs und welche Auswirkungen hat das im Handel und anderen Bereichen …, wie stehen die Arbeiter in den Betrieben zur Frage der Planerfüllung …, Fragen zu kirchlichen Problemen, zum Verhältnis Staat-Kirche, zum Problem des ›sozialen Friedensdienstes‹, wie hält die DDR die Beschlüsse (von Helsinki, Belgrad und Madrid) 22 ein, insbesondere, wie reagiert die Bevölkerung auf Probleme der Antragstellung für Ausreisen …« 5.6. Am 1.2.1988 23 sagte der DDR-Bürger Mann, Dietmar 24 in seinem Ermittlungsverfahren aus, dass er während eines Aufenthaltes in der BRD vom BND im September/Oktober 1986 ausführlich zu sogenannten unabhängigen Friedensbewegungen in der DDR befragt wurde, 25 und zwar u. a.: » … Welche Kenntnisse haben Sie über die Friedensbewegung ›Schwerter zu Pflugscharen‹ unter der Jugend der DDR? An welchen Orten ist diese Friedensbewegung besonders öffentlichkeitswirksam aufgetreten? Wie schätzen Sie die Wirkung dieser Friedensbewegung ein? Worin sehen Sie die Ursachen für eine solche Friedensbewegung? Inwiefern ist diese Friedensbewegung kirchlich getragen bzw. wird von der Kirche unterstützt? Welchen Einfluss hat die Kirche unter der DDR-Jugend? Welche Methoden hat die Kirche entwickelt, um Jugendliche an sich zu binden? Ist die Arbeit der Kirche gegen den Staat gerichtet? Warum hat die Kirche einen so großen Zugang? Welche Formen der kirchlichen Jugendarbeit gibt es? Ist der Jenaer Friedenskreis ein Begriff? …« 22 Gemeint sind die KSZE-Konferenz und die beiden Nachfolgekonferenzen: Helsinki (1972– 1975), Belgrad (1977–1979), Madrid (1980–1983). 23 Diese Zeugenvernehmung führte die HA IX/1 des MfS, zuständig für EV bei Spionageverdacht, durch: MfS, HA IX, Beweiskonzeption zum Nachweis geheimdienstlicher Zusammenhänge im Strafverfahren gegen Hirsch und 4 andere, 2.2.1988. BStU, MfS, AOP 15667/89, Bd. 1, Bl. 32. 24 Dietmar Mann (geb. 1948) diente seit 1968 in der NVA. Er war seit März 1983 Bataillonskommandeur an der innerdeutschen Grenze, zuletzt im Dienstgrad eines Oberstleutnants. Seit 1974 war er als IMS »Herbert Richter« auch für das MfS tätig. Wegen privater Probleme flüchtete er am 31.8.1986 unter Androhung des Gebrauchs seiner Dienstpistole gegenüber seinem Kraftfahrer in die Bundesrepublik, verpflichtete sich dort zur Zusammenarbeit mit dem BND, offenbarte seine MfSTätigkeit gegenüber dem BND und hielt bei der Bundeswehr, vor Verfassungsschützern u. ä. Vorträge über das DDR-Grenzregime. Sein Fall ist in den bundesdeutschen Medien ausführlich und behandelt worden. Sowohl seine frühere Frau wie seine Freundin kooperierten derweilen mit dem MfS, um ihn in die DDR zurückzuholen. Am 11.4.1987 kam er mit einem Auto spontan in die DDR zurück, worüber sogar das »ND« auf S. 1 am 15.4.1987 knapp berichtete. Er wurde zunächst in einem konspirativen Objekt des MfS untergebracht und ausführlich befragt, das gegen ihn eröffnete Ermittlungsverfahren im Juni 1987 eingestellt. Das MfS überwachte ihn fortan intensiv weiter, u. a. war seine Wohnung verwanzt. Deshalb erfuhr die Geheimpolizei, dass er erneut erwog, in die Bundesrepublik zu flüchten. Im August 1987 ist er verhaftet und im September 1988 zu 4 Jahren Haft verurteilt worden, die sofort ausgesetzt und in eine 5-jährige Bewährungszeit umgewandelt wurden: BStU, MfS, AOP 3512/91; BStU, MfS, AOP 7278/91; BStU, MfS, HA II/Vi 18 (Videoaufzeichnung der Vernehmung nach der Rückkehr). 25 Das spielte in seinen Vernehmungen tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle.
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5.7. Über die gegen die DDR gerichtete Arbeit des BfV hat der Zeuge Tiedge, Hansjoachim, 26 ehemals leitender Mitarbeiter in der Abteilung IV (Spionagebekämpfung) des BfV, am 2.2.1988 27 folgende Aussagen gemacht: » … Das Referat III B 4 – ›Kontrolle und Bearbeitung der Westarbeit der SED‹ wurde von seinem Leiter, Regierungsdirektor [Ullrich] Hoch als Aufklärungsdienst des BfV betrachtet …« » … Hauptziel der Befragungen ist für jeden Nachrichtendienst die Gewinnung geeigneter Personen zur Zusammenarbeit, die Erzielung dafür verwendbarer Informationen und die Nutzung geeigneter Rückverbindungen in die DDR …« » … bei Personen, deren Zuwanderung in die BRD medienwirksam wurde, dass sich zunächst der BND intensiv mit ihnen beschäftigte …« » … Oppositionelle Gruppen in einem anderen Staat stellten für jeden Nachrichtendienst eine ›Morgengabe‹ dar. Auch der BND und das BfV hatten deshalb immer starkes Interesse an oppositionellen Kräften aus der DDR …« 5.8. Der BfV-Spion XXX sagte bei einer Vernehmung am 28.12.1983 über die ihm erteilten Aufträge zur Aufklärung der inneren Lage der DDR aus, dass er u. a. Auskunft geben sollte über – die Rolle der Kirche in der DDR, – die Rolle des Pfarrers [Rainer] Eppelmann, – negative Vorfälle auf dem Alexanderplatz in Berlin anlässlich von Veranstaltungen, – Rolle der kirchlich gebundenen Bürger in der Friedensbewegung, – Probleme des Dialogs Staat – Kirche, – die Stimmung der Bevölkerung zu aktuellen Ereignissen der Außen- und Innenpolitik, – die Versorgungslage in der DDR, besonders Schwierigkeiten und Mängel, – Fragen der Kulturpolitik, – die Wirkung des BRD-Fernsehens und -Rundfunks auf die Diskussionen in der Bevölkerung,
26 Hansjoachim Tiedge (1937–2011) war 1966–1985 Mitarbeiter des BfV in Köln, dort zuständig für die Abwehr der DDR-Spionage. Er lief dann in die DDR über und sagte umfassend über die bundesdeutschen Geheimdienststrukturen aus. Er lebte in der DDR unter dem Namen Helmut Fischer und promovierte 1988 an der Humboldt-Universität zu Berlin über die Abwehrarbeit des Verfassungsschutzes. In Folge seiner wegen privater Probleme erfolgten Flucht kam es in der DDR zu mehreren Verhaftungen und Verurteilungen von BfV-Agenten, zugleich sind aus der Bundesrepublik zahlreiche MfS-Agenten abgezogen worden, darunter auffällig viele Sekretärinnen. Siehe auch den allerdings eher nicht verlässlichen Lebensbericht: Hansjoachim Tiedge: Der Überläufer. Eine Lebensbeichte. Berlin 1998. 27 Diese Zeugenvernehmung führte die HA IX/1 des MfS, zuständig für EV bei Spionageverdacht, durch: MfS, HA IX, Beweiskonzeption zum Nachweis geheimdienstlicher Zusammenhänge im Strafverfahren gegen Hirsch und 4 andere, 2.2.1988. BStU, MfS, AOP 15667/89, Bd. 1, Bl. 32.
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– die Haltung der Bevölkerung zur Regierungspolitik, vor allem Anzeichen von Unzufriedenheit und – Fragen der »Republikfluchten«. 6. Aus den überwachten Telefongesprächen der Beschuldigten Hirsch, Ralf; Templin, Wolfgang; Templin, Regina; Bohley, Bärbel, die sämtlich mit dem in Berlin (West) lebenden Roland Jahn geführt wurden, geht eindeutig hervor, dass diese Personen dem Jahn Informationen über Personen, Aktionen, Vorkommnisse und Verhältnisse in der DDR übermittelt haben. Dieser Nachrichtenübermittlung waren wiederholt entsprechende Aufforderungen des Jahn vorausgegangen. Im Einzelnen: 6.1. Weihnachten 1987 informierte Hirsch den Jahn über Einzelheiten einer illegalen Demonstration am 23. Dezember 1987 vor der rumänischen Botschaft in Berlin und die Reaktionen der Sicherheitskräfte darauf. 28 Anfang Januar 1988 berichtete Hirsch dem Jahn, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gruppierungen um die »Umweltbibliothek« und um das sogenannte Informationsblatt »Grenzfall« (beide bekannt durch die Vorfälle um die Zionskirche) bestehen und gab Hinweise, wie die von Jahn eingesetzten Finanzkuriere »für die beiden Zeitschriften« sich verhalten sollen, um nicht aufzufallen. Am 17.1.1988 teilte Hirsch dem Jahn in zahlreichen Telefonaten detaillierte Einzelheiten über Vorfälle am Frankfurter Tor bei der LuxemburgLiebknecht-Demonstration mit, darunter die Namen von Festgenommenen/Zugeführten. Am gleichen Tag (17.1.1988) übermittelte Hirsch dem Jahn den Text eines »Offenen Briefes an Erich Honecker«, dessen Veröffentlichung in den westlichen Medien durch Jahn veranlasst und auf Wunsch des Hirsch mit »Mitglieder der Initiative Frieden und Menschenrechte« unterzeichnet werden sollte. 29 28 Siehe Dok. 49. 29 Ein Beispiel dafür, dass die Gutachter nicht präzise arbeiteten. Die IFM gab erst am 19.1.1988 abends eine erste Erklärung heraus, das Telefonat, auf das sich hier bezogen wurde, kann also unmöglich am 17.1.1988 geführt worden sein. Vgl. statt dessen im vorliegenden Band Dok. 60. Die IFM-Erklärung vom 19.1.1988 hatte folgenden Wortlaut: »Für die Friedensbewegung hat sich im Verlauf der letzten Jahre immer deutlicher die Notwendigkeit gezeigt, die Problematik von Menschenrechtsverletzungen und Rechtsbeugung zu bearbeiten. Aufgrund dieser Entwicklung entstand u. a. Anfang 1986 die »Initiative Frieden und Menschenrechte«. Im Herbst 1987 entstand eine eigenständige Gruppe ›Staatsbürgerschaftsrecht‹, die sich insbesondere mit den vielfältigen Problemen (z. B. Rechtsunsicherheit, soziale und politische Ausgrenzung) von Menschen, die die DDR verlassen wollen, beschäftigt. Entgegen anderslautenden Darstellungen ist diese Gruppe keine Arbeitsgruppe der »Initiative Frieden und Menschenrechte«. Mitglieder dieser Gruppe beteiligten sich gemeinsam mit Mitgliedern anderer Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen an der Demonstration anläss-
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Am 19.1.1988 wurde Hirsch durch Jahn unterrichtet, wie die Informationen des Hirsch in den westlichen Medien vermarktet worden sind. Hirsch erklärte ausdrücklich sein Einverständnis mit der Veröffentlichung. Am 19.1.1988 verlangte Jahn von Hirsch zur Veröffentlichung geeignete publizistisch wirksame Darstellungen im Zusammenhang mit der propagandistischen Vermarktung der Provokation am Rande der LuxemburgLiebknecht-Demonstration am 17.1.1988. Er forderte Hirsch auf dafür zu sorgen, dass sich Freya Klier für Westjournalisten zur Verfügung hält, damit die Kampagne der Westmedien gegen die Inhaftierung von Krawczyk inhaltlich zweckmäßig ausgerichtet wird. 6.2. Aus den Telefonaten des Templin, Wolfgang mit dem Jahn, Roland, Berlin (West), geht hervor: Am 16.1.1988 ließ sich Jahn in zwei Telefonaten detailliert über die Vorbereitung der Demonstration am 17.1.1988 und die Gegenmaßnahmen der Sicherheitsorgane berichten und bekundete sein Interesse, aktuell über den Verlauf unterrichtet zu werden. Am 17., 18. und 19. Januar 1988 erkundigte sich Jahn bei den Beschuldigten Templin (auch bei den Beschuldigten Hirsch und Bohley) nach dem Verlauf der Provokation und den Maßnahmen der Sicherheitskräfte und den Namen der Festgenommenen/Zugeführten. Gegenüber Templin erteilte Jahn Anfang Januar und am 18.1.1988 konkrete Anweisungen zu Veränderungen an von Templin verfassten Manuskripten. Jahn erkundigte sich am 16.1.1988 detailliert über die Reaktionen der DDRBevölkerung zu der Reduzierung der Umtauschsätze für DDR-Bürger bei Reisen in die ČSSR. 30 Templin übermittelte Informationen über einen angeblich existierenden »Hauptstadt-Arrest«, d. h. die polizeiliche Auflage, die Stadt oder den Stadtteil nicht zu verlassen. Noch am 16.1.1988 übermittelte Templin Informationen, wie er einem angeblichen Versuch seiner Festnahme durch die Sicherheitsorgane entkommen lich des Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 17.1.1988, ohne dabei, wie teilweise berichtet wurde, die Ausreiseproblematik zu plakatieren. Wir halten die Bearbeitung der Probleme derer, die ihr Grundrecht auf Verlassen des Landes in Anspruch nehmen wollen, für wichtig. Sie stellen jedoch keinen Schwerpunkt unserer Arbeit dar, weil wir uns für Veränderungen innerhalb der DDR-Gesellschaft engagieren, die auch dahin führen sollen, dass zunehmend weniger Menschen aus politischen Gründen Ausreiseanträge stellen.« Abgedruckt in: Umweltblätter vom 20.1.1988, S. 9–10; und Peter Grimm, Reinhard Weißhuhn, Gerd Poppe (Hg.): Fußnote 3. Berlin Juli 1988 (Samisdat), Dok. Nr. II/1. 30 Der Geldumtausch für Reisen nach Ungarn, Rumänien und Bulgarien war auf einen jährlichen, niedrigen Satz beschränkt. Als ab 1988 auch die Umtauschsätze in die ČSSR auf niedrigem Niveau auf ein jährliches Kontingent (438 Mark = 1320 Kčs) eingeschränkt und zudem der jährliche Satz für Ungarn abgesenkt (377 Mark = 2300 Forint) wurden, kam es zu erregten Debatten.
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konnte und wie Leipziger Teilnehmer an der Provokation der LuxemburgLiebknecht-Demonstration am 17.1.1988 von den Sicherheitskräften behandelt worden sind. Noch am 16.1.1988 berichtete Templin dem Jahn detailliert über die Maßnahmen der Staatsorgane zur Verhinderung der geplanten Provokation bei der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration. Im vorgenannten Zusammenhang gab Templin den Text eines an staatliche Stellen übergebenen Schreibens einer Gruppe bekannt, die sich »Initiativkreis der Gruppe Staatsbürgerschaftsrecht« nennt. 31 Als in der westlichen Zeitung ein »Kommentar von Templin« abgedruckt worden war, der die Vorfälle vom 17.1.1988 betraf, erklärte sich Templin in einem Telefonat mit Jahn am 18.1.1988 bereit, den Schluss des Artikels nach den Wünschen von Jahn zu ändern und ihn einem Kurier zu übergeben. 32 6.3. Die Telefonate der Templin, Regina mit Jahn ergaben, dass sie am 22. oder 23.12.1987 über ein Treffen von Vertretern einer sogenannten »Initiative« 33 mit Vertretern der evangelischen Kirchenleitung berichtete und Namen von Teilnehmern nannte und sie charakterisierte. Weiter kündigte sie eine Veranstaltung von kirchlicher Seite, dem »Ausschuss für Frieden und Gerech31 In dieser Erklärung betonte die AG Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR, dass es sich nicht um eine Gruppenaktion handele, jeder selbst über seine Teilnahme entscheide und die AG sich von eventuellen Provokationen distanziere. Eine solche Erklärung schien notwendig geworden, da mehr als 100 Bürger und Bürgerinnen unter Strafandrohung belehrt worden waren, nicht zur der LuxemburgLiebknecht-Demonstration zu gehen. 32 Der Absatz ist etwas missverständlich. Tatsächlich handelte sich um einen Rundfunkkommentar für »Radio Glasnost – außer Kontrolle« am 25.1.1988. Von Wolfgang Templin, der zum Zeitpunkt der Ausstrahlung bereits in Untersuchungshaft saß, ist folgender Kommentar zu den Ereignissen ausgestrahlt worden: »Am 10.12.1987 wurden die neuen Käfige in Rummelsburg eingeweiht. 7 Freunde der Initiative Frieden und Menschenrechte saßen dort Probe. Am letzten Sonntag waren es schon 100 aus verschiedenen Gruppen, die dort hingebracht wurden. Sie hatten die Einladung zur Gedenkdemonstration für Luxemburg und Liebknecht ernst genommen, zu ernst für die hiesigen Vorstellungen von Demokratie und Sozialismus. R. Luxemburgs Worte wurden zum Straftatbestand. Solange die Anmaßung unserer Mächtigen fortbesteht, nicht für sich selbst und ihre eigenen Interessen, sondern für uns alle zu sprechen, und das dann auch noch Sozialismus zu nennen, wird Luxemburgs und Liebknechts Erbe eine Provokation bleiben. Solidarität und der Mut zu einem eigenen selbstbestimmten Leben prägen viele Ereignisse und Aktionen der letzten Zeit, nicht nur in der Friedensbewegung. Vorladungen, Verhöre und Verhaftungen bewirken immer öfter das Gegenteil des Erhofften. Angst und Gleichgültigkeit werden durch ein Übermaß an Druck eher in ihr Gegenteil verkehrt. Freunde, Nachbarn und selbst Unbeteiligte werden mit Situationen konfrontiert, die zum Handeln herausfordern. Erfahrungen und das Bewusstsein der eigenen Kraft sind im letzten Jahr gewachsen. Die Regierenden in unserem Land werden immer öfter beim Wort genommen. Wolfgang Templin, Ost-Berlin.« (MfS, ZAIG, Überblick über die inhaltliche Gestaltung der 6. Sendung von »Radio Glasnost – außer Kontrolle« am 25. Januar 1988, 26.1.1988. BStU, MfS, ZAIG 22320, Bl. 327–328). 33 Gemeint war die IFM. Das Gespräch ist dokumentiert in: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2, Bl. 22–51.
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tigkeit der Bundessynode«, am 16.1.1988, an, zu der sich auch die vorgenannte »Initiative« angemeldet habe. 34 6.4. Die Telefonate der Bohley, Bärbel mit Jahn ergaben: Dass sie am 17.1.1988 den Jahn in mehreren Telefongesprächen über den Verlauf der Provokationen im Zusammenhang mit der LuxemburgLiebknecht-Demonstration und den Maßnahmen der Sicherheitsorgane unterrichtete. Sie nannte die Namen der Festgenommenen/Zugeführten und was die wieder Freigelassenen für Aussagen gemacht hatten. Dass sie am 19.1.1988 von Jahn den Auftrag erhielt, zu überprüfen, ob in einer genannten Adresse drei Personen wegen Hungerstreiks polizeilich zugeführt wurden und dass sie sich dazu bereit erklärte. 35 Im gleichen Gespräch forderte sie [Roland] Jahn auf, sich für die Inhaftierten einzusetzen, wobei gemeint war, publizistische Mittel einzusetzen. 7. Die Telefonüberwachung ergab, dass der Jahn, Roland, Berlin (West), in beachtlichem Maße Informationen aus der DDR zu beschaffen bemüht war, dass diese Informationen zur publizistischen Arbeit gegen die DDR und ihre 34 Es geht um die von Hans-Jürgen Fischbeck, Ludwig Mehlhorn, Stephan Bickhardt u. a. betriebene »Initiative für Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung«. Der Physiker Fischbeck, Synodaler der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, brachte den Antrag im April 1987 auf der Synode ein und begründete ihn mit der Einschätzung, Isolation, wie sie in der DDR herrsche, mache krank, jeden Einzelnen und die Gesellschaft. Isolation bedeute Stillstand, Unwissenheit, Verarmung, führe in den Tod. Der Erfurter Probst Heino Falcke (geb. 1929) machte sich den Antrag als Bundessynodaler zu eigen und brachte ihn auf der Görlitzer Bundessynode im September 1987 ein. In beiden Synoden bekam er keine Mehrheit, erregte aber erhebliches Aufsehen. Außerdem ist in Görlitz beschlossen worden, eine Aussprache des Präsidiums der Synode mit allen zu führen, die diesen Antrag schriftlich unterstützen. Zu dieser Aussprache kam es am 16.1.1988 in Oranienburg. Daran nahmen etwa 200 Personen teil. Es sind mehrere vorbereite Plenarreferate gehalten worden, darunter von Ludwig Mehlhorn und Heino Falcke, die für den Antrag sprachen, und von Heinrich Fink, der gegen den Antrag Stellung bezog (er war IM des MfS: BStU, MfS, AIM 26211/91). Außerdem tagten mehrere Arbeitsgruppen, in denen es zu kontroversen Debatten kam (MfS, ZAIG, Information Nr. 53/88 über das Seminar »Abgrenzung und Öffnung« des BEK in der DDR am 16. Januar 1988 in Oranienburg, 3.2.1988, in: Die DDR im Blick der Stasi 1988. Die geheimen Berichte an die SEDFührung, bearb. von Frank Joestel. Göttingen 2010, enthalten auf der beigelegten CD-ROM). Vgl. auch Anke Silomon: Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR in Görlitz vom 18. bis 22. September 1987. Göttingen 1997. 35 Am 19.1.1988 hingen 4 junge Männer im Alter von 24 und 25 Jahren an der linken Flügeleingangstür des Wohnhauses Metzer Str. 23 im Prenzlauer Berg ein Plakat mit folgender Aufschrift auf: »Hungerstreik als Forderung für die Freilassung der Inhaftierten vom 17.1.88 und Einstellung der Ermittlungsverfahren!« (VPI Prenzlauer Berg, Kriminalpolizei, Ltn. Kauschke, Protokoll, 19.1.1988. BStU, MfS, BV Berlin, AKK 3961/88, Bd. 2, Bl. 17). Ein ZDF-Kamerateam konnte noch Aufnahmen machen – einer der Initiatoren hatte dieses zuvor informiert –, dann wurde das Plakat von der Polizei entfernt und die 4 jungen Männer wurden festgenommen (MfS, HA XX, Tagesbericht zur Aktion »Störenfried«, 20.1.1988. BStU, MfS, HA XX/AKG 6800, Bl. 18–19).
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Interessen verwendet werden, denn er gab an, Sendungen für »Radio Glasnost«, eine monatlich ausgestrahlte Sendung des Westberliner Senders 100,6 36, vorzubereiten und auf die Moderation Einfluss zu nehmen, dass er über Sendungen öffentlicher Medien im Voraus informiert war und zu deren Tonaufzeichnung und Verbreitung aufforderte, und dass er Geld sammelte und es »nützlichen« Kreisen, so u. a. den Gruppierungen um die »Umweltbibliothek« und um das sogenannte Informationsblatt »Grenzfall« per Kurier zukommen ließ. Diese Tätigkeiten des Jahn, Roland sind unverkennbar subversiver Art und erfüllen damit das von dem ehemaligen BND-Generalmajor Dethleffsen postulierte Ziel: »Im Bereich subversiver Tätigkeit: Einmischung in gesellschaftspolitische Vorgänge anderer Länder, psychologische Kampfführung …« (siehe Ziff. 4.) Bezüglich des Jahn sagte der Zeuge Tiedge aus, dass »… 1983 … der Mitarbeiter (des Referates III B 4 des BfV) XXX Kontakt zu dem aus der DDR abgeschobenen Roland Jahn aufgenommen hat …« Die von Jahn in der Folgezeit an seine Kontaktpartner in der DDR erteilten Aufträge, die von diesen Personen auftragsgemäß gesammelten und an ihn übergebenen Nachrichten, deren Verwendung zur Forcierung subversiver Aktivitäten unter Einbeziehung der Massenmedien sowie das Vorgehen des Jahn beim Zusammenwirken mit seinen Verbindungsleuten in der DDR, zeigen typische Merkmale geheimdienstlicher Arbeit, die gegen die DDR gerichtet ist. 8. Zu den gestellten Fragen ist gutachterlich zu erklären: Zur 1. Frage: Die Geheimdienste der Bundesrepublik Deutschland – Bundesnachrichtendienst und Bundesamt für Verfassungsschutz – sind schon allein aufgrund des in der Verfassung der BRD verankerten Alleinvertretungsanspruches und des darauf basierenden Zieles der sogenannten Wiedervereinigung Deutschlands, aber auch aus allgemein nachrichtendienstlichen Gründen zwingend daran interessiert, umfassende Informationen über die innere Lage der DDR zu erlangen. Diese Informationen sind von wesentlicher Bedeutung für die kontinuierliche Unterrichtung der Bundesregierung der BRD zwecks Festlegung und Gestaltung ihrer Politik gegenüber der DDR. Zugleich bilden diese Nachrichten die Grundlage für jegliche Formen der subversiven Tätigkeit gegenüber [der] DDR. In diesem Zusammenhang ist auf die Verwertung solcher Informationen durch die Massenmedien der BRD besonders zu verweisen.
36 Hier übernahmen die Gutachter die auch schon vom MfS falsch vorgenommene Zuordnung: »Radio Glasnost« wurde von »Radio 100« ausgestrahlt, nicht von »Hundert,6«.
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Da es auch im erklärten nachrichtendienstlichen Interesse liegt, sich im Bereich subversiver Tätigkeit in gesellschaftspolitische Vorgänge in der DDR einzumischen, haben die Geheimdienste zwangsläufig besonderes Interesse am Vorhandensein oppositioneller Kräfte, an deren Förderung und Aktivierung. Zur 2. Frage: Wie die unter Ziffer 5 und 6 zitierten Aussagen und Fakten belegen, stimmen die von dem Agenten Jahn geforderten und von den Beschuldigten Hirsch, Templin und Bohley beschafften und übergebenen Informationen mit der Interessenlage des BND und BfV, wie sie in den Auftragserteilungen an die geworbenen Agenturen zum Ausdruck kommen, im Wesentlichen überein. Es wurden auch die Interessen der BRD-Geheimdienste insofern befriedigt, als eine im Sinne ihrer Aufgabenstellung breite publizistische Verwertung der ausgelieferten Informationen in den westlichen Medien erfolgt ist. Abschließend kann festgestellt werden, dass die Geheimdienste der BRD aus der DDR unter Anwendung geheimdienstlicher Mittel und Methoden im großen Umfang Nachrichten beschaffen, die geeignet sind, die gegen die Deutsche Demokratische Republik gerichtete Tätigkeit von Organisationen, Einrichtungen, Gruppen und Personen zu unterstützen. Auch aus persönlicher Kenntnis kann der Gutachter erklären, dass diese Informationen für die bundesdeutschen Geheimdienste wertvoll waren, um die sogenannte »Nahbereichs-Lage«, die für die innere Information der Geheimdienste zur Förderung ihrer Tätigkeit und für die Informierung der Bundesregierung regelmäßig erstellt wird, aktuell als Grundlage für Entscheidungsfindungen zu gestalten. Derartige Nachrichten wurden und werden von den Geheimdiensten der BRD intensiv gesammelt und dringend gebraucht. 37
37 Neben dem Gutachter Heinz Felfe vermerkt das Dokument am Schluss: »gesehen: Prof. Dr. sc. [Hans-Ehrenfried] Stelzer, Direktor der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Stelzer (1932–2010) studierte 1951 bis 1955 an der HUB Rechtswissenschaft, arbeitete 1955–1956 als VP-Kommissar, promovierte 1957 an der HUB; am 1.1.1962 trat er im Rang eines Hauptmanns dem MfS bei; er arbeitete als OibE am Institut für Kriminalistik der HUB, nach der Gründung der Sektion Kriminalistik 1968 wurde Stelzer deren Direktor (bis 1989); zum Professor war er 1967 ernannt worden; 1977 verteidigte er eine Dissertation B; im MfS hatte er seit 1976 den Rang eines Oberst; noch vor seiner Enttarnung als OibE ist er zum 15.12.1989 vom MfS mit einem »Übergangsgeld« in Höhe von 13 000 DDR-Mark entlassen worden.
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Dokument 73 Information über Aktivitäten und Meinungsäußerungen von Lutz Rathenow im Zusammenhang mit den Ereignissen nach dem 17.1.1988 (Originaltitel) 1. März 1988 Von: MfS, HA XX/9 An: HA XX/AKG, HA XX/9, HA XX/2, HA XX/4, BV Berlin, Abt. XX Quelle: BStU, MfS, AOP 26097/91, Beifügung Bd. 2, Bl. 1–3
Inoffiziell 1 konnte erarbeitet werden, dass Rathenow, Lutz, OV »Assistent«, HA XX/9, am 28.2.1988 einen telefonischen Informations- und Meinungsaustausch zu den Ereignissen nach dem 17.1.1988 mit dem operativ bekannten ehemaligen DDR-Bürger Teichert-Rosenthal, Rüdiger, Westberlin, führte. Inoffiziellen Hinweisen zufolge interessierte sich Rathenow dabei insbesondere für folgende Fragen: – Wer hat die zwischenzeitlich in die BRD ausgereisten Personen während ihrer Haft in welcher Form beeinflusst? Welche Rolle spielten hierbei die Kirche sowie die Rechtsanwälte [Wolfgang] Schnur 2 und [Wolfgang] Vogel? – Warum wurden die genannten Personen unterschiedlich behandelt (mit und ohne DDR-Pass)? – Welche Auflagen haben die mit DDR-Pass ausgereisten Personen erhalten? – Wurde sein Name während der Vernehmungen genannt und wurde z. B. zielgerichtet nach in der DDR akkreditierten Korrespondenten und Diplomaten gefragt? – Spielte die Problematik der »Umweltbibliothek« in den Vernehmungen eine Rolle? Aus dem Inhalt des Gespräches wurde vorliegenden Informationen zufolge ersichtlich, dass Teichert-Rosenthal zwischenzeitlich mit den meisten der operativ bekannten, in die BRD bzw. Westberlin ausgereisten, Personen gesprochen hat. Er führte aus, dass er und weitere Personen gegenwärtig dabei sind, die Schilderungen der ausgereisten Personen aufzuarbeiten und auch die von Rathenow aufgeworfenen Fragen zu klären. Dabei habe er jedoch den Eindruck, dass vor allem Klier, Freya nicht offen über die Fragen rede. Klier und [Stephan] Krawczyk würden sich nach seinen Angaben nicht auf eine evtl. 1 2
Die Quelle war ein abgehörtes Telefongespräch, wie aus dem Dokument selbst deutlich wird. IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang.
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Rückkehr in die DDR einstellen. [Ralf] Hirsch habe gegenüber Rosenthal angegeben, während der Untersuchungshaft getäuscht worden zu sein und keinen DDR-Pass angeboten bekommen zu haben. Er sei gegenwärtig etwas aus der Bahn geworfen und würde sich im Westen noch nicht zurechtfinden. 3 Demgegenüber würden die mit DDR-Pass ausgereisten Bohley, Bärbel, Fischer, Werner, Templin, Wolfgang und Regina sowie Wollenberger, Vera sich voll auf eine Rückkehr in die DDR einstellen. Sie versuchen nach Meinung von Rosenthal, den Aufenthalt in der BRD bzw. im westlichen Ausland möglichst gut zu nutzen, um ihre Rückkehr vorzubereiten. Templins wollen sich z. B. in Bochum niederlassen und studieren sowie Sprachen erlernen. Wolfgang Templin will mit einem Stipendium des DGB seinen Doktor machen. Weiter informierte Rosenthal den Rathenow darüber, dass Jahn, Roland gegen die Westberliner Zeitung »Die Wahrheit« eine Unterlassungsklage wegen der Veröffentlichung von Behauptungen über nachrichtendienstliche Verbindungen von Jahn und anderen angestrebt hatte. Aufgrund dieser Klage hätte »Die Wahrheit« zwischenzeitlich ihre Behauptungen zurückgenommen. 4 Vorliegenden inoffiziellen Informationen zufolge schätzte Rathenow ein, dass die Ereignisse nach dem 17.1.1988 zeigten, dass der »Machtmechanismus« in der DDR glänzend funktioniert. Er hätte eine solche Entwicklung vorausgesagt, aber es wollte ihm niemand glauben. Rathenow wirft solchen »Aktivisten« in den verschiedenen Gruppierungen wie z. B. Wolf, Wolfgang und Wollenberger, Knud 5 vor, dass sie mit ihrem Auftreten und ihren Äußerungen an der jetzigen Entwicklung in gewisser Weise mitschuldig sind. An3 Anm. von Rüdiger Rosenthal, 24.9.2011: »Ralf Hirsch möge mir diese Bemerkung nachsehen. Dies ging fast allen aus der DDR in den Westen gekommenen Personen so, mir anfangs auch.« 4 Am 17.2.1988 erschien im »Neuen Deutschland« ein nicht gezeichneter Kommentar unter der Überschrift: »Wer steuert die sogenannte DDR-Opposition«. Darin wurde u. a. behauptet, dass Roland Jahn von westlichen Geheimdiensten geführt werde, deren Aufträge ausführe und er wiederum seine Kontaktpersonen in der DDR zu Kampagnen und Aktionen gegen die DDR inspiriere und anleite. Die Tageszeitung der SEW in West-Berlin »Die Wahrheit« übernahm die Argumentation und titelte am 18.2.1988: »Komplizen westlicher Geheimdienste. ›Neues Deutschland‹ zu Drahtziehern der ›DDR-Opposition‹«. SEW und »Wahrheit« sind von der SED in Ost-Berlin finanziert und politisch gesteuert worden. Der besagte »ND«-Artikel entstand im MfS. Roland Jahn erwirkte von der »Wahrheit« eine Unterlassungserklärung (vgl. Der Tagesspiegel vom 26.2.1988; taz vom 27.2.1988). Außerdem druckte die Zeitung am 24.2.1988 eine umfangreiche Gegendarstellung von Jahn vom 21.2.1988 ab. Darin betonte er u. a., mit keinem Geheimdienst zusammengearbeitet zu haben oder zusammenzuarbeiten, von niemandem angeleitet zu werden und auch selbst niemanden anzuleiten (vgl. Roland Jahn: Gegendarstellung, in: Die Wahrheit vom 24.2.1988). Das »Neue Deutschland« reagierte auf Jahns entsprechende Gegendarstellung nicht und druckte sie natürlich auch nicht ab. »Die Wahrheit« musste dies wegen der Geltungskraft des bundesdeutschen Pressegesetzes. Die Stasi hatte weitere Zeitungsbeiträge vorbereitet, die aber nicht veröffentlicht worden sind: BStU, MfS, HA IX 13839. 5 Beide waren als IM für das MfS tätig. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang.
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sonsten fand Rathenow insbesondere das Verhalten von einigen Kräften der »Umweltbibliothek« einfach enttäuschend. Diese Leute, wie z. B. [Wolfgang] Rüddenklau, hatten einfach Angst und versuchten, diese hinter taktischen Argumenten zu verstecken. Rathenow äußerte die Absicht, sich im Ergebnis dieser Feststellung innerlich und äußerlich in Zukunft von einigen Gruppierungen fernzuhalten. Die Information ist wegen Quellengefährdung offiziell nicht auswertbar.
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Dokument 74 Stilllegung des Fernsprechanschlusses von Wolfgang und Regina Templin, Neue Schönholzer Str. 12, 1100 Berlin, Rufnummer: 489XXX (Originaltitel) 29. Februar 1988 Von: XXX An: Leiter des Fernsprechamtes Berlin, Tucholskystr. 6, 1040 Berlin Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Beifügung Bd. 6, Bl. 155
Am 24.2.1988 wurde von Ihnen der Fernsprechanschluss der Familie Templin offensichtlich stillgelegt. Familie Templin hält sich in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Bestimmungen der Deutschen Demokratischen Republik zurzeit im Ausland auf. Für die Zeit der Abwesenheit haben mich die Ehepartner Templin bevollmächtigt, sie in allen Angelegenheiten und Rechtsvorschriften vor Behörden und Privaten zu vertreten. Am 23.2.1988 erhielt ich eine Benachrichtigung von Ihnen, es sei für Wolfgang Templin ein Brief mit Zustellungsurkunde bei Ihnen abzuholen. Trotz vorgelegter Vollmacht wurde mir von Ihnen der Brief nicht übergeben. Der Fernsprechanschluss wurde aber stillgelegt. Mir ist nicht bekannt, dass bei Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik bei zeitweisem Aufenthalt im Ausland der Fernsprechanschluss ohne Angabe von Gründen gekündigt werden kann. Frau Templin ist kirchliche Mitarbeiterin und braucht den Fernsprechanschluss auch für ihre Arbeit. Ich habe Ihnen bereits bei meinem Besuch im Fernsprechamt erklärt, dass ich bereit bin, anfallende bzw. noch ausstehende Forderungen zu begleichen. Bisher sind mir jedoch keine Rechnungen oder Mahnungen zugegangen. Ich bitte Sie, den Fernsprechanschluss der Familie Templin wieder nutzbar zu machen. Kopien dieses Briefes übersende ich an den Rechtsanwalt der Familie Templin, Lothar de Maizière, 1 und an die Arbeitsstelle von Regina Templin, das Ev[angelische] Konsistorium, Konsistorialpräsident [Manfred] Stolpe.
1 Lothar de Maizière (geb. 1940), 1956 CDU, 1959–1965 Musikstudium, 1965–1975 Musiker, 1969–1975 Jura-Fernstudium, seit 1976 Rechtsanwalt in Ost-Berlin, ab 1985 Mitglied, 1986– 1990 Vizepräses der Synode des Bunds der Ev. Kirchen, ab 1987 Mitgl. der Arbeitsgemeinschaft Kirchenfragen beim CDU-Hauptvorstand, seit 1987 stellv. Vorsitzender des Kollegiums der Berliner Rechtsanwälte; 10.11.1989 Vorsitzender der CDU, 17.11.1989–9.2.1990 stellv. Vorsitzender des Ministerrats, 12.4.–2.10.1990 DDR-Ministerpräsident; 1990 MdB. Im Dezember 1990 wurde bekannt, dass das MfS ihn als IMB »Czerny« erfasst hatte, er dementierte eine Zusammenarbeit mit dem MfS; 6.9.1991 Rücktritt als stellv. CDU-Vorsitzender und Aufgabe des Bundestagsmandats; seitdem Rechtsanwalt in Berlin.
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Dokument 75 Operative Information: Zusammenkunft der »Initiative Frieden und Menschenrechte« in der Wohnung des Poppe, Gerd [und Ulrike], HA XX/ 2 (Originaltitel) 1. März 1988 Von: MfS, BV Berlin, Abteilung XX/2, Major [Bernd] Ludewig 1 An: BV Berlin, Leiter Abt. XX, HA XX Quelle: BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 10, Bl. 1–6
Quelle: IMB »Christian« – überprüft und zuverlässig 2 Mit der Ausreise der Personen Bohley, Bärbel (BV Berlin, XX/2), Hirsch, Ralf (BV Berlin, XX/4), Templin, Wolfgang (HA XX/2), Templin, Regina (HA XX/2), Fischer, Werner (HA XX/9) bilden sich Poppe, Gerd (HA XX/2) und Poppe, Ulrike (HA XX/2) als telefonische Kontaktpartner heraus. Bekannt wurde eine Vereinbarung, der zufolge jeden Montag in den Zeiträumen von 21.00 Uhr bis 21.30 Uhr Fischer und Bohley von 21.30 Uhr bis 22.00 Uhr Templin, Wolfgang und Regina nach 22.00 Uhr Hirsch, Ralf zum Fernsprechanschluss des Poppe eine telefonische Kontaktaufnahme realisiert wird. Zu diesem Zweck finden sich Mitglieder der »Initiative Frieden und Menschenrechte« jeweils montags bei der Familie Poppe ein, um – den fernmündlichen Kontakt zu pflegen, – sich informieren zu lassen, – über weitere Aktivitäten und Handlungen mitzudiskutieren. Am 29.2.1988 hielten sich zeitlich gestaffelt in der Wohnung des Poppe die Personen Böttger, Martin BV Berlin, XX/2 Nagorski, Lutz BV Berlin, XX/2 Schönfeld, Sinico KD Prenzlauer Berg Grimm, Peter KD Köpenick Haeger, Monika HA XX/2 1 Bernd Ludewig (geb. 1950), Straßenbaufacharbeiter, 1969 Eintritt ins MfS-Wachregiment, seit 1972 Mitarbeiter der Abt. XX der BV Karl-Marx-Stadt, ab 1979 Mitarbeiter der Abt. XX der BV Berlin; 1989 stellv. Referatsleiter in der Abt. XX, 1986 Beförderung zum Major; Entlassung zum 11.2.1990. 2 Es handelt sich um Lutz Nagorski. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang.
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Dokument 75 vom 1. März 1988
Poppe, Gerd Dietrich, Reiner Havemann, Annedore Böhme, Manfred auf. 3
HA XX/2 HA XX/4 HA XX/9 HA XX/9
Gegen 21.00 Uhr meldeten sich die Bohley, Bärbel und der Fischer, Werner fernmündlich. Während der dabei geführten Unterhaltung (teilweise war die Quelle mit beiden Personen im Gespräch) und anschließender Erläuterung durch den Poppe, Gerd wurden folgende Sachverhalte bekannt: Wolfgang und Regina Templin befinden sich gegenwärtig in der Schweiz und konnten daher an diesem Abend auch nicht anrufen. 4 Templin, Wolfgang soll ein dreijähriges Studium in der Fachrichtung Philosophie angenommen haben; bei Templin, Regina ist dies für ein zweijähriges Theologiestudium zutreffend. Nach Einschätzung des Poppe, Gerd wird die Familie Templin nach Ablauf dieser Zeit nicht mehr in die DDR zurückkommen. Er meint, bis zu diesem Zeitpunkt hätten sie sich ihrer Umwelt angepasst und den Aufbau einer neuen Lebensgrundlage abgeschlossen. Fischer und Bohley, sie unternehmen in der BRD nahezu alles gemeinsam, bekundeten im persönlichen Gespräch ihre Absicht, in den nächsten sechs Monaten nicht zu arbeiten. Für sie stehe die Aufgabe, in dieser Zeit »ein Stück Solidarität für die ›Initiative‹« zu erreichen. Dieses Ziel verfolgend, haben sie vor, mit möglichst vielen Personen des öffentlichen Lebens, insbesondere in der BRD, zu sprechen und Probleme der »Initiative Frieden und Menschenrechte« nahezubringen. Es soll erreicht werden, dass die angesprochenen Personen sich 1. für eine beabsichtigte Rückkehr von Bohley und Fischer in die DDR verwenden und 2. Verständnis und ein »reales Bild« zur »Initiative Frieden und Menschenrechte« aufbringen. Bekannt wurde, dass Fischer und Bohley seit ihrer Ausreise am 5.2.1988 bereits eine Reihe solcher Gespräche geführt haben. Als Gesprächspartner wurden bekannt: – Willy Brandt – SPD – Oskar Lafontaine – SPD-Ministerpräsident Saarland – Norbert Blüm – CDU-Arbeitsminister der BRD/MdB 3 Von den 9 aufgeführten Personen arbeiteten 5 als IM für das MfS (Nagorski, Schönfeld, Haeger, Dietrich, Böhme). 4 Wolfgang Templin war allein in der Schweiz, Regina Templin hielt sich während dieser Zeit in West-Berlin auf (Mitteilung von Regina Weis (Templin) am 20.5.2012).
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Dokument 75 vom 1. März 1988
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Petra Kelly – Die Grünen/MdB Gert Bastian – Die Grünen/»Generale für Frieden und Abrüstung« 5 Lukas Beckmann – Die Grünen/Bundesvorstand Birgit Voigt – Die Grünen/MdL Baden-Württemberg Heinz Suhr – Die Grünen
Zu den Inhalten der Gespräche liegen keine Erkenntnisse vor. Weiter wurde aus persönlichen Darstellungen bekannt, dass Bohley und Fischer gegenwärtig damit befasst sind, über ihre Inhaftierung (25.1.1988) bis hin zur erfolgten Ausreise (5.2.1988) ein Gedächtnisprotokoll zu schreiben. Dieses Protokoll soll die Unrechtmäßigkeit der Anschuldigungen gegen ihre Personen darlegen und in der Schilderung einen ihnen gegenüber praktizierten »Psychoterror« aufzeigen, in dessen Ergebnis sie nur die Wahl der Ausreise gehabt hätten. Insbesondere soll dabei auch auf Verhaltensweisen des Rechtsanwaltes Wolfgang Schnur 6 eingegangen werden, der es unterlassen hat, Bohley und Fischer über stattgefundene Solidaritätsaktionen zu informieren und auch deren Fragestellung an die anderen Mitglieder der »Initiative Frieden und Menschenrechte« über weitere Verhaltensweisen nicht übermittelt hat. Der Umgang mit diesem Gedächtnisprotokoll soll auf zwei verschiedenen Ebenen erfolgen. Einerseits soll es bei den Verfassern verbleiben, die nach dem 6.8.1988 a) bei erfolgter Wiedereinreise in die DDR das Schriftstück der Öffentlichkeit, insbesondere der in der DDR, zugängig machen, b) bei einer Nichtgenehmigung der Einreise das Protokoll als politisches Druckmittel (Veröffentlichung in Westmedien androhen) gebrauchen wollen. Weiterhin ist vorgesehen, den Inhalt ausgewählten Personen innerhalb der »Initiative Frieden und Menschenrechte« bekannt zu machen und sie so in die Lage zu versetzen, sachkundig diskutieren zu können. Wichtig ist dabei jedoch, dass von diesen Personen mit dem Gedächtnisprotokoll so umgegangen wird, dass sich daraus keine Konsequenzen für eine beabsichtigte Wiedereinreise ableiten.
5 »Generale für den Frieden« war eine 1980 gebildete Vereinigung ehemaliger NATOGenerale. Die Bildung erfolgte unter maßgeblicher, verdeckter Unterstützung vom KGB und dem MfS, das die Aktivitäten der Initiative jahrelang logistisch, inhaltlich und auch finanziell unterstützte. Vgl. Jochen Staadt: Die SED und die Generale für den Frieden, in: Jürgen Maruhn, Manfred Wilke (Hg.): Raketenpoker um Europa. Das sowjetische SS 20-Abenteuer und die Friedensbewegung. München 2001, S. 270–280; Udo Baron: Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei »Die Grünen«. Münster, Hamburg 2003. 6 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang.
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Bohley und Fischer bekundeten nochmals, dass sie bereit und davon überzeugt sind, am 6.8.1988 in die DDR zurückzukommen. Ihre Verhaltensweisen wollen sie dementsprechend ausrichten. 7 Bis Mitte März wollen sie noch in der BRD verweilen (sie wohnen gegenwärtig in Bonn bei Lukas Beckmann), danach ist ein sechswöchiger Aufenthalt in Großbritannien geplant. 8 Zu Hirsch, der an diesem Abend ebenfalls nicht anrief, wurde durch Darstellungen des Poppe bekannt, dass er Probleme habe, in Westberlin zurechtzukommen. Insbesondere mache es sich bemerkbar, dass er keine abgeschlossene Ausbildung habe und somit für ihn eine berufliche Tätigkeit fast aussichtslos ist. Derzeit soll er bei Jahn, Roland, HA XX/5, »Hilfsdienste« verrichten und aus einem »Sonderfonds« finanzielle Mittel für seinen Lebensunterhalt bekommen. 9 Heinz Suhr, Lukas Beckmann und Birgit Voigt bemühen sich derzeit um eine Ausbildungsmöglichkeit für Hirsch. Von [Gerd] Poppe wurde die Einschätzung getroffen, dass die Hilflosigkeit von Hirsch einmal mehr die Tatsache unter Beweis stellt, dass das, was er in der DDR getan hat, nicht seinen eigenen Ideen entsprang. 10 Im Verlauf der Zusammenkunft informierte [Gerd] Poppe, dass er zu einem Gespräch in das Ministerium für Staatssicherheit vorgeladen worden sei. Gesprächsführer war ein Oberstleutnant Fiebel 11 gewesen. Dieser habe ihm sehr diplomatisch nahegelegt, – er solle seinen Umgang überprüfen, – er möchte künftig seine Initiativen mehr durchdenken,
7 Bärbel Bohley und Werner Fischer konnten am 3.8.1988 in die DDR zurückkehren. Vgl. auch Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011. 8 Sie fuhren am 21.4.1988 nach London (vgl. ebenda, S. 81). 9 Ab April 1988 arbeitete Ralf Hirsch im Landesamt für zentrale soziale Aufgaben. Er hat nie bei Roland Jahn gewohnt oder für diesen »Hilfsdienste« ausgeführt. Gerd Poppes Einlassungen sind von den Stasi-Autoren überzeichnet worden. 10 Bei solchen Formulierungen und Interpretationen ist einmal mehr zu beachten, dass sie die Deutung und Wahrnehmung resp. Fehldeutung und Fehlwahrnehmung des IM und des MfSOffiziers, der aus dem IM-Bericht einen weiteren Bericht erstellte, spiegeln. Im konkreten Fall ist zu betonen, dass weder Gerd Poppe noch andere Oppositionelle Ralf Hirschs organisatorische Leistungen z. B. bei der IFM-Gründung, der Herstellung und Herausgabe des »Grenzfalls« oder der Kontaktaufnahme zu akkreditierten Journalisten damals oder später auch nur ansatzweise bestritten oder auch nur heruntergespielt hätten. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass in diesen MfS-Schriftstücken deutlich werden soll, dass Hirsch (wie andere DDR-Oppositionelle) von Roland Jahn, dem »Westler« mit angeblichen Geheimdienstkontakten, »angeleitet« worden sei. Das konnte zwar letztlich das MfS nicht einmal intern auch nur ansatzweise nachweisen, aber die mit diesen Vorgängen befassten Mitarbeiter – ob nun als hauptamtliche Offiziere oder als IM – waren dieser zu beweisenden Interpretation verpflichtet. 11 Gerd Poppe hat keine Erinnerung daran, ob im Dokument der Name richtig wiedergegeben worden ist, da sich die MfS-Angehörigen nicht mit ihrem richtigen Namen vorstellten (e-mail von Gerd Poppe vom 10.10.2011). Ein MfS-Oberstleutnant Fiebel ließ sich nicht eruieren.
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– er solle mehr Vorsicht bei Verbindungsaufnahmen zu Personen aus dem kapitalistischen Ausland walten lassen. [Gerd] Poppe verstand die Gesprächsführung als eine Warnung dahingehend, auch ihm könne eine Strafverfolgung und mögliche Aussiedlung aus der DDR widerfahren. 12 Poppe hat nicht die Absicht, die ihm nahegebrachten Verhaltensrichtlinien zu beachten. Für ihn kommt es jetzt darauf an, dass die »Initiative Frieden und Menschenrechte« möglichst schnell ein Konsenspapier erarbeitet, in dem ein Selbstverständnis formuliert ist. Er selbst habe bereits fünf Punkte, die darin enthalten sein müssten, erarbeitet. 13 Für den 15.3.1988, um 20.00 Uhr ist die Zusammenkunft der »Initiative Frieden und Menschenrechte« bei Böttger, Martin vorgesehen, [Gerd] Poppe will hier seine fünf Punkte zur Diskussion anbieten. 14 Neben den montäglichen Zusammenkünften wurden als Termine bekannt der 14.3.1988, wo ein weiteres Gespräch der »Initiative Frieden und Menschenrechte« mit der Kirchenleitung stattfindet. Bekannte Teilnehmer sind Poppe, Gerd, Haeger, Monika, Böttger, Martin. 15 Die von Böttger betriebene 12 Die »Belehrung« fand am 29.2.1988 statt. Gerd Poppe hat wie andere, die in dieser Zeit – meist von der HA XX bzw., wie G. Poppe, von der HA IX – unter Androhung strafrechtlicher Konsequenzen belehrt worden sind, die Belehrung nicht schriftlich quittiert (BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 24, Bl. 35–38; BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 14, Bl. 197–200). Am selben Tag wurden auch Lutz Rathenow, Uwe Kulisch, Reinhard Schult, Uwe Kolbe, Harald Hauswald und Reinhard Weißhuhn vom MfS »belehrt« (BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 30, Bl. 156; BStU, MfS, AOP 1056/91, Bd. 8, Bl. 148–149; BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 14, Bl. 197–200 – die Angaben darüber, wer unterschrieb und wer nicht, widersprechen sich in den MfS-Dokumenten). 13 Das Papier kam am 11.3.1989 heraus. Vor allem mit Rücksichtnahme auf die geplante Rückkehr von Bohley und Fischer hielt sich die IFM zurück. Der Aufruf vom März 1989 ist u. a. abgedruckt in: Wolfgang Templin, Reinhard Weißhuhn: Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch. Opladen 1999, S. 201–203. 14 Das Treffen fand statt, mehrere vorbereitete Beiträge für das IFM-Grundsatzpapier wurden kontrovers debattiert und es wurde über das einen Tag zuvor stattgefundene Treffen mit der Leitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg berichtet: MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit dem IMB »Karin Lenz« am 16. März 1988, 16.3.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 46–48; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Martin« am 16. März 1988, 16.3.1988. Ebenda, Bl. 49– 50; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Wolf« am 16. März 1988, 16.3.1988. Ebenda, Bl. 51–53. 15 Seitens der Kirche nahmen Bischof Forck, Präses Becker, Ulrich Schröter vom Konsistorium und Pfarrer Pahnke, seitens der IFM Gerd und Ulrike Poppe, Reinhard Weißhuhn, Peter Rölle, Martin Böttger sowie die IM Mario Wetzky, Manfred »Ibrahim« Böhme, Lothar Pawliczak, Monika Haeger und Frank Hartz teil. Es ging bei diesem Gespräch um die Situation der in die Bundesrepublik abgeschobenen IFM-Mitglieder, um die Frage der Rückkehr von Bohley und Fischer sowie darum, wie die IFM künftig agiert. Laut der IM-Berichte muss die Atmosphäre gespannt gewesen sein, vor allem Gerd Poppe und Martin Böttger scheinen der Hinhalte- und Beschwichtigungstaktik der Kirche entgegengetreten zu sein: MfS, HA XX/2, Abschrift des Berichtes von IMB »Martin«, 15.3.1988. BStU, MfS, AOP 1056/91, Bd. 6, Bl. 380–382; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Wolf« am 15. März 1988, 15.3.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 39–41.
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Arbeitsgruppe »Strafrecht« tritt am 8.3.1988, um 20.00 Uhr in dessen Wohnung zusammen. Einziger Tagesordnungspunkt ist die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Während der Zusammenkunft wurde auch Radio 100,6, die Sendung »Radio Glasnost – außer Kontrolle« gehört. 16 Auf die von Mißlitz, Herbert (KD Friedrichshain) vorgetragene ausgestrahlte Stellung der »Kirche von unten« zu den Ereignissen um den 17.1.1988 eingehend, wurde sich darüber verständigt, dass die »Initiative Frieden und Menschenrechte« die darin enthaltenen Forderungen nicht mitträgt. 17 Vereinbart wurde auch, in der nächsten Zeit keine Zuarbeit für Radio 100,6 18 zu liefern. Maßnahmen 1. Der IMB »Christian« 19 wird a) die montäglichen Zusammenkünfte bei Poppe regelmäßig wahrnehmen, b) sich stärker um die Aufklärung der Arbeitsgruppe »Strafrecht« um Böttger bemühen. 2. In Abstimmung mit der HA XX/2 ist zu garantieren, dass die beim OV »Zirkel« 20 auflaufenden Informationen in die weitere Bearbeitung von »Bohle« 21 Eingang finden. 3. Der IMB »Christian« hat die Möglichkeit, auch direkt mit der Bohley zu sprechen; durch zielgerichtetere Fragestellungen soll zu ihr bestehender Informationsbedarf abgearbeitet werden. 4. Die Informationen zu a) Erarbeitung eines und Umgang mit dem Gedächtnisprotokoll 22
16 Die Sendung lief am 29.2.1988, sie hörten einen Mitschnitt. Das MfS verwechselte allerdings erneut den Sender: »Radio Glasnost« wurde von »Radio 100« ausgestrahlt, nicht von »Hundert,6«. 17 In der Erklärung der KvU, die eine Vollversammlung am 20.2.1988 verabschiedet hatte, ist scharf protestiert worden gegen die staatlichen Maßnahmen am 17. und 25.1.1988. Die IFM wandte sich wahrscheinlich v. a. dagegen, dass in der Erklärung strikt zwischen Ausreisewilligen und solchen Kritikern des Systems unterschieden wurde, die in der DDR einen demokratischen Sozialismus erstreben: »Wir distanzieren uns von denen, die mit diesem Land längst gebrochen haben und egoistisch nur ihre eigene Ausreise betreiben wollen.« Die KvU protestierte auch dagegen, den Ausreisewilligen das Dach der Kirche als Schutzraum anzubieten (Staatliches Komitee für Rundfunk der DDR, Redaktion Monitor, Sendeprotokoll Radio Glasnost, 29.2.1988. BStU, MfS, ZAIG 22320, Bl. 314– 316). Die Erklärung ist auch abgedruckt in: Umweltblätter vom 12.2.1988, 2/88, S. 31–32. 18 Siehe Anm. 16. Theoretisch könnte hier aber auch tatsächlich der Sender »Hundert,6« gemeint sein, der sich durch eine sehr andere DDR-Feindlichkeit auszeichnete. 19 Das ist Lutz Nagorski. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 20 Operativer Vorgang des MfS (HA XX) gegen Gerd und Ulrike Poppe (BStU, MfS, AOP 1010/91 u. a.). 21 Operativer Vorgang des MfS (HA XX) gegen Bärbel Bohley (BStU, MfS, AOP 1055/91). 22 Gemeint sind die persönlichen Aufzeichnungen von Bärbel Bohley, die sie in der Bundesrepublik zu den Umständen ihrer Festnahme, Inhaftierung und zeitweiligen Abschiebung angefertigt
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b) Gesprächen mit Personen des öffentlichen Lebens der BRD (eventuell anderen Staaten des OG) c) sonstigem Verhalten sind durch den IM weiter zu verfolgen, durch ihn und andere operative Maßnahmen zu verdichten und im Sinne des Vorwurfes, eine gegen die DDR gerichtete Aktivität, offizialisierbar zu machen. 23
hat. Vgl. dazu jetzt Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011. 23 Das Ziel bestand darin, die Wiedereinreise von Bärbel Bohley und Werner Fischer zu verhindern. Alle betreffenden MfS-Diensteinheiten waren aufgefordert worden, Bohley, Fischer, Klier, Krawczyk, Hirsch, Wollenberger und die Templins im Westen lückenlos zu überwachen. Nach wie vor stand die Aufgabe, angebliche Verbindungen zu Geheimdiensten nachzuweisen. Minister Mielke sagte Anfang März 1988: »Es geht aber auch um die Erkenntnis, in welcher Lage (…) sie sich befinden (…), welche Wirkungen das evtl. auf die Kinder hat.« Und weiter führte er aus: »Damit sind zugleich die erforderlichen Grundlagen zu schaffen, um auch den mit Reisepass ausgereisten Feinden die Staatsbürgerschaft der DDR abzuerkennen. Dieser Hinweis ist aber nur für diesen Kreis bestimmt, dem wohl klar sein dürfte, dass diese Personen auch in Zukunft in der DDR nichts mehr zu suchen haben.« (BStU, MfS, ZAIG 8618, Bl. 49 u. 71) Am 3.8.1988 kehrten Bohley und Fischer in die DDR zurück. Honecker hoffte immer noch darauf, auch in London einen offiziellen Staatsbesuch absolvieren zu können und musste die beiden deshalb zurücklassen, wollte er keinen zwischenstaatlichen Eklat heraufbeschwören. Krenz hatte ihm dazu geraten. Zur heimlichen Vorverlegung des Einreisetermins um 3 Tage war es gekommen, um so der zu erwartenden westlichen Medienberichterstattung zuvorzukommen. Bischof Forck wandte sich deshalb nach Rücksprache mit Bohley und Fischer am 30.6.1988 an Honecker und schlug diese Vorverlegung vor (Bischof Forck an Staatsratsvors. Honecker, 30.6.1988. BArch DY 30, IV 2/2/2039/277, Bl. 152). Egon Krenz schlug seinerseits Honecker unter Bezug auf Unterlagen von Mielke vor, dieser Idee von Forck zu folgen (Egon Krenz an Erich Honecker, ZK der SED Hausmitteilung, 1.7.1988. Ebenda, Bl. 153–154). Am 5.7.1988 ist Stolpe im Staatssekretariat informiert worden, dass der vorfristigen Wiedereinreise zugestimmt worden sei. Stolpe erklärte, er würde sich für eine diskrete Abwicklung einsetzen und entsprechend versuchen, auf Forck, Bohley und Fischer Einfluss auszuüben. Die SED erklärte Stolpe gegenüber, Bohley und Fischer müssten sich »jeglicher staatsfeindlicher Betätigung enthalten und [dürften] nicht in ihr früheres Umfeld zurückkehren. Es wurde klargestellt, dass sonst strafrechtliche Sanktionen folgen könnten.« (BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 104–107, Zitat Bl. 105).
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Dokument 76 Reaktionen zum Auftreten der DDR-Bürger [Regina und Wolfgang] Templin in Westberlin (Originaltitel) 1. März 1988 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 14, Bl. 163–164
Im Rahmen der operativen Arbeit gelangten Hinweise zu den im NSA aufhältigen DDR-Bürgern Templin, Wolfgang und Regina zur Kenntnis, die am 26.2.1988 im Westberliner Rathaus Schöneberg an einer Veranstaltung zum Thema »Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsbewegung in der DDR« teilnahmen. 1 Durch eine zuverlässige inoffizielle Quelle 2 liegen Hinweise zu Reaktionen des Westberliner Bürgers XXX vor, der an dieser Veranstaltung teilnahm. XXX schätzt die Templins als »linientreue« Kommunisten ein, die zur Ausreise ins NSA aufgefordert wurden, da sie die »Toleranzgrenze« des Staates überschritten hätten. Beide wollen unbedingt wieder in die DDR zurückkehren, um für einen sozialistischen Staat zu arbeiten, der toleranter ist und innerhalb der SED mehr »Freiräume« lässt. Templin würde sich in der SED wohlfühlen und nur einen »anderen Flügel« vertreten. 3 Templin soll ferner geäußert haben, dass die Mitglieder des Politbüros des ZK der SED, die Genossen Hermann Axen und Horst Sindermann, Funktionäre von politischem Format seien und keine »Greise oder inkompetente[n] Leute«. 4 Die Templins hätten ihren Wohnsitz in Bochum im Ruhrgebiet genommen, weil sich in Rheinhausen das revolutionäre Potenzial der BRD entwickeln würde. 5 XXX vertritt die Ansicht, 1 Die Veranstaltung stand unter dem Motto »Grenzfälle. Zur Entwicklung der Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegung in der DDR«. Regina und Wolfgang Templin standen bis zu 180 Interessierten etwa 3 Stunden lang Rede und Antwort (BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 14, Bl. 145–146). Die Veranstaltung war von der »Initiative für Freiheit für Andersdenkende« organisiert worden, einer Initiative, die sich am 22.1.1988 in West-Berlin in Reaktion auf die Vorgänge infolge des 17.1.1988 in Ost-Berlin gebildet hatte. Mitglieder waren v. a. der DDR gegenüber kritisch eingestellte AL-Mitglieder sowie Bürger und Bürgerinnen, die aus der DDR ausgereist waren (MfS, HA XX/5, Auskunft zur »Initiative Freiheit für Andersdenkende«, 3.8.1988. BStU, MfS, HA XX 132, Bl. 127–135). 2 Es handelte sich um eine Abhörmaßnahme des MfS. 3 Wolfgang Templin war bereits 1983 aus der SED ausgetreten. 4 Die ganze Passage verrät mehr über den Zuträger als über die tatsächlichen Ansichten der Templins. 5 Templins wollten nicht in West-Berlin wohnen. Vor allem Regina Templin (Weis) befürchtete, sie wären in West-Berlin ausschließlich auf die Mauerperspektive und die fast erreichbaren
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dass der Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzende Genosse Erich Honecker, nicht die Politik des Generalsekretärs des ZK der KPdSU Genossen Michail Gorbatschow unterstützt. Diese Einschätzungen tätigte XXX gegenüber einer namentlich nicht bekannt gewordenen Person, bei der es sich um seine Mutter handeln könnte. Diese Person ist im Raum München wohnhaft. Der ehemalige DDR-Bürger Herzberg, Guntolf zeigt nach den vorliegenden Hinweisen großes Interesse an den Templins. Er hatte ihnen u. a. angeboten, während der Zeit ihres Aufenthaltes in der BRD bzw. in Westberlin eine Art Patenschaft über sie zu nehmen. Daraus wurde bisher jedoch nichts. Wie Herzberg gegenüber der führenden Vertreterin der Grünen Weber, Elisabeth einschätzte, 6 hätte dazu vor allem der 26.2.1988 beigetragen. Herzberg hatte mit den Templins verabredet, dass sie nach der Veranstaltung im Rathaus Schöneberg, bei der Herzberg nicht anwesend war, 7 mit ihm in einer kleineren Gaststätte direkt gegenüber dem Veranstaltungsort zusammentreffen. Dazu sei es jedoch nicht gekommen, weil Schenk, Wolfgang 8 die Templins in eine andere Gaststätte führte. Diesen Sachverhalt bewertete Herzberg als konkreten Ausdruck dafür, dass die Templins sehr naiv sind und sich ohne Prüfung auf Dinge einlassen, die sie gar nicht überblicken können. Auch in Bezug auf o. g. dargelegten Sachverhalt habe sich gezeigt, dass die Templins mehr Objekt als Subjekt sind. Obwohl Herzberg bei der Veranstaltung am 26.2.1988 nicht zugegen war, 9 weiß er, dass die Templins dort ca. drei Stunden Rede und Antwort gestanden hatten. Zu inhaltlichen Fragen äußerte er sich nicht. Jedoch könne sich Herzberg des Eindruckes nicht erwehren, die Templins »schäumen« sehr schnell über und versuchen während ihres Aufenthaltes in der BRD und in Westberlin alles das, was sie in der DDR nicht realisieren konnten, nachzuholen. Dabei seien sie nur sehr schwer zu bremsen. In diesem Punkt unterscheiden sich die Templins sehr von der Bohley, Bärbel und Fischer, Werner, die sehr überlegt handeln würden, um sich damit die Grundlage für ihre Rückkehr in die DDR zu schaffen. Diese Einschätzung teilt auch die Weber. Zu Templin, Wolfgang wurde weiterhin bekannt, dass er am 27.2.1988 von Westberlin nach Zürich reiste, um dort an einer Veranstaltung des »NetzOstgruppen fixiert gewesen. Ihr Freund, der Historiker Martin Jander, vermittelte ihnen sofort eine Gastunterkunft in der Hans-Böckler-Stiftung des DGB, Hattingen, bis sie mit seiner Hilfe eine Wohnung in Bochum beziehen konnten (Mitteilung Regina Weis (Templin) am 20.5.2012). 6 Diese Information entstammt ebenfalls einer MfS-Abhörmaßnahme. 7 Guntolf Herzberg war bei dieser Veranstaltung anwesend, wie er anhand seines Kalenders und seines Tagebuchs rekonstruieren konnte (schriftliche Mitteilung von Guntolf Herzberg am 17.10.2011). 8 Einer der Veranstalter der Diskussion, er saß für die AL im Berliner Abgeordnetenhaus und war eines der prägenden Mitglieder in der »Initiative Ost-West-Dialog«. 9 Siehe Anm. 7.
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Dokument 76 vom 1. März 1988
werkes Ost-West-Dialog« 10 teilzunehmen. Von dort kehrte Templin am Abend des 28.2.1988 nach Westberlin zurück, wo er und seine Frau sich noch ein paar Tage aufhalten sollen. Während dieser Zeit soll dann auch ein Treffen mit Herzberg stattfinden. Bemerkung: Bei Auswertung der Inf[ormation] ist Quellenschutz erforderlich.
10 Eine 1984 gebildete Initiative, die den Dialog zwischen Ost und West auf der nichtstaatlichen Ebene zwischen unabhängigen Personen und Organisationen befördern wollte. In den Augen des MfS galt die Initiativgruppe als »Feindorganisation« (MfS, HA XX/5, Auskunft zum »Europäischen Netzwerk für den Ost-West-Dialog« und der »Initiative für den Ost-West-Dialog«, 5.2.1988 (BStU, MfS, HA XX 132, Bl. 87–93); MfS, HA XX/5, Auskunft zum »Europäischen Netzwerk für den OstWest-Dialog« und der »Initiative für den Ost-West-Dialog«, 9.2.1988 (BStU, MfS, HA XX 132, Bl. 81–86)).
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Dokument 77 Monatsbericht über die im Februar 1988 von der Feindperson Roland Jahn (ZOV »Weinberg«) entwickelten feindlichen Aktivitäten (Originaltitel) 1. März 1988 Von: MfS, HA XX/5, Leiter Oberst [Hans] Buhl Quelle: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 1, Bl. 342–344
Die bereits im Monat Januar 1988 festgestellte Tendenz des Rückgangs der offenen feindlichen Aktivitäten gegen die DDR des Jahn, Roland und dessen diesbezügliche Inspirierung feindlich-negativer Kräfte in der DDR sowie seine Rolle als »Schaltstelle« im Operationsgebiet setzte sich auch im Monat Februar 1988 fort. Seit dem 11.2.1988 konnte keine telefonische Kontaktaufnahme zu feindlich-negativen Personen in der DDR durch Jahn festgestellt werden. Ursächlich für diese Tendenz sind die konsequenten und offensiven Maßnahmen gegen die Kräfte der politischen Untergrundtätigkeit im Innern der DDR, verbunden mit den direkt gegen Jahn gerichteten publizistischen Maßnahmen, die zu einer starken Verunsicherung bei mehreren Kontaktpartnern des Jahn in der DDR und im Operationsgebiet geführt haben. 1 In diesem Zusammenhang ist auch der Vorschlag des operativ bekannten XXX zu werten, zukünftig Kontaktaufnahmen mit Jahn nur noch auf Initiative feindlichnegativer DDR-Bürger zu realisieren. Zielstellung von Jahn bei seinen wenigen Kontaktaufnahmen in die DDR zu den feindlich-negativen Personen Poppe, Gerd, Mißlitz, Frank-Herbert 1 V. a. ging es um folgende, vom MfS erarbeitete Artikel: Hubert Reichel: »Leute, mit denen wir im engen Kontakt stehen …«. »Friedensstreiter« Jahn organisiert von Westberlin aus den Nachschub für die heißersehnte »DDR-Opposition«, in: Neues Deutschland vom 26.1.1988; Dichtung und Wahrheit, in: ebenda vom 2.2.1988; Journalisten auf Gehaltsliste der BRD-Geheimdienste, in: ebenda vom 3.2.1988; Wer steuert die sogenannte DDR-Opposition, in: ebenda vom 17.2.1988. Hinzu kamen sowjetische Kommentare wie: Zur feindseligen Kampagne gegen die DDR, in: ebenda vom 5.2.1988; Glasnost auf westliche Art, in: ebenda vom 12.2.1988; Den Machenschaften eine Abfuhr, in: ebenda vom 11.2.1988. Es waren zudem weitere Artikel geplant, z. B.: Noch einmal zu den Drahtziehern der sogenannten DDR-Opposition (Ms.), etwa Ende Februar 1988. BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 15, Bl. 99–106; Geheimdienstliche Zusammenhänge im Strafverfahren gegen Hirsch und andere, in: BStU, MfS, HA IX 13839, Bl. 4. MfS-intern gab es zudem bald darauf: »RIAS«, »Hundert,6« und »Radio 100« – Instrumente der ideologischen Diversion gegen die DDR. (= Informationsmaterial für die Öffentlichkeitsarbeit 3/1989, April 1989, Presseabteilung des MfS, Nur für berechtigte Angehörige des MfS!) BStU, MfS, ZAIG 20832, Bl. 1–37; nur im Manuskript vorliegend schließlich: MfS, ZAIG, Bereich 6, »Sie denken und handeln wie Feinde«. Zum gegenwärtigen Erscheinungsbild der politischen Untergrundtätigkeit in der DDR, 17.8.1989 (war für die Veröffentlichung in der MfS-internen-Reihe »Informationsmaterial« gedacht). BStU, MfS, HA II/13 1910, Bl. 112–190.
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Dokument 77 vom 1. März 1988
und Jordan, Karl-Heinz war es, diese nach der Übersiedlung von Krawczyk, Stephan und Klier, Freya zu Aktionen zur Entlassung der zum damaligen Zeitpunkt noch in Haft befindlichen Personen zu veranlassen und die Wiedereinreise von Krawczyk und Klier in die DDR zu fordern, wobei sie sich die Unterstützung der Kirche sichern sollten. Nach der Übersiedlung/Ausreise der operativ bekannten Personen versuchte Jahn massiv, deren Schritt zu rechtfertigen, verbunden mit der demagogischen Behauptung, dieser sei unter Zwang erfolgt. Jahn verfolgt offensichtlich die Zielstellung, diese feindlich-negativen Kräfte in das System der subversiven Tätigkeit gegen die DDR einzubeziehen. Die Aktivitäten des Jahn im Operationsgebiet konzentrieren sich auf die Vorbereitung und Durchführung der medienträchtigen Vermarktung der übergesiedelten/ausgereisten Personen, außer Hirsch, Ralf, was bei den Journalisten westlicher Medien teilweise auf Widerstand stieß, da er hohe Geldsummen für Interviews besonders mit Krawczyk und Klier gefordert haben soll. 2 Nach Äußerungen von Jahn werden gegenwärtig publizistische Beiträge mit den mit DDR-Pass ausgereisten feindlich-negativen Kräften gefertigt. Diese Beiträge sollen dann zur Veröffentlichung gelangen, falls diesen Personen eine Wiedereinreise ab August 1988 verweigert werden sollte. Die Initiative dazu ging mit Wahrscheinlichkeit von Jahn aus. Das arbeitsteilige und abgestimmte Vorgehen zwischen Jahn und [Jürgen] Fuchs wurde insbesondere nach der Übersiedlung von Krawczyk und Klier deutlich sichtbar: – Beide verlangten – auch gegen den Widerstand von Krawczyk und Klier –, dass diese eine öffentliche Erklärung abgeben. Diese wurde unter Anwesenheit von Jahn am 3.2.1988 über die westlichen Massenmedien verbreitet. 3
2 Gerade Krawczyk und Klier waren in den ersten Wochen in den bundesdeutschen Funk- und Printmedien sehr häufig vertreten. Vgl. z. B. nur »Ein schwerer Rückfall in die fünfziger Jahre«. Die DDR-Protestler Freya Klier und Stephan Krawczyk über ihre Ausreise in den Westen, in: Der Spiegel Nr. 6 vom 8.2.1988, S. 27–32 (Die »Spiegel«-Ausgabe zuvor zierte als Coverbild ein Foto von Stephan Krawczyk); Widerstehen – Vom Staatskünstler zum Staatsfeind. ARD-Politmagazin Kontraste vom 16.2.1988 (Kontraste: Auf den Spuren einer Diktatur (3 DVD). Bonn 2005 (auch online unter: http://mediathek.bpb.de/Geschichte/objekt_144.html)); »Der Schock der Verhaftungen hat die Opposition nicht geschwächt«. Interview mit Freya Klier und Stephan Krawczyk, in: Die Welt vom 10.3.1988. 3 Am 3.2.1988 erklärten Freya Klier und Stephan Krawczyk in der Bundesrepublik: »Wir haben die DDR nicht freiwillig verlassen. Unserem Wunsch, unverzüglich aus der Haft in die DDR entlassen zu werden, wurde nicht entsprochen. Unsere Alternativen waren: entweder Haftstrafen von 2 bis 12 Jahren unter dem ungeheuerlichen Vorwurf landesverräterischer Beziehungen oder sofortige Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. So stellten wir in einer extremen Zwangssituation einen Antrag auf Ausreise. Eine freie Entscheidung über Bleiben und Gehen ist aber nur außerhalb von Gefängnismauern möglich. Wir fordern, in die DDR zurückkehren zu können, um unsere Arbeit als Künstler dieses Landes fortzusetzen. Wir fordern zudem die sofortige Haftentlassung unserer Freunde in die DDR, damit sie frei und ohne Zwang entscheiden können, in welchem Land sie leben wollen.« Abgedruckt in: Peter Grimm, Reinhard Weißhuhn, Gerd Poppe (Hg.): Fußnote 3. Berlin Juli 1988 (Samisdat), Dok. Nr. II/13.
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Dokument 77 vom 1. März 1988
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– Nach gemeinsamer Absprache wurde die Übersiedlung/Ausreise der operativ bekannten Personen als eine durch die zuständigen DDR-Organe erzwungene Entscheidung dargestellt. Dies fand sowohl in der Erklärung von Krawczyk und Klier als auch in dem öffentlichen Auftreten beider und Jahns Einflussnahme auf westliche Massenmedien seinen Niederschlag. Ausgehend von dieser Darstellung wurde die DDR der Verletzung der Menschenrechte beschuldigt und die Wiedereinreise in die DDR gefordert. Derzeitig wird durch Jahn die Medienkampagne mit Krawczyk gedrosselt, um dessen Marktfähigkeit für eine geplante Tournee zu erhalten. 4 Massiv trat Jahn gegen die in Veröffentlichungen im N[euen] D[eutschland] getroffene Aussage seiner geheimdienstlichen Steuerung auf, indem er dies bei seinen Auftritten im BRD-Fernsehen bzw. Gesprächen wie folgt begründete: »Es ist ja hier wie dort so, dass immer dann, wenn die Argumente ausgehen, dann muss die Geheimdienststory her, dass alles von außen gesteuert ist. Aber die Praxis zeigt ja, hier wie dort auch, dass aus den Widersprüchen der Gesellschaft Protestbewegungen wachsen … Ich spreche prinzipiell nicht mit Geheimdiensten in dem Sinne, wenn sie sich auch bewusst zu erkennen geben.« 5 Auf Grund der Veröffentlichung eines diesbezüglichen Artikels durch das SEW-Organ »Die Wahrheit« am 18.2.1988 erhob Jahn Klage, in deren Folge die Zeitung eine Gegendarstellung von Jahn am 24.2.1988 veröffentlichte und zur Zahlung einer Vertragsstrafe von 20 000 DM bei einer erneuten Veröffentlichung eines diesbezüglichen Artikels verurteilt wurde. 6 Des Weiteren wurden durch Jahn, Fuchs u. a. unklare Aussagen zum Anlass genommen, diese Veröffentlichungen insgesamt als falsch darzustellen bzw. deren Wirkung abzubauen. Inoffiziell konnte gesichert werden, dass Jahn durch diese Veröffentlichungen stark verunsichert wurde. Nach Aussagen von Fuchs hat ein Teil der Kontaktpartner direkt Angst vor der Fortsetzung des Kontaktes. Zur Durchsetzung seiner feindlichen Ziele wurden durch Jahn in der letzten Zeit Mittel und Methoden angewandt, die Aspekte der wirtschaftlichen Störtätigkeit beinhalten. Dies wird an folgenden festgestellten Fakten deutlich: – Instruierung der feindlich-negativen Kräfte zur Erreichung eines Baustops der Sondermüllverbrennungsanlage in Schöneiche 7, 4 Vgl. zu Jahns Abwesenheit Dok. 50, Anm. 36. 5 Das sagte Roland Jahn in der SFB-Fernsehsendung »Treffpunkt: Die DDR-Szene im Westen« am 23.2.1988 (20.15 Uhr). Eine Zusammenfassung der Sendung und das Zitat sind überliefert: BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 15, Bl. 110. Jahn hatte sich so mehrfach geäußert, z. B.: RIAS Interview am 29.1.1988 um 5.35 Uhr (BStU, MfS, AOP 16922/91, Bd. 15, Bl. 243); auch schon lange vor 1988, wie zahlreichen Medienbeiträgen zu entnehmen ist, z. B: CIA-Agent dort, im Auftrag Moskaus hier. Gespräch mit Roland Jahn, in: Kommune 3 (1985) 12, S. 19. 6 Siehe dazu Dok. 73, Anm. 4. 7 »West-Berlin hat einen neuen Skandal. Seit die »taz« und das Fernseh-Magazin Kontraste über die Giftmüllverbrennungsanlage Schöneiche in der DDR berichteten, die 20 km südlich von Berlin mit West-Devisen, aber ohne westliche Umweltauflagen gebaut wird, schlagen im Berliner
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Dokument 77 vom 1. März 1988
– Verbindung der Forderung nach Freilassung der am 17.1. und 25.1.1988 inhaftierten Personen mit Ausübung von »ökonomischem Druck« auf die DDR, – Sanktionierung der Vorstellungen des Hirsch durch Jahn, bei einem Gespräch mit dem Staatssekretär im BMB 8, Rehlinger, Ludwig, 9 den Vorschlag zu unterbreiten, für bestimmte ehemalige DDR-Bürger die Aufhebung des Transitverbots, verbunden mit der Drohung der Kürzung der Transitpauschale, zu fordern. Nach vorliegenden Erkenntnissen befindet sich Jahn seit dem 26.2.1988 in Urlaub, Er will sich in Lima/Peru und Buenos Aires/Argentinien bis Ende April 1988 aufhalten.10 Als seine Vertreter sollen Rosenthal, Rüdiger und Fuchs, Jürgen fungieren. Seine Wohnung wird in dieser Zeit durch Krawczyk und Klier genutzt.
Senat und im Abgeordnetenhaus die Wellen der Empörung hoch.« (taz vom 25.1.1988; vgl. Susanne Schloth: Ab sofort West-Dioxin aus Schöneiche (DDR). Neue West-Berliner Giftmüllverbrennungsanlage bei Schöneiche vor den Toren Berlins geht in Probebetrieb. Dioxin-Emissionen und Grundwasserverseuchung durch giftige Verbrennungsrückstände vorprogrammiert. Anlage wäre in WestBerlin nicht genehmigungsfähig, in: taz vom 11.1.1988; Petrus Schlot: Zum Glück nicht dauernd Südwind. Von West-Firmen in der DDR gebaute Müllverbrennungsanlage gibt Berliner Luft den Rest, in: taz vom 13.1.1988). In der DDR-Umweltbewegung erhob sich ebenso sofort Protest gegen die Sondermülldeponie (taz vom 15.1.1988), die UB schrieb umgehend einen Offenen Brief an den Westberliner Umweltsenator (abgedruckt in: Umweltblätter 4/1988, S. 31–33). Die DevisenMüllanlage blieb bis zum Ende der DDR ein Dauerthema der Umweltbewegungen in Ost- und WestBerlin. 8 Gemeint ist das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. 9 Ludwig Rehlinger (geb. 1927), Jurist, CDU, 1957–1969 Ministerialbeamter im Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, 1969–1971 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts, 1982–1988 Staatssekretär im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 1988/89 Berliner Justizsenator. Er spielte bei den Verhandlungen mit der DDR über den Häftlingsfreikauf auf bundesdeutscher Seite eine zentrale Rolle. Vgl. Ludwig A. Rehlinger: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten. Frankfurt/M., Berlin 1991; Jan Philipp Wölbern: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Göttingen 2014; »Besondere Bemühungen« der Bundesregierung. Bd. 1: 1962 bis 1969: Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch (= Dokumente zur Deutschlandpolitik). München 2012. 10 Siehe Dok. 50, Anm. 63.
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Dokument 78 Information zu telefonischen Verbindungsaufnahmen der Bärbel Bohley mit Vertretern der »Initiative Frieden und Menschenrechte« (Originaltitel) 22. März 1988 Von: MfS, HA XX/2 Quelle: BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 10, Bl. 121–124
Streng intern konnte erarbeitet werden, dass die [Bärbel] Bohley an folgenden Tagen telefonische Verbindung zu Mitgliedern der »Initiative Frieden und Menschenrechte« aufnahm: – Am 10.2.1988 äußerte die B[ohley] gegenüber der U[lrike] Poppe, dass ihre Ausreise nur auf den »psychischen Terror«, u. a. der DDR-Medien, zurückzuführen wäre. Sie könne jedoch nicht sagen, dass sie erpresst wurde. Die B[ohley] versicherte, in irgendeiner Weise in einem halben Jahr wieder einzureisen. Sie informierte kurz über die Situation der anderen ausgereisten Vertreter der »Initiative«. 1 – Am 14.2.1988 bekräftigte die [Bärbel] B[ohley] gegenüber G[erd] Poppe ihre Auffassung, alles zu tun, um am 5.8.1988 wieder einreisen zu können. 2 Sie analysierte nochmals die Situation kurz vor ihrer Ausreise und verwies 1 Es handelte sich um ein längeres Telefongespräch, das von Birgit Voigts Anschluss in Ettlingen aus geführt wurde (vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011, S. 39). Ulrike Poppe sprach sowohl mit Werner Fischer als auch mit Bärbel Bohley ausführlich über die Geschehnisse der letzten Tage: MfS, Abt. 26/7, Information A/7682/83203/88, 10.2.1988. BStU, MfS, AOP 17375/91, Beifügung Bd. 3, Bl. 16–20. 2 Bärbel Bohley und Werner Fischer konnten am 3.8.1988 in die DDR zurückkehren. Vgl. auch Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Zur heimlichen Vorverlegung des Einreisetermins um 3 Tage war es gekommen, um so der zu erwartenden westlichen Medienberichterstattung zuvorzukommen. Bischof Forck wandte sich deshalb nach Rücksprache mit Bohley und Fischer am 30.6.1988 an Honecker und schlug diese Vorverlegung vor (Bischof Forck an Staatsratsvors. Honecker, 30.6.1988; BArch DY 30, IV 2/2/2039/277, Bl. 152). Egon Krenz schlug seinerseits Honecker unter Bezug auf Unterlagen von Mielke vor, dieser Idee von Forck zu folgen (Egon Krenz an Erich Honecker, ZK der SED, Hausmitteilung, 1.7.1988. Ebenda, Bl. 153–154). Am 5.7.1988 ist Stolpe im Staatssekretariat informiert worden, dass der vorfristigen Wiedereinreise zugestimmt worden sei. Stolpe erklärte, er würde sich für eine diskrete Abwicklung einsetzen und entsprechend versuchen auf Forck, Bohley und Fischer, Einfluss auszuüben. Die SED erklärte Stolpe gegenüber, Bohley und Fischer müssten sich »jeglicher staatsfeindlicher Betätigung enthalten und [dürften] nicht in ihr früheres Umfeld zurückkehren. Es wurde klargestellt, dass sonst strafrechtliche Sanktionen folgen könnten.« (BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 104–107, Zitat Bl. 105). Ralf Hirsch fuhr in der ersten Juli-Hälfte nach London und besprach dort mit Bärbel Bohley die Einzelheiten der Wiedereinreise über Prag am 3.8.1988 (Information Ralf Hirsch am 27.11.2013).
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Dokument 78 vom 22. März 1988
dabei auf die Veröffentlichungen im N[euen] D[eutschland] (»Leserbriefkampagne und Vorverurteilungen«), 3 was gewissermaßen der Punkt gewesen wäre, wo sie (die Bohley) durchdrehte. Sie habe zu diesem Zeitpunkt die Situation falsch eingeschätzt. Jetzt müsse noch einmal alles genau analysiert werden. Die [Bärbel] Bohley informierte, dass sie schon mit P[etra] Kelly und Gert Bastian gesprochen hätten. Sie beabsichtigen weiterhin, mit H[einz] Suhr, L[ukas] Beckmann, O[skar] Lafontaine und anderen zu sprechen. In allen politischen Parteien müssten Personen gefunden werden, die auch merken, dass es wichtig sei, dass der Termin der Wiedereinreise im August 1988 eingehalten werde. Bohley und Poppe vereinbarten, dass man sich jeden Montag zwischen 21.00 Uhr und 21.30 Uhr verständigen will. Vertreter der »Initiative« könnten sich zu diesem Zeitpunkt in der Wohnung Poppes einfinden. 4 – Am 15.2.1988 teilte die Bohley Gerd Poppe mit, dass sie sich bei Lukas Beckmann in Bonn aufhalten. 5 Sie hätten mit [Ralf] Hirsch bereits gesprochen und dieser wird in nächster Zeit von Berlin (West) aus Verbindung mit Poppe aufnehmen. Die B[ohley] erkundigte sich, ob G[ert] Bastian und P[etra] Kelly am 15.2.1988 die Einreise gestattet wurde, was Poppe nicht sagen konnte. 6 Ebenso habe am 15.2.1988 ein telefonisches Gespräch mit [Wolfgang] Schnur 7 stattgefunden. Die Bohley teilte der bei Poppe anwesenden A[nnedore] Havemann mit, dass sie 8 in der nächsten Woche … [unleserlich: wahrscheinlich das Visum für] England erhalten werden. In England … [unleserlich: werden sie wahrscheinlich unter der Adresse] XXX, Brighton & Hove, XXX Avenue XXX, Tel. 273/41XXX zu erreichen sein. Die B[ohley] informierte, dass sie kürzlich ein Treffen mit Franz Alt 9 hatten und dieser sich in der nächsten Zeit melden wird. 3 Am 2.2.1988 veröffentlichte das »Neue Deutschland« unter der Überschrift »Antwort aus der Bevölkerung« 22 Leserzuschriften, die sich ohne Wenn und Aber auf die Seite der SED-Maßnahmen stellten. Solche Kampagnen waren üblich und gehörten zum Propagandarepertoire. Bärbel Bohley betonte, dass ihr durch diese Propaganda in der Untersuchungshaft bewusst geworden sei, wie gefährlich ihre Lage sei, da die SED dahinter ja nicht mehr zurückkönne und in mehreren Leserbriefen höchste Strafmaße gefordert wurden. Bei solchen Leserbriefkampagnen waren zumeist nicht alle abgedruckten Stellungnahmen erfunden. Oft genug befanden sich darunter auch echte Zuschriften; wie dies im vorliegenden Fall war, ist noch unklar. 4 Gerd Poppe sprach sowohl mit Werner Fischer als auch mit Bärbel Bohley: MfS, Abt. 26/7, Information A/7682/83212–213/88, 14.2.1988; BStU, MfS, AOP 17375/91, Beifügung Bd. 3, Bl. 21–22. 5 Weitere MfS-Unterlagen zu diesem Telefongespräch sind bislang nicht aufgefunden worden. 6 Ihnen wurde die Einreise verweigert (vgl. Was fehlt, in: taz vom 17.2.1988). 7 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 8 Bärbel Bohley und Werner Fischer. 9 Franz Alt (geb. 1938), Journalist, moderierte viele Jahre das Fernsehpolitmagazin »report«. 1988 trat er aus der CDU aus, zu der u. a. wegen seines starken ökologischen Engagements in zunehmende Distanz geriet. Seine zahlreichen Sachbücher haben immer wieder Debatten angeregt.
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– Am 22.2.1988 informierte die B[ohley] den bei Poppe anwesenden Martin Böttger, 10 dass sie am 23.2.1988 einen Gesprächstermin bei Willy Brandt haben. Am 16.2.1988 hätten sie mit Oskar Lafontaine gesprochen. Böttger teilte der B[ohley] mit, dass sie die Kirchenleitung bitten werden, die Hintergründe der Ausreisen offen darzulegen. Nach einigen allgemeinen Sätzen der Unterhaltung zwischen der B[ohley] und [Reinhard] Weißhuhn instruierte die B[ohley] die Havemann, dass diese Schnur ausrichten soll, dass die B[ohley] unbedingt mit ihm sprechen müsste. Die Havemann informierte, dass jemand in den Wohnungen von Bohley und Hirsch war. 11 Die Bohley forderte die Havemann auf, Schnur davon in Kenntnis zu setzen. Weiterhin habe die B[ohley] noch einen Vertrag mit dem Mitteldeutschen Verlag in Halle, Termin wäre Juni 1988. Rechtsanwalt [Gregor] Gysi soll sich deswegen mit Dr. [Eberhard] Günther, dem Direktor des Verlages, 12 in Verbindung setzen. Gysi sollte auch bezüglich des Telefonanschlusses der Bohley eine Klärung herbeiführen. Die B[ohley] ist unter der Telefonnummer 07243/9XXX 13 zu erreichen. – Am 28.2.1988 erkundigte sich die [Bärbel] B[ohley] bei G[erd] Poppe, 14 ob dessen Frau [Ulrike Poppe] am Seminar »Frieden konkret VI« in Cottbus teilgenommen hat, was er bestätigte. 15 Er habe aber noch keine konkreten Informationen. Die B[ohley], die sich bei der Birgit Voigt in Ettlingen aufhält, informierte, dass sie in der vergangenen Woche in Bonn mit vielen Leuten gesprochen hätten. Sie habe erfahren, dass Bischof [Gottfried] Forck ihnen einen Brief geschrieben hätte und Schnur mit einem Dienstreiseauftrag von [Manfred] Stolpe in die BRD kommen will. Sie sei befriedigt, dass sich etwas bewegt und Druck gemacht wird. Die Bohley informierte, dass sie am 23.2.1988 in der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn waren, um für Anselm [Bohley] ein Dauervisum zur Einreise in die DDR zu beantragen. Dort hätte man ihnen gesagt, dass Anselm [Bohley] nicht mehr in die DDR einreisen dürfe. Daraufhin habe sie im Konsistorium in Berlin angerufen und sich beschwert. Sie haben diesbezüglich auch schon mit dem 10 Außer IM-Berichten (BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 25, Bl. 493–495) sind weitere MfSUnterlagen zu diesem Telefongespräch bislang nicht aufgefunden worden. 11 Von Dritten wurde z. B. beobachtet, dass abends Strahlen von Taschenlampen in den Wohnungen zu sehen waren. 12 Eberhard Günther (geb. 1931) war seit 1974 Leiter des Verlags. Neben offiziellen Kontakten zum MfS, die er aufgrund seiner staatlichen Position unterhielt, war er zudem seit 1975 auch als IM erfasst. Vgl. zu Einzelheiten Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1996, S. 773–788. 13 Das war der Telefonanschluss von Birgit Voigt in Ettlingen. 14 Weitere MfS-Unterlagen zu diesem Telefongespräch sind bislang nicht aufgefunden worden. 15 »Frieden konkret VI« unter dem Motto »Teilhabe statt Ausgrenzung« mit über 200 Vertretern und Vertreterinnen der unabhängigen und kirchlichen Friedensbewegung fand vom 26. bis 28.2.1988 in Cottbus statt.
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SPD-Politiker [Jürgen] Schmude 16 gesprochen, der demnächst nach Berlin fahren wird. – Am 28.2.1988 sprach die [Bärbel] Bohley mit mehreren Vertretern der »Initiative«, die sich an diesem Abend in der Wohnung Poppes aufhielten. 17 Die B[ohley] (aufhältig bei Lukas Beckmann) informierte Franziska Havemann, 18 dass sie vom 3.3. bis 6.3.1988 mit Bastian und Kelly nach Paris fahren werden. Katja Havemann teilte der Bohley mit, dass sie mit Schnur sprechen konnte. Er würde es zurzeit nicht schaffen, in die BRD zu kommen, wolle aber als ihr Anwalt sie in England besuchen. Die B[ohley] berichtete, dass sie einen Brief von Forck erhalten haben. Er schrieb, dass sie sich ruhig verhalten sollen und er sich dafür einsetzen wird, dass sie in einem halben Jahr wieder einreisen dürfen. 19 Die Havemann wird am 1.3.1988 ein persönliches Gespräch mit Gysi führen, wo sie u. a. die bevorstehende Vollsperrung der Telefonanschlüsse der Bohley und Templins ansprechen wird. Die B[ohley] forderte die Havemann auf, Gysi davon in Kenntnis zu setzen, dass ihnen in der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn gesagt wurde, dass Anselm [Bohley] nicht mehr in die DDR einreisen dürfe. Gysi soll sich darum kümmern, da ihnen zugesichert worden sei, dass Anselm [Bohley] reisen darf. Die Havemann habe mit Gysi auch schon wegen des Vertrages mit dem Verlag in Halle gesprochen. Die Bohley soll zum Termin ihre Blätter liefern; um die Steuersachen wird sich die Havemann kümmern. Die Bohley äußerte die Bitte, ihr die Sachen über Tibet zu schicken, da sie daran wieder arbeite. Die Havemann soll dies an die Adresse Birgit Voigt, XXX Str. XXX, 7505 Ettlingen schicken, wo sie 20 gegenwärtig noch aufhältig sind. Die Bohley erkundigte sich, ob U[lrike] Poppe schon von ihrer Teilnahme am Seminar in Cottbus berichtet habe, was die Have16 Jürgen Schmude (geb. 1936), Rechtsanwalt, seit 1957 SPD-Mitglied, MdB 1969–1994, von 1978–1982 in 3 verschiedenen Ressorts Bundesminister, 1985–2003 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. 17 Muss richtig heißen: 29.2.1988 (BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 17–22). Weitere MfS-Unterlagen zu diesem Telefongespräch sind bislang nicht aufgefunden worden. 18 Tochter (geb. 1973) von Katja und Robert Havemann. 19 Bischof Forck schrieb mit Datum vom 26.2.1988 handschriftlich an Bärbel Bohley, dass die Kirche sich einsetzen werde, dass »nach der Sperrfrist« sie, ihr Sohn sowie Werner Fischer in die DDR zurückkehren können. Weiter heißt es: »Bitte begeben Sie sich doch nach England, um die Ihnen dort angebotene Möglichkeit wahrzunehmen.« (RHG, Bestand Birgit Voigt, unerschlossen, eingesehen am 19.10.2013). Forck befürchtete nicht unbegründet, was er auch gegenüber in der DDR verbliebenen IFM-Mitgliedern zum Ausdruck brachte (E-Mail von Gerd Poppe am 14.10.2011), dass die Wiedereinreise durch einen zu langen Aufenthalt in der Bundesrepublik (statt in England zu sein) behindert werden könnte. Bärbel Bohley erwähnt den Brief auch in ihrem Tagebuch. Vgl. Bohley: Englisches Tagebuch, S. 57. Er sei ihr am 29.2.1988 (also einen Tag später als in diesem MfS-Dokument vermerkt) von einem Beamten im innerdeutschen Ministerium in Bonn übergeben worden. Dass er von dieser Institution und nicht über die EKD bei Bohley ankam, ist erwähnenswert. Nach England flogen Bärbel Bohley und Werner Fischer am 21.4.1988 (vgl. ebenda, S. 81). Siehe auch Anm. 2. 20 Bärbel Bohley und Werner Fischer.
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Dokument 78 vom 22. März 1988
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mann nicht sagen konnte. Das Gespräch mit Willy Brandt sei sehr interessant gewesen und half ihnen, sich wieder aufzubauen. 21 Nach einer allgemeinen Unterhaltung mit Lutz Nagorski 22, Peter Grimm und Monika Haeger 23 führte die Bohley ein ausführliches Gespräch mit Gerd Poppe. Sie forderte ihn auf, über die Belehrung durch das MfS am 29.2.1988 zu beberichten. 24 Man habe Poppe geraten, von seinen Kontakten, insbesondere zu den im N[euen] D[eutschland] genannten Personen, 25 zu »Radio Glasnost« und »Grenzfall« Abstand zu nehmen. Poppe hatte bei dem Gespräch das Gefühl einer relativen Gelassenheit auf beiden Seiten und nicht den Eindruck, dass schlimmste Dinge zu erwarten sind. Poppe meinte, dass er immer noch auf eine Einladung von Bastian zu dessen Geburtstag warte, mit der er seine Reise in die BRD beantragen wollte. Die Bohley sei überzeugt, dass er diese noch erhalten wird. Da U[lrike] Poppe schon im Bett lag, informierte G[erd] Poppe über das stattgefundene Seminar in Cottbus. Seiner Meinung nach wäre es wie immer, vor diversen Gruppen, abgelaufen. U[lrike] Poppe habe jetzt den Posten eines Regionalvertreters übernommen, was die Bohley gut fand. Zum Abschluss des Gespräches machte Poppe noch auf den 14.3.1988 aufmerksam, wo das nächste Gespräch der »Initiative« mit Vertretern der Kirchenleitung stattfinden soll. 26 Die Bohley 21 Vgl. dazu Bohley: Englisches Tagebuch, S. 49–50. 22 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 23 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 24 Die »Belehrung« fand am 29.2.1988 statt. Gerd Poppe hat wie andere, die in dieser Zeit – meist von der HA XX bzw., wie G. Poppe, von der HA IX – unter Androhung strafrechtlicher Konsequenzen belehrt worden sind, die Belehrung nicht schriftlich quittiert (BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 24, Bl. 35–38; BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 14, Bl. 197–200). Am selben Tag wurden auch Lutz Rathenow, Uwe Kulisch, Reinhard Schult, Uwe Kolbe, Harald Hauswald und Reinhard Weißhuhn vom MfS »belehrt« (BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 30, Bl. 156; BStU, MfS, AOP 1956/91, Bd. 8, Bl. 148–149; BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 14, Bl. 197–200. Die Angaben darüber, wer unterschrieb und wer nicht, widersprechen sich in den MfS-Dokumenten). 25 Roland Jahn, Jürgen Fuchs und Rüdiger Rosenthal waren v. a. gemeint. Vgl. Hubert Reichel: »Leute, mit denen wir im engen Kontakt stehen …«. »Friedensstreiter« Jahn organisiert von Westberlin aus den Nachschub für die heißersehnte »DDR-Opposition«, in: Neues Deutschland vom 26.1.1988; Dichtung und Wahrheit, in: ebenda vom 2.2.1988; Journalisten auf Gehaltsliste der BRDGeheimdienste, in: ebenda vom 3.2.1988; Wer steuert die sogenannte DDR-Opposition, in: ebenda v. 17.2.1988. 26 Seitens der Kirche nahmen Bischof Forck, Präses Becker, Ulrich Schröter vom Konsistorium und Pfarrer Pahnke, der als Vertrauensperson der IFM auftrat, seitens der IFM Gerd und Ulrike Poppe, Reinhard Weißhuhn, Peter Rölle, Martin Böttger sowie die IM des MfS Mario Wetzky, Manfred »Ibrahim« Böhme, Lothar Pawliczak, Monika Haeger und Frank Hartz teil. Es ging bei diesem Gespräch um die Situation der in die Bundesrepublik abgeschobenen IFM-Mitglieder, um die Frage der Rückkehr von Bohley und Fischer sowie darum, wie die IFM künftig agiert. Laut der IMBerichte muss die Atmosphäre gespannt gewesen sein, vor allem Gerd Poppe und Martin Böttger scheinen der Hinhalte- und Beschwichtigungstaktik der Kirche entgegengetreten zu sein: MfS, HA XX/2, Abschrift des Berichtes von IMB »Martin«, 15.3.1988. BStU, MfS, AOP 1056/91, Bd. 6, Bl. 380–382; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Wolf« am 15. März 1988, 15.3.1988.
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Dokument 78 vom 22. März 1988
bat Poppe nochmals darum, der Havemann auszurichten, dass sie Gysi sagen soll, dass er ihre Interessen unterstützen möchte. Es wäre wichtig, dass alles, was Schnur in ihrer Sache macht, über den Tisch von Gysi laufen sollte. – Am 13.3.1988 teilte U[lrike] Poppe der [Bärbel] Bohley mit, dass sie am 14.3.1988 zu den montäglichen Telefonaten nicht da sein werden, da zur gleichen Zeit das Gespräch der »Initiative« mit der Kirchenleitung stattfindet. Die B[ohley] informierte, dass sich ihre Reise nach England verschoben habe, 27 da Schnur am 30.3./31.3.1988 mit einem Dienstreisevisum der Kirchenleitung in die BRD kommen will. Sie teilte weiter mit, dass sie in Bonn auf einer Tagung von SED und SPD war. 28 Dort hätte die Bohley den Bruder des DDR-Experten für Menschenrechtsfragen Uwe-Jens Heuer angesprochen. 29 Die Poppe berichtete von dem Treffen 30 in Cottbus und schätzte ein, dass Enttäuschung und Ratlosigkeit zu spüren waren. Sie bat die Bohley im Zusammenhang mit einem im April 1988 stattfindenden Regionaltreffen um ein Grußschreiben, das dort verlesen werden könnte. Die Bohley versicherte, dass dies schon unterwegs wäre. 31 Sie habe außerdem an K[atja] Havemann einen langen Brief mit Vollmachten für Gysi geschickt. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 39–41. Für den Fall, dass die DDR die Wiedereinreise von Bärbel Bohley und Werner Fischer nicht gestatten würde, kündigte Martin Böttger überdies einen Hungerstreik ab dem 6.8.1988 an. Das findet sich ebenfalls in den genannten Berichten von IMB »Martin« und IMB »Wolf«. Martin Böttger hat dies zudem am 28.9.2011 schriftlich bestätigt (E-Mail vom 28.9.2011 im Archiv des Hg.). 27 Ab 21.4.1988 hielten sich Bärbel Bohley und Werner Fischer in England auf. 28 Vgl. dazu Bohley: Englisches Tagebuch, S. 68–70; Max Thomas Mehr: Von der Entspannung zum Reformdialog. Die Spannung zwischen SPD-Ostpolitik und Menschenrechten war erstmals Thema einer Diskussion zwischen SPD, osteuropäischen Friedensräten und Oppositionellen, in: taz vom 17.3.1988. 29 Es handelte sich um Uwe-Jens Heuer (1927–2011) selbst. Vgl. dazu Bohley: Englisches Tagebuch, S. 69; Max Thomas Mehr: Von der Entspannung zum Reformdialog. Die Spannung zwischen SPD-Ostpolitik und Menschenrechten war erstmals Thema einer Diskussion zwischen SPD, osteuropäischen Friedensräten und Oppositionellen, in: taz vom 17.3.1988. Der Bruder von Uwe-Jens Heuer, Klaus Heuer, hat sich mit LPG-Recht und Bodenrecht beschäftigt, Uwe-Jens Heuer u. a. mit Rechtsfragen der sozialistischen Demokratie und juristischen Problemen einer »sozialistischen Menschenrechtsauffassung«. Uwe-Jens Heuer war seit 1982 am Institut für die Theorie des Staats und des Rechts an der AdW tätig. 1990–1998 war er für die PDS MdB. Zu der Tagung, an der Bohley und Heuer teilnahmen, siehe die Dokumentation: Die Dialektik von Entspannung und individuellen wie kollektiven Menschenrechten in der zweiten Phase der Entspannungspolitik. Bonn 1988 (Diskussionsbeiträge von beiden sind dort abgedruckt). 30 Gemeint ist »Konkret für den Frieden VI«. 31 Am 9.4.1988 fand in Fürstenwalde ein Regionaltreffen der Berlin-Brandenburgischen Basisgruppen statt. U. a. ging es um die Ereignisse seit dem 17.1.1988 (MfS, HA XX/2, Bericht IMB »Martin«, 11.4.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 87–90; MfS, BV Frankfurt/O., Leiter Heinz Engelhardt, Information über den Verlauf des sogenannten Regionaltreffens, 13.4.1988. Ebenda, Bl. 97–102). Daraus geht nicht hervor, ob ein Brief von Bohley verlesen worden ist. Siehe aber Brief von Bärbel Bohley, Werner Fischer, Lotte Templin und Wolfgang Templin an die Freunde aus der Berliner Friedensbewegung, in: Umweltblätter 6/1988, S. 13–14.
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Dokument 79 Information zu einem Gespräch von Wolfgang Templin mit Gerd Poppe am 17.4.1988 (Originaltitel) 21. April 1988 Von: MfS, HA XX/2 Quelle: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 134–135
Streng intern wurde erarbeitet, dass [Wolfgang] Templin den [Gerd] Poppe informierte, dass er am 17.4.1988 in Berlin-West eine Zusammenkunft mit dem ehemaligen Mitglied der AL Schenk, Wolfgang hatte, der am 13.4.1988 an einer Zusammenkunft der »Initiative« in der Wohnung [Gerd und Ulrike] Poppes teilnahm und Aufträge verteilte. 1 Templin habe außerdem Kontakt zu dem Mitglied der SPD Thomas Meyer aufgenommen und einen Gesprächstermin für die nächste Woche vereinbart. Dabei werde er auch den Pelikan (vermutlich ist damit der P. Jiři, wh. Rom, ehem. ČSSR-Bürger gemeint) 2 treffen. Templin teilte mit, dass er in Bochum an einer seiner Meinung nach guten Veranstaltung der Jungdemokraten teilgenommen habe. Am 28.4.1988 wird er an einem Forum zum Thema »Menschenrechte und Friedensbewegung in der DDR« mit Vertretern der Grünen, der SPD und erstmals auch der DKP teilnehmen. Templin erkundigte sich, ob sie den Brief von [Bärbel] Bohley, [Werner] Fischer und [Regina und Wolfgang] Templin erhalten hätten. Poppe, der nur von einem Brief der Bohley und des Fischer wusste, fragte nach Möglichkeiten der Nutzung des Briefes. Templin äußerte, dass er für Vertreter der »Solidarischen Kirche«, für kirchliche Mitarbeiter und Pastoren bestimmt sei. Der Brief verdeutliche ihre Situation und zeige Möglichkeiten für die kirchlichen Vertreter auf, ihnen Unterstützung und Solidarität zu geben. 3 1 Zu dem Treffen mit Schenk gibt es IM-Berichte: MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 14.4.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 103–107; MfS, BV Berlin, Abt. XX/2, Zusammenkunft von Mitgliedern der IFM mit dem Schenk, Wolfgang, Bericht von IMB »Christian«, 18.4.1988. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 11, Bl. 64–66. 2 Jiri Pelikan (1923–1999) übte bis 1968 viele Funktionen aus, u. a.1963–1968 Direktor des Fernsehens in der ČSSR, und zählte zu den wichtigsten Köpfen des »Prager Frühlings«. 1969 emigrierte er nach Italien, war dann u. a. von 1979 bis 1989 für die Sozialistische Partei Italiens Abgeordneter im Europaparlament; 1990–1991 gehörte er zum Beraterkreis von Václav Havel; war als Publizist aktiv. 3 Vgl. Brief von Bärbel Bohley, Werner Fischer, Lotte Templin und Wolfgang Templin an die Freunde aus der Berliner Friedensbewegung, in: Umweltblätter 6/1988, S. 13–14. Der Brief ist mit »Ettlingen, am 6.4.1988« (Wohnort von Birgit Voigt) datiert (BStU, MfS, HA XX 12139, Bl. 101– 103).
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Poppe interessierte, ob Templin schon das »Extrablatt« des »Friedrichsfelder Feuermelder« erhalten hätte. 4 Templin bestätigte dies äußerst verstimmt. Poppe 4 Nach den faktischen Ausbürgerungen Anfang Februar 1988 kritisierten mehrere Oppositionelle, die der IFM meist eher fernstanden, den »Weggang« der Inhaftierten als verfrüht und sahen ihn als freiwillig an. Der Streit eskalierte, als Reinhard Schult im April 1988 den Artikel »Gewogen und für zu leicht befunden« im »extrablatt« des »Friedrichsfelder Feuermelders« publizierte (bereits am 20.1.1988 war es in der Wohnung von Bärbel Bohley, wo sich zahlreiche Oppositionelle trafen, zu einem Streit um die Rolle der Templins im Vorfeld der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17.1.1988 gekommen, woraufhin Wolfgang Templin das Treffen vorzeitig verließ. Vgl. ebenda; Mitteilung von Reinhard Schult am 10.11.2011 sowie mehrere IM-Berichte: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 13, Bl. 361–363, 384–391; BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 8, Bl. 15– 18; BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 12, Bl. 145–147). Schult rechnete mit seinen Freunden ab. Im Kern ging es ihm darum, dass für die Opposition niemals ein politisches Zusammengehen mit Ausreisewilligen infrage kommen könne. Er fügte aber hinzu: »Das heißt nicht, dass wir uns abwenden wollen von menschlicher Tragik, dass wir nicht dagegen auftreten, wenn Antragsteller ihren Arbeitsplatz verlieren, o. ä. Schikanen unterworfen werden. In der politischen Zielsetzung kann es aber keine Gemeinsamkeit mit Ausreisern geben.« Dass er Regina und Wolfgang Templin vorwarf, sie allein trügen die Schuld, dass ihre Kinder zwei Tage im Heim zubrachten, stellte die Maßstäbe und das Verursacherprinzip auf den Kopf. Ihn schmerzte, dass der »Flächenbrand der brennenden Herzen und betenden Hände (…) verlosch«, weil die Inhaftierten in den Westen gingen. »Nicht ausgetreten durch die allmächtige Staatsgewalt, sondern durch die vermeintlich eigenen Leute.« Schult kritisierte, die Inhaftierten hätten ihren Prozess abwarten, hätten ein paar Monate absitzen, hätten Verantwortung für »die Mitkämpfenden« draußen zeigen müssen. Er zieh sie der Trittbrettfahrerei, und: »Die Inhaftierten gingen als politische Personen in den Knast, verlassen haben sie ihn als Privatpersonen.« Ihr Verhalten sei »eine politische und moralische Bankrotterklärung«. Schließlich warf er ihnen noch vor, sie hätten in der Bundesrepublik bislang keine Kritik an den dortigen Verhältnissen und keine Solidarität mit den RAF-Häftlingen geübt. Denn »der bürgerlich-demokratische Parlamentarismus kann unsere Hoffnung, unsere Zukunft, unser Ziel nicht sein«. (Reinhard Schult: Gewogen und für zu leicht befunden. Versuch einer Einschätzung der Januarereignisse, in: friedrichsfelder extrablatt, April 1988, 7 S.) Reinhard Schult erhielt viel Beifall für diese Polemik. Die Front der Ablehnung war nicht minder stark. Mehrere munkelten sogar, er betreibe »objektiv« das Geschäft der Staatssicherheit, obwohl ihn niemand einer MfS-Tätigkeit verdächtigte. Öffentlich antwortete ihm Martin Böttger. Er wies nach, dass Schult in mehreren Punkten irrte, und bezeichnete die Beschuldigung des Ehepaares Templin als »ungeheuerlich«. Auch er wollte nicht mit Ausreisewilligen politisch zusammengehen, verteidigte aber das Menschenrecht auf Ausreise und die Solidarität mit Ausreisewilligen, wenn sie verfolgt würden (vgl. Martin Böttger: Leserprotest, in: Friedrichsfelder Feuermelder, Mai 1988, S. 9– 11; ders.: Gedanken zu einer Rückkehr, in: Kontext. Beiträge aus Kirche & Gesellschaft & Kultur November 1988, Heft 4, S. 66–69, nachgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 315–320). Stephan Krawczyk und Vera Wollenberger zeigten sich in Briefen tief empört und bezichtigten Schult nun öffentlich, der Staatssicherheit ungewollt in die Hände zu spielen. Sie waren fassungslos wegen seiner Bemerkung von den »vermeintlich eigenen Leuten« (beide Briefe sind abgedruckt in: Friedrichsfelder Feuermelder, Juni 1988, S. 1–6; Krawczyks Brief auch in: Umweltblätter, Juni 1988, S. 14–16). Wolfgang Rüddenklau veröffentlichte einen Beitrag, der zwar mit Kritik und sachlichen Korrekturen an Schults Meinungsäußerung nicht sparte, aber ihm letztlich politisch im Großen und Ganzen zustimmte. Der wichtigste zustimmende Beitrag kam aus der Gruppe von Schult selbst, von Wolfgang Wolf (Friedrichsfelder Feuermelder, Juni 1988, S. 6, 17) der, wie sich nach 1989 herausstellte, als IM für das MfS arbeitete. Erst nach 1989 zeigte sich, wie die Inhaftierten getäuscht worden waren. Zu dieser Debatte, die auch 20 Jahre nach den Ereignisse immer wieder aufflammte, siehe auch exemplarisch folgende zeitgenössischen Beiträge: »Aus Opfern werden Täter gemacht«, Interview mit Ralf Hirsch (ehemals »Initiative Frieden und Menschenrechte«) und Rüdiger Rosenthal, Schriftsteller und
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informierte, dass die Gruppe um [Reinhard] Schult dieses »Extrablatt« überall verteilen würde. Dadurch werde im Grunde alles zunichte gemacht, was sich durch die Solidarität in jener Zeit an möglicher Zusammenarbeit der Gruppen anbahnte. Templin fände es unsinnig, jetzt direkt darauf zu reagieren. Poppe teilte mit, dass Martin Böttger beabsichtigt, dazu etwas zu schreiben. 5 Außerdem müsste man mit den Leuten reden, die ein solches »Extrablatt« erhalten haben. Templin schlug vor, dass man dabei auch ihren Brief nutzen könnte. Templin kündigte Poppe an, dass sie eine offizielle Einladung für die Aktionskonferenz der Friedensbewegung der BRD am 7./8.5.1988 in Tübingen erhalten werden. Die Einladungen gehen an den Fortsetzungsausschuss »Konkret für den Frieden« und von da an die Vertreter der Friedensbewegung in der DDR. Es werden nicht direkt Personen eingeladen, sondern der Fortsetzungsausschuss, dem ja auch Ulrike Poppe angehört, wird gebeten, Personen zu delegieren. 6 Templin interessierte, ob sie von [Wolfgang] Schnur 7 oder anderen Vertretern der Kirche etwas gehört haben, was weiterhelfen könnte. Poppe meinte, dass Schnur derzeit vor allem mit Wehrdienstfragen völlig überlastet sei. Am 3.5.1988 wird das nächste Gespräch der »Initiative« mit der Kirchenleitung stattfinden. 8 Mit Rechtsanwalt Schnur ist ebenfalls ein erneutes Treffen vorgesehen. Templin will versuchen, am 17. und 18.4.1988 erneut bei Poppe anzurufen. Er wird nur noch bis zum Vormittag des 19.4.1988 in Berlin-West sein, früher in der Ostberliner Oppositionsszene engagiert, in: taz vom 2.8.1988; Harte Abrechnung mit den früheren Idolen, in: taz vom 5.8.1988; Helmuth Frauendorfer: Bemerkungen zu einer »Abrechnung«, in: taz vom 16.8.1988. Das MfS schätzte ein, Schults Beitrag sei im Sinne des StGB §§ 106 und 200 nicht staatsfeindlich. Weil aber eine Genehmigung für die Vervielfältigung fehle, käme eine Belehrung und eine Ordnungsstrafe in Betracht: MfS, HA IX/2, Rechtliche Stellungnahme zur Druckschrift »friedrichsfelder extrablatt«, Exemplar April 1988, 26.4.1988. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 6735/91, Bd. 1, Bl. 58–60. 5 Vgl. Martin Böttger: Leserprotest, in: Friedrichsfelder Feuermelder, Mai 1988, S. 9–11; ders.: Gedanken zu einer Rückkehr, in: Kontext. Beiträge aus Kirche & Gesellschaft & Kultur November 1988, Heft 4, S. 66–69, nachgedruckt in: Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit, S. 315–320. 6 U. a. erhielten Gerd und Ulrike Poppe, Ulrich Stockmann, Hans-Jürgen Fischbeck, Manfred »Ibrahim« Böhme, Reinhard Schult persönliche sowie der Fortsetzungsausschuss »Frieden konkret« als »Institution« Einladungen, die alle vom MfS abgefangen, dann aber an die Empfänger weitergeleitet wurden. Anträge auf Reisen zu diesem Kongress sind abgelehnt worden, verfügt worden ist dies von Generaloberst Rudi Mittig, stellv. MfS-Minister (MfS, HA XX, Information über Einladungen aus der BRD an Untergrundpersonen der DDR zur Teilnahme an Veranstaltungen in der BRD, 25.4.1988. BStU, MfS, HA XX/9 1466, Bl. 666–668). 7 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 8 Das geplante Treffen fiel aus, Manfred Stolpe begründete dies telefonisch gegenüber Gerd Poppe mit Terminschwierigkeiten. Poppe betonte laut einem IM-Bericht, dass dies nicht tragisch sei, da die IFM ohnehin keine Ansprüche an die Kirchenleitung stellen sollte, dies solle man der KvU überlassen (MfS, HA XX/2, IM-Bericht »Martin«, 4.5.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 171–173).
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da es über einen Sondertarif laufe. Poppe machte darauf aufmerksam, dass am 19.4.1988 in seiner Wohnung die Zusammenkunft der »Initiative« stattfinden wird. Templin wird sich dann aus Bochum melden, da er unbedingt mit XXX sprechen müsste, was Poppe versprach zu realisieren. 9 Templin teilte mit, dass er in Berlin-West seine Mutter und seinen Großonkel getroffen hätte. Mit seiner Arbeit habe er schon begonnen, ohne zwischen irgendwelche »akademische Mechanismen« zu geraten. Für ihn sei dies die Gunst der Zwangspause und die werde er nutzen. Auch könne er sich über seine Wohnsituation in keiner Weise beklagen.
9 Über diese IFM-Sitzung gibt es 4 IM-Berichte (BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 119– 132), aber nur in einem wird erwähnt, dass am Abend Freya Klier und Regina Templin anriefen: MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Dietmar Lorenz« am 20.4.1988. Ebenda, Bl. 120.
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Dokument 80 Ausgangshinweise für die Einleitung operativer Maßnahmen der Zersetzung und Verunsicherung der im ZOV »Heuchler« erfassten Personen 1 (Originaltitel) 18. April 1988 Von: MfS, HA XX/5 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 1, Bl. 329–333
Mit DDR-Reisepass in die BRD ausgereiste Personen 1. Bei den Vertretern der evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) liegt Verärgerung darüber vor, dass Bärbel Bohley und Werner Fischer bislang nicht den getroffenen Vereinbarungen nachkommen und sich noch immer in der BRD aufhalten bzw. erst vor wenigen Tagen nach Großbritannien reisten. 2 B[ohley] und F[ischer] sollten bereits Mitte März 1988 einen Studienaufenthalt in Großbritannien antreten. B[ohley] und F[ischer] machten ihre Abreise jedoch von einem Treffen mit Rechtsanwalt [Wolfgang] Schnur 3 abhängig, welcher am 30./31.3.1988 dienstlich in die BRD (Bonn) reisen sollte. Die Reise des Schnur wurde durch die DDR-Organe unterbunden (HA III vom 13.3.1988) 4. 1 Am 15.3.1988 ist von der HA XX/5 in Zusammenarbeit mit der HV A, der HA II, der HA XX/2, der HA XX/9 sowie der BV Berlin, Abt. XX der ZOV »Heuchler« angelegt worden (BStU, MfS, ZOV 15667/89, Bd. 1, Bl. 26). Darin sind folgende Personen (Teilvorgänge) bearbeitet worden: Bärbel Bohley (OV »Bohle«), Werner Fischer (OV »Schieber«), Ralf Hirsch (OV »Blauvogel«), Freya Klier (OV »Sinus«), Stephan Krawczyk (OV »Sinus«), Wolfgang Templin (OV »Verräter«), Regina Templin (OV »Verräter«) und Vera Wollenberger (OV »Virus«). Gegen Hirsch, Klier und Krawczyk ist wegen des Verdachts der landesverräterischen Nachrichtenübermittlung (§ 99 StGB), gegen die anderen – da sie ihren DDR-Pass behielten – überdies auch wegen »staatsfeindlicher Hetze« (§ 106 StGB) ermittelt worden. Neben Jürgen Fuchs und Roland Jahn standen überdies besonders im Visier Simone Beyer, Stephan Bickhardt, Martin Böttger, Rainer Eppelmann, Peter Grimm, Katja Havemann, Carlo Jordan, Uwe Kulisch, Frank-Herbert Mißlitz, Gerd und Ulrike Poppe, Lutz Rathenow, Peter Rölle, Siegbert Schefke, Martin Schramm, Reinhard Schult und Reinhard Weißhuhn (ebenda, Bl. 45). Nach ihrer Rückkehr in die DDR wurden Bohleys und Fischers OV aus dem ZOV ausgegliedert und wieder separat bearbeitet. Am 28.11.1989 ist der ZOV eingestellt worden (ebenda, Bl. 171). Gegen Ralf Hirsch sollte allerdings darüber hinaus wegen »Spionage« (§ 97 StGB) weiterermittelt werden, was aber aufgrund der Ereignisse nicht mehr zum Tragen kam (BStU, MfS, AOP 15668/89 – dieser Teil-OV ist am 12.12.1989 archiviert worden). 2 Sie flogen am 21.4.1988 nach London. Vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011, S. 81. 3 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 4 Das sind Hinweise auf Informationen, die die HA III weisungsgemäß beim zielgerichteten Abhören von Telefonleitungen in der Bundesrepublik erarbeitete.
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Dokument 80 vom 18. April 1988
XXX/BRD hat sich über die Reise des Schnur mit Oberkonsistorialrat 5 [Manfred] Stolpe verständigt und anschließend den Beauftragten der EKD bei der BRD-Regierung, Bischof [Heinz-Georg] Binder, 6 informiert. Nach Angaben des XXX habe Stolpe unmissverständlich erklärt, dass er kein Interesse daran habe, dass Schnur in Bonn alleine sei und dort evtl. weiteres Unheil anrichtet. B[ohley] und XXX teilen diese Ansicht. Da B[ohley] keine Zeit für Schnur habe, soll der XXX diesen begleiten. Man könne ja immer noch darauf hoffen, dass die Reise von Schnur nicht genehmigt wird. Was die Wiedereinreise der DDR-Bürger angehe, solle dies nicht die Sorge der Kirche sein, zumal sich die Bohley offenbar noch immer in der BRD aufhalte (HA III vom 26.3.1988). Die Kirchenvertreter XXX/BRD und XXX äußerten hierzu, dass Bohley und Fischer in der Vergangenheit genug Brücken gebaut wurden. Es müsse davon ausgegangen werden, dass B[ohley] und F[ischer] im westlichen Ausland bleiben wollen. Daran werde sie zumindest auf BRD-Seite niemand hindern. Diese Mitteilungen XXX sollten umgehend an das Bundeskanzleramt (Vertreter der EKD bei der Bundesregierung) weitergeleitet werden (HA III vom 31.3.1988). 2. Bohley und Fischer haben ernsthafte Probleme mit der Gewöhnung an ihre Lebensumstände. Beide bejammerten in der Vergangenheit bei jeder Gelegenheit ihr Schicksal und erklärten wiederholt, dass sie in der BRD nicht leben könnten (Information HA XX/8 vom 9.2.1988). 7 Nach Einschätzung der Bohley ist Fischer nervlich stark angeschlagen. Dies wird von F[ischer] in einem Gespräch mit Reiner Dietrich 8 bestätigt. In einem Telefonat vor der Teilnahme des F[ischer] an einer Fraktionssitzung der Grünen brach Fischer in Tränen aus und bezeichnete die BRD als »ganz kaputtes Land«. Er arbeite nur auf den 6.8.1988 9 hin (HA III vom 26.2.1988). 5 Manfred Stolpe war seit 1.1.1982 Konsistorialpräsident, zuvor seit 1969 Oberkonsistorialrat. 6 Heinz-Georg Binder (1929–2009) hatte dieses Amt von 1977 bis 1992 inne. 7 Vgl. hierzu Bohley: Englisches Tagebuch. 8 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 9 Tag der ursprünglich geplanten Rückkehr, sie reisten am 3.8.1988 wieder in die DDR ein. Zur heimlichen Vorverlegung des Einreisetermins um 3 Tage war es gekommen, um so der zu erwartenden westlichen Medienberichterstattung zuvorzukommen. Bischof Forck wandte sich deshalb nach Rücksprache mit Bohley und Fischer am 30.6.1988 an Honecker und schlug diese Vorverlegung vor (Bischof Forck an Staatsratsvors. Honecker, 30.6.1988. BArch DY 30, IV 2/2/2039/277, Bl. 152). Egon Krenz schlug seinerseits Honecker unter Bezug auf Unterlagen von Mielke vor, dieser Idee von Forck zu folgen (Egon Krenz an Erich Honecker, ZK der SED, Hausmitteilung, 1.7.1988. Ebenda, Bl. 153–154). Am 5.7.1988 ist Stolpe im Staatssekretariat informiert worden, dass der vorfristigen Wiedereinreise zugestimmt worden sei. Stolpe erklärte, er würde sich für eine diskrete Abwicklung einsetzen und entsprechend versuchen, auf Forck, Bohley und Fischer Einfluss auszuüben. Die SED erklärte Stolpe gegenüber, Bohley und Fischer müssten sich »jeglicher staatsfeindlicher Betätigung enthalten und [dürften] nicht in ihr früheres Umfeld zurückkehren. Es wurde klargestellt, dass sonst
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In einem Brief an Johanna Poppe 10 beklagt die Bohley ihre Lage. Die Zeit will nicht vergehen. Außer der deutschen Sprache gäbe es (in der BRD) nichts Gemeinsames. Die B[ohley] findet in der DDR »alles leichter« (Abt. M vom 30.3.1988). In einem Gespräch äußert sich Bärbel Bohley gegenüber Annette Bohley 11. Es ist schwer auszuhalten, diese ganze Unsicherheit. Man fühlt sich nirgends zu Hause und lebt aus seiner Tasche. Obwohl viele liebe Leute da sind, möchte man doch nach Hause. Es ist verrückt. Hätte man ihnen vor zwei Jahren gesagt, dass sie mal für ein halbes Jahr rüber dürfen und sich die Welt ansehen, hätte sie sich sehr gefreut. Plötzlich ist es im Grunde genommen schlimmer als in Hohenschönhausen 12. Da merkt man, dass es Wichtigeres gibt (BV Magdeburg, Abt. 26/4 vom 18.3.1988). Bohley und Fischer sind in einem psychisch schlechten Zustand, da sie sich wie Bettler in der BRD vorkämen und wenig Verständnis erhalten (HA XX/4 vom 28.3.1988). 13 3. Die [Vera] Wollenberger äußert in einem Gespräch mit XXX 14, dass »diese ganz schrägen, antikommunistischen Typen von Ost-West-Dialog hetzen gegen mich« und gibt die Empfehlung, »die ›UB‹ (›Umweltbibliothek‹) soll sich nicht mit solchen Typen einlassen« (Abt. 26 vom 28.2.1988). Die Wollenberger teilt der [Katharina] Harich mit, dass [Freya] Klier und [Stephan] Krawczyk in der BRD unvorstellbare Dinge von sich geben. Die beiden hätten in einem Interview geäußert, dass die Stimmung in der DDR katastrophal sei und die Leute keine Demokratie wollen. 15 Die W[ollenberger] will darüber mit Krawczyk reden (Abt. 26 vom 10.3.1988). strafrechtliche Sanktionen folgen könnten.« (BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 104–107, Zitat Bl. 105). 10 Johanna Poppe, die Tochter von Ulrike und Gerd Poppe, war 6 Jahre alt. Bärbel Bohley schickte ihr für ihre Sammlung ein paar Briefmarken und schrieb ein paar Sätze auf eine Postkarte im verschlossenen Umschlag (Poststempel: 20.3.1988) an das kleine Kind. Deutlich wird, dass sich Bärbel Bohley zurücksehnt (vgl. auch Bohley: Englisches Tagebuch). Der hier von der Stasi »zitierte« Satz lautet vollständig: »Überhaupt finde ich bei uns alles leichter, hier ist es halt wie im fremden Land, nur dass ›man‹ deutsch spricht.« Die Stasi-Deutung dieses Briefs ist bezeichnend. Der Brief ist überliefert in: BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung, Bd. 10, Bl. 87–90. Johanna Poppe und ihren Eltern war die Existenz des Briefs bislang nicht bekannt (Mitteilungen im Oktober 2011). 11 Die Theologin Annette Bohley (geb. 1951) ist gemeinsam mit ihrem Ehemann Reiner Bohley (1941–1988) vom MfS im OV »Treffpunkt« bearbeitet worden. Sie war von 1983–1995 Pfarrerin in Magdeburg, seit 1998 ist sie Pfarrerin in Bitterfeld. 12 Zentrales Untersuchungsgefängnis des MfS in Berlin-Hohenschönhausen. Bärbel Bohley war dort vom 12.12.1983 bis 14.1.1984 sowie vom 25.1. bis 5.2.1988 eingesperrt. 13 Aufgrund ihres Status mit DDR-Pass konnten und wollten sie keine Sozialleistungen beziehen, um so nicht ihre Rückkehr zu gefährden. 14 Der Gesprächspartner befand sich in Ost-Berlin. 15 Vgl. Widerstehen – Vom Staatskünstler zum Staatsfeind. ARD-Politmagazin Kontraste vom 16.2.1988 (Kontraste: Auf den Spuren einer Diktatur (3 DVD). Bonn 2005 (auch online unter:
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Die Wollenberger vertrat gegenüber XXX die Ansicht, dass XXX und die anderen nicht unbedingt mit der »Initiative« zusammenarbeiten müssten. 16 Es sollte unbedingt angesprochen werden, was sich Wolfgang Templin geleistet hat (gemeint ist vermutlich die Autorenschaft eines nicht signierten Artikels im »Ost-West-Diskussionsforum«, Nr. 0 vom März 1988) 17. Sie selbst beabsichtigt, am Mittwoch (13.4.1988?) nach Düsseldorf zu fahren. Dort will sie mit entsprechenden Leuten zusammentreffen (Abt. 26/9 vom 11.4.1988). 4. Die aus der »Staatsbürgerschaft« der DDR entlassene Person [Bert] Schlegel verständigt sich mit dem DDR-Bürger [Wolfgang] Rüddenklau über den Templin. T[emplin] würde in der BRD »unheimlich abkassieren, ohne sich um etwas anderes einen Kopf zu machen. Er sei sich für nichts zu schade und arbeite auch mit rechten Kräften zusammen. Er sei auch der Verursacher des Problems ›Staatsbürgerschaftsgruppen‹, worüber er offenbar gar nicht nachdenken würde« (HA III vom 30.3.1988). 18 Aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassene Personen 1. [Ralf] Hirsch berichtet [Rainer] Eppelmann, dass er am 11.2.1988 mit Krawczyk und Klier gesprochen hat und es zu Streitereien kam aufgrund http://mediathek.bpb.de/Geschichte/objekt_144.html)). Allerdings erweisen sich die Aussagen der beiden als weitaus differenzierter als hier dargelegt. 16 Gemeint sind einerseits »Gegenstimmen« und KvU und andererseits die IFM. 17 Was wirklich gemeint ist, lässt sich nur schwer rekonstruieren. Zum einen könnte Vera Wollenberger das Zusammengehen von Wolfgang Templin mit der »AG Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR« im Blick gehabt haben, was damals nicht nur von ihr und den Gruppen, in denen sie engagiert war, sehr kritisch betrachtet wurde. Zum anderen könnte, wie es das MfS hier vermutet, die genannte Ausgabe gemeint gewesen sein. Darin sind u. a. zahlreiche Beiträge aus den letzten Ausgaben des »Grenzfalls« abgedruckt, aber auch ein Artikel ohne Autorangabe »Zur Situation der Arbeiter in der DDR« (in: Ost-West-Diskussionsforum, Nr. 0, März 1988, S. 22–23), der in der Diktion und Aussage allerdings nicht auf Wolfgang Templin als Autor schließen lässt, dies aber auch nicht ausschließt. Das MfS schloss seine Autorschaft nicht aus (MfS, HA XX/9, Aktivitätenanalyse zum OV »Verräter«, 22.12.1988. BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 1, Bl. 360). Wolfgang Templin selbst erklärt, dass er nicht der Autor des Beitrages ist (Mitteilung am 16.2.2012). Außerdem ist noch ein »Offener Brief« von Regina und Wolfgang Templin abgedruckt, in dem sie die globale antikapitalistische Linke auffordern, stärker in die sozialistischen Staaten zu schauen und Kontakte zu dem gesellschaftskritischen Potenzial, auch innerhalb der Arbeiterschaft, zu suchen (ebenda, S. 24). Im Impressum steht unter »Redaktion und Mitarbeiter« u. a. »Peter Wilk (DDR) – ein von Wolfgang Templin verwendetes Pseudonym (»Wilk« poln. heißt übersetzt »Wolf«). Trotz Nachfragen bleibt aber letztlich unklar, worauf sich die Äußerung, die Vera Wollenberger (Lengsfeld) von der Stasi zugeordnet wurde, tatsächlich bezieht. 18 Damit war gemeint, dass Regina und Wolfgang Templin das Engagement der »AG Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR« unterstützten und sich so gegen andere Oppositionelle und Gruppen, die die organisierte Ausreisebewegung nicht unterstützten, stellten. Die andere Aussage (»rechte Kräfte«) ist sachlich unbegründet, wobei »rechts« oft eine subjektive Wahrnehmung ist.
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der Angriffe des Krawczyk gegen Rechtsanwalt Schnur. Der Fakt (die Ursache für die Angriffe des Krawczyks gegen Schnur) mag stimmen, aber man hätte dies nicht in der Öffentlichkeit austragen dürfen 19 (Abt. 26 vom 12.2.1988). Hirsch ist ebenso wie Bohley und Fischer nicht bereit, sich wie Krawczyk und Klier für einen Presserummel vermarkten zu lassen. Krawczyk ist abhängig von Klier, welche zurzeit die eigentliche Drahtzieherin ist (Abt. 26/6 vom 15.2.1988). Im Gespräch zwischen [Peter] Rölle/DDR und Hirsch äußert sich Letzterer ablehnend zur Rolle von Krawczyk und Klier (Abt. 26/6 vom 22.2.1988). Nach Aussage von Bohley und Fischer ist Hirsch nervlich angeschlagen. Er kann sich offensichtlich nicht entschließen, von W[est]-B[erlin] nach Hamburg zu ziehen. Sie schätzen ein, dass sich H[irsch] vor zu engen Kontakten zu Roland Jahn hüten muss. Es stehe vor H[irsch] die Frage, was er in Zukunft machen solle (HA III vom 26.2.1988). Hirsch und Eppelmann bringen ihr Missfallen über die Äußerungen von Krawczyk und Klier in der »Welt« (Interview vom 10.3.1988) 20 zum Ausdruck. Eppelmann schätzt ein, dass sich in der DDR niemand mehr für Krawczyk und Klier interessiert (Abt. 26/6 vom 14.3.1988). [Jürgen] Fuchs schätzt gegenüber [Lutz] Rathenow ein, dass es Hirsch »als Persönlichkeit« nicht gut gehe. Dies hänge mit seiner emotional festen Bindung an seine gewohnte Umgebung zusammen (Abt. 26 vom 20.3.1988). Hirsch äußerte, dass Krawczyk eine Reihe von Fragen und Problemen hätte, die mit der voreiligen Entscheidung zum Weggehen der Klier im Zusammenhang stehen. Ihre abgegebenen Erklärungen werden in diesem Zusammenhang immer unglaubwürdiger (HA XX/4 vom 28.3.1988).
19 Gemeint war damit die Presserklärung der beiden am 3.2.1988 sowie andere Äußerungen, die auch Schnur belasteten: »Wir haben die DDR nicht freiwillig verlassen. Unserem Wunsch, unverzüglich aus der Haft in die DDR entlassen zu werden, wurde nicht entsprochen. Unsere Alternativen waren: entweder Haftstrafen von 2 bis 12 Jahren unter dem ungeheuerlichen Vorwurf landesverräterischer Beziehungen oder sofortige Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. So stellten wir in einer extremen Zwangssituation einen Antrag auf Ausreise. Eine freie Entscheidung über Bleiben und Gehen ist aber nur außerhalb von Gefängnismauern möglich. Wir fordern, in die DDR zurückkehren zu können, um unsere Arbeit als Künstler dieses Landes fortzusetzen. Wir fordern zudem die sofortige Haftentlassung unserer Freunde in die DDR, damit sie frei und ohne Zwang entscheiden können, in welchem Land sie leben wollen.« Abgedruckt in: Peter Grimm, Reinhard Weißhuhn, Gerd Poppe (Hg.): Fußnote 3. Berlin Juli 1988 (Samisdat), Dok. Nr. II/13. Außerdem war der berechtigte, öffentlich erhobene Vorwurf an Schnur gemeint, dass er sie über das Ausmaß der Solidarisierungswelle nach den Verhaftungen am 17. und 25.1.1988 im Unklaren gelassen hatte. Siehe »Wir wollten nicht sinnlos hinter Gittern bleiben«, Interview mit Freya Klier und Stephan Krawczyk, in: taz vom 10.2.1988. 20 Vgl. »Der Schock der Verhaftungen hat die Opposition nicht geschwächt«. Interview mit Freya Klier und Stephan Krawczyk, in: Die Welt vom 10.3.1988.
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2. Krawczyk ist bis zum 11.2.1988 mehrfach mit der Quelle 21 zusammengetroffen. Er machte einen stark deprimierten Eindruck, da er für sich als Künstler im Westen keine Chance sieht. Er ist künstlerisch nicht konkurrenzfähig. Auch [Wolf] Biermann nimmt eine sehr kritische Haltung zu Krawczyk ein (HA XX/9 vom 6.2.1988). Die Wollenberger schätzt ein, dass Krawczyk und Klier wütend auf sich selber sind, da sie sich so schnell ausbürgern ließen und deshalb suchen sie einen Schuldigen (Rechtsanwalt Schnur) (Abt. 26/6 vom 12.2.1988). Guntolf Herzberg informiert Elisabeth Weber/Die Grünen, dass es Spannungen zwischen Krawczyk und Klier gibt. Des Weiteren soll Krawczyk ziemlich schlecht auf Hirsch zu sprechen sein (HA III vom 16.2.1988). Durch die Personen Fuchs, Krawczyk, Hirsch u. a. wurde ein sogenannter Rechtshilfefonds gebildet, welcher dazu dienen soll, rechtliche Schritte gegen die DDR zu finanzieren (HA III vom 6.3.1988). 22 [Till] Böttcher und Schlegel sprechen über Krawczyk und Klier. Sch[legel] behauptet, dass sich K[rawczyk] und K[lier] getrennt haben. K[rawczyk] wohne noch in der Wohnung von Jahn (Abt. 26/7 vom 17.3.1988). 23 Schlegel erklärt gegenüber Böttcher, das Verhalten der Klier sei so, dass er keine Lust mehr verspüre, überhaupt in Verbindung mit ihr zu treten. Biermann sei eine »ganz schön arrogante Ratte« (HA III vom 19.3.1988). Gespräch zwischen Rüddenklau und Schlegel, R[üddenklau] macht Krawczyk und Klier dafür verantwortlich, dass auch andere DDR-Bürger zeitweise oder für ständig die DDR verlassen mussten. Er habe einen »Hinweis aus erster Hand«, dass sie sich schon zwei Stunden nach ihrer Ankunft in der BRD mit ihrem Manager getroffen hätten, und es gehe ihnen offenbar nur darum, sich möglichst gut zu verkaufen; Gleiches unterstellte er einem »Wölfchen«, offenbar [Wolfgang] Templin, welcher »unheimlich abkassieren« würde (HA III vom 30.3.1988). Zu Klier und Krawczyk wurde weiterhin erarbeitet, dass sie in nächster Zeit eigene Wohnungen beziehen 21 Es konnte nicht geklärt werden, um wen es sich handelt. Auch Stephan Krawczyk kann keine näheren Angaben machen (Mitteilung von Stephan Krawczyk am 15.12.2011). 22 »Wir wollen uns gegen die Verleumdungen durch das Zentralorgan der SED Neues Deutschland wehren und gerichtlich dagegen vorgehen. Kampagnen, wie die vom Januar/Februar 1988 im ›ND‹, sollen diejenigen, die sich für eine Demokratisierung der DDR-Gesellschaft einsetzen, diskriminieren und deren Kriminalisierung rechtfertigen. Absurde Vorwürfe wie ›landesverräterische Agententätigkeit‹ oder ›geheimdienstliche Steuerung‹ – mit Strafen von bis zu 12 Jahren Gefängnis – machen jeden Dialog zwischen Regierenden und Regierten unmöglich. Wir wollen deshalb jener Demagogie, die Kritiker an den erstarrten gesellschaftlichen Strukturen in der DDR öffentlich verleumdet, ein Ende setzen. Zur Unterstützung dieses Anliegens richten wir einen Rechtshilfefonds ein. Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Ralf Hirsch, Roland Jahn, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Rüdiger Rosenthal, Regina Templin, Wolfgang Templin, Konto-Nummer (Post-Giro): 5113XXX, BLZ 10010010, Stichwort: Rechtshilfe (bitte angeben).« (taz vom 14.3.1988) 23 Vgl. auch dazu Stephan Krawczyk: Der Himmel fiel aus allen Wolken. Eine deutschdeutsche Zeitreise. Leipzig 2009.
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werden (zwischenzeitlich erfolgt). 24 Während der Umzug der Klier schon Anfang April erfolgt, wird Krawczyk seine Wohnung im Nachbarhaus der Klier am 15.4.1988 beziehen. Um diese getrennten Wohnungen zu erhalten, mussten beide eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass sie in Trennung leben (HA III vom 6.4.1988). Krawczyk äußert im Gespräch mit Poppe, dass sie den Westmedien mittlerweile »scheißegal« seien (Abt. 26/7 vom 9.4.1988). Absprache zwischen der Klier und XXX von der »Initiative Kirche von unten« (IKVU) zur Vorbereitung des Friedenstreffens in Tübingen und der beabsichtigten Ausladung der Vertreter des DDR-Friedensrates. Die IKVUSitzung findet am 11.4.1988 statt. Seitens der IKVU bestehen Vorbehalte gegenüber Roland Jahn, da dieser mit den Aktivitäten Übersiedlungsersuchender in der DDR im Zusammenhang stünde. Klier versuchte, die Vorbehalte zu zerstreuen. Klier will jedoch selbst aus Zeitgründen nicht an evtl. Aktivitäten ehemaliger DDR-Bürger in Tübingen teilnehmen. Klier sucht Unterstützung bei Leuten aus der »anarchistischen Ecke« (HA III vom 5.4. und 9.4.1988). In einem Gespräch zwischen der Ehefrau des akkreditierten Korrespondenten des epd Röder, Hans-Jürgen 25, Röder, Bettina und der Klier, gibt die R[öder] der K[lier] den Rat »mal ein bisschen solidarisch mit den Leuten hier« umzugehen. Befragt, wie sie es meint, erwidert sie, so, wie sie es sagt. Die Klier äußert, sie hat das Gefühl, dass sie keiner gern hat, außer denen von der »Initiative« (Abt. 26/7 vom 11.4.1988).
24 25
Vgl. ebenda. Im Original: »Wolfgang«.
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Dokument 81 Information über ein Gespräch zwischen Gert Bastian, Partei Die Grünen der BRD und Gerd sowie Ulrike Poppe am 23. April 1988 (Originaltitel) 27. April 1988 Von: MfS, HA XX/2 Quelle: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 147
Streng intern 1 wurde erarbeitet, dass Gert Bastian, Partei Die Grünen der BRD, am 23.4.1988 mit Gerd und Ulrike Poppe Verbindung aufnahm, um sie über folgende Probleme zu informieren: Er und weitere namentlich nicht genannte Personen wären in Amerika gewesen und Anfang April in die BRD zurückgekehrt. Bärbel Bohley hält sich zurzeit in London auf und habe die Absicht, noch einige Tage dort zu bleiben. Ihr Aufenthalt in Brighton, wo sie eigentlich hin sollte, ist noch nicht ganz geklärt. Sie wolle auch nur einen Monat in Großbritannien bleiben, da sie hoffe, bald wieder in die DDR zurückkehren zu können. 2 Für die Bohley sei es sehr gut, aus der BRD herauszukommen. In der BRD müsse sie ständig Stellung nehmen. In der Friedensbewegung und in den Koordinierungsausschüssen wären Mitglieder der DKP stark vertreten und diese würden die Bohley und die anderen angreifen und darauf verweisen, dass die Abrüstung im Mittelpunkt stehe und nicht die von ihnen vertretenen Ansichten über Menschenrechte. 3 Diese Erfahrung sei für Bärbel Bohley und die anderen sehr schmerzhaft. Auch sie als Grüne würden die Kommunisten bekämpfen, aber diese wären überall anzutreffen und würden ihnen viel Ärger machen. Bastian habe von der Volkskammer der DDR eine offizielle Einladung zur Teilnahme an der internationalen Konferenz für atomwaffenfreie Zonen im Juni in Berlin erhalten. 4 Er bekundete die Absicht, diese offizielle Einladung für Zusammenkünfte mit Organisatoren und Inspiratoren politischer Unter-
1 Das Gespräch fand telefonisch statt, das Dokument basiert vorrangig auf der Auswertung von Telefonabhörprotokollen. Siehe auch Dok. 82. 2 Sie flog gemeinsam mit Werner Fischer am 21.4.1988 nach London. Vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011, S. 81. Für England hatte sie zunächst nur ein einmaliges Einreisevisum. Bohley und Fischer konnten am 3.8.1988 in die DDR zurückkehren. 3 Prinzipiell mit der wichtigsten Literatur zur Friedensbewegung u. a.: Baron: Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei »Die Grünen«. Münster, Hamburg 2003. 4 Siehe Dok. 82, Anm. 5.
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Dokument 81 vom 27. April 1988
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grundtätigkeit in der DDR zu missbrauchen 5, befürchtet aber, dass seine Einladung zurückgenommen wird, wenn man hinter diese Absicht kommt. Abschließend verspricht Bastian, sich wieder zu melden und bittet, an alle schöne Grüße auszurichten.
5 Beispiel dafür, wie die Stasi-Offiziere ihre eigene Amtssprache den ausgespähten Personen in den Mund legten.
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Dokument 82 Telefonat zwischen Gert Bastian und Gerd und Ulrike Poppe 26. April 1988 Von: MfS, HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 146
Tagesrapport der HA XX/AKG vom 26. April 1988 1 Gert Bastian, Mitglied der Bundestagspartei Die Grünen, führt aus München ein Gespräch mit dem Ehepaar Ulrike und Gerd Poppe. In diesem Gespräch bedankt sich Bastian für das übersandte Buch, die Bilder und die vielen Unterschriften. 2 Weiterhin äußert Bastian, dass er mit Bärbel (wahrscheinlich Bohley) gesprochen hat, die sich jetzt in London aufhält 3 und beabsichtigt, wieder zurückzukehren. 4 Bastian äußert sich in diesem Zusammenhang sehr negativ über Mitglieder der DKP, welche in der Friedensbewegung attackierend gegen die Bohley vorgehen und nur die Abrüstung in den Mittelpunkt stellen, ohne auf die Menschenrechte Bezug zu nehmen. Bastian erklärt, dass man weiterhin gegen die Mitglieder der DKP vorgehen wird. Bezüglich eines Treffens zwischen Gerd und Ulrike Poppe und dem Bastian erklärt dieser, dass er für Juni eine offizielle Einladung von der Volkskammer erhalten hat, wo auch der Herr Honecker anwesend sein wird. Dabei handelt es sich um das Treffen um die atomwaffenfreie Zone und Bastian hofft, dass er kommen kann. 5 Gerd Poppe wundert sich, dass Bastian zu diesem Treffen eingeladen 1 Der Bericht basiert auf einem Abhörprotokoll der Abt. 26/7. Die HA XX/AKG schlug vor, diesen der HA XX/5 zuzuleiten. Siehe auch Dok. 81. 2 Zu Bastians 65. Geburtstag am 26.3. hatten ihm seine Freunde aus Ost-Berlin ein Geschenk zukommen lassen (Information von Gerd Poppe am 16.10.2013). 3 Sie flog gemeinsam mit Werner Fischer am 21.4.1988 nach London. Vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011, S. 81. 4 Bärbel Bohley und Werner Fischer konnten am 3.8.1988 in die DDR zurückkehren. Vgl. auch Bohley: Englisches Tagebuch 1988. 5 Vom 20. bis 22.6.1988 fand in Ost-Berlin auf Einladung Erich Honeckers das »Internationale Treffen für kernwaffenfreie Zonen« statt. Daran nahmen über 1 000 Personen aus 110 Ländern teil, darunter auch eine große Delegation aus der Bundesrepublik. Dazu gehörten u. a. Petra Kelly, Gert Bastian, Karitas Hensel und Henning Schierholz, die allesamt Kontakte zur Opposition in der DDR pflegten und dafür mehrfach mit Einreiseverboten belegt worden waren, die eigens für das »Treffen« für Kelly und Bastian zeitlich befristet aufgehoben wurden. Die Teilnehmerliste findet sich in: Neues Deutschland vom 20.6.1988, S. 3–7. Vom 19.6. bis 23.6. kam es zu täglichen Treffen der IFM in den Wohnungen von Poppes bzw. Böttgers mit Kelly, Bastian und weiteren bundesdeutschen Teilnehmern und Teilnehmerinnen (Berichte darüber in: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 324–325, 331–338, 342–344, 355–357, 363–374, 377–385; BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 13, Bl. 27–29, 58,
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Dokument 82 vom 26. April 1988
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wird. In diesem Zusammenhang berichtet Bastian, dass er eine Einladung nach Wien abgesagt hat, als sich Generale des Westens mit Generalen des Warschauer Paktes trafen, 6 wobei er dies begründete mit der Zurückweisung an der Grenze und der Verweigerung eines Visums für Moskau. 7
75–77; BStU, MfS, AOP 1056/91, Bd. 6, Bl. 456–459). Außerdem kam es am 21.6.1988 auch in der UB zu einem Treffen mit Vertretern der Grünen und AL (Berichte in: BStU, MfS, HA XX ZMA 31158, Bd. 2, Bl. 147–151; BStU, MfS, HA XX/AKG 7029, Bl. 416). In einem zusammenfassenden Bericht ist die SED-Führung am 1.7.1988 von diesen Treffen mit der Opposition informiert worden. Vgl. Die DDR im Blick der Stasi 1988. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, bearb. von Frank Joestel. Göttingen 2010, S. 192–196. Ralf Hirsch hatte gemeinsam mit Kelly und Bastian am 19.6.1988 in die DDR einreisen wollen, was ihm aber nicht gelang (BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 324). Bastian und Kelly als MdB (1983–1987 bzw. 1990) genossen diplomatischen Schutz und konnten daher häufig zu ihren politischen Freunden nach Ost-Berlin einreisen. Ihre Prominenz schützte sie zudem, zumal über abgelehnte Einreise sofort westliche Medien berichteten bzw. die Bundesregierung in Ost-Berlin Protest einlegte. Nach der Durchsuchung der »Umweltbibliothek« und den vorgenommenen Festnahmen am 24./25.11.1987 ist über beide eine Einreisesperre verhängt worden, die nur von der SED-Führung befristet aufgehoben werden konnte. Das geschah immer wieder und war aber mit umfassenden Beobachtungsmaßnahmen seitens der Stasi verbunden. Die Zurückweisung von Kelly und Bastian an der Grenze war dagegen die Ausnahme. Das aber passierte auch, so z. B. am 27.1. und 15.2.1988 (HA XX/AKG – VSH-Kartei; HA III, Versuchte Einreise von führenden Vertretern der Grünen in die Hauptstadt der DDR, 28.1.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 25, Bl. 389–391; Was fehlt, in: taz vom 28.1.1988; Nervosität in der DDR-Führung, in: taz vom 1.2.1988). Wohl zuletzt vor dem Mauerfall reisten Bastian und Kelly am 25.10.1989 nach Ost-Berlin, um sich mit politischen Freunden zu treffen. Petra Kelly hielt an diesem Tag in der Marienkirche in Berlin-Mitte eine Ansprache und sagte u. a.: »Diese Gewaltfreiheit wird in die Geschichte eingehen. Ich verbeuge mich vor euch. Ihr habt uns viel Kraft gegeben.« (zit. in: Der Tagesspiegel vom 25.10.1989). 6 Vom 26. bis 28.4.1988 fand in Wien das 5. Treffen ehemaliger Generale der NATO und des Warschauer Paktes statt (vgl. ND vom 27.4.1988; 30.4.1988). Die Gruppe ehemaliger »NATOGenerale für den Frieden«, zu der Bastian gehörte, ist massiv vom KGB und der Stasi initiiert, infiltriert und finanziell gefördert worden. Vgl. Jochen Staadt: Die SED und die Generale für den Frieden, in: Jürgen Maruhn, Manfred Wilke (Hg.): Raketenpoker um Europa. Das sowjetische SS 20Abenteuer und die Friedensbewegung. München 2001, S. 270–280; Udo Baron: Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei »Die Grünen«. Münster, Hamburg 2003. 7 Am 9.12.1987 sind Petra Kelly und Gert Bastian Visa für eine geplante Moskau-Reise verweigert worden (Der Tagesspiegel vom 10.12.1987).
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Dokument 83 1. Ergänzung der Ausgangshinweise vom 18.4.1988 für die Einleitung operativer Maßnahmen der Zersetzung und Verunsicherung der im ZOV »Heuchler« erfassten Personen 1 (Originaltitel) 2. Mai 1988 Von: MfS, HA XX/5 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 1, Bl. 334–336
Mit DDR-Reisepass in die BRD ausgereiste Personen 1. [Werner] Fischer sprach gegenüber dem IM seine Vermutung aus, dass das Ehepaar [Regina und Wolfgang] Templin nicht mehr beabsichtigt, in die DDR zurückzukehren. Beide haben sich bereits voll in der BRD eingelebt. Ihre Kinder sollen keinen Schulwechsel mehr vollziehen müssen. W[olfgang] Templin ist voll beschäftigt mit Vorträgen, der Organisierung von Diskussionsrunden u. ä. in der BRD und der Schweiz. Diese Äußerung der Pläne des Ehepaares Templin zieht nach Meinung Fischers eine weitere Zersplitterung der Kräfte nach sich, jedoch bleiben [Bärbel] Bohley und Fischer bei ihrer Zielstellung (Rückkehr in die DDR), um ihre Arbeit in der Opposition fortzusetzen. Fischer wirkt weiterhin in seinem Verhalten unausgeglichen und sehr nervös. Er ist Kettenraucher und verzehrt größere Mengen Alkohol. Zeitweise zittern seine Hände. Das Verhältnis zur Bohley scheint geringfügig getrübt zu sein. Nach Ansicht des F[ischer] »lässt sie sich in der BRD zuviel feiern« (BV Berlin, AG XXII – »Klement« 2 vom 21.3.1988). 2. Bei der Vorsprache des Templin in der Ständigen Vertretung der DDR in der BRD am 30.3.1988 trat er sachlich auf. Er wirkte im Gespräch abgespannt, zum Teil pessimistisch und sein blasses Äußeres unterstrich diesen Eindruck (HV A v[om] 5.4.1988). 1 Vgl. zum ZOV »Heuchler« die Anm. 1 in Dok. 80 (Ausgangshinweise vom 18.4.1988). Das Dokument basiert wie Dok. 80 vorrangig auf der Auswertung von Telefonabhörprotokollen (Abt. 26, HA III). 2 Das ist Christian Borchardt (geb. 1950), Fernmeldetechniker, wegen Fluchtversuchs im Oktober 1969 inhaftiert, am 5.2.1970 zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt; im Juli 1971 aus der Haft entlassen und am 22.7.1971 als IM der BV Berlin verpflichtet; von 1981 bis September 1989 erhielt er eine monatliche »Beihilfe« von 200 Mark, darüber hinaus zahlreiche andere Zuwendungen sowie mehrere Auszeichnungen; ab Mai 1986 Bauleiter im Büro für architekturbezogene Kunst; er blieb im Oktober 1989 bei einer Besuchsreise in der Bundesrepublik (BStU, MfS, BV Berlin, AIM 5531/91). Siehe auch Dok. 132, Anm. 15.
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Dokument 83 vom 2. Mai 1988
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3. [Wolfgang] Schenk kommt gegenüber [Gerd] Poppe auf die Bohley zu sprechen. Sie und auch Templin vermitteln seiner Meinung nach den Eindruck, dass sie einen Fehler gemacht haben und in die DDR zurück wollen. Bei [Stephan] Krawczyk kann er sich nicht vorstellen, dass dieser wieder in die DDR möchte (Abt. 26/7 vom 13.4.1988). 4. Übereinstimmend bewerten die BRD-Kirchenvertreter XXX und XXX das Auftreten der Bohley und des Fischer gegenüber Vertretern der EKD und anderen Personen in der BRD als überheblich und unangemessen. Bohley und Fischer hätten weder Anspruch noch Recht auf eine Sonderbehandlung, wie sie sich beide einbilden. Sie seien nicht aufgrund von Aktivitäten der Bundesregierung o. a. einflussreicher Personen der BRD ins westliche Ausland gelangt. Trotzdem würden sie in einer Weise auftreten, die abstößt. XXX betonte in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass es in der Zwischenzeit eine Vielzahl von Personen gibt, die dieses Auftreten der Bohley und des Fischer verurteilen und gegen beide Personen eine ablehnende Haltung beziehen. XXX und XXX sind einig in der Auffassung, dass Bohley und Fischer bald und endgültig die BRD in Richtung Großbritannien verlassen. Auf jeden Fall müsse verhindert werden, dass dieses Verlassen öffentlichkeitswirksam durchgeführt wird (HA III vom 13.4.1988). 3 5. Nach Aussage des Wollenberger, Knud 4 gegenüber seiner Ehefrau [Vera Wollenberger] habe er in der DDR eine Veröffentlichung gelesen, welche er dem [Wolfgang] Templin anlastet. Aufgrund dieser Veröffentlichung (Nr. v. … »Ost-West-Dialog«)5 will Wollenberger den direkten Kontakt zu Templin meiden. Diese Veröffentlichung soll u. a. einen Beitrag eines »Wills, Hans-Peter/DDR« enthalten, bei dem Wollenberger davon ausgeht, dass dies das Pseudonym des Templin ist … 6 Da Templin auch bei einer Veranstaltung in der BRD in der Diskussion unsachlich und ausfällig geworden sein soll, fürchtet Wollenberger, dass Templin moralisch völlig am Ende sei, weshalb er bei einem von ihm und seiner Frau [Vera] geplanten Aufenthalt in der BRD (13.–15.4.1988?) nicht bei Templin, sondern in einem Hotel wohnen will 7 (HA III v[om] 14.4.1988). 3 Sie flogen am 21.4.1988 nach London. Vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram, Berlin 2011, S. 81. 4 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 5 Vgl. Ost-West-Diskussionsforum, Nr. 0, März 1988. Unklar bleibt, was in dieser Ausgabe gemeint sein könnte. Siehe dazu Anm. 17 in Dok. 80. 6 Im Impressum ist »Peter Wilk« (DDR) aufgeführt, ein Pseudonym von Wolfgang Templin. Siehe dazu Anm. 17 in Dok. 80. 7 Knud Wollenberger (IM »Donald«) verfügte als in der DDR lebender dänischer Staatsbürger über einen Reisepass.
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Dokument 83 vom 2. Mai 1988
Aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassene Personen 1. Krawczyk liegt gegenwärtig mit den Verantwortlichen für die Ausgabe einer Fälschung des »Neues Deutschland« im Streit (»Tempo«/Hamburg). Krawczyk bestreitet, davon gewusst zu haben, dass Texte von ihm in dieser Fälschung verwendet werden. 8 Ebenfalls im Streit liegt Krawczyk mit dem Schult, Reinhard, welcher für eine Extraausgabe des »Friedrichsfelder Feuermelder« verantwortlich sein soll, in der er die angeblich durch die Staatsorgane der DDR lancierte Meldung darüber, dass Krawczyk schon seit einem Jahr einen Ausreiseantrag gestellt hätte, wiedergegeben habe. 9 Krawczyk will darauf mit einer Gegendarstellung 10 reagieren und die Klier beabsichtigt, einen Brief an die Konferenz der Kirchenleitungen zu schreiben, da man dort diese Darstellung offenbar gleichfalls übernehmen wolle. 11 Im Zusammenhang mit diesem Streit interessierte sich Krawczyk auch dafür, wie die Zusammenarbeit innerhalb der einzelnen Gruppen in der DDR aussehen würde. Nach Angaben des Poppe habe er (Poppe) sich zwar nie darum bemüht, die nach den Verhaftungen im Januar 1988 vorhandene
8 Die gefälschte Satireausgabe des »Neuen Deutschlands« kam am 19.3.1988 in den Umlauf. Sie löste eine MfS-interne hektische Betriebsamkeit aus und das »Neue Deutschland« kam selbst in seinen Spalten darauf zu sprechen. Vgl. zu dem Vorgang Frank Joestel: Das staatsfeindliche SEDZentralorgan. Die Fälschung des »Neuen Deutschland« durch das Hamburger Magazin »Tempo« im Frühjahr 1988, in: Horch und Guck 16 (2007) 2, S. 52–55. Unerwähnt bleibt dort, dass Krawczyk ein Schmerzensgeld in Höhe von 5 000 DM zugesprochen bekam (vgl. Stephan Krawczyk: Der Himmel fiel aus allen Wolken. Eine deutsch-deutsche Zeitreise. Leipzig 2009, S. 34). Die Verbreitung der Ausgabe hatte er ebenfalls gestoppt (Krawczyk stoppt »Tempo«, in: taz vom 11.5.1988). 9 Siehe zu den Hintergründen ausführlich Dok. 79, Anm. 4. 10 Vgl. Friedrichsfelder Feuermelder, Juni 1988, S. 1–3; Umweltblätter Juni 1988, S. 14–16. 11 Am 15.2.1988 hatte Freya Klier einen Brief an die Freunde in der DDR geschrieben und aus ihrer Sicht erklärt, wie es zu den Haftentlassungen und Abschiebungen gekommen war. Der Brief ist abgedruckt in: Gerhard Rein: Die protestantische Revolution 1987–1990. Berlin 1990, S. 85–86. Am 7.7.1989 schrieb Freya Klier an Manfred Stolpe folgenden Brief: »Ich denke, es ist an der Zeit, den zwiespältigen Gesamtvorgang um die Übersiedlung von Stephan Krawczyk und mir offen aufzuarbeiten. Dass Sie seit langem in Kirchen der DDR verbreiten, wir hätten von vornherein beabsichtigt, die DDR zu verlassen, kann ich ebenso wenig länger hinnehmen wie Ihre Behauptung, ich habe bereits am 28.1.88 einen Antrag auf Ausreise gestellt. Sie wissen, dass dem nicht so ist. Während eines Gesprächs mit dem ARD-Korrespondenten Hans-Jürgen Börner zeigten Sie ihm jedoch einen solchen von mir gestellten Antrag, der auf den 28.1.88 datiert war. Da ich sicher bin, dass das Papier nicht von mir stammt, bitte ich Sie, mir einen Durchschlag des Schreibens zuzuschicken. Desgleichen bitte ich Sie, mir den tatsächlich von mir gestellten Ausreiseantrag vom 1.2.88 zukommen zu lassen sowie meinen handschriftlichen Zettel an meinen Mann vom 29.1.88 und seine Antwort darauf vom 1.2.88, die ich nie zu Gesicht bekam. Da Sie sicher ebenso wie ich und viele Menschen in der DDR und der Bundesrepublik daran interessiert sind, dass die Geschichte endlich lückenlos ans Tageslicht kommt, dürfte einer baldigen Zusendung der Unterlagen (die Sie ja bereits wesentlich unbefugteren Kreisen zur Einsicht gaben) nichts im Wege stehen.« (Freya Klier an Manfred Stolpe, 7.7.1989, Privatarchiv Freya Klier). Eine Antwort erfolgte nicht. Am 24.11.1989 wandte sich Freya Klier dann mit einem Offenen Brief an Manfred Stolpe (RHG, Bestand Freya Klier).
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Dokument 83 vom 2. Mai 1988
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Zusammenarbeit zwischen den Gruppen im »Koordinierungsausschuss« 12 weiter zu erhalten, aber mittlerweile habe sich alles wieder zerstritten. Er (Poppe) glaubt nicht, dass mit »Kirche von unten«, »Gegenstimmen« und »Friedrichsfelde« überhaupt eine generelle Zusammenarbeit möglich ist. Sehr schlecht sei in diesem Zusammenhang auch, dass der Wolf, Wolfgang 13 »keine sehr kommunikative Rolle« spiele (HA III vom 13.4.1988). 2. [Ralf] Hirsch wird Mitte Mai 1988 eine neu geschaffene Stelle beim Westberliner Senat übernehmen. Seine Aufgabe soll es sein, alles auszuwerten, was in der DDR gerade passiert, und als Berater für DDR-Fragen für Politiker aller Parteien zur Verfügung zu stehen. 14 Dies habe dazu geführt, dass sich sein Verhältnis zu [Roland] Jahn verschlechtert habe. Jahn sei neidisch, da er selbst diesen Posten haben wollte und sich für den eigentlichen DDRExperten hält. Da er nach den Worten des Hirsch »Ja davon lebt« wären seine ersten Reaktionen, als er von der Anstellung des Hirsch erfahren habe, geradezu bösartig gewesen. Hirsch will ihm daraufhin erklärt haben, dass er nicht bereit sei, Jahns Spiel mitzutreiben, und er werde selbst eine eigene, andere Linie der DDR-Arbeit betreiben. Ohne Jahn schlecht machen zu wollen, sei er zu der Erkenntnis gekommen, dass dieser über Leichen gehe (HA III vom 15.4.1988). 15
12 Am 18./19.1.1988 bildete sich eine Koordinierungsgruppe, in der Vertreter verschiedener Oppositionsgruppen mitarbeiteten. Die Hauptaufgabe bestand darin, die Solidaritätsaktionen zu koordinieren und die Informations- und Fürbittandachten in Ost-Berlin vorzubereiten. Nach diesem Vorbild kam es zur Bildung solcher Gruppen auch in anderen Städten. In mehreren Städten blieben diese Kontakttelefon- und Koordinierungsgruppen bestehen, zuweilen auch – wie in Ost-Berlin und Leipzig – monatelang ohne festes Telefon. Im Januar 1989 stellte die Gethsemanegemeinde schließlich, nachdem monatelange Verhandlungen mit der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung ergebnislos blieben, einen Raum nebst Telefon zur Verfügung. Auch in Leipzig verhandelten Oppositionelle und Kirchenmitarbeiter seit Februar 1988 mit der Kirchenleitung über einen Raum mit Telefon. Pfarrer Turek von der Markusgemeinde stellte schließlich ohne Rückendeckung am 15.9.1989 beides zur Verfügung. Diese Kontaktgruppen sollten sich im Herbst 1989 als wesentlich für die Koordinierung der Demonstrationen und Informationsverbreitung erweisen. 13 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 14 Er wurde Angestellter im Landesamt für zentrale soziale Aufgaben und beriet u. a. aus der DDR Ausgereiste. 15 Jahn konnte diese Stelle schon deswegen nicht haben wollen, weil sie eigens für Hirsch geschaffen worden war – und zwar auf Vermittlung von Rainer Eppelmann über befreundete Westberliner CDU-Politiker hin. Die materiellen Bedingungen wiederum, unter denen Jahn die politische Arbeit für die Opposition im Osten organisierte, waren von Ost-Berlin aus nicht zu erkennen. Jahn, der einen Großteil seiner privaten Einkünfte in diese Arbeit einbrachte, war geradezu gezwungen, Nachrichten auch zu verkaufen – zur weiteren materiellen Unterstützung der Opposition im Osten. Dies ist erst nach 1990 von den meisten anerkannt worden. Ralf Hirsch betonte, dass Roland Jahn entgegen dieser Stasi-Darstellung ihm ganz entschieden zugeredet habe, diesen Job anzunehmen (Mitteilung Ralf Hirsch am 5.12.2011).
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Dokument 84 2. Ergänzung der Ausgangshinweise für die Einleitung operativer Maßnahmen der Zersetzung und Verunsicherung der im ZOV »Heuchler« erfassten Personen 1 (Originaltitel) 11. Mai 1988 Von: MfS, HA XX/5 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 1, Bl. 337–339
Mit DDR-Reisepass in die BRD ausgereiste Personen 1. Die [Vera] Wollenberger informiert am 19.4.1988 ihren Ehemann Knud [Wollenberger] 2 sowie einen namentlich nicht bekannt gewordenen DDRBürger (wahrscheinlich XXX), dass sie ihre geplante Reise zur Evangelischen Akademie Mühlheim/Ruhr nicht antreten wird, da man sie kurzfristig ausgeladen hat. Der Leiter der Akademie, Dr. [Dieter] Bach, 3 habe ihr, ohne weitere Angabe von Gründen, mitteilen lassen, dass sie nicht in die BRD reisen soll. Die W[ollenberger] ist davon sehr betroffen, da sie bereits über 700 DM für ihr Flugticket ausgegeben hat und jetzt, da sie dieses Geld wahrscheinlich nicht zurückerstattet bekommt, große finanzielle Probleme hat. Gegenüber dem namentlich nicht bekannt gewordenen DDR-Bürger brachte die W[ollenberger] zum Ausdruck, dass sie ihre kurzfristige Ausladung nur damit erklären könne, dass der Veranstalter, welcher sie ausgeladen habe, dahinter gekommen sei, dass sie beabsichtigte, während ihres Aufenthaltes in Mühlheim »eine große Schweinerei« aufzudecken. 4 Die Wollenberger behauptete, dass diese Information dann »nur aus ihren Telefonaten« stammen könnte. Entgegen dieser Annahme brachte sie aber im gleichen Zusammenhang zum Ausdruck, dass sie zu »Wölfchen« (Templin, Wolfgang) »ihre eigene Theorie« habe. Da dieser während der gesamten Vorbereitungszeit dieser Veranstaltung keinen Kontakt zu ihr aufgenommen hätte, scheint sie nicht auszuschließen, dass [Wolfgang] Templin mit dieser Ausladung zu tun haben könnte (HA III vom 21.4.1988) 5. 1 Vgl. zum ZOV »Heuchler« die Anm. 1 in Dok. 80. Das Dokument basiert wie Dok. 80 und 83 vorrangig auf der Auswertung von Telefonabhörprotokollen (Abt. 26, HA III). 2 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 3 Der Theologe (geb. 1932) war dort seit 1981 Direktor. 4 Von den befragten Zeitzeugen konnte sich niemand erinnern, worum es sich konkret gehandelt haben könnte. 5 Wolfgang Templin war nicht daran beteiligt und weist darauf hin, dass solche Vermutungen »bezeichnend für die Stimmung und das Klima in diesen Wochen« seien (Mitteilung von Wolfgang Templin am 16.2.2012).
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Dokument 84 vom 11. Mai 1988
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2. In einem Gespräch am 23.4.1988 äußert sich Gert Bastian/Die Grünen gegenüber dem [Gerd] Poppe zu der [Bärbel] Bohley. Für die [Bärbel] Bohley sei es sehr gut, aus der BRD herauszukommen (gemeint ist deren Abreise nach Großbritannien). In der BRD müsse sie ständig Stellung nehmen. In der Friedensbewegung und in den Koordinierungsausschüssen wären Mitglieder der DKP stark vertreten, und diese würden die Bohley und die anderen angreifen und darauf verweisen, dass die Abrüstung im Mittelpunkt stehe und nicht die von ihnen vertretenen Ansichten über Menschenrechte. Diese Erfahrung sei für Bärbel Bohley und die anderen sehr schmerzhaft. Auch sie als Grüne würden die Kommunisten bekämpfen, aber diese wären überall anzutreffen und würden ihnen viel Ärger machen (Abt. 26/7 vom 23.4.1988). 6 3. Knud Wollenberger spricht am 29.4.1988 mit seiner Frau Vera [Wollenberger]. Die Diskussion des Wollenberger mit dem XXX und dem Schult, Reinhard sei ergebnislos geblieben. Schult würde nach wie vor behaupten, dass er dabei gewesen wäre, wie XXX der [Vera] Wollenberger mitgeteilt habe, dass 150 Übersiedlungsersuchende teilnehmen (offenbar an der Provokation am 17.1.1988) würden. [Knud] Wollenberger vertritt deshalb die Meinung, dass es am günstigsten wäre, wenn sie sich in Zukunft mehr »privatisieren« würden. Daran soll sie auch denken, wenn nach dem 1. Mai »abenteuerliche Meldungen« aus der Hauptstadt kommen würden (HA III vom 30.4.1988). 7 4. Im Zusammenhang mit der Einreise von Bohley, [Werner] Fischer und [Vera] Wollenberger nach Großbritannien kam es zu Auseinandersetzungen in der DDR-Gruppe der britischen Organisation »END«. Die Differenzen ergaben sich aus der Beurteilung des bisherigen Verhaltens o. g. Personen, die sich bisher nicht oder nur begrenzt an bestehende Abmachungen hielten. Hierüber sind insbesondere die Einhorn, Barbara 8 und der Oestreicher, Paul 9 verärgert (bezieht sich vor allem auf Bohley und Fischer). 10 Weiterhin gibt es Differenzen über die Art und Weise der weiteren Unterstützung. So sind Kräfte um Barbara Einhorn und den führenden DDR- und Ostfor6 Vgl. Dok. 81 und 82. 7 Was gemeint war, ließ sich nicht eruieren. Knud Wollenberger war IM des MfS und agierte auch hier eventuell im Auftrag der Stasi. 8 Die in Neuseeland geborene Germanistin (geb. 1942) engagierte sich u. a. in der Friedensbewegung (END) und hatte engen Kontakt zu den »Frauen für den Frieden« in der DDR. Seit 2002 ist sie mit Paul Oestreicher verheiratet. 9 Pfarrer und Publizist (geb. 1931), aktiv bei Amnesty International, engagierte sich für Beziehungen der Anglikanischen Kirche zu den Evangelischen Kirchen in der DDR. 10 Was genau gemeint war und ob es tatsächlich zutraf, ließ sich nicht rekonstruieren.
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Dokument 84 vom 11. Mai 1988
scher David Childs, 11 Dozent an der Universität Dundee und Loughborough, der Meinung, dass die Bohley und deren Freunde auf Foren und über andere öffentlichkeitswirksame Maßnahmen die »Wahrheit« über ihre Aktivitäten in der DDR popularisieren müssen, um die internationale Dialogpolitik [Erich] Honeckers zu diskreditieren (HV A IX/C/144/88 vom April 1988). Aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassene Personen 1. Am 11.4.1988 sprach die [Freya] Klier mit den DDR-Bürgern Baumgart, Jürgen und Christine. 12 Dabei äußerte die K[lier], ihr wäre zur Kenntnis gelangt, dass der Natho, Eberhard (Kirchenpräsident/Dessau) getobt und gesagt hätte: »Jetzt können sie ihren schönen Arsch im schönen Westen schaukeln und wir müssen hier aushalten.« B[aumgart] bestätigte, dass N[atho] diese Aussage getätigt habe (BV Halle, Abt. 26/3 vom 11.4.1988). 13 2. Gegenüber dem DDR-Bürger Reiner Dietrich brachte [Ralf] Hirsch, wie schon in der Vergangenheit, erneut seine ablehnende Haltung zu [Roland] Jahn und [Rüdiger] Rosenthal zum Ausdruck. Entgegen früheren Äußerungen wurde er dabei jedoch konkreter und forderte den Dietrich sogar auf, dass sich dieser mit anderen DDR-Bürgern darüber beraten solle, wie man sich in Zukunft zu Jahn verhalten soll. Nach Meinung des Hirsch habe Jahn in dem Bestreben, sich für seine Probleme in der DDR rächen zu wollen, jedes Maß verloren. Was er anstrebe, käme einem »kalten Krieg« gleich. Da er gleichzeitig von diesen Aktivitäten lebe und Rosenthal praktisch in seinen Windschatten getreten sei, bestehe die Gefahr, dass DDR-Bürger durch Jahn und Rosenthal in beträchtliche Schwierigkeiten gebracht werden könnten. In ihrem Bestreben, möglichst alles sofort an die Presse zu 11 Der 1933 geborene Politikwissenschaftler sagte lange vor 1989 den Untergang der DDR voraus und wurde vom MfS beobachtet. Zu seinen wichtigsten Werken über die DDR gehören: The GDR: Moscow’s German Ally. London 1983; The Stasi: East German Intelligence and Security Service (mit Richard Popplewell). London 1996. 12 Die beiden Theologen standen jahrelang unter MfS-Überwachung und sind zur Ausreise gedrängt worden, die 1988 erfolgte. Sie leben und arbeiten seither in Belgien. 13 Zu Eberhard Natho (geb. 1932), Präsident der Ev. Landeskirche Anhalts 1970–1994, vgl. knapp allg. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 204, 388. Vgl. ausführlich, auch auf die Rolle der Kirchen Anfang 1988 eingehend, wenn auch nicht frei von einseitiger Betrachtung, Gerhard Besier: Der SED-Staat und die Kirche 1983–1991. Höhenflug und Absturz. Berlin, Frankfurt/M. 1995, S. 268–284. Als Selbstdarstellung aufschlussreich das Interview mit Natho in: Hagen Findeis, Detlef Pollack (Hg.): Selbstbewahrung oder Selbstverlust. Bischöfe und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in der DDR über ihr Leben. Berlin 1999, S. 496–545.
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verkaufen, würden sie auch gegen die Interessen ihrer Kontaktpartner in der DDR handeln. 14 Durch Dietrich wurde bestätigt, dass man auch in der DDR derartige Überlegungen anstelle und die beiden »älteren Männer« (vermutlich [Rainer] Eppelmann und [Gerd] Poppe) ebenfalls der Meinung seien, dass man sich in Zukunft mehr auf Hirsch orientieren soll (HA III vom 28.4.1988). 15
14 Anm. von Rüdiger Rosenthal, 24.9.2011: »Diese Bemerkungen, sollten sie so gefallen sein, sehe ich Ralf Hirsch gern nach. Wie man inzwischen weiß, waren wir nicht bestrebt und dazu auch gar nicht imstande, möglichst ›alles sofort an die Presse zu verkaufen‹. Für Informationen über die in der DDR geschehenen Dinge hätten wir auch niemals Geld verlangt, dann wären die meisten dieser Dinge nämlich nicht bekannt geworden. Wenn etwas an die Presse gegeben wurde, dann war dies mit den Personen geklärt, die uns über die in der DDR geschehenen Vorgänge in Kenntnis setzten und berücksichtigte umfassend die Interessen unserer Kontaktpartner. Und auch für das ›in beträchtliche Schwierigkeiten bringen‹ von DDRBürgern waren bekanntermaßen andere Kompanien zuständig.« 15 Hier ist wiederum zu beachten, dass Dietrich als IM des MfS andere Interessen vertrat und in der Einschätzung von Personen, die von ihm bespitzelt wurden, nach 1989 auf der Grundlage der Akteneinsicht als »äußerst verlogen und bösartig« charakterisiert wurde (Mitteilungen von Gerd Poppe am 16.10.2011 und Ralf Hirsch am 12.12.2011).
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Dokument 85 Information zu einem Gespräch von Petr Uhl (»Charta 77« ČSSR) mit Gerd und Ulrike Poppe am 10. Juni 1988 und 11. Juni 1988 (Originaltitel) 13. Juni 1988 Von: MfS, HA XX/2 Verteiler: HA XX/9, HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 262–263
Streng intern wurde erarbeitet, dass [Petr] Uhl informierte, dass Vertreter der »Charta 77« gegenwärtig ein Friedensseminar mit internationaler Beteiligung vorbereiten. Es soll am 17.6.1988, 16.00 Uhr, beginnen und bis zum 19.6.1988 dauern. Das Seminar wird sich in drei Sektionen gliedern: – Zusammenhang von Menschenrechten und demokratischem Frieden; Perspektiven des Helsinkiprozesses, – ideologische Fragen, Militärideologie – Militarisierung 1 der Gesellschaft, – Fragen des Militärdienstes, Wehrersatzdienst, Kürzung der Dienst[zeit]. Uhl teilte weiterhin mit, dass auf der Tagesordnung auch Repressalien gegen zwei Journalisten und einen Soldaten in Jugoslawien (Slowenien) stehen sollen. Dazu habe er einen Text vorbereitet, den er auf dem Friedensseminar vorstellen wird. Uhl verlas daraufhin den Text: »Solidarität mit den verhafteten jugoslawischen Journalisten. Zwischen dem 31. Mai und 4. Juni wurden in Ljubljana zwei Journalisten verhaftet. Es handelt sich um den 30-jährigen Janez Janša und den 27-jährigen David Tasić. Zusammen mit ihnen wurde auch der 45-jährige Unteroffizier der jugoslawischen Armee, Ivan Borštner, in Untersuchungshaft genommen. Alle drei sind des Verrats von Militärgeheimnissen beschuldigt. Es drohen ihnen Strafen bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug. Sie werden alle drei im Militärgefängnis gehalten und können keinen Kontakt zu ihren Zivilverteidigern aufnehmen. David Tasić ist Redakteur und Janez Janša ein Mitarbeiter der Jugendwochenzeitschrift ›Mladina‹ in Ljubljana. Diese Zeitschrift publiziert schon längere Zeit Informationen, die über die Situation in der jugoslawischen Armee, über die Korruption unter den hohen Offizieren und den Bemühungen der Militärleitung, jede öffentliche gesellschaftliche Kontrolle zu vermeiden, Aufschluss geben. Die Wochenzeitung hat vor kurzer Zeit die Pläne der jugoslawischen Armee zur Militärbesetzung Sloweniens entdeckt. Dabei sollten zehn der bedeutendsten slowenischen nichtkonformen Intellektuellen verhaftet werden. Wenn auch der Grund und die 1
Im Original: »Militärisation«.
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Dokument 85 vom 13. Juni 1988
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Beschuldigung der drei verhafteten Slowenen geheim sind, ist es klar, dass die Verhaftung im Zusammenhang mit den kritischen Artikeln in der ›Mladina‹ steht. 2 Wir sind überzeugt, dass die Öffentlichkeit in jedem Lande über die Tätigkeit der Armee informiert sein sollte und die Armee die öffentliche Kontrolle nicht vermeiden darf. Wenn die Tätigkeit der Armee durch das Geheimnis verschleiert ist, kann man die Paragrafen des Verrats von Militärgeheimnissen immer ohne irgendeine Kontrolle gegen kritisch denkende Bürger missbrauchen. Die Beschränkung des Redefreiheitsrechts in Jugoslawien ist auch unsere Sache. Darum fordern wir die sofortige Befreiung von Janez Janša, David Tasić und Ivan Borštner und drücken unsere Solidarität mit ihnen und ihren Freunden der Wochenzeitung ›Mladina‹ aus.« 3 Diese Erklärung soll von jeweils drei Personen aus Ungarn, Polen, der Sowjetunion, der ČSSR und der DDR unterzeichnet werden. Uhl forderte von [Gerd] Poppe Namen von DDR-Bürgern, die den Text mit unterschreiben, worauf Poppe den Uhl bevollmächtigte, seinen Namen unter den Text zu setzen. Es gehe den Vertretern von »Charta 77« nicht darum, eine Unterschriftenkampagne zu starten, da man dadurch viel Zeit verlieren würde. Die Erklärung soll deshalb bereits am 12.6.1988 publiziert werden, um so eine breite Solidaritätsbewegung aus den sozialistischen Ländern zu entfalten. Bezüglich einer Teilnahme von Vertretern der »Initiative Frieden und Menschenrechte« am Friedensseminar erklärte Poppe, dass es sehr unwahrscheinlich sei, da keiner von ihnen reisen dürfe. Er versprach trotzdem, sich darum zu kümmern, dass zwei bis drei Personen am 17.6.1988 nach Prag kommen
2 Das Wochenmagazin des slowenischen Jugendverbandes hatte öffentlich gemacht, dass bei Demonstrationen geplant sei, die Armee einzusetzen (taz vom 20.5.1988; Dokumentation ebenda am 16.7.1988). 3 Borštner erhielt 4 Jahre Haft, Janša und der Chefredakteur Franci Zavrl 1,5 Jahre und Tasić 5 Monate (taz vom 28.7.1988; 23.11.1988). Die Vorgänge sind als »JBTZ trial« oder »Ljubljana trial« in die Geschichte eingegangen. Zehntausende protestierten gegen die Verurteilungen, es kam zur Bildung einer landesweiten slowenischen Opposition. Vgl. z. B. James Gow, Cathie Carmichael: Slovenia and the Slovenes: A Small State and the New Europe. Bloomington 2001; Sabrina P. Ramet: Slovenia’s road to democracy, in: Europe-Asia Studies 45 (1993), S. 869–886. Im DDR-Samisdat sind die Ereignisse ebenfalls verfolgt worden. Siehe z. B. Wolfgang Templin: Reisenotizen aus Osteuropa, in: Grenzfall 1–12/1988, S. 3–7, nachgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk: (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 497–502; Peter Grimm: Zerreißprobe, in: Ostkreuz. Politik, Geschichte, Kultur, Januar 1989, S. 88–90, nachgedruckt in: Kowalczuk: (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit, S. 555–558; siehe auch die Darstellung im slowenischen Samisdat: Independent Voices from Yugoslavia 4 (1988) 2. Diese Zeitschrift ist von mehreren Oppositionsgruppen aus Ljubljana herausgegeben worden und trug zuvor den Titel »Peace movement in Yugoslavia«, die erwähnte Ausgabe findet sich im Archiv unter: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 2769, Bl. 284–307.
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Dokument 85 vom 13. Juni 1988
werden. 4 Uhl verwies darauf, dass es auch unbekannte junge Leute sein können, die noch reisen können. Poppe stimmte zu, jedoch wären diese nicht in der Lage, auskunftsfähig über die sogenannte unabhängige Friedensbewegung in der DDR zu sein. Poppe und Uhl nahmen am 11.6.1988 erneut Kontakt auf. Poppe übermittelte die Namen von Reinhard Weißhuhn und Peter Grimm, die neben seinem auf der Erklärung zu Jugoslawien erscheinen sollen. 5
4 Die »Charta 77« plante, vom 17. bis 19.6.1988 in Prag ein internationales Seminar zu Friedens-, Demokratie- und Menschenrechtsfragen zu organisieren. Daran sollten Personen aus etwa 15 europäischen Staaten sowie den USA teilnehmen. Aus Ost-Berlin waren u. a. Gerd Poppe, Peter Grimm und Reinhard Weißhuhn eingeladen worden, denen aber die Ausreise aus der DDR verweigert wurde. Das Seminar begann zunächst wie geplant, musste aber wegen der Festnahme sämtlicher ausländischer Gäste nach Stürmung des Tagungsortes durch Sicherheitskräfte nach kurzer Zeit abgebrochen werden (schriftliche Information von Marie-Luise Lindemann am 7.10.2011; Christian Semler: Prager Friedensseminar gesprengt, in: taz vom 21.6.1988). Nach Polizeigewahrsam wurden die angereisten ausländischen Gäste des Landes verwiesen, die Organisatoren wiederum wurden zeitweise festgenommen (MfS, HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMB »Maximilian« am 19.6.1988, 20.6.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 324–325; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Dietmar Lorenz« am 21.6.1988, 21.6.1988. Ebenda, Bl. 331–333). Aus der Bundesrepublik waren Christian Semler (1938–2013) und Marie-Luise Lindemann angereist. Neben Mitgliedern der »Charta 77« nahmen Gäste aus 10 europäischen Ländern sowie den USA und Indien teil. Der Staatssicherheitsdienst der ČSSR übermittelte dem MfS einen Bericht sowie eine Teilnehmerliste: Seminar der Charta 77, 28.6.1988. BStU, MfS, HA XX 397, Bl. 21–26. Die Erklärung der Charta 77 (Nr. 35/88) und von VONS (Nr. 788) vom 20.6.1988 zu den Vorgängen ist abgedruckt in: Blanka Císařovská, Vilém Prečan (Hg.): Charta 77: Dokumenty 1977–1989. Bd. 2: 1984–1989, Prag 2007, S. 1019–1022. Außerdem finden sich weitere Erläuterungen von Petr Uhl in: Informace o Chartě 1988/13, S. 3–5 (Samisdat; die Ausgaben stehen online unter: http://www.vons.cz/informace-ocharte-77). Siehe auch Dok. 86. 5 Daneben verzeichnete die Erklärung jeweils drei Unterzeichner aus der ČSSR, Polen, Ungarn und der UdSSR: Informace o Chartě 1988/13, S. 16 (Samisdat; die Ausgaben stehen online unter: http://www.vons.cz/informace-o-charte-77).
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Dokument 86 Information über ein geplantes Seminar der »Charta 77« vom 17. bis 19. Juni 1988 in Prag unter Beteiligung von Vertretern oppositioneller Gruppierungen der sozialistischen Länder und westlichen Friedensbewegungen (Originaltitel) 13. Juni 1988 An: MfS, HA XX/9, XX/2 Anmerkung: Es handelt sich um ein ungezeichnetes Durchschlagsexemplar, der Absender ist in der Regel auf der ersten Seite des Informationsberichtes aufgedruckt, deshalb hier nicht zu ermitteln. Quelle: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 255–257
Inoffiziell wurde bekannt, dass Vertreter der »Charta 77« der ČSSR in enger Verbindung mit dem ehemaligen ČSSR-Bürger Jan Kavan, 1 Direktor Palach Press Limited London, Mitglied des »Europäischen Netzwerkes für den OstWest-Dialog«, stellv. Vorsitzender der »Osteuropäischen Kulturstiftung« London, sowie dem führenden Vertreter der »Initiative Ost-West-Dialog e. V.«, Berlin (West), Klaus-Dieter Esche, für den Zeitraum vom 17.6. bis 19.6.1988 in Prag ein Seminar zum Thema »Geschichte der demokratischen Tendenzen in den letzten 70 Jahren in der Tschechoslowakei« planen. Zu diesem Seminar ist die Teilnahme von Vertretern aus 15 europäischen Staaten sowie den USA vorgesehen, bei denen es sich um jeweils zwei bis drei Vertreter oppositioneller Gruppierungen der sozialistischen Staaten sowie insgesamt etwa 30 Vertreter der westlichen Friedensbewegungen handeln soll. Insgesamt werden von den Organisatoren 60 Teilnehmer erwartet. Das Seminar soll in drei Sektionen zu den Schwerpunkten – Probleme der Menschenrechte, – Fragen zur Überwindung militärstrategischen Denkens, – Fragen zum Militärdienst und Wehrersatzdienst durchgeführt werden, deren Beratungen überwiegend in bisher nicht bekannt gegebenen Privatwohnungen in Prag stattfinden sollen. 1 Jan Kavans (geb. 1946) Vater wurde 1950 bei den kommunistischen Schauprozessen zunächst zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt und verstarb kurz nach seiner Entlassung an den Haftfolgen 1960. Während des Prager Frühlings war Jan Kavan einer der Studentenführer und emigrierte nach der militärischen Niederschlagung durch die Truppen des Warschauer Paktes nach London. Nach der Gründung der »Charta 77« wurde er mit seiner »Palach Press Agency« zum wichtigsten Vermittler der Anliegen der »Charta 77« im Westen. Er gab Bücher und Zeitschriften heraus, in denen die osteuropäische Opposition in englischer Übersetzung zu Wort kam. 1979 ist ihm die Staatsbürgerschaft der ČSSR entzogen worden. Nach der Revolution von 1989 kehrte er nach Prag zurück und wurde u. a. Außenminister (1998–2002) und war 2002–2003 Präsident der UN-Generalversammlung.
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Dokument 86 vom 13. Juni 1988
Inoffiziellen Feststellungen zufolge wurden durch den Mitorganisator Jan Kavan mit Kopfbogen der »Palach Press Limited«, London, Einladungen zu diesem Seminar an die operativ bekannten DDR-Bürger Gerd Poppe, Peter Grimm, Reiner Dietrich, Reinhard Weißhuhn, Ibrahim Böhme, Katrin Eigenfeld 2 versandt. Obwohl diese Briefsendungen über die Abteilung M festgestellt und nach entsprechender Entscheidung einbehalten wurden, haben die oben genannten Personen zumindest teilweise auf nicht geklärtem Weg Kenntnis von dieser Einladung erhalten. 3 Am 8.6.1988 sollte in der Wohnung von Peter Grimm eine Beratung der eingeladenen Personen zur Frage der Reise nach Prag durchgeführt werden. Bisherige Überprüfungen erbrachten keine Hinweise darauf, ob diese Beratung tatsächlich stattgefunden hat. 4 Am 10.6.1988 nahm der Vertreter der »Charta 77« Petr Uhl inoffiziellen Hinweisen zufolge Verbindung zu Gerd Poppe auf und informierte diesen nochmals über das geplante Seminar. 5 Dabei brachte Poppe zum Ausdruck, dass eine Teilnahme von Vertretern der »Initiative Frieden und Menschenrechte« sehr unwahrscheinlich sei, da er und die anderen Vertreter nicht in die ČSSR reisen dürfen. Daraufhin wurde durch Uhl angeregt, seitens der »Initiative Frieden und Menschenrechte« junge, noch unbekannte Personen nach Prag zu schicken, auch wenn diese noch nicht sehr auskunftsfähig zur sogenannten unabhängigen Friedensbewegung in der DDR seien. Dieser Anregung wurde von Poppe zugestimmt. 6 Weiterhin machte Uhl in dem Gespräch mit Poppe ihn mit dem Text einer Erklärung bekannt, in der gegen die Anfang Juni 1988 in Ljubljana/Jugoslawien erfolgte Inhaftierung von zwei Journalisten der jugoslawischen Zeitung »Mladina« und einem Angehörigen der jugoslawischen Armee wegen Verrats von Militärgeheimnissen protestiert wird. Diese Erklärung sollte nach 2 Zu Katrin Eigenfeld (geb. 1946), die in der Opposition in Halle aktiv war und mehrfach verhaftet worden ist, siehe z. B. Helmut Müller-Enbergs: Katrin Eigenfeld, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 260–263; Ingrid Miethe: Katrin Eigenfeld, in: Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel. Berlin 2011, S. 38–39. 3 Die Einladungen sind auf dem offiziellen Postweg verschickt worden, sodass die Stasi-Abt. M diese abfangen konnte. Zugleich aber sind sie über Kuriere (bundesdeutsche Journalisten) in die DDR geschmuggelt worden (Information von Gerd Poppe am 11.10.2013). 4 Obwohl zu den Eingeladenen mindestens zwei IM gehörten, sind bisher keine entsprechenden Berichte zu einem entsprechenden Treffen aufgefunden worden. Eine dritte als IM tätige Person informierte lediglich im Vorfeld ebenfalls über die Absicht eines solchen Treffens: MfS, HA XX/2, Hinweis des IMB »Karin Lenz«, 8.6.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 247. Spätestens am 13.6.1988 wurde bei einem Treffen der IFM in der Wohnung von Antje und Martin Böttger tatsächlich über diese Problematik gesprochen. Ebenda, Bl. 276. Hier findet sich auch eine Bestätigung für die ausgebliebene Ankunft der Postsendungen und die alternative Zustellung von Kopien der Einladungen durch einen Boten. 5 Siehe Dok. 85. 6 Siehe ebenda.
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Dokument 86 vom 13. Juni 1988
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Vorstellung von Uhl jeweils von drei Personen aus der Ungarischen VR, der VR Polen, der ČSSR, der UdSSR und der DDR unterzeichnet und danach am 12.6.1988 in nicht näher benannter Form publiziert werden. 7 Darüber hinaus soll dieser Text von Uhl auch auf dem geplanten Seminar verbreitet werden. Nachdem sich Poppe sofort zur Unterzeichnung dieses Textes bereit erklärt hatte, übermittelte er am 11.6.1988 an Uhl, dass die operativ bekannten Peter Grimm und Reinhard Weißhuhn als weitere Unterzeichner aus der DDR genannt werden könnten. Mit dem Ziel der Unterbindung einer Teilnahme von feindlich-negativen Personen aus der DDR an dem geplanten Seminar in Prag wird vorgeschlagen, – alle Bezirksverwaltungen über das geplante Seminar zu informieren und die vorbeugende Einleitung von Reisesperren im pass- und visafreien Reiseverkehr zu den maßgeblichen Vertretern politischer Untergrundtätigkeit zu veranlassen, – gegen die durch Kavan eingeladenen DDR-Bürger Reisesperren im passund visafreien Reiseverkehr zu verfügen, soweit diese Maßnahme nicht bereits eingeleitet ist und – über den Zeitraum des geplanten Seminars verstärkte inoffizielle und operative Kontrollmaßnahmen zu den operativ bekannten Untergrundpersonen zu realisieren. 8
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Siehe ebenda. Siehe Dok. 85, Anm. 4.
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Dokument 87 Information zu Generalmajor a. D. Gert Bastian (Originaltitel) 20. Juni 1988 Von: MfS, HA XX/2 An: MfS, HA XX/AKG, HA XX/5 Quelle: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 321
Streng intern wurde erarbeitet, dass [Gert] Bastian am 19.6.1988, gegen 18.40 Uhr, vom Telefonanschluss in der Wohnung [Ulrike und] Gerd Poppes in der Hauptstadt der DDR Verbindung mit einem Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Empfang der Konferenz für kernwaffenfreie Zonen im Palasthotel1 [Kontakt] aufnahm. Bastian teilte diesem Mitarbeiter, obwohl er und die [Petra] Kelly sich bereits in der DDR-Hauptstadt bei feindlichen Kräften des politischen Untergrundes befanden, 2 mit, dass die Arbeitsgruppe kein Auto zur Grenzübergangsstelle [zu] schicken brauche, da »sie dann selber rüber kommen«. 3
1 Das »Palasthotel« war 1979 eröffnet worden und bis auf einzelne Restaurants ausschließlich westlichen Gästen vorbehalten. In dem Komplex in der Karl-Liebknecht-Str. waren mehrere Zimmer vom MfS mit Video- und Tontechnik zur Überwachung besonders interessanter Gäste ausgestattet worden. Außerdem unterhielt die Koko hier verdeckte Büros. Das Hotel ist 2000 geschlossen und 2001 abgerissen worden. Auf dem Gelände steht heute das CityQuartier »DomAquarée«. 2 Gert Bastian und Petra Kelly sind seit ihrer Einreise per Pkw am 19.6.1988 nach Ost-Berlin vom MfS beschattet worden. Z. B. MfS, HA VIII, Operative Information 519/88, 19.6.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 317–319. 3 Siehe zu den Hintergründen Dok. 82, Anm. 5.
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Dokument 88 Information zu einem Gespräch von Wolfgang Templin mit Gerd Poppe am 20.6.1988 (Originaltitel) 20. Juni 1988 Von: MfS, HA XX/2 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 14, Bl. 358
Streng intern wurde erarbeitet, dass sich [Wolfgang] Templin bei [Gerd] Poppe nach dem Besuch von [Gert] Bastian und [Petra] Kelly am 19.6.1988 erkundigte. 1 Templin erwähnt, dass er eine längere Unterhaltung mit Roland Jahn hatte, ohne etwas über den Inhalt zu offenbaren. Poppe informierte, dass man sich mit ihren »alten, lieben Freunden« Bastian und Kelly in einem kleinen Kreis getroffen hätte. Templin bezeichnete es als positiv, »wenn eine solche Zeit wieder angebrochen ist«. Poppe entgegnete, dass die Einreisen wegen der Konferenz zeitlich begrenzt sein würden. 2 Poppe bezeichnete gegenüber Templin die Konferenz für kernwaffenfreie Zonen als ein »Spektakel«, das bereits jetzt auf Hochtouren laufe. Er geht davon aus, dass sich bei ihm weitere Kontaktpartner aus dem Operationsgebiet melden werden. Ihn persönlich interessiere nicht der Verlauf der Konferenz für kernwaffenfreie Zonen, sondern die Begegnungen mit den Kontaktpartnern aus dem Operationsgebiet. Poppe informierte Templin über die Begegnung von Vertretern der Kirchenleitung mit der »Initiative Frieden und Menschenrechte« am 13.6.1988, speziell zu den Beschlüssen der Kirchenleitung, die die »Initiative« selbst betrafen. 3 1 Siehe zu den Hintergründen Dok. 82, Anm. 5. 2 Das traf zu. 3 Bischof Forck teilte den IFM-Mitgliedern mit, dass es keine nachfolgenden Gespräche zwischen Kirchenleitung und IFM mehr geben würde, da alles Grundsätzliches besprochen sei und man sich künftig nur bei akutem Bedarf zusammensetzen werde. Außerdem würde auch Wolfgang Schnur nicht mehr im Auftrag der Kirche nach England fahren können, da für Bohley, Fischer und Wollenberger nichts mehr zu unternehmen sei. Die Kirche gehe davon aus, dass Bohley/Fischer Anfang August in die DDR zurückkehren könnten, sollte dies nicht möglich sein, würde man an die Öffentlichkeit gehen. Über das Gespräch am Abend des 13.6.1988 sind mehrere IM-Berichte überliefert: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 258–261, 270–275, 279–282, 290–292, 307–311; BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 13, Bl. 38–39. Zur heimlichen Vorverlegung des Einreisetermins um 3 Tage war es gekommen, um so der zu erwartenden westlichen Medienberichterstattung zuvorzukommen. Bischof Forck wandte sich deshalb nach Rücksprache mit Bohley und Fischer am 30.6.1988 an Honecker und schlug diese Vorverlegung vor (Bischof Forck an Staatsratsvors. Honecker, 30.6.1988. BArch DY 30, IV 2/2/2039/277, Bl. 152). Egon Krenz schlug seinerseits Honecker unter Bezug auf Unterlagen von Mielke vor, dieser Idee von Forck zu folgen (Egon Krenz an Erich Honecker, ZK der
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Dokument 88 vom 20. Juni 1988
Templin betonte, dass er sich auf seine Rückkehr in die DDR freue. In diesem Zusammenhang interessierte Templin, ob hinsichtlich der geplanten Wiedereinreise von [Bärbel] Bohley und [Werner] Fischer am 6.8.1988 auf der Friedenswerkstatt am 26.6.1988 etwas vorgesehen sei. 4 Poppe verwies darauf, dass dieses Problem von mehreren Teilnehmern der Konferenz für kernwaffenfreie Zonen, darunter vermutlich auch Bastian und Kelly, gegenüber Vertretern der Partei- und Staatsführung der DDR nachdrücklich dargelegt werden soll, da man ihnen selbst keinen Glauben schenken würde. Die Vertreter der Partei- und Staatsführung der DDR müssen einsehen, dass ein Wiedersehensfest im kleinen Rahmen leichter zu verkraften wäre als massive Proteste bei einer Verweigerung der Wiedereinreise von Bohley und Fischer. Templin informierte über eine Begegnung mit einem Christian (Näheres nicht bekannt), 5 der ihm ausführlich zu den Geschehnissen während des Friedensseminars der »Charta 77« in Prag berichtete. Poppe habe ebenfalls schon von Teilnehmern (gemeint sind die [Marie-Luise] Lindemann und XXX 6) des Seminars in Prag Informationen erhalten. 7 Vertretern der sogenannten unabhängigen Friedensbewegung der DDR wäre es nicht gelungen, in die ČSSR einzureisen. 8
SED-Hausmitteilung, 1.7.1988. Ebenda, Bl. 153–154). Am 5.7.1988 ist Stolpe im Staatssekretariat informiert worden, dass der vorfristigen Wiedereinreise zugestimmt worden sei. Stolpe erklärte, er würde sich für eine diskrete Abwicklung einsetzen und entsprechend versuchen auf Forck, Bohley und Fischer, Einfluss auszuüben. Die SED erklärte Stolpe gegenüber, Bohley und Fischer müssten sich »jeglicher staatsfeindlicher Betätigung enthalten und [dürften] nicht in ihr früheres Umfeld zurückkehren. Es wurde klargestellt, dass sonst strafrechtliche Sanktionen folgen könnten.« (BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 104–107, Zitat Bl. 105). 4 Schon um die Wiedereinreise nicht zu gefährden, war nicht geplant worden, auf der Friedenswerkstatt in der Erlöserkirche am 26.6.1988 in dieser Hinsicht etwas zu unternehmen. Zur Friedenswerkstatt siehe u. a.: BStU, MfS, BV Frankfurt/O., Abt. XX/2, Information über eine am 26.6.1988 stattgefundene Friedenswerkstatt in der Erlöserkirche Berlin, 14.7.1988. BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOP 740/89, Bd. 1, Bl. 221–222. 5 Wahrscheinlich ist Christian Semler (1938–2013) gemeint, der über das Seminar berichtete: Prager Friedensseminar gesprengt, in: taz vom 21.6.1988. Zu dem einstigen Kopf der außerparlamentarischen Opposition und Linksradikalen, der in den 1980er Jahren zu den wichtigen Unterstützern der osteuropäischen Opposition zählte, siehe die Aufsatzsammlung Christian Semler: Kein Kommunismus ist auch keine Lösung. Texte und Essays. Berlin 2013. 6 Ein Mitglied der »Grünen Partei der Schweiz« (gegr. 1983). 7 Sie besuchten auf ihrer Rückreise Gerd und Ulrike Poppe in Ost-Berlin. 8 Siehe zu den Hintergründen Dok. 85, Anm. 4.
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Dokument 89 Telefonat zwischen Katja Havemann und Bärbel Bohley 23. Juni 1988 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Günther] Heimann Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 11, Bl. 3–4 Anmerkung: Das Gespräch fand vom Telefonanschluss Werner Fischers in Ost-Berlin statt, weshalb es im OV »Schieber«, den das MfS gegen Werner Fischer führte, abgelegt worden ist. Fischer war zu diesem Zeitpunkt wie Bohley noch in London.
Katja Havemann meldet sich bei Bärbel Bohley. Die H[avemann] kommt gerade von [Antje und Martin] Böttger. Heute ist doch die Sache zu Ende. 1 Gert [Bastian] und Petra [Kelly] haben erzählt. Bevor sie davon berichtet, informiert sie Bärbel [Bohley] davon, dass Herr [Wolfgang] Schnur heute mit den Sachen aus der beschlagnahmten Wohnung von Bärbel [Bohley] kam. Bücher sind noch keine dabei. Bärbels Post und Fotos und so weiter waren aber dabei. Petra [Kelly] ist heute mit dem [Erich] Honecker zusammengetroffen. 2 Der hat ihr väterlich gesagt, dass alles entschieden sei und Bärbel [Bohley] könne wieder nach Hause kommen. Sie (die Petra [Kelly]) soll sich nicht so aufregen. Sie soll mal an sich denken. Sie wäre fast umgefallen. Morgen will sie mit Gert [Bastian] zu [Manfred von] Ardenne3 fahren. Jetzt bleibt sie bei Martin [Böttger]. 1 Siehe zu den Hintergründen Dok. 82, Anm. 5. 2 Hierzu äußerte sich Kelly auch auf einer Zusammenkunft mit DDR-Oppositionellen in der Nacht vom 22. zum 23.6.1988, über die die 3 beteiligten IMB »Martin«, »Dietmar Lorenz« und »Maximilian« jeweils das MfS informierten: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 377–379, 380– 382, 383–385. Zusätzlich fertigte die HA XX/AKG die Information Nr. 432/88 »Hinweise über Pläne und Aktivitäten äußerer und innerer feindlich-negativer Kräfte zur geplanten Wiedereinreise von Bohley und Fischer am 6.8.1988«, in der sehr kurz auf die persönliche Begegnung zwischen Kelly und Honecker hingewiesen wird. BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 13, Bl. 75–77. 3 Manfred von Ardenne (1907–1997) war Erfinder und Naturwissenschaftler, der auf vielen Gebieten seine Spuren hinterließ und bereits in den 1920er und 1930er Jahren wichtige Bausteine für die Radio- und Fernsehtechnik lieferte. Mit 16 Jahren erhielt er sein erstes Patent für ein Verfahren zur »drahtlosen Telegraphie« (kommt also in diesem Buch zwar zufällig, aber doch passend vor). Abitur und Studium brach er jeweils vorzeitig ab und forschte in eigenen privaten Instituten. Nach 1945 musste er bis 1954 in der Sowjetunion arbeiten, wo er u. a. an der Entwicklung der Atombombe beteiligt war. Er kehrte in die DDR zurück und konnte in Dresden auf dem »Weißen Hirsch« ein privates Forschungsinstitut unter seinem Namen betreiben, das sich im gesamten Ostblock zum größten seiner Art entwickelte. Von Ardenne kam in allen politischen Systemen zurecht, in der DDR war er u. a. Volkskammerabgeordneter. Er wurde mit höchsten Orden und Auszeichnungen der DDR und Sowjetunion (Stalinpreis 1953) geehrt, galt in der Honecker-Ära als Aushängeschild für angebliche »freie Wissenschaft«. Neben zwei Autobiografien siehe zu der faszinierenden und umstrittenen
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Dokument 89 vom 23. Juni 1988
Außerdem will Petra [Kelly] vom Hotel aus versuchen, sich mit Bärbel [Bohley] in Verbindung zu setzen. Sie hatte es auch schon gestern versucht. Es ging aber nicht. Die H[avemann] erzählt weiter, dass XXX von der »obersten Staasie« die gleiche Auskunft erhalten hat. Der hat sich auch schon bei Bärbel [Bohley] gemeldet. Immer wenn Bärbel [Bohley] nach Hause kommt, erhält sie anonyme Anrufe. Heute hat »er« zum erstenmal auf Deutsch gesagt: »Wer ist denn da?« Die H[avemann] möchte wissen, ob es dabei bleibt, dass Bärbel [Bohley] gern auch noch früher kommen würde. Bärbel [Bohley] hat große Sehnsucht nach ihren Freunden und möchte so schnell wie möglich kommen. 4 […] 5 Die H[avemann] will noch etwas erzählen. Honecker bezog sich in dem Gespräch mit Petra [Kelly] auf ihr Gespräch in Bonn. 6 Da ging es auch um ein Bild von Bärbel [Bohley]. Dieses hat er jetzt in seinem Arbeitszimmer hängen und findet es sehr schön. Bärbel glaubt nicht daran. 7 Dann hat sie ihm wieder allerlei Zettel und Hefte gegeben. Mit ihnen unter dem Arm ist er dann durch alle Säle gelaufen. Gert [Bastian] geht morgen zu Bärbels Eltern. 1.20 Uhr 8
Persönlichkeit bis jetzt v. a. Gerhard Barkleit: Manfred von Ardenne. Selbstverwirklichung im Jahrhundert der Diktaturen. Berlin 2006. 4 Vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011. 5 Knapp werden hier wenige private Angelegenheiten wiedergegeben. 6 Vom 7. bis 11.9.1987 hielt sich Erich Honecker zu einem offiziellen Arbeitsbesuch in der Bundesrepublik auf, am 8.9.1987 traf er sich mit Vertretern der Grünen, darunter Petra Kelly. 7 Ob das Bild dort wirklich hing, ist eher unwahrscheinlich. Aber verbürgt ist, dass Petra Kelly Honecker ein Bild von Bärbel Bohley schenkte. Kelly sagte am 3.2.1988: »Als ich Erich Honecker … [einen] Brief [von Bärbel Bohley] im September 1987 in Bonn mit einer beziehungsvollen Grafik Bärbel Bohleys übergab, ließ er mich hoffen, dass es in Zukunft mehr Dialogbereitschaft und Verständnis des Staates gegenüber den unabhängigen Friedens- und Ökologiegruppen geben würde …« (Petra Kelly: Redebeitrag in der Aktuellen Stunde: Zu den aktuellen Ereignissen in Ost-Berlin und in der DDR, in: Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Stenografischer Bericht, 57. Sitzung, 3.2.1988, S. 3954). 8 Der Bericht trägt das Datum 23.6.1988, es könnte aber auch sein, dass bereits der 24.6.1988 begonnen hatte. Unter Berücksichtigung der verwandten Zeitformen (heute) und im Abgleich mit den in Anm. 2 genannten IM-Berichten ist jedoch eher davon auszugehen, dass das hier abgedruckte Telefonat in der Nacht vom 22. zum 23.6.1988 erfolgte.
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Dokument 90 Telefonat zwischen Wolfgang Schnur/Rainer Eppelmann und Bärbel Bohley/Werner Fischer 28. Juni 1988 Von: MfS, Abt. 26 Quelle: BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 13, Bl. 83–85 Anmerkung: Das Datum ist handschriftlich hinzugefügt worden.
Wolfgang Schnur 1 und Rainer Eppelmann nehmen zu Bärbel Bohley und Werner Fischer in London Kontakt auf. Werner Fischer bringt sein Unverständnis Wolfgang Schnur gegenüber zum Ausdruck, dass dieser »neulich« nur mit Bärbel Bohley sprechen wollte. Wolfgang Schnur meint, dass das auf einem Missverständnis beruhen müsste. Für ihn gehören die beiden Personen zusammen. Wolfgang Schnur berichtet dann, dass er seine Reise nach England nicht antreten kann. Die Pässe wurden eingezogen, nachdem schon die Reisegenehmigung erteilt war. Propst [Hans-Otto] Furian war noch einmal bei den staatlichen Stellen. Dort wurde ihm aber lediglich gesagt, dass sich neue Gesichtspunkte ergeben hätten. Was das konkret bedeutet, kann Wolfgang Schnur nicht sagen. Er selbst war nicht dabei und außerdem sei es bekannt, dass keine Begründungen für Ablehnungen gegeben werden. Werner Fischer bringt dann seinen Willen zum Ausdruck, dass er und Bärbel Bohley wieder in die DDR zurückkehren. Details der Rückkehr wird er aber erst im Verlaufe der Woche erfahren. Er und auch Bärbel Bohley sind nicht daran interessiert, dass darüber, weder im Westen noch in der DDR, ein Rummel entsteht. Das bezieht er nicht nur auf den Tag der Einreise, sondern auch danach. Werner Fischer berichtet dann, dass er zehn Tage in Holland war. 2 Dort hat er erfahren, dass Katja Havemann einige Sachen von Bärbel Bohley zurückerhalten hat. Das bestätigt Wolfgang Schnur. Er fügt hinzu, dass dabei auch Sachen von Werner Fischer waren. Bis auf die Bücher, die noch überprüft werden, sind alle Sachen »herausgegeben worden«. Werner Fischer möchte noch Klarheit über zwei Punkte. Erstens möchte er wissen, was es mit der zweiten Hausdurchsuchung in seiner Wohnung auf sich hat, als er bereits außerhalb der DDR war. Zögernd meint Wolfgang Schnur 1 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 2 Er war am 17.6.1988 losgefahren. Vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011, S. 110. Daher stimmt offenbar auch die handschriftliche Eintragung des Datums. In ihrem publizierten Tagebuch hat Bärbel Bohley im fraglichen Zeitraum lediglich ein Telefongespräch mit Schnur am 22.6.1988 vermerkt. Vgl. ebenda, S. 114.
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Dokument 90 vom 28. Juni 1988
dazu, dass diese zweite Hausdurchsuchung nicht belegbar ist. Zweitens möchte Werner Fischer wissen, was mit seinem Geld geworden ist. Wolfgang Schnur erklärt, dass die finanziellen Fragen in der Zwischenzeit geklärt wurden. Das Geld hat Katja Havemann in Verwahrung genommen. Werner Fischer erklärt dann, dass er in der ganzen Zeit nicht in Erfahrung bringen konnte, wer konkret mit wem verhandelt hat. Er erwartet nach seiner Rückkehr auch Selbstkritik von Wolfgang Schnur. Dieser erklärt, dass Werner Fischer an die Plötzlichkeit seiner Ausreise denken soll. Diese Plötzlichkeit verhinderte manches. Es ging damals in erster Linie um die Konfliktbewältigung. Wolfgang Schnur steht nach wie vor zu den Dingen, die er damals sagte. Werner Fischer meint, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als auch weiterhin auf Wolfgang Schnur zu zählen. Wolfgang Schnur hält es für verfrüht, dass die Wiedereinreise von Werner Fischer und Bärbel Bohley in Halle öffentlich propagiert wurde. Er selbst glaubt erst daran, wenn Werner Fischer und Bärbel Bohley persönlich vor ihm stehen. Werner Fischer übergibt die Gesprächsführung an Bärbel Bohley. Wolfgang Schnur informiert zunächst, dass er sich nicht bei Ralf Hirsch aufhält. Seine Reise nach England kam nicht zustande. Er wäre gerne gekommen, um die Probleme persönlich zu besprechen. Bärbel Bohley erklärt, dass sie sich nicht als Weltreisende fühlt. Für sie steht fest, dass sie in die DDR zurückkehrt. Auf den Besuch von Wolfgang Schnur hat sie monatelang gewartet und weiß nun nicht, warum er gerade jetzt kommen will. Vor fünf Monaten wäre es wichtig gewesen, wenn er gekommen wäre. Inneren Halt haben ihr eigentlich nur die häufigen telefonischen Kontakte zu Katja Havemann und Irena Kukutz 3 gegeben. Wolfgang Schnur übergibt dann an Rainer Eppelmann. Rainer Eppelmann informiert, dass er sich mit Paul Oestreicher 4 unterhalten hat. Dieser ist, was die Rückkehr von Bärbel Bohley und Werner Fischer betrifft, sehr zuversichtlich. Bärbel Bohley weiß bereits davon. Sie hat in der vergangenen Nacht mit Paul Oestreicher gesprochen. Sie bringt noch einmal ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck, dass gerade jetzt jemand kommen wollte, um sich mit ihnen über die Rückkehr zu unterhalten. Sie haben immer gesagt, dass sie vor Monaten mit jemand sprechen wollten. Davon ist aber nichts bei Rainer Eppelmann angekommen. Bärbel Bohley kommt auf den Beschluss der Kirchenleitung zu sprechen. Sie versteht diesen Beschluss nicht. Rainer Eppelmann versucht zu erklären, dass die Kirche Berlin-Brandenburg davon ausging, dass sie in der DDR wirk3 Irena Kukutz (geb. 1950) arbeitete als freiberufliche Keramikerin, gründete 1982 die »Frauen für den Frieden« mit, ist vom MfS jahrelang verfolgt worden, engagierte sich 1989 im »Neuen Forum«, nach 1989 u. a. 1991–1994 MdA sowie Mitarbeiterin der Robert-Havemann-Gesellschaft. 4 Paul Oestreicher, Pfarrer und Publizist (geb. 1931), aktiv bei Amnesty International, engagierte sich für Beziehungen der Anglikanischen Kirche zu den evangelischen Kirchen in der DDR.
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Dokument 90 vom 28. Juni 1988
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sam werden kann, aber nicht in England. Die Kirchenleitung wollte Einfluss auf staatliche Stellen in der DDR nehmen und die englische Kirche sollte das in England tun. Der Beschluss sei als eine Art Arbeitsteilung zu verstehen. 5 Bärbel Bohley erklärt abschließend noch einmal, dass sie kommen werden, egal wie. Sie fügt wörtlich hinzu: »So hoch ist die Mauer in Berlin nicht und Leitern gibt es im Westen allemal.« Sie informiert, dass sie schon täglich die Tage abstreichen, die bis zu ihrer Rückkehr verbleiben. Sie unterstreicht noch einmal, dass die telefonischen Kontakte zu ihren Freunden ihnen die Hoffnung erhalten hat und nicht die Absicht, dass jemand anreisen wollte, um mit ihnen zu sprechen. Dieses Problem werden sie erörtern, wenn sie wieder in der DDR sind. 18.28 Uhr
5 Am 13.6.1988 hatte Bischof Forck der IFM mitgeteilt, dass Wolfgang Schnur nicht mehr im Auftrag der Kirche nach England fahren könne, da für Bohley, Fischer und Wollenberger nichts mehr zu unternehmen sei. Die Kirche gehe davon aus, dass Bohley/Fischer Anfang August in die DDR zurückkehren könnten, sollte dies nicht möglich sein, würde man an die Öffentlichkeit gehen. Über das Gespräch am Abend des 13.6.1988 sind mehrere IM-Berichte überliefert: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 258–261, 270–275, 279–282, 290–292, 307–311; BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 13, Bl. 38–39. Zur heimlichen Vorverlegung des Einreisetermins um 3 Tage war es gekommen, um so der zu erwartenden westlichen Medienberichterstattung zuvorzukommen. Bischof Forck wandte sich deshalb nach Rücksprache mit Bohley und Fischer am 30.6.1988 an Honecker und schlug diese Vorverlegung vor (Bischof Forck an Staatsratsvors. Honecker, 30.6.1988. BArch DY 30, IV 2/2/2039/277, Bl. 152). Egon Krenz schlug seinerseits Honecker unter Bezug auf Unterlagen von Mielke vor, dieser Idee von Forck zu folgen (Egon Krenz an Erich Honecker, ZK der SED-Hausmitteilung, 1.7.1988. Ebenda, Bl. 153–154). Am 5.7.1988 ist Stolpe im Staatssekretariat informiert worden, dass der vorfristigen Wiedereinreise zugestimmt worden sei. Stolpe erklärte, er würde sich für eine diskrete Abwicklung einsetzen und entsprechend versuchen auf Forck, Bohley und Fischer, Einfluss auszuüben. Die SED erklärte Stolpe gegenüber, Bohley und Fischer müssten sich »jeglicher staatsfeindlicher Betätigung enthalten und [dürften] nicht in ihr früheres Umfeld zurückkehren. Es wurde klargestellt, dass sonst strafrechtliche Sanktionen folgen könnten.« (BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 104–107, Zitat Bl. 105).
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Dokument 91 Lagebericht zur Aktion »Störenfried« (Originaltitel) 2. Juli 1988 Von: MfS, HA XX Quelle: BStU, MfS, HA IX 3218, Bl. 75–79
[…] 1 Am 30.6.1988 fand in der Zeit von 20.00 bis 21.45 Uhr in der AndreasMarkus-Gemeinde Berlin-Schöneweide 2 ein Treffen der sogenannten Telefongruppe zur Schaffung eines Kontakttelefons statt (Hinweise über das Nichtstattfinden bestätigten sich nicht.). Insgesamt nahmen 13 Personen aus verschiedenen Gruppen teil, darunter die operativ bekannten Poppe, Ulrike, Weißhuhn, Reinhard, Kirchner, Dankwart, Singelnstein, 3 Christoph [und] Birthler, Marianne. Dankwart Kirchner und Marianne Birthler informierten die Teilnehmer darüber, dass sie am 24.6.1988 die Frage der Einrichtung eines Kontakttelefons auf der Kirchenleitungssitzung vortragen konnten und Bischof [Gottfried] Forck sowie Konsistorialpräsident [Manfred] Stolpe auf ihrer Seite hätten, aber ihr Antrag mit sieben gegen vier Stimmen abgelehnt wurde. 4 Aufgrund dieser Ablehnung wurde vorgeschlagen, den Leiter der Evangelischen Akademie Magdeburg, Tschiche, Hans-Joachim, 5 der gleichzeitig theologischer Betreuer vom Nachfolgeausschuss 6 »Konkret für den Frieden« ist, für ihr neues »Projekt« zu gewinnen. Die Poppe, Ulrike teilte mit, dass sie in ihrer 1 Am Anfang stand der Hinweis, dass am 1.7.1988 die 118. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung in der DDR (bis 2.7.1988) in Ost-Berlin begonnen habe. 2 Hier irrte das MfS: Die genannte Gemeinde gehört zu Berlin-Friedrichshain. 3 Christoph Singelnstein (geb. 1955) war nach dem Abitur von 1974–1977 Bühnenarbeiter am Deutschen Theater in Ost-Berlin, studierte von 1977 bis 1982 Theaterwissenschaften, arbeitete anschließend als Kulturredakteur und Hörspieldramaturg; engagiert in der kirchlichen Friedensbewegung der DDR und in der IFM; im Juli 1990 von der Regierung de Maizière zunächst zum stellvertretenden Intendanten und im August zum Geschäftsführenden Intendanten des Rundfunks der DDR ernannt; seither Führungsfunktionen beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) bzw. Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). 4 Siehe auch die Meldung: Kein Kontakttelefon, in: taz vom 16.8.1988. 5 Hans-Joachim Tschiche (geb. 1929) studierte Theologie, 1958–1975 Pfarrer in Meßdorf (Altmark), ab 1975 Studienleiter und 1978–1990 Leiter der Ev. Akademie Magdeburg, seit 1980 Engagement in der kirchlichen Friedensbewegung, maßgeblich beteiligt an der Herausbildung überregionaler Netzwerke oppositioneller Gruppen, 1986–1988 Mitglied des Fortsetzungsausschusses des Netzwerks »Frieden konkret«, September 1989 Mitbegründer des »Neuen Forums«, 1990 Abgeordneter der Volkskammer, 1990–1998 MdL Sachsen-Anhalt; vgl. seine Autobiografie: Nun machen Sie man, Pastorche! Halle (Saale) 1999. 6 Es muss richtig heißen: Fortsetzungsausschuss.
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Dokument 91 vom 2. Juli 1988
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Eigenschaft als Regionalvertreter von Berlin-Brandenburg zu diesem Zweck ein Informationsschreiben an alle erfassten 78 Gruppen in Berlin-Brandenburg herausgeben werde. Ziel dieses Schreibens soll sein: 1. Alle Gruppen zu aktivieren, nach einer kirchlichen Gemeinde oder Institution zu suchen, die als »Rechtsträger für das Kontakttelefon« fungieren sollte. Somit sollte die Kirchenleitung »überrollt« werden. 7 2. Alle Gruppen sollten daran mitwirken, ein Informationsheft herauszugeben, in dem alle Gruppen aufgeführt werden, um einen Informationsaustausch auf diese Art bis zur Entwicklung eines Kontakttelefons zu überbrücken. Dieses Informationsheft soll in der Anzahl von 2 000 Exemplaren gedruckt und über die einzelnen Gruppen verteilt werden. Die Herstellung werde vermutlich das Stadtjugendpfarramt [Berlin] übernehmen. Als Termin für die Fertigstellung des Informationsheftes wurde November 1988 genannt. Bis Mitte September 1988 sollen die einzelnen Gruppen ihre Beiträge dazu abgeben. Es handelt sich um geäußerte Vorstellungen, für deren Realisierung zurzeit noch keine personelle und materielle Grundlage vorhanden ist. Im Anschluss an die Zusammenkunft wurde ein Flugblatt mit Hinweisen zur »Telefongruppe« (Text liegt vor) verteilt. Die nächste Zusammenkunft der Organisationsgruppe »Kontakttelefon« soll am 27.9.1988 stattfinden. Zur weiteren Aufklärung und Kontrolle der Aktivitäten dieses Personenkreises wurden politisch-operative Maßnahmen eingeleitet, um gegebenenfalls Gegenmaßnahmen durchzuführen. […] 8 Anlage Gut aufgelegt – Die Telefongruppe Zwar hat uns die Kirchenleitung die Unterstützung für ein Kontakttelefon verweigert. Zwar fehlt uns noch eine Gemeinde oder eine kirchliche Institu-
7 Im Januar 1989 stellte die Gethsemanegemeinde schließlich, nachdem monatelange Verhandlungen von Ulrike Poppe (Konkret für den Frieden, IFM), Marianne Birthler (AKSK, Stadtjugendpfarramt), Reinhard Weißhuhn (IFM), Christoph Singelnstein (Friedenskreis Golgathagemeinde) und Dankwart Kirchner (Arbeitskreis für christliches Friedenszeugnis der Gethsemanegemeinde) mit der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung ergebnislos blieben, einen Raum nebst Telefon zur Verfügung (RHG, Bestand MBi 08). Der Friedenskreis der Gethsemanegemeinde nannte sich laut Beschluss des Gemeindekirchenrates der Gethsemanegemeinde: Arbeitskreis für christliches Friedenszeugnis (Mitteilung von Dankwart Kirchner am 2.10.2011). 8 Ausgelassen ist ein knapper Bericht über die Zurückweisung von Ralf Hirsch am 1.7.1988 an der Güst Drewitz. Er wollte offiziell von West-Berlin über die DDR ins Bundesgebiet fahren. Er war vom Transitreiseverkehr ausgeschlossen worden. Siehe dazu Dok. 111, 114 und 123.
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Dokument 91 vom 2. Juli 1988
tion, die bereit wäre, mit uns die Verantwortung für das Kontakttelefon zu tragen. Aber: Wir haben eine Arbeitsgruppe, in der Vertreter von 14 Gruppen zusammenarbeiten. Wir haben ein Konzept. Wir haben eine lange Leitung: Wir hätten am 1.7.1988 anfangen können. Wir machen weiter und laden weitere Gruppen und Gemeinden ein, sich am Telefonprojekt zu beteiligen. Denn: Das Kontakttelefon ist nötig, weil es schnell über Gruppen, Termine und Vorgaben informiert, schnell koordiniert, einzelne orientiert, Gerüchte und Falschmeldung destruiert. Die Kirchenleitung sagt: Das Gruppentelefon ist tot! Wir sagen: Es lebe die Telefongruppe! 26.6.1988 --- kein Anschluss unter dieser Nummer --- 26.6.1988 Anfragen, Rückfragen, Zusagen z. B. an Ulrike Poppe, Rykestr. 28, Berlin 1055, Tel. 449XXX Dankwart Kirchner, Schönhauser Allee XXX, Tel. 449XXX Marianne Birthler, Göhrener Str. 11, Berlin 1058, Tel. 448XXX (alle während der Friedenswerkstatt 9 auf dem Gelände anzutreffen)
9
Diese fand am 26.6.1988 in der Ostberliner Erlöserkirche statt.
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Dokument 92 Monatsbericht über die im Juni 1988 von der Feindperson Roland Jahn (ZOV »Weinberg«) entwickelten feindlichen Aktivitäten (Originaltitel) 7. Juli 1988 Von: MfS, HA XX/5, Major [Reinhard] Jahnke 1 Quelle: BStU, MfS, U 34/89, Bd. 1, Bl. 376–380
Die zur Feindperson [Roland] Jahn gewonnenen Erkenntnisse verdeutlichen, dass dieser weiterhin darum bemüht ist, mit feindlichen Aktivitäten gegen die DDR in Erscheinung zu treten, seine diesbezüglichen Handlungen jedoch insgesamt an Wirksamkeit verloren haben und sein Einfluss auf Kräfte der politischen Untergrundtätigkeit spürbar eingeschränkt wurde. Die seit Ende Januar/Anfang Februar 1988 zu verzeichnende Tendenz der sporadischen Kontakte zu feindlich-negativen Kräften in der DDR setzt sich auch weiterhin fort. Nach wie vor zeigen die konsequenten und offensiven Maßnahmen staatlicher Organe gegen Kräfte der politischen Untergrundtätigkeit im Innern der DDR, verbunden mit den gegen Jahn gerichteten und realisierten vielfältigen politisch-operativen Maßnahmen, ihre Wirkung. So haben insbesondere – die Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen Jahn und die damit im Zusammenhang auf Anordnung des Generalstaatsanwaltes der DDR durchgeführten Aufnahmen und Überwachungen von Fernmeldegesprächen, auf deren Grundlage bedeutsame Beweise erarbeitet wurden, 2 – die enge Zusammenarbeit mit der HV A X zur gezielten Zersetzung und Verunsicherung,
1 Reinhard Jahnke (geb. 1945), Maurer, 1964–1967 NVA, anschließend Eintritt ins MfS, 1968 SED; 1967–1974 operativer Mitarbeiter der Abt. XX der BV Neubrandenburg, 1974–1976 Lehrgang JHS, Abschluss: Fachschuljurist; seit 1976 Mitarbeiter der HA XX, seit 1981 HA XX/9, seit 1984 stellv. Referatsleiter der HA XX/9, 1985 Beförderung zum Major; Entlassung zum 15.2.1990. 2 Am 17.12.1987 erfolgte die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Jahn mit folgender Begründung: »Jahn steht im dringenden Verdacht, landesverräterische Nachrichtenübermittlung begangen zu haben, indem er seit seiner Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR im Jahre 1983 seine Rückverbindungen dorthin nutzte, zielgerichtet nicht geheimzuhaltende Nachrichten über Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte sowie Maßnahmen staatlicher Organe in der DDR zu sammeln und zum Nachteil der Interessen der DDR an westliche Massenmedien übergab – strafbar gemäß § 99 Abs. 1 StGB.« Unterzeichnet von Generalmajor Rolf Fister (1929–2007), Leiter der HA IX im MfS (BStU, MfS, U 34/89, Bd. 1, Bl. 10). Außerdem ergingen ein Haftbefehl und Fahndungsmaßnahmen (ebenda, Bl. 13). Das war alles öffentlich nicht bekannt.
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Dokument 92 vom 7. Juli 1988
– der abgestimmte und koordinierte Einsatz inoffizieller Kräfte anderer Diensteinheiten, insbesondere HA II, HV A, Abteilung XXII und BV Berlin, sowohl innerhalb der DDR als auch im Operationsgebiet, – die gegen Jahn gerichteten Veröffentlichungen in Medien der DDR auf der Grundlage erarbeiteter operativer Erkenntnisse 3 Jahn in seinen feindlichen Aktivitäten gegen die DDR erheblich eingeschränkt. 4 Mit diesen Maßnahmen gelang es, ihn zunehmend von seinen früheren Kontaktpartnern weitgehend zu isolieren und den Informationsfluss somit wesentlich einzuschränken. Jahn ist gegenwärtig nicht in der Lage, als Schaltstelle zur Inspirierung und Organisierung der politischen Untergrundtätigkeit wirksam in Erscheinung zu treten. Mehrere Kontaktpartner des Jahn sowohl in der DDR als auch im Operationsgebiet wurden verunsichert bzw. verhalten sich bei Verbindungsaufnahmen durch Jahn vorsichtig, zurückhaltend und teilweise ablehnend. Dadurch ist Jahn nicht mehr, wie beispielsweise in den Monaten November/Dezember 1987, in der Lage, sich umfassend und aussagekräftig über die Situation innerhalb negativ-feindlicher Kreise in der DDR und deren Aktivitäten im Rahmen der politischen Untergrundtätigkeit zu informieren sowie als Inspirator und Koordinator feindlicher Aktivitäten gegen die DDR zu wirken. Damit wurde auch seine Position als sogenannter Berater und Anlaufstelle im Operationsgebiet erheblich geschwächt. Diese Situation wurde durch ernsthafte Auseinandersetzungen und Widersprüche zwischen Jahn und dem operativ bekannten Hirsch, Ralf nach dessen Übersiedlung in die BRD bzw. Westberlin verstärkt. Die Ursachen bestehender Differenzen zwischen beiden liegen – in der Konkurrenz durch Hirsch hinsichtlich dessen Profilierung als Schaltstelle für die Unterstützung feindlich-negativer Kräfte in der DDR unter Nutzung seiner Rückverbindungen, – in dem ständigen Bestreben von Jahn, materiellen Gewinn aus seinen feindlichen Aktivitäten zu erzielen und alle von Personen der politischen Untergrundtätigkeit aus der DDR erhaltenen Hinweise und Materialien medien-
3 Vgl. Hubert Reichel: »Leute, mit denen wir im engen Kontakt stehen …«. »Friedensstreiter« Jahn organisiert von Westberlin aus den Nachschub für die heißersehnte »DDR-Opposition«, in: Neues Deutschland vom 26.1.1988; Dichtung und Wahrheit, in: ebenda vom 2.2.1988; Journalisten auf Gehaltsliste der BRD-Geheimdienste, in: ebenda vom 3.2.1988; Wer steuert die sogenannte DDR-Opposition, in: ebenda vom 17.2.1988. 4 Vor allem hat dies einige Partner in der DDR eingeschüchtert und verunsichert. Einige »Maßnahmen«, wie z. B. das Ermittlungsverfahren, sind Jahn und anderen nicht bekannt geworden. Zu den Zersetzungsmaßnahmen gehörten z. B. gefälschte Briefe, die das MfS in Umlauf brachte (Beispiele in: RHG, RJ 03) und der Einsatz von IM, die ebenfalls Lügen oder Halbwahrheiten verbreiteten.
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Dokument 92 vom 7. Juli 1988
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trächtig zu vermarkten, ohne auf eine mögliche Konsequenz für die Kontaktpartner in der DDR Rücksicht zu nehmen, 5 – in der Aufnahme einer Tätigkeit des Hirsch beim Senat von Berlin/West, im Landesamt für zentrale soziale Aufgaben, 6 an der [Roland] Jahn selbst interessiert war, 7 – in den offensiven Maßnahmen des MfS zur Zersetzung und Verunsicherung. Die Differenzen eskalierten schließlich durch gegenseitige Beschuldigungen, geheimdienstliche Verbindungen und Kontakte einschließlich zum MfS zu unterhalten 8 sowie durch wiederholte Warnungen des Hirsch gegenüber seinen DDR-Kontaktpartnern, sich im Kontakt mit Jahn reserviert zu verhalten. Weiteren vorliegenden Informationen zufolge äußerte Hirsch: »dass er keine Lust mehr verspüre, mit Jahn zu sprechen«, dieser aber immer wieder versuche, die Verbindung zu ihm aufzunehmen, um Informationen aus der DDR zu erhalten, die er an die Medien entsprechend verkaufen könne. Insbesondere seit Rückkehr von seiner Südamerikareise, Ende April 1988, 9 bemüht sich Jahn, mit außerordentlicher Intensität seine Kontakte zu feindlich-negativen Kräften in der DDR wieder zu aktivieren. Zu diesem Zweck nahm er im Monat Juni zu den operativ bekannten Rathenow, Lutz (erf. HA XX/9), Poppe, Gerd (erf. HA XX/2), Jordan, Karl-Heinz (erf. BV Berlin, Abt. XX) und XXX (erf. HA XX/4) Verbindung auf. Dabei ist feststellbar, dass Jahn vordergründig bemüht ist, erstens Informationen aus der DDR zu erhalten und zweitens versucht er, die bei feindlich-negativen Kräften in der DDR weiter ausgeprägte ablehnende Position zu seiner Person abzubauen, um somit seine derzeitige Isolierung zu überwinden. 5 Siehe dazu Anm. 7. 6 Ralf Hirsch begann hier im April 1988 zu arbeiten und war mit der Beratung von Übersiedlern aus der DDR befasst. 7 Jahn konnte diese Stelle schon deswegen nicht haben wollen, weil sie eigens für Hirsch geschaffen worden war – und zwar auf Vermittlung von Rainer Eppelmann durch befreundete Westberliner CDU-Politiker. Die materiellen Bedingungen wiederum, unter denen Jahn die politische Arbeit für die Opposition im Osten organisierte, waren von Ost-Berlin aus nicht zu erkennen. Jahn, der einen Großteil seiner privaten Einkünfte in diese Arbeit einbrachte, war geradezu gezwungen, Nachrichten auch zu verkaufen – zur weiteren materiellen Unterstützung der Opposition im Osten. Dies ist erst nach 1990 von den meisten anerkannt worden. Ralf Hirsch betonte, dass Roland Jahn entgegen dieser Stasi-Darstellung ihm ganz entschieden zugeredet habe, diesen Job anzunehmen (Mitteilung Ralf Hirsch am 5.12.2011). 8 Roland Jahn und Ralf Hirsch betonen, dass diese Stasi-Interpretationen nicht zutreffen, sie haben sich niemals gegenseitig einer MfS-Zuträgerschaft bezichtigt. Dahinter sind eher IMInterpretationen zu vermuten, die im Plan von MfS-Zersetzungsmaßnahmen solche Gerüchte streuten, auch über die übertriebenen Konflikte zwischen beiden (Mitteilung von Roland Jahn am 3.1.2012, Ralf Hirsch am 7.12.2011). 9 Er kam am 29.4.1988 aus Südamerika zurück. Zu den Einzelheiten dieser Reise siehe im vorliegenden Bd. Dok. 50, Anm. 36.
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Dokument 92 vom 7. Juli 1988
So war Jahn bestrebt, von seinem derzeitig engsten Kontaktpartner, Rathenow, Lutz, Informationen zur aktuellen Situation aus der Hauptstadt der DDR während der Aktion »Progress 88« und der damit im Zusammenhang stehenden Sicherungsmaßnahmen zu erhalten. 10 Er interessierte sich besonders für die Lage Unter den Linden und im grenznahen Bereich während der durchgeführten Rockkonzerte vor dem ehemaligen Reichstagsgebäude in Berlin/West. 11 Mehrmals ließ sich Jahn in Form eines Situationsberichtes über, – Festnahmen und Gewaltanwendung, – Teilnehmerzahlen, Ordnungs- und Sicherheitskräfte, – den Verlauf der Rockkonzerte in Berlin-Weißensee von Rathenow informieren. Gleichfalls versuchte Jahn seine Kontakte zu den anderen genannten feindlich-negativen Kräften zu intensivieren und sie systematisch zur Gewinnung von Informationen zum Verlauf der bisherigen Kirchentage in der DDR, der Friedenswerkstatt und den Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Interessen von Vertretern der »Umweltbibliothek« und dem »grünökologischen Netzwerk« der »Arche« abzuschöpfen. 12 Dabei ist festzustellen, 10 Unter dem MfS-Codewort »Progress 88« wurden die Sicherungsmaßnahmen zusammengefasst, die im Zusammenhang mit dem »Internationalen Treffen für kernwaffenfreie Zonen« (20.– 22.6.1988) sowie international besetzten Open-Air-Rockkonzerten in Berlin-Weißensee (16., 18. und 19.6.1988) standen. Zu den Rockkonzerten vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 164–165. 11 Ein Jahr zuvor war es Pfingsten anlässlich solcher Konzerte zu heftigen Auseinandersetzungen auf der Ostseite gekommen. Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 162–165. 12 Das »grün-ökologische Netzwerk Arche« war im Januar 1988 von UB-Mitgliedern gegründet worden. Dies geschah gegen den Protest einer UB-Mehrheit, was schließlich dazu führte, dass am 2.5.1988 die UB einen sogenannten »Unvereinbarkeitsbeschluss« fasste: Mitglieder der Arche würden aus der UB ausgeschlossen (vgl. den redaktionellen Beitrag: Arche-Diskussion in der UmweltBibliothek endete mit Unvereinbarkeitsbeschluss, in: Umweltblätter 6/1988, S. 37–39; sowie: Arche und UB – UB und Arche, in: Arche Nova 1, S. 42). Zur Geschichte der Arche vgl. Carlo Jordan, Hans Michael Kloth (Hg.): Arche Nova. Opposition in der DDR. Das »Grün-ökologische Netzwerk Arche« 1988–1990. Berlin 1995. Die beiden Hauptkontrahenten interpretieren den »Unvereinbarkeitsbeschluss« ganz ähnlich. Vgl. Carlo Jordan: Akteure und Aktionen der Arche, in: ebenda, S. 42; Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986–1989. Mit Texten aus den »Umweltblättern«. Berlin 1992, S. 178–179. Letztlich ist der Beschluss aber nicht konsequent umgesetzt worden, mindestens drei UB-Mitglieder waren 1988/89 auch Arche-Mitglieder (Information von Christian Halbrock am 1.9.2011). Zudem ist offenbar tatsächlich beschlossen worden, dass UB-Mitglieder in der Arche mitarbeiten dürften, aber nicht als UB-Mitglieder, sondern als »Privatpersonen«. Sie hätten zugleich in der UB keine Stimmberechtigung mehr und dürften an UB-internen Diskussionen nicht teilnehmen. Auf mindestens vier Sitzungen im Februar, April und Mai 1988 ist darüber kontrovers debattiert worden (BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 3711, Bl. 108; BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Eröffnungsbericht zum OV »Tyrann«, 10.5.1988. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8697/91, Bl. 9). Die Erinnerungen daran divergieren erheblich (Information von Christian Halbrock am 1.9.2011). Siehe auch Carlo Jordan u. a: Erklärung zur Diskussion Arche – Umweltbibliothek, 11.4.1988 (RHG, ÜG 03); Carlo Jordan, Andreas Passarge: Information an den GKR – Zion, 4.7.1987 (ebenda).
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dass Jahn wieder zunehmend orientierend und beeinflussend auf seine Kontaktpartner einwirkte. So versuchte er im Zusammenhang mit dem Internationalen Treffen für kernwaffenfreie Zonen 13 den Poppe, Gerd dahingehend zu inspirieren, aus diesem Anlass etwas »Größeres« zu unternehmen, was von Poppe jedoch abgelehnt wurde. 14 Weiteren gewonnenen Erkenntnissen zufolge versucht Jahn nach wie vor, mit DDR-feindlichen Kräften im Operationsgebiet zusammenzuwirken, bzw. bestimmte politische Gremien der Alternativen Liste, der Partei Die Grünen oder deren Vertreter für seine gegen die DDR gerichteten Aktivitäten zu gewinnen und auszunutzen. So nahm er nach längerer Unterbrechung wieder an einer Mitgliederversammlung der AL am 28.5.1988, auf der ein Beschluss zur »Berlin- und Deutschlandpolitik« angenommen wurde, und an einem Treffen der Arbeitsgruppe »Berlin-Politik« am 6.6.1988 teil. Jahn forderte unter demagogischer Berufung auf den Umweltschutz in beiden Veranstaltungen dazu auf, sich verstärkt mit der Müllentsorgung, insbesondere Müllverbrennungsanlagen, und der Energiepolitik der DDR zu befassen. Auch wenn Jahn während der Mitgliederversammlung der AL nicht die erhoffte Unterstützung erhielt, genießt er nach inoffiziellen Hinweisen das volle Vertrauen innerhalb der AL in Westberlin und würde von der Fraktion im Abgeordnetenhaus und dem Vorstand der AL als akzeptabler Berater zu die DDR betreffenden Problemen anerkannt und genutzt. Die Arbeitsgruppe »Berlin-Politik« der AL stimmte den Vorschlägen von Jahn zu und beauftragte ihn, entsprechende Informationen zur Müllentsorgung der DDR zu beschaffen und geeignete Maßnahmen für das weitere Vorgehen der AG zu unterbreiten. Nach weiteren vorliegenden Hinweisen wurde zwischen Jahn und den bekannten Vertretern der Partei Die Grünen, Petra Kelly, Frieder Wolf [und] Gert Bastian im Zusammenhang mit dem Internationalen Treffen für kernwaffenfreie Zonen in Europa, ein enges, abgestimmtes und koordiniertes Zusammenwirken festgestellt. So wurde Jahn zu allen geplanten Vorhaben der Delegation der Grünen als Berater hinzugezogen und ständig konsultiert. Jahn unterstützte und bestärkte die Grünen nicht nur in ihrem Vorgehen, sondern trat aktiv mit weiteren Vorschlägen für feindliche Aktivitäten wie, – die Durchführung einer gegen die offizielle Berichterstattung der DDR gerichteten Presse- und Medienarbeit durch die Partei Die Grünen, – Vertretern der Regierung der DDR eine Liste von in der DDR inhaftierten Personen zu übergeben und deren unverzügliche Freilassung zu fordern, 13 Siehe zu den Hintergründen Dok. 82, Anm. 5, vgl. auch Dok. 88 und 89. 14 Gerd Poppe kann sich nicht erinnern, was damit gemeint gewesen sein könnte. Er habe ohnehin in keinem Fall die Wiedereinreise von Bärbel Bohley und Werner Fischer gefährden wollen. Zugleich habe er diesem »Internationalen Treffen« keine besondere Beachtung geschenkt und hätte dieses auch nicht durch irgendwelche Aktionen unnötig aufwerten wollen (Information von Gerd Poppe vom 15.10.2011).
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– die Nutzung der im Rahmen des Treffens geplanten Veranstaltungen, um öffentlichkeitswirksam auf Auseinandersetzungen zwischen Staat und feindlich-negativen Kräften in der DDR hinzuweisen, in Erscheinung. Gleichzeitig nutzt Jahn die offizielle Delegation der Grünen, insbesondere Bastian und Kelly, dazu aus, unter Missbrauch ihres bevorrechteten Status, während der Konferenz bisher noch nicht näher bekannt gewordene Materialien in die DDR einzuschleusen und an die operativ bekannten Böttger, Martin und Poppe, Gerd zu übergeben. 15 Im weiteren Zusammenwirken mit westlichen Massenmedien kann eingeschätzt werden, dass Jahn auch hier an Einfluss und Wirksamkeit verloren hat. So ist Jahn nicht mehr, wie in der Vergangenheit, in der Lage, westlichen Medien verwertbare Informationen anzubieten. Sichtbarer Ausdruck dessen ist vor allem die merklich geringer gewordene Aktivität von Jahn bei der Westberliner »tageszeitung« (»taz«). Das Zusammenwirken mit Medien beschränkt sich gegenwärtig offensichtlich nur noch auf die Gestaltung der Sendung »Radio Glasnost« des »Radio 100«. Charakteristisch ist, dass Jahn auch hier nicht über die notwendigen Informationen zur Gestaltung von Sendebeiträgen verfügt. Als einzige Informationsquellen hierfür stehen Jahn offenbar lediglich die operativ bekannten Schefke, Siegbert (erf. BV Berlin, Abt. XX) und Rathenow, Lutz zur Verfügung. Insbesondere Schefke wurde von Jahn mehrmals zur Anfertigung konkreter Beiträge aufgefordert. So sollte er für die Sendung am 27.6.1988 Themen über – den Verlauf des Kirchentages in Halle (24.–26.6.1988) und den dort durchgeführten Veranstaltungen der KvU, – die Ereignisse Unter den Linden und am Brandenburger Tor im Zusammenhang mit den bekannten Rockkonzerten in Westberlin, – das Vorgehen von Sicherheits- und Ordnungskräften auf den Tonträger vorbereiten, wozu sich Schefke bereit erklärte. In der Sendung »Radio Glasnost« am 27.6.1988 wurden Beiträge über den Kirchentag in Halle und den dort durchgeführten KvU veröffentlicht. 16 Bei mehreren feindlich-negativen Kräften in der DDR, u. a. Rüddenklau, Wolfgang, ist die inhaltliche Gestaltung der Sendung auf heftige Kritik und 15 Neben Büchern, Zeitungen, Wochenmagazinen (z. B. »Spiegel«) gab er ihnen auch die neueste Ausgabe von »dialog« in dutzenden Exemplaren zum Verteilen mit. 16 Außerdem ist über die Arche und den Kirchentag von Görlitz berichtet worden. In Görlitz war ein gesellschaftskritischer Brief der Initiativgruppe »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« verlesen worden. In Halle hatte Friedrich Schorlemmer »20 Thesen zur gesellschaftlichen Erneuerung« vorgetragen. Vgl. dazu Kowalczuk: Endspiel, S. 229–230; Friedrich Schorlemmer: Träume und Alpträume: Berlin 1990, S. 48–67 (die Rede in Halle einschließlich der Thesen des Wittenberger Friedenskreises). Die Sendung ist dokumentiert: MfS, ZAIG, Überblick über die inhaltliche Gestaltung der 11. Sendung von »Radio Glasnost – außer Kontrolle« (27.6.1988), 28.6.1988. BStU, MfS, SdM 1989, Bl. 67–69.
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Ablehnung gestoßen. Nach bisherigen Feststellungen erfolge die Verbringung der Tonmaterialien über bisher noch nicht konkret bekannt gewordene Kanäle nach Westberlin.
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Dokument 93 Vorschlag für eine weitere Maßnahme der Zersetzung und Verunsicherung gegen Roland Jahn und feindlich-negative Kräfte in der DDR (Originaltitel) 7. Juli 1988 Von: MfS, HA XX/5, Leiter Oberst [Hans] Buhl 1 Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5703, Bl. 54–55 Anmerkung: Es handelt sich um einen Durchschlag, der weder unterschrieben noch von einem Vorgesetzten bestätigt wurde. 2
Nach streng vertraulichen Hinweisen besteht zwischen Jahn, Roland und dem operativ bekannten Rüddenklau, Wolfgang ein gespanntes Verhältnis. Das Verhalten untereinander ist von mehr oder weniger gegenseitigen Vorwürfen und Anschuldigungen gekennzeichnet. So werden Jahn von Rüddenklau nachfolgende Fakten sinngemäß vorgeworfen: – Jahn verdient Geld durch den Verkauf bzw. die Vermarktung von Informationen auf Kosten der unterschiedlichen Gruppen in der DDR. – Er nimmt kaum oder keine Rücksicht auf die Interessen und mögliche Folgen dieser Gruppen, insbesondere durch Presseveröffentlichungen. – Er trifft Entscheidungen, ohne sich mit ihnen zu beraten und fungiert in Westberlin als »Exilregierung«. – Jahn sei das nächste Opfer, von dem sich Rüddenklau trennen will. 3 Jahn nimmt zu Rüddenklau im Rahmen von Kontaktaufnahmen vor allem zu Schefke, Siegbert und Jordan, Karl-Heinz 4 folgende Positionen ein: – Jahn ist durch die von Rüddenklau gegen ihn erhobenen Vorwürfe tief verletzt worden. (Gespräch am 4.7.1988). 5 – Jahn fordert Schefke auf, mit dafür zu sorgen, dass Rüddenklau durch die Basis der UB abgesetzt werden soll. 1 Das Dokument war zur Bestätigung entweder dem Leiter der HA XX, Generalmajor Paul Kienberg, oder dem für die HA XX zuständigen stellvertretenden Minister, Generaloberst Rudi Mittig, vorzulegen. 2 Wochen später ist diese Zersetzungsmaßnahme folgendermaßen beschrieben worden: »In der Anlage befindet sich noch der Vorschlag über mögliche offensive Zersetzungsmaßnahmen. Er ist nur als eine Diskussionsgrundlage gedacht.« (MfS, HA XX/5, Ltr. Oberst Buhl an BV Berlin, Leiter Abt. XX, 1.9.1988. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5703, Bl. 53.) 3 Zu den angeblichen Hintergründen siehe Dok. 92, Anm. 12. 4 Genannt: Carlo. 5 Es geht um die Frage, ob Jahn für einen westlichen Geheimdienst arbeite, was letztlich dazu führte, dass ihm die Ehrenmitgliedschaft in der UB im Herbst 1988 wieder abgesprochen wurde.
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Dokument 93 vom 7. Juli 1988
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– Jahn sieht Rüddenklau als den hauptsächlichen Initiator des Konfliktes zwischen UB und »Arche« an. 6 – Für Jahn sei Rüddenklau ein entscheidender Hinderungsgrund für die Beilegung der Differenzen zwischen UB und »Arche« (Jahn ist an der Beseitigung des Konfliktes stark interessiert). 7 Mit dem Ziel, – das gespannte Verhältnis zwischen Jahn und Rüddenklau weiter zu belasten, evtl. Abbruch der Verbindung untereinander zu erreichen, – die Auseinandersetzungen zwischen Kräften der UB und der »Arche« zu eskalieren und die Differenzen zu erhärten, 8 6 Siehe Dok. 92, Anm. 12. Die Mehrheit der UB meinte, es sei noch zu früh für eine Vernetzung, zumal von den Arche-Begründern auch eine internationale angestrebt wurde. Es scheint sich aber auch um einen gruppeninternen Machtkampf gehandelt zu haben. 7 Noch heute wird von einigen damals Beteiligten der Konflikt zwischen UB und Arche unterschiedlich bewertet und betrachtet. 8 Wolfgang Rüddenklau erklärte zu diesen Stasi-Interpretationen am 2.11.2011: »Es ist natürlich völliger Unsinn, wenn sie [die Stasi-Offiziere – d. Hg.] glauben, ich wäre sozusagen der Diktator der UB gewesen und dann zwischen Jahn und Hirsch erwogen wird, mich ›abzusetzen‹. Ich war einer der Wortführer der UB und habe mich dabei durchaus hauptsächlich aus dem Konsens heraus geäußert, der bei unseren wöchentlichen Sitzungen entstand. Außerdem war ich der Redakteur oder sagen wir mal im heutigen Sinne der Chefredakteur der »Umweltblätter« und habe dort – freilich immer im Konsens mit der übrigen Redaktion – eigene Meinungen äußern können. Von letzterer Position hätte mich die Redaktion oder der UB-Kreis ablösen können, aber niemand anderes. Da jede der Gruppen eine eigene politische Linie vertrat – die UB galt als anarchistisch – hätte die Forderung nach der Ablösung von Rüddenklau aus den Reihen der Initiative und insbesondere auch des machtpolitischer Spielchen verdächtigen Hirsch eher zur Verstärkung meiner Position in der UB geführt. Wenn also Roland und Ralf meine ›Absetzung‹ wirklich diskutiert hätten, dann wäre das höchstens ein Joke gewesen. […] Ich kann mich nicht erinnern, die dort als meine Position bezeichnete so dezidiert vertreten zu haben. Allerdings wurde auch von durchaus ihm freundlich gesinnten Leuten mehr oder minder verhaltene Kritik an seinem ›Führungsstil‹ geäußert. Es kamen dann immer mit den Büchern und Zeitungen solche kleinen Zettel, auf denen es hieß: macht dieses oder jenes. Darüber haben wir dann immer gelacht. ›Der Roland spinnt!‹ Allerdings wäre daraus fast ein böses Ei entstanden, wenn nicht von einem angewiderten Stasimann bei der Haussuchung in meiner chaotischen Wohnung ein solches Zettelchen im Müll übersehen worden wäre. Dieser Zettel hätte, im Reprint im ›ND‹ für den unbefangenen Leser in der Tat den ›Beweis‹ erbracht, dass Roland Jahn die DDROpposition leitet. Wahr ist jedenfalls, dass sich Roland bei der Spaltung der UB im Frühjahr 1988 mehr oder weniger verdeckt auf die Seite der Arche gestellt hatte, was sich unter anderem in einer parteiischen Belieferung mit Materialien aus dem Westen ausdrückte. Und die Stimmung derjenigen in der UB, die den Überblick über diese Lieferungen hatten, war ziemlich gereizt. Aber zu dem im Dokument projektierten Telefon-Fake ist es nicht gekommen. Stattdessen wurde von einem damaligen Scene-VIP … mir eröffnet, langjährige Freunde aus Westberlin hätten den Beweis, dass Roland im Dienste des CIA arbeite. Ich forderte Beweise und solche wurden auch versprochen. Es gab dann noch ein Telefongespräch mit Roland, der in der Wohnung von Vera Lengsfeld anrief, die während deren Abwesenheit von Katharina Harich gehütet wurde. Es war – daran erinnere ich mich – ein knallig heißer Augusttag 1988. Die Beweise sind nie geliefert worden ... Ich habe aber den Verdacht in der UB vorgetragen und unser Verhältnis zu Roland kühlte sich weiter ab – den Wünschen der Stasi entsprechend. Allerdings hatten wir seit der Ausreise von Bert Schlegel aus der DDR im Frühjahr 1988 und durch die Anti-Müllexport-Connection dann eine starke UBUnterstützergruppe in Westberlin, die Finanzierung und Belieferung übernahm, sodass statt der Connection
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Dokument 93 vom 7. Juli 1988
sollte mit Rüddenklau ein fiktives, als ein von Jahn ausgegebenes Gespräch mit nachfolgendem Inhalt geführt werden: Anrufer zu Rüddenklau: »Ich bin’s, Roland. Ich wollte noch mal auf unser letztes Gespräch zurückkommen. Mir ist endlich einiges klarer geworden, ich sehe die ganze Sache jetzt in einem völlig anderen Licht. Die Gedanken anderer über dich haben meine Meinung nur bestätigt. Ich weiß jetzt, was gespielt wird und werde dafür sorgen, dass du nicht mehr der Größte bist.« Ablauf Der Anruf soll durch Gen. Ltn. [Ulf] Hofmann, 9 HA XX/5, von einer öffentlichen Telefonzelle aus der Hauptstadt der DDR, in der Zeit vom 12. bis 15.7.1988, erfolgen. Zwischen Ltn. Hofmann und Jahn besteht in der Stimme, im Tonfall und im Dialekt eine fast völlige Übereinstimmung. Um bestehende Differenzen auch in der Breite weiter zu vertiefen, sollte auf der telefonischen Suche nach Rüddenklau der operativ bekannte XXX angerufen werden mit dem Hinweis »auf eine Abrechnung mit Rüddenklau«. Durch diese Maßnahme soll Rüddenklau in der Folge zu Handlungen gegen Jahn provoziert werden, um dessen Einfluss auf Kräfte der politischen Untergrundtätigkeit im Innern der DDR weiter zurückzudrängen. Der Vorschlag wurde mit dem Leiter der Bezirksverwaltung Berlin, Abteilung XX, Gen. OSL [Herbert] Heß, 10 beraten und abgestimmt. 11
zu Roland eine Diversifizierung von Transporten und Kontakten stattfand – sicherlich nicht das, was die Autoren der Zersetzungsmaßnahme beabsichtigt hatten.« 9 Ulf Hofmann (geb. 1958), 1976 SED, seit Oktober 1977 MfS, zunächst 1977–1981 in der Wacheinheit der BV Gera, 1981–1985 Studium der Kriminalistik an der HUB, Dipl.-Kriminalist; anschl. in der HA XX tätig, im Oktober 1988 zum Oberleutnant befördert; Entlassung zum 31.1.1990. 10 Herbert Heß (geb. 1935), Maschinenschlosser, 1954 SED, 1953–1956 hauptamtlicher FDJFunktionär; 1956 Eintritt ins MfS, vom 15.6. bis 31.8.1988 Offizier für Sonderaufgaben beim Leiter der BV Berlin, seit 1.9.1988 Leiter Abt. XX der BV Berlin, am 1.10.1989 zum Oberst befördert; Entlassung zum 28.2.1990. 11 Der Plan wurde nicht umgesetzt. Auf eine entsprechende schriftliche Anfrage am 14.12.2011 erklärte Ulf Hofmann, dass er von diesem Plan erstmals durch unsere Anfrage gehört habe. Zugleich betonte er, hätte er diesen Auftrag erhalten, so hätte er sich bemüht, ihn entsprechend umzusetzen. Ulf Hofmann hat sich nach 1989/90 von seiner einstigen MfS-Tätigkeit distanziert und eine kritische Haltung zum MfS und zur DDR-Realität entwickelt (E-Mail von Ulf Hofmann am 8.1.2012). Es ist darüber hinaus nicht bekannt, ob das MfS in anderen Zusammenhängen eine solche Zersetzungsmaßnahme tatsächlich angewandt hat.
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Dokument 94 Telefonat zwischen Werner Fischer und Ralf Hirsch 20. August 1988 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Uwe] Illmer 1 Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 11, Bl. 13–17
[…] 2 [Werner] Fischer bittet Ralf Hirsch in Westberlin um einen Rückruf. Nachdem sich Hirsch meldet, erkundigt er sich zunächst nach Fischers Befinden. Dieser weiß noch nicht so recht, was er dazu sagen soll. Es ist alles noch ein bisschen komisch. 3 Fischer erklärt dann, dass alles gut gelaufen ist, worauf Hirsch feststellt, dass Fischer und [Bärbel] Bohley ein großes Verwirrspiel verursachten. Die Medienlandschaft war völlig durcheinander. Fischer erwidert, dass sie überhaupt nichts verursachten, sondern sich genau so verhielten, wie es abgestimmt war. Hirsch hat das auch nicht so ernst gemeint. Er hat inzwischen eine Sammlung von Veröffentlichungen für Fischer und die Bohley fertig, die [er] demnächst abschicken wird. Einige andere Sachen, die Hirsch noch von Fischer hat, wird er auch abschicken. […] 4 Fischer meint dann, wenn die Kirche auch ein halbes Jahr lang geschlafen hat, aber in der Endphase hat sie sich bald ein Bein ausgerissen. Es war alles wirklich gut durchorganisiert. Hirsch wirft ein, dass aber auch alles viel Zeit gekostet hat. Fischer stellte nach der Einreise fest, dass der Medienrummel noch lange nach dem 4. August anhielt. Das konnte Hirsch auch feststellen. Fischer fand auch, es war in ihrem Interesse, dass das in den Medien so ausgewalzt wurde. Hirsch hatte das auch so beabsichtigt, denn es sollte bekannt werden, dass Fischer und die Bohley wieder in die DDR einreisen durften. Hirsch berichtet, dass an einem Tag die »graue Eminenz« bei ihm in der Wohnung sitzt, als es an der Tür klingelt und ein Journalist vor der Tür steht. 1 Uwe Illmer (geb. 1959), 1978 Zerspanungsfacharbeiter, anschließend Eintritt ins MfS, zunächst Wachregiment, ab 1.11.1981 Mitarbeiter der HA XX/9, 1988 Beförderung zum Leutnant; am 1.12.1989 Abschluss als Fachschuljurist der JHS. 2 Das erste dokumentierte Telefonat führt Werner Fischer mit Gisela Metz, sie verabreden sich. 3 Am 3.8.1988 waren Bärbel Bohley und Werner Fischer in die DDR zurückgekommen. 4 Fischer geht knapp auf seine Urlaubspläne ein. Das MfS notiert hierzu handschriftlich »Maßnahmen eingeleitet«.
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Dokument 94 vom 20. August 1988
Da dachte »der« (graue Eminenz) natürlich gleich, es wäre schon wieder irgendetwas im Busch. 5 Hirsch erklärt, dass er wegen dieser Einreise fast erschlagen worden wäre. Sein Ruf ist völlig versaut gewesen und einige Leute waren sehr böse auf ihn. Richtig verrückt wurde es erst, als Fischer und die Bohley in der DDR eintrafen. 6 Hirsch fand auch die Idee von Gisela Metz gut, gleich in den Urlaub zu fahren. Fischer erwidert, den Urlaub hatte [Manfred] Stolpe besorgt. Davon sprach Stolpe schon in London. 7 Dass Gisela und Johanna noch mitfahren konnten, hat Monika Haeger organisiert. 8 Fischer informiert, dass er gestern mit Bärbel Bohley ein Bier trinken war, um zu klären, wie es weitergehen soll, denn er fände es bescheuert, wenn sie nun, wo sie wieder in der DDR sind, aneinander vorbeigehen. Fischer glaubt, dass es irgendwie gehen wird. Er hat auch jetzt nicht mehr diesen Hass im Bauch. 9 Fischer möchte wissen, was denn so die anderen, z. B. [Dietmar] Linke 10 und Roland [Jahn], dazu sagen, dass er und die Bohley sich nicht mehr gemel5 Bei der »grauen Eminenz« handelte es sich um Manfred Stolpe (Information von Ralf Hirsch am 27.11.2013). 6 Das bezieht sich darauf, dass die Formalitäten und Termine vorher nicht kommuniziert wurden. Ralf Hirsch war einer der wichtigsten Ansprechpartner für Journalisten, die deshalb nicht erfreut waren, von Hirsch nicht informiert worden zu sein. Zur heimlichen Vorverlegung des Einreisetermins um 3 Tage war es gekommen, um so der zu erwartenden westlichen Medienberichterstattung zuvorzukommen. Bischof Forck wandte sich deshalb nach Rücksprache mit Bohley und Fischer am 30.6.1988 an Honecker und schlug diese Vorverlegung vor (Bischof Forck an Staatsratsvors. Honecker, 30.6.1988. BArch DY 30, IV 2/2/2039/277, Bl. 152). Egon Krenz schlug seinerseits Honecker unter Bezug auf Unterlagen von Mielke vor, dieser Idee von Forck zu folgen (Egon Krenz an Erich Honecker, ZK der SED Hausmitteilung, 1.7.1988. Ebenda, Bl. 153–154). Am 5.7.1988 ist Stolpe im Staatssekretariat informiert worden, dass der vorfristigen Wiedereinreise zugestimmt worden sei. Stolpe erklärte, er würde sich für eine diskrete Abwicklung einsetzen und entsprechend auf Forck, Bohley und Fischer versuchen, Einfluss auszuüben. Die SED erklärte gegenüber Stolpe, Bohley und Fischer müssten sich »jeglicher staatsfeindlicher Betätigung enthalten und [dürften] nicht in ihr früheres Umfeld zurückkehren. Es wurde klargestellt, dass sonst strafrechtliche Sanktionen folgen könnten.« (BArch DY 30, IV 2/2039/312, Bl. 104–107, Zitat Bl. 105). 7 Manfred Stolpe erklärt, dass er nicht in London war, aber dass es möglich sei, dass eine Nachricht von ihm übermittelt worden sei (Mitteilung Manfred Stolpe am 7.11.2013). Auch Werner Fischer erinnert sich daran, dass in Stolpes Auftrag ein Kirchenvertreter nach London kam, um die Rückreisemodalitäten zu besprechen (Mitteilung am 7.11.2013). Ralf Hirsch war allerdings in der ersten Juli-Hälfte auf Bitte von Stolpe hin in London und besprach die Einreisemodalitäten aber nur mit Bärbel Bohley (Mitteilung Ralf Hirsch am 27.11.2013). Bärbel Bohley vermerkt in ihrem Tagebuch dazu nichts, erwähnt nur einen Besuch einige Wochen zuvor von Hirsch in London (vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011, S. 109). 8 Johanna (geb. 1979) ist die gemeinsame Tochter von Gisela Metz und Werner Fischer. Monika Haeger war langjährige IM des MfS. 9 Die Beziehung der beiden war auseinandergegangen. 10 Dietmar Linke (geb. 1944), Theologe, engagiert in der kirchlichen Friedensbewegung und in Oppositionsgruppen, kurz vor Weihnachten 1983 zur Ausreise gezwungen, zugleich damit verbunden
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det hatten. Hirsch berichtet, die sind stinksauer auf ihn, weil er nichts gesagt hatte. Fischer versteht das, denn Hirsch musste ja den Prellbock für alles spielen. 11 Hirsch versichert, dass ihm das aber nicht viel ausgemacht hat. Einzig bei [Hans-Jürgen] Röder tat es ihm sehr leid, denn er hatte noch versucht, Röder zu erreichen. Dessen Telefon war aber besetzt und dann ging Hirsch davon aus, dass Röder von Stolpe informiert wird. Stolpe hat das aber nicht gemacht. Nun ist Röder wegen dieses bedauerlichen Missverständnisses furchtbar sauer auf Hirsch. Fischer findet das auch sehr bedauerlich, da es ja schon einmal vorkam, dass sie vergessen hatten, Röder zu informieren. Hirsch fährt fort, dass [Regina und Wolfgang] Templins getobt haben, weil sie es erst aus dem Radio erfahren haben, aber das ging ja alles so. Bei Hirsch gaben sich die Journalisten die Klinke in die Hand, um Interviews zu machen, da Fischer und die Bohley nirgends zu finden waren. Fischer möchte wissen, ob Hirsch zufällig das BBC-Interview Fischers gehört hat, da er zwanzig Minuten interviewt wurde, wobei schon vorher klar war, dass es dann auf 90 Sekunden zusammengeschnitten wird. Fischer hätte gern gewusst, was die nun aus dem Interview gemacht haben. Hirsch hat davon keine Kenntnis. 12 Fischer hat den Eindruck, dass hier alles ganz gut anläuft. Der Rechtsanwalt [Gregor] Gysi sagte zu ihnen, der Staat wolle mit ihnen Frieden haben. Fischer und die Bohley wünschen sich ja nichts anderes. Vielleicht gibt es jetzt eine andere Ebene der Verständigung. Hirsch meint, dies müsste ausprobiert werden. Hirsch glaubt auch, dass die ganze Sache für die DDR gut gelaufen ist. Auch die Kommentare in den Medien waren ja positiv für die DDR. Fischer betont, es ist durchaus anzuerkennen, dass sie (die DDR-Politiker) diesen Lernprozess bewältigt haben. Dem stimmt Hirsch zu, wobei er anmerkt, dass im Westen keiner daran glaubte. Er selbst war wahrscheinlich der Einzige. Hirsch möchte wissen, ob Stolpe auch zufrieden mit dem Ablauf war. Fischer bestätigt das. Für Stolpe war es das Jahrhundertereignis. Der hat sich wie ein König gefühlt. Fischer saß mit Stolpe in einem Auto auf der Fahrt von Prag nach Zossen. 13 Sie führten sehr gute Gespräche. Entzug der Ordinariatsrechte, erst ab 1987 wieder als Pfarrer tätig in West-Berlin (bis zum Ruhestand 1996). Umfangreiche publizistische Tätigkeit, u. a. zu Kirchen, Theologen und Stasi sowie: Niemand kann zwei Herren dienen. Als Pfarrer in der DDR. Hamburg 1988. 11 Siehe Anm. 6, die sich auch auf das Umfeld von Bohley, Fischer und Hirsch bezieht. 12 Das BBC-Interview ließ sich bislang nicht nachweisen. 13 Von London flogen Fischer und Bohley nach Prag, wo sie von Gysi, Stolpe und Anselm Bohley erwartet wurden. Mit zwei Autos fuhren sie anschließend in die DDR, aber ohne Gysi, der in Prag blieb. Vgl. Bohley: Englisches Tagebuch, S. 131. Es war vereinbart worden, die Rückkehr ohne großes mediales Aufsehen ablaufen zu lassen. Daher sind Bohley und Fischer zunächst nach Zossen in die Wohnung von Probst Furian gefahren worden, wo sie von wenigen engsten Freunden begrüßt wurden wie Katja Havemann und Irena Kukutz sowie den IM des MfS Monika Haeger, Wolfgang
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Im Verlauf des Gespräches erwähnt Fischer, dass gestern die Telefonrechnung im Briefkasten lag, die von Katja Havemann verursacht wurde. Der Rechnungsbetrag ist 991 Mark. Diese Summe rührt von den Gesprächen nach London. Fischer will nach Abschluss des Gespräches zu Gerd Poppe gehen. Außer XXX, die er gestern auf der Straße traf, hat er noch niemanden gesehen. Er will das auch ganz langsam angehen und in den nächsten Tagen mal diesen und jenen besuchen. Fischer findet es in seiner Wohnung richtig komisch. Man sieht ganz deutlich, dass »die« hier alles durchwühlt haben. Seine Notizen und Zettel liegen noch auf dem Schreibtisch, aber ganz viele Bücher wurden geklaut sowie Tonbänder mit Lesungen und alle Schallplatten. Fischer erkundigt sich, ob Hirsch eine Reaktion von [Stephan] Krawczyk über die Wiedereinreise hörte. Hirsch verneint, denn sowohl Krawczyk als auch die [Freya] Klier reden nicht mit ihm. Hirsch liest dann die Überschriften und Schlagzeilen verschiedener Zeitungen zur Wiedereinreise vor. Dabei stellen beide fest, dass die Berichterstattung ziemlich kurz ist. Es gibt keine längeren Beiträge. Fischer hat sich auch schon darüber Gedanken gemacht, warum die nicht größer berichtet haben. 14 Hirsch meint, es hat den Medien nicht in den Kram gepasst, dass beide in die DDR zurück durften. Fischer fügt hinzu, die waren bestimmt auch sauer, weil er und die Bohley alles, was von der rechten Presse kam, abblockten.
Schnur und Reiner Dietrich. Werner Fischer fuhr anschließend mit Gisela Metz und ihrer gemeinsamen Tochter nach Hiddensee in ein Pfarrhaus in Kloster, was Stolpe organisiert hatte. Bärbel Bohley übernachtete zunächst in der Berliner Wohnung von Irena Kukutz, fuhr anschließend für einige Tage auf das Grundstück nach Gehren und von dort dann zu Katja Havemann nach Grünheide, ehe sie in ihre eigene Berliner Wohnung zurückkehrte (MfS, HA XX/2, Information des IMB »Karin Lenz« am 4.8.1988. BStU, MfS, HA XX 20565, Bl. 310; MfS, HA XX/4, Bericht über die Ankunft von Bärbel Bohley und Werner Fischer am 3.8.1988 in der Wohnung von Probst Furian in Zossen, 4.8.1988. Ebenda, Bl. 311–314; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 4.8.1988. Ebenda, Bl. 315–317; MfS, HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 5.8.1988. Ebenda, Bl. 321–322). Am 13.8.1988 besuchten Bärbel Bohley und Katja Havemann Rechtsanwalt Gregor Gysi unangemeldet auf dessen Grundstück in Buckow, wo sich noch eine weitere benannte Person aufhielt. Laut dem Bericht von IM »Sputnik« bedankte sich Bohley bei Gysi für dessen Unterstützung und sie unterhielten sich über einige politische Fragen, aber auch darüber, wie Bohley wieder ihren Telefonanschluss zurückerhalte, der ihr während ihrer Abwesenheit weggenommen worden war (MfS, HA XX/9, Vermerk über ein Gespräch zwischen Rechtsanwalt Dr. Gysi mit Frau Bohley und Frau Havemann. Tonbandabschrift, Quelle: IM »Sputnik«, angenommen: Oberst Reuter, OSL Lohr am 15.8.1988. Ebenda, Bl. 324–326). 14 Es wurde in allen Zeitungen und Nachrichtensendungen berichtet, auch Einzelheiten sind bekannt gegeben worden, die sich häufig auf Informationen von Ralf Hirsch stützten. Es gab auch reißerische Überschriften wie: »Dissidenten-Heimkehr wie ein Agentenaustausch« (Kölner StadtAnzeiger vom 5.8.1988). Mehrere Zeitungen berichteten in größeren Artikeln, z. B.: Rückkehr für Andersdenkende, in: taz vom 5.8.1988. Ralf Hirsch selbst gab am 4.8.1988 RIAS I ein verhältnismäßig langes Telefoninterview zu den Umständen der Rückkehr von Bohley und Fischer.
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Hirsch wiederholt, dass das denen nicht in den Kram passt, weil die nun nicht mehr über die DDR herziehen können. Dem stimmt Fischer zu. Insgesamt, so konstatiert Fischer, wobei ihm Hirsch zustimmt, ist das alles ganz gut gelaufen. Allerdings, so berichtet Hirsch noch, ist »unser größter Meister« fast in Ohnmacht gefallen, weil er von der ganzen Sache nichts wusste und erst aus dem Radio davon erfuhr. Fischer weiß nicht gleich, wen Hirsch meint, worauf dieser den Roland (Jahn) nennt. Jahns Stimme und seinen Tonfall nachahmend sagt Hirsch, »das hätte man viel größer aufziehen müssen«. Hirsch widersprach dem jedoch. Es ist ohne Aufsehen alles sehr gut gelaufen. Im Verlauf des Gespräches stellt Hirsch fest, dass in seinem Telefonverzeichnis noch die Nummer Fischers in London enthalten ist. Scherzhaft fragt er, wann Fischer wieder einmal nach London fährt, worauf dieser lachend erwidert, nach der nächsten Verhaftung. Mit Grüßen an Poppe verabschiedet sich Hirsch und verspricht noch, sich wieder zu melden. 17.18 Uhr […] 15
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Es ist noch ein Telefongespräch von Werner Fischer mit seinen Eltern dokumentiert.
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Dokument 95 Information über einen Meinungsaustausch zwischen Freya Klier und Ulrike Poppe (Originaltitel) 14. September 1988 Von: MfS, HA XX/9 An: HA XX/AKG Quelle: BStU, MfS, HA XX 20565, Bl. 339–341
Inoffiziell 1 konnte erarbeitet werden, dass die operativ bekannte ehemalige DDR-Bürgerin Klier, Freya am 10.9.1988 telefonisch Kontakt zu Poppe, Ulrike, erf[asst]: HA XX/9, aufnahm und mit dieser Informationen und Meinungen zu verschiedenen Fragen austauschte. Freya Klier berichtete u. a., dass sie ihr Buch fertiggestellt habe und dieses Anfang Oktober im Kindler-Verlag München erscheinen werde. Das Buch hat autobiografischen Charakter und beinhaltet den Zeitraum von 1980 bis zur Übersiedlung der Klier im Februar 1988. 2 Die ev[angelische] Kirche der DDR soll nach Angaben der Klier wegen des Buches in Panik geraten sein und versucht haben, Einfluss zu nehmen. Sie würde jedoch mit der Kirche in ihrem Buch gemäßigt umgehen. Weiter wurde bekannt, dass Freya Klier bereits mit der Arbeit an einem zweiten Buch begonnen hat, welches sich mit dem »Verfall von Kultur und Bildung« in der DDR beschäftigen soll.3 Hierzu führte die Klier aus, dass sie entgegen Meldungen im »Friedrichsfelder Feuermelder« die Materialien über ihre diesbezüglichen Untersuchungen zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung nicht in ihrer Wohnung aufbewahrte und diese zwischenzeitlich wieder in ihrem Besitz hat. 4 Vorliegenden inoffiziellen Informationen zufolge tauschten Ulrike Poppe und Freya Klier im weiteren Verlauf des Gespräches ihre Meinungen zu der vom 27.8. bis 28.8.1988 in Krakow (VR Polen) durchgeführten »Internationalen Menschenrechtskonferenz« aus, an der nach ihrer Kenntnis Templin,
1 Es handelt sich um eine Telefonabhörmaßnahme. 2 Vgl. Freya Klier: Abreiß-Kalender. Versuch eines Tagebuchs. München 1988. Das Buch beinhaltete Aufzeichnungen aus dem Zeitraum Mai 1981 bis 3. Februar 1988. Das Buch fand in bundesdeutschen Print- und Funkmedien eine große Resonanz. 3 Das Buch erschien ebenfalls bei Kindler. Vgl. Freya Klier: Lüg Vaterland. Erziehung in der DDR. München 1990. 4 Das hatte Reinhard Schult im April 1988 behauptet. Siehe Reinhard Schult: Gewogen und für zu leicht befunden, in: Friedrichsfelder Feuermelder, extrablatt April 1988 (Samisdat). Siehe Dok. 79, Anm.4.
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Dokument 95 vom 14. September 1988
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Wolfgang 5 teilgenommen hat. 6 Beide stimmten darin überein, dass diese »Konferenz« im Wesentlichen von westlichen Botschaften, insbesondere der Botschaft der USA, finanziert und geprägt wurde und die »Menschenrechtsinitiativen« weniger zu Wort kamen. 7 Nach Meinung von Ulrike Poppe hatten die Menschenrechtsgruppen in der DDR keine Einladung zu dieser »Konferenz« erhalten. Freya Klier informierte im Weiteren darüber, dass der »Konvent« in Lund/Schweden beschlossen habe, am 15.11.1988 einen gesamteuropäischen Solidaritätstag mit der Bevölkerung Rumäniens zu veranstalten. 8 Hierzu würden in der BRD und anderen westlichen Ländern umfangreiche Aktivitäten entwickelt, [die] z. B. Unterschriftenaktionen, Demonstrationen sowie Blockierungen der rumänischen Botschaften beinhalten. Freya Klier sprach in diesem Zusammenhang die Hoffnung aus, dass auch die »Gruppen« in der DDR entsprechende Aktivitäten entwickeln werden. 9 5 Dem zerrissenen und rekonstruierten Dokument fehlt auf Seite 1 die rechte untere Ecke, sodass vom Namen »Wolfgang Templin« nur sichtbar ist »Tem…fgang«. Die Zuordnung aber ist eindeutig. 6 Darüber berichtete er. Vgl. Wolfgang Templin: Reisenotizen aus Osteuropa, in: Grenzfall 1– 12/1988, S. 3–7, nachgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 497–502. 7 Das ist eine typische Stasi-Interpretation, zumal ja niemand aus der Opposition der DDR hätte dorthin fahren dürfen. 8 Am 15.11.1987 war es in Braşov zu einem Aufstand gekommen. Ein Jahr später wurde europaweit daran erinnert und zugleich die damals brutalste kommunistische Diktatur angeprangert. Initiiert von Exil-Rumänen wurde der »Rumänientag« im November 1988 von zahlreichen Organisationen, Kirchen und Verbänden in Europa mitgetragen. Beschlossen wurde der internationale Rumänientag auf dem 7. END-Konvent in Lund vom 29.6. bis 2.7.1988. (MfS, Information über die Vorbereitung eines »Europäischen Aktionstages – Rumänien« und in diesem Zusammenhang geplante Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte in der DDR, 2.11.1988. BStU, MfS, HA XX/9 – 6, Bl. 40–47). Der Aufruf aus Lund findet sich als Anlage der ZAIG-Information 458/88 vom 2.11.1988 unter: www.ddr-im-blick.de. Gerd Poppe erinnert sich, dass sie von dem »Rumänientag« schon vor dem Anruf von Freya Klier von politischen Freunden aus West-Berlin erfahren hatten (Information vom 11.10.2013). Elisabeth Weber bestätigte (Mitteilung am 29.10.2013), dass sie eine Dokumentation über ein Informationsgespräch zur Lage in Rumänien direkt nach Erscheinen politischen Freunden in Ost-Berlin zukommen ließ. Vgl. Die Grünen im Bundestag (Hg.): Ceauşescu isolieren! Informationsgespräch über die Situation in Rumänien. Bonn, Juli 1988. Auf S. 52 wird der geplante internationale Protesttag angekündigt. 9 Eine Protesterklärung zu Rumänien gab die IFM vor dem 14.10.1988 heraus (der Text findet sich als Anlage der ZAIG-Information 458/88 vom 2.11.1988 unter: www.ddr-im-blick.de). Am 15.11.1988 fand abends in der Gethsemanekirche ein von der IFM veranstalteter Informationsabend zu Rumänien statt. U. a. hielten Gerd Poppe, Reinhard Weißhuhn, Ludwig Mehlhorn, Peter Grimm, Silvia Müller, Bärbel Bohley, Werner Fischer und Ulrike Poppe Vorträge zur Geschichte und Gegenwart Rumäniens (MfS, HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 16.11.1988. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 13, Bl. 334–336). Wegen dieser Veranstaltung sind mehrere IFM-Mitglieder tagsüber vom MfS sichtbar beschattet worden. Die meisten IFM-Mitglieder sind im Dienstwagen von Bischof Forck zur Kirche gebracht worden (MfS, BV Berlin, Abt. XX/2, Information zum Rumänienabend der »Initiative Frieden und Menschenrechte« am 15.11. in der Gethsemanekirche, 16.11.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 28, Bl. 255–258). In der DDR stand diese Aktion unter einem
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Dokument 95 vom 14. September 1988
Sie verwies auf einen in der »taz« veröffentlichten Artikel der deutschrumänischen Schriftstellerin Müller, Herta, 10 Westberlin, der die Situation in Rumänien sehr eindrucksvoll schildern soll. 11 Die Müller wird in nächster Zeit eine Lesung in der »Umweltbibliothek« durchführen und bei dieser Gelegenheit für ausführliche Gespräche zur Verfügung stehen. 12 Zwischen Ulrike Poppe und Freya Klier wurde vereinbart, dass die Klier Materialien über Rumänien und die im Westen geplanten Aktivitäten am 15.11.1988 an die Poppe weiterleitet und die Poppe ihrerseits Gespräche mit verschiedenen »Gruppen« über evtl. Aktivitäten zu diesem »Solidaritätstag« führt. Im weiteren Verlauf des Gespräches brachte die Poppe zum Ausdruck, dass sie und ihr Umfeld sehr froh über die Rückkehr von Bohley, Bärbel und Fischer, Werner in die DDR seien. 13 Die »Gruppen« seien jetzt aus dem »Sommerloch« heraus und würden langsam wieder zueinander finden. In der DDR würde gegenwärtig eine ulkige Situation bestehen. Ein ganzes Volk warte, wie
besonderen Vorzeichen, da Diktator Nicolae Ceauşescu auf Einladung Honeckers am 17. und 18.11.1988 die DDR besuchte. Bereits im Vorfeld hatte es bis weit in regimenahe Kreise darüber Unruhe gegeben, weil die Verhältnisse in der Ceauşescu-Diktatur bekannt waren und überwiegend abgelehnt wurden. Dies wurde noch befördert durch den Umstand, dass am 26.1.1988 das »ND« verkündet hatte, dass Ceauşescu anlässlich seines 70. Geburtstages die höchste DDR-Auszeichnung, der Karl-Marx-Orden, verliehen würde. Das sorgte für erhebliche Empörung. Zum »Rumänientag« siehe auch die Samisdat-Publikation der IFM: Ostkreuz. Politik, Geschichte, Kultur. Heft 1, Januar 1989 (zu Rumänien mit Zeitzeugenberichten und Beiträgen u. a. von Christian Dietrich, Richard Wagner, Reinhard Weißhuhn, György Schöpflin und Marianne Birthler) sowie Ludwig Mehlhorn: Das mit dem Essen und Heizen ist nicht das Schlimmste – Notizen nach einem Besuch in Siebenbürgen, in: Stephan Bickhardt (Hg.): In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn. Leipzig 2012, S. 87–102. Siehe auch die Leipziger Protesterklärung vom 29.10.1988 zur Menschenrechtslage in Rumänien, abgedruckt in: Umweltblätter 12/1988, Dezemberausgabe, S. 46. In WestBerlin organisierten Richard Wagner, Herta Müller, Helmuth Frauendorfer, Freya Klier, Jürgen Fuchs u. a. vor der Gedächtniskirche eine Protestveranstaltung, über die u. a. die SFB-Abendschau berichtete (Mitteilung von Freya Klier am 2.11.2013). Siehe auch Dok. 98, 99, 104, 105 und 106. 10 Herta Müller (geb. 1953), Deutsch-Rumänin, reiste 1987 in die Bundesrepublik aus; 2009 Nobelpreis für Literatur. 11 Herta Müller: Tod oder Knast oder Kinder. In Rumänien werden Frauen auf unvorstellbar grausame Weise unterdrückt, überwacht und zu Gebärmaschinen degradiert. Abtreiben darf eine Frau nur, wenn sie 5 Kinder geboren hat oder über 45 Jahre alt ist. Nach verpfuschten illegalen Abtreibungen Verhöre im Krankenhaus durch Geheimdienstler, die als Ärzte getarnt sind. Wer nicht aussagt, verblutet, in: taz vom 15.8.1988. 12 Tom Sello, Gerold Hildebrand oder Siegbert Schefke von der UB können sich an eine solche Veranstaltung nicht erinnern auch nicht daran, sie überhaupt geplant zu haben (Mitteilungen am 7./8.2.2013). Herta Müller hingegen schrieb d. Hg. auf eine entsprechende Anfrage am 11.5.2013: »…einmal war ich eingeladen, in Ost-Berlin zu lesen. Es war wohl die Einladung der ›Umweltbibliothek‹. Ich bekam aber keine Einreisegenehmigung in die DDR. Damals – so sagte man mir – wurde auch versucht, Christa Wolf einzuschalten, die sich aber geweigert hätte, die Einladung zu unterstützen. Kurzum, die ›Umweltbibliothek‹ war mir bekannt.« 13 Sie waren am 3.8.1988 in die DDR zurückgekehrt.
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es weitergeht. Es wird sehr viel über evtl. Veränderungen spekuliert und sie habe gehört, dass der nächste Parteitag auf 1989 vorverlegt werden soll. 14 Zu ihrer eigenen Person brachte die Poppe zum Ausdruck, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre berufliche Tätigkeit aufgeben wird. Da ihre Tochter jetzt zur Schule geht, wollte sie verkürzt arbeiten. Dies wurde jedoch von ihrem Betrieb abgelehnt. Hierin sieht die Poppe eine Maßnahme des Betriebes, um sie zur Kündigung zu bewegen. 15
14 Der XII. SED-Parteitag sollte planmäßig 1991 stattfinden, der XI. wurde 1986 abgehalten. Es wurde in der Gesellschaft seit Ende 1987/Anfang 1988 viel darüber gemunkelt, dass der nächste SED-Parteitag vorgezogen würde, um personelle und inhaltliche Veränderungen einzuleiten. SEDintern ist tatsächlich erst im Frühjahr/Sommer 1989 darüber nachgedacht worden, den nächsten Parteitag bereits 1990 stattfinden zu lassen. Von den Ereignissen erzwungen fand dann am 8./9. und 16./17.12.1989 ein außerordentlicher Parteitag statt, in dessen Ergebnis die SED sich in SED/PDS umbenannte und Gregor Gysi zum Vorsitzenden gewählt wurde. Vgl. Lothar Hornbogen, Detlef Nakath, Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.): Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin. Berlin 1999. Am 4.2.1990 entledigte sich die PDS ihres Beinamens SED. Verwaltungsjuristisch existiert die SED unter dem Namen »Die Linke« noch heute, weil sie sich nie auflöste und auch die »Fusion« mit der WASG 2007 juristisch keine Fusion darstellte, sondern ein Beitritt dieser Gruppierung zur PDS mit anschließendem Namenswechsel war. Den Hintergrund dafür bilden vermögensrechtliche Fragen. 15 Ulrike Poppe arbeitete seit 1976 im Museum für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin. Auch dort wurde sie von Kollegen im Auftrag des MfS intensiv bespitzelt, andere Kollegen wiederum verhielten sich sehr solidarisch. Mitte Oktober 1988 hörte sie auf im Museum zu arbeiten und war anschließend offiziell »beschäftigungslos«. Die IFM plante im Frühsommer 1989, eine SamisdatBroschüre über Robert Havemann zu erarbeiten, eine (illegale) Havemann-Gesellschaft zu gründen und Stipendien zu verleihen (HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMB »Wolf« am 11.7.1989. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 29, Bl. 163–165; HA XX/9, Information, 12.7.1989. Ebenda, Bl. 166–167). Ulrike Poppe sollte eines der ersten Stipendien erhalten. Die nachfolgenden Ereignisse überholten diese Pläne.
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Dokument 96 Telefonat zwischen Werner Fischer und Ralf Hirsch 18. September 1988 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Uwe] Illmer 1 Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 11, Bl. 35–39 Anmerkung: Handschriftliche MfS-Notiz »Für 10-Tages-Bericht« 2
Ralf Hirsch meldet sich bei Werner Fischer. Er erkundigt sich, ob die Sachen angekommen sind. Fischer bestätigt dies und bedankt sich bei Hirsch dafür. Allerdings bittet er, Hirsch möge zukünftig die Sachen direkt an ihn schicken. So geht das immer über Dritte und dauert unnötig lange. Mehr oder weniger bekam er jetzt den Umschlag durch Zufall. Fischer stellt dann fest, dass gestern das Hoffest stattfand. 3 Für ihn war es ziemlich deprimierend und er ging recht zeitig. Fischer merkt, dass er mit der Dame nicht fertig ist. So ist es für ihn schwer auszuhalten. 4 Fischer sprach neulich mit [Wolfgang] Templin. Er möchte wissen, ob Templin denn auch gelegentlich bei Hirsch anruft. Hirsch meint, dass der selten bei ihm anruft. Außerdem ist er auf Templin sauer, weil der soviel Zusagen machte, die dann aber nie liefen. Hirsch stand dann immer da und musste wieder glätten. Wenn er dann mit Reiner 5 oder anderen Leuten spricht, wollen die immer wissen, was nun wird. Fischer meint, dass Templin jetzt auch ganz schön durchhing. Als er neulich bei Fischer anrief, konnte der das so entnehmen. Templin war nun wohl das erste Mal ins Grübeln geraten, warum er sich eigentlich für zwei Jahre entschieden hat. 6 Fischer ist ja nun sehr 1 Uwe Illmer (geb. 1959), 1978 Zerspanungsfacharbeiter, anschließend Eintritt ins MfS, zunächst Wachregiment, ab 1.11.1981 Mitarbeiter der HA XX/9, 1988 Beförderung zum Leutnant; am 1.12.1989 Abschluss als Fachschuljurist der JHS. 2 Das MfS fertigte seit dem 24.11.1987 tägliche Lageberichte zu Aktivitäten der Opposition im Rahmen der Aktion »Störenfried« (MfS-interner Codename) an. Hinzu kamen Wochen-, 10-Tages- und Monatsberichte, die gemeinsam von den HA IX und XX sowie der ZAIG erarbeitet wurden. In den BStU-Archiven sind diese vollständig überliefert. Weiter gab es tägliche Rapporte sowie als eigener Berichtsstrang tägliche Vorkommnismeldungen des MdI, die ebenfalls in den Archiven des BStU komplett vorhanden sind. 3 Am 17.9.1988 (Samstag) feierte die »Umweltbibliothek« mit einem Hoffest in der Griebenowstraße (Zionsgemeinde) ihr 2-jähriges Bestehen. 4 Es geht um Konflikte zwischen ihm und Bärbel Bohley. 5 Es ist entweder Rainer Eppelmann oder Reiner Dietrich gemeint. 6 Während Bärbel Bohley und Werner Fischer aus der Stasi-Untersuchungshaft mit einem auf ein halbes Jahr befristeten Visum und Vera Wollenberger (Lengsfeld) mit einem Visum für ein Jahr (das später verlängert wurde) ausreisten, nahmen Wolfgang und Regina Templin (Weis) ein 2-jähriges
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Dokument 96 vom 18. September 1988
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gespannt, wie es bei Templin laufen wird. Templin tut ja auch alles dafür, dass die ihn nicht mehr hereinlassen. Anhand von Templins Auftreten in der Öffentlichkeit kann man einschätzen, dass er sehr unvorsichtig ist. Hirsch bestätigt diesen Eindruck. Fischer findet, dass Templin schlecht unterscheiden kann, wo man Einladungen annehmen sollte und wo nicht. Hirsch stimmt dem zu. Daraus resultiert auch seine eigene Zurückhaltung gegenüber Templin. Templin verkehrt in Kreisen, in die Hirsch nicht gern hereingezogen werden möchte. Mit Vertretern der IGfM möchte er keine unnötigen Kontakte. 7 Hirsch gab dies auch gegenüber Templin zu verstehen. Auch was er von Templin liest ist teilweise haarsträubend. 8 Fischer sprach auch mit Marie-Luise [Lindemann] 9. Die sagt auch, Hirsch würde sich so zurückhalten, sich kaum sehen lassen. Der verweist darauf, dass er nebenbei auch noch arbeiten muss. Da fehlt es dann schon an der Zeit und Visum an. Ralf Hirsch hingegen wurde wie Freya Klier und Stephan Krawczyk faktisch ausgebürgert. Erich Mielke betonte am 9.3.1988 vor der Führungsriege seines Ministeriums, dass alle Diensteinheiten gefordert seien, um Bohley, Fischer, Klier, Krawczyk, Hirsch, Wollenberger und die Templins im Westen lückenlos zu überwachen: »Damit sind zugleich die erforderlichen Grundlagen zu schaffen, um auch den mit Reisepass ausgereisten Feinden die Staatsbürgerschaft der DDR abzuerkennen. Dieser Hinweis ist aber nur für diesen Kreis bestimmt, dem wohl klar sein dürfte, dass diese Personen auch in Zukunft in der DDR nichts mehr zu suchen haben« (Erich Mielke, Referat vom 9.3.1988. BStU, MfS, ZAIG 8618, Bl. 71). 7 Die »Internationale Gesellschaft für Menschenrechte« (IGFM) war in den 1970er und 1980er Jahren sehr umstritten, sie war zugleich jene »Feindorganisation« (Stasi-Bezeichnung) in der Bundesrepublik, die wahrscheinlich vom MfS am intensivsten überwacht, verfolgt und zersetzt worden ist. Seit Mitte der 1970er Jahre stand sie im Fokus der ostdeutschen Geheimpolizei. 1979 ist die operative Bearbeitung in einem »Zentralen Operativen Vorgang« (ZOV) gebündelt worden. Dieser ist von der Stasi-Abteilung »Zentrale Koordinierungsgruppe« (ZKG) geführt worden. Hinzu kamen mindestens 20 Teilvorgänge, die andere Diensteinheiten des MfS oder Stasi-Bezirksverwaltungen bearbeiteten. Die Anzahl dazugehöriger weiterer Vorgänge (IM-Vorgänge, Operative Personenkontrollen, Operative Vorgänge, Untersuchungsvorgänge) ist praktisch kaum zu ermitteln, geschweige denn zu übersehen. Die ZKG der Stasi war zuständig für die Zurückdrängung und Bearbeitung der Ausreisebewegung und Fluchtabsichten. Sie agierte als eine Art Querschnittsabteilung und arbeitete mit allen operativen und sonstigen Diensteinheiten des MfS zusammen. Auf der Bezirksebene gab es Pendants. Die Bedeutung der IGFM kommt auch in dem stasiinternen Namen zum Ausdruck, den der ZOV trug: »Zentrale«. Die schiere Unübersichtlichkeit der mit diesem ZOV verbundenen weiteren Aktenvorgänge hängt mit dem Umstand zusammen, dass sich zwischen Anfang der 1970er Jahre und 1989 unübersehbar viele tausend DDR-Menschen an die IGFM wandten bzw. in verschiedenen Formen mit ihr zusammenarbeiteten. Im Kern ging es dabei um drei Problemkreise: Erstens sollte die Gesellschaft auf das Schicksal aus politischen Gründen Verurteilter aufmerksam machen und zu deren Freilassung beitragen. Zweitens ging es darum, in Not geratene Ausreiseantragsteller zu unterstützen und deren Ausreise zu beschleunigen. Schließlich kam als besonders sensibler und düsterer Bereich das Anliegen hinzu, Familien wieder zusammenzuführen. Hier ging es meist darum, in der DDR verbliebene Kinder zu ihren Eltern in die Bundesrepublik nachzuholen. Dies war nicht selten notwendig, wenn die Eltern direkt aus der Haft in die Bundesrepublik entlassen worden sind. Zur IGFM siehe Jürgen Wüst: Menschenrechtsarbeit im Zwielicht. Zwischen Staatssicherheit und Antifaschismus. Bonn 1999. 8 Was hier genau gemeint sein könnte, ließ sich nicht eruieren. 9 Handschriftlich von einem MfS-Mitarbeiter eingetragen.
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außerdem verkehren »dort« auch die Leute, mit denen er nicht gern etwas zusammen macht. Fischer hörte jetzt, dass Freya [Klier] 10 da auch schon wieder mit drin hängen soll. Hirsch bestätigt dies. Aber die redet ja nicht mehr mit ihm. Er hatte doch in seinem »taz«-Interview, das er gemeinsam mit Rüdiger Rosenthal gab, gesagt, dass »die alle schwach geworden sind«. Deswegen redet sie nicht mehr mit ihm. 11 Fischer erklärt, dass Hirsch sich nicht vorstellen kann, was hier ablief, als Stephan Krawczyk in Haft war bzw. nachdem er in den Westen ging. Es fanden regelrechte Pilgerfahrten in die Oderberger Straße statt aus der gesamten DDR von Fans des Liedermachers. Sie übernachteten in Schlafsäcken im Hausflur, bauten sein Türschild und den Briefkasten ab, um noch Relikte von
10 Handschriftlich von einem MfS-Mitarbeiter eingetragen. 11 In dem Interview ging es um die Auseinandersetzungen innerhalb der Opposition nach dem 17.1., 25.1.1988 und den dann Anfang Februar 1988 erfolgten Ausreisen. Wörtlich hieß es u. a. in dem Interview: »Rüdiger Rosenthal: Es stimmt, dass die Ausgereisten als politische Personen in den Knast kamen und als Privatpersonen herauskamen. Die Leute haben die politische Bedeutung ihrer Funktion im Gefängnis unterschätzt bzw. nicht angenommen. Freya Klier hat gesagt, ›ich will nicht den Märtyrer spielen‹. (…) Ralf Hirsch: (…) Ich bin verhaftet worden, weil ich Mitglied der ›Initiative Frieden und Menschenrechte‹ war und nicht, weil ich der einfache DDR-Bürger Ralf Hirsch war, der irgendwo Schmalzstullen schmiert. Natürlich bin ich als Privatperson raus, weil ich annahm, draußen gebe es keine Solidarität. Ich glaube, da sind wir alle schwach geworden. Warum hat sich die Auseinandersetzung auf bestimmte Personen zugespitzt, von denen man sich nun deutlich distanziert? Ralf Hirsch: Ich werde zwar nicht direkt erwähnt, die Vorwürfe aber, warum wart Ihr so schwach, werden auch mir, uns allen gemacht. Bei Krawczyk und Klier hat sicher ihr Verhalten in den Westmedien eine große Rolle gespielt. Es kamen Vorwürfe wie Selbst-Show, oder dass es kein klares Eingeständnis gab: Ja, ich habe den Ausreiseantrag im Knast unterschrieben, weil ich aus dieser Situation heraus wollte. Rüdiger Rosenthal: Die beiden gingen als erste in den Westen, sodass man ihnen vorwirft, sie hätten den Stein überhaupt erst ins Rollen gebracht. Wären sie standhafter geblieben, wären vielleicht auch die anderen nicht in die Bundesrepublik geschickt worden. Wie steht Ihr zur Auseinandersetzung drüben? Rüdiger Rosenthal: Vera Wollenberger hat recht, wenn sie Vergleiche zu Emigrationen früherer Zeiten zieht. Schon bei geringeren Schwierigkeiten sind Leute ins Ausland gegangen, ohne dass es solche Vorwürfe gab. Es muss jeder für sich entscheiden können, wie lange er die Druckmethoden des Staatsapparates akzeptiert. Wer den Leuten anderes aufoktroyieren will, läuft Gefahr, so etwas wie Parteidisziplin zu fordern. Ralf Hirsch: Wer politisch engagiert ist, ist in erster Linie auch mal Mensch, mit allen Schwächen und Stärken. Das muss man akzeptieren. Einen Einheitstyp von kritischen DDR-Bürgern, die alle gleich standhaft und belastbar sind, haben wir halt nicht. Rüdiger Rosenthal: Hier werden Opfer zu Tätern gemacht. Die Frage ist doch immer noch: Wer verfolgt wen, wer treibt wen aus dem Lande? Die Leute, die da gegangen wurden, sind die Opfer der Methode des Staatsapparates, sich der kritischen Geister in Richtung Westen zu entledigen. Nicht den Leuten, die sich jahrelang engagiert und widerstanden haben, muss man den Vorwurf machen, als vielmehr denen, die sie ins Gefängnis sperrten, und auch den vielen, die sich nicht engagieren, die irgendwann in den Westen gehen und sich hier anpassen. Deshalb glaube ich auch nicht, dass die Gruppen die eigentlichen Verlierer der Januar-Ereignisse sind. Es ist die DDR-Gesellschaft, die ihr kritisches Potential ins Ausland exportiert« (Aus Opfern werden Täter gemacht. Interview mit Ralf Hirsch und Rüdiger Rosenthal, in: taz vom 2.8.1988).
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ihm zu haben. Jetzt kann man aber sagen, dass die Leute hier alle out 12 sind. Die Enttäuschung ist jetzt vorbei und Krawczyk ist abgeschrieben. Hirsch weiß nicht, wie es Krawczyk jetzt geht. Er hört kaum etwas von ihm. Er nimmt an, dass der ganz schön zu kämpfen hat, um zurechtzukommen. Fischer meint, dass sie hier jetzt aufpassen müssen, um nicht wieder solche Leitfiguren 13 aufzubauen. Hirsch nimmt dann noch einmal zu dem Vorwurf Stellung, er würde sich zu sehr zurückhalten. Einmal ist das nicht so und zum anderen hat er das Prinzip, bestimmte Sachen lieber allein zu machen, weil er da sicher ist, dass es auch läuft. Ansonsten hält er sich eigentlich auch nicht zurück. Es stimmt aber, dass er sich wieder einmal melden muss. Fischer denkt, dass Marie-Luise [Lindemann] eigentlich auch ganz wichtig ist, und auch ehrlich. Mit ihr kommt Hirsch auch gut klar. Fischer denkt, dass sie vielleicht auch von ihm (Hirsch) gelegentlich einen Rat gebrauchen könnte. […] 14 Weiter möchte Fischer wissen, wie es mit Roland [Jahn] steht. Hirsch weiß das nicht. Sie haben klare Fronten. Roland [Jahn] macht sein Ding und Hirsch seins. Daran kann sich Roland [Jahn] aber schlecht gewöhnen. Fischer meint belustigt, dass das auch eine Tragik für Roland [Jahn] ist. Hirsch bestätigt dies. Im Klartext heißt es für Roland [Jahn]: »Der Verdienst ist sein Job«. Hirsch kann darum sagen, dass das normal läuft und er nicht klagen kann. So muss es auch laufen und bei bestimmten Dingen muss man schweigen. Er hat inzwischen gemerkt, dass im Westen enorm viel gequatscht wird. Wenn er zur Staasi gehören würde, würde er nur in Westberlin »herumtanzen«. Hier erfährt man alles im Vorfeld. Fischer denkt, dass die das auch sicherlich machen werden. Hirsch denkt das auch. Sie kommen wieder auf Roland [Jahn] zurück. Hirsch hatte sich mal mit Bärbel [Bohley] unterhalten. Als Fischer und Bohley damals rüberkamen, hatte Roland [Jahn] an der Grenze überall Posten aufgestellt, die stundenlang dort warteten. Fischer lacht über die Bemerkung und meint, dass das doch alles Scheiße ist. Dann berichtet er, dass Roland [Jahn] doch noch in Italien Bärbel aufsuchte. 15 Die war ganz schön sauer über Roland [Jahn]s kaltblütige Art. Roland [Jahn] ist immer nur darauf bedacht, sein Ding zu machen. Schon vorher, als sie noch nicht verhaftet waren, wollte Roland [Jahn] immer Infor12 Im Original: »aut«. 13 Im Original: »Leidfiguren«. 14 Auslassung einer sehr subjektiven Einschätzung. 15 Bärbel Bohley war gemeinsam mit Birgit Voigt vom 15.7. bis 30.7.1988 in Italien, anschließend flog sie nach London zurück und von dort am 3.8.1988 gemeinsam mit Werner Fischer nach Prag, um von hier in Begleitung von Manfred Stolpe in die DDR zurückzukehren. In der zweiten Italienwoche reisten Roland Jahn und Joachim Voigt (»Putz«) zu Bohley. Vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011, S. 123–130.
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mationen haben, so auf die Schnelle, und er könne auch einschätzen, ob das richtig ist und so. Darüber gerieten Bärbel [Bohley] und Roland [Jahn] wohl in Streit und sie machte ihm klar, dass es absoluter Unsinn ist, was Roland [Jahn] veranstaltet. Roland [Jahn] hatte ihr daraufhin wohl entgegnet, dass doch alles gut ausging und er sie doch herausholte. Hirsch denkt auch, dass es ziemlich tragisch ist, was im Westen so abläuft. Das Gute daran ist aber, dass er dazu eine gesunde Haltung gefunden hat. Anfangs war es ganz schön schwer für ihn, bevor er unterscheiden konnte, was er kann und was er nicht kann. Fischer freut sich für Hirsch. Der meint, dass Roland [Jahn] zwar ständig anruft und wissen will, ob es irgendwo etwas Neues gibt, aber da Hirsch nie etwas weiß, wurde Roland [Jahn] schon ruhiger. Hirsch denkt, dass Roland [Jahn] bereits merkte, welche Haltung er eingenommen hat. Er hat Roland [Jahn] auch gesagt, was er von seiner Methode hält. Wenn die in der DDR die Hilfe der Medien benötigen, können sie das selbst entscheiden. Die brauchen keinen Roland Jahn oder Ralf Hirsch, die bestimmen, was zu machen ist. Es ist ja sonst doch so ein bisschen Beeinflussung von außen. So etwas geht natürlich nicht. Fischer denkt das auch. Bei Roland [Jahn] war es aber schon damals so, dass er immer beharrlich war. Wenn sie ihm am Telefon gesagt hatten, dass es so nicht geht, wie er sich das vorstellt, rief der einfach den nächsten an und versuchte dort, etwas zu bekommen. Da gab es dann immer noch genug Leute, die das nicht durchschaut haben. Letztlich ist es tragisch, weil Roland [Jahn] eigentlich kein schlechter Typ ist. Hirsch sieht das auch so. Neben seinem Mist macht Roland [Jahn] auch viele gute Sachen. Das ärgert Hirsch ja so. Was Roland [Jahn] mit den Händen aufbaut, reißt er mit dem Hinterteil wieder um. Dadurch bringt er andere noch in völlig unnötige Gefahr, fügt Fischer an. Hirsch betont dann, dass es sonst locker läuft und er auch mit seiner Arbeit sehr zufrieden ist. Fischer möchte dann wissen, ob sich XXX […] bei Hirsch gemeldet hat. Hirsch verneint das. Fischer möchte wissen, ob der »Pressespiegel«, den Fischer jetzt von Hirsch erhielt, eine neue Serie darstellt, etwas anderes ist als »Dialog«, eine Fortsetzungsserie o. Ä. 16 Hirsch verneint. Den »Pressespiegel« stellt er selbst zusammen. Das geht schneller und es ist auch mehr drin. Außerdem kann das ja doppelt laufen. Vieles wird sich bestimmt nicht überschneiden. Er macht das einfach, wenn er Zeit hat und dazu kommt. Fischer möchte wissen, wie sich Hirsch sonst so fühlt, ob er sich nun wieder im seelischen Gleichgewicht befindet. Hirsch ist zufrieden. Schlimm war es, als Fischer und Bohley rübergingen. Nun geht es aber. Die Realitäten sind klar 16 Jürgen Fuchs und Roland Jahn haben in West-Berlin für die Opposition in Ost-Berlin von 1985 bis 1989 regelmäßig die Pressesammlung »dialog« zusammengestellt. Eine Gesamtausgabe liegt im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft.
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und ändern kann man nichts mehr. Fischer meint, dass Hirsch noch einmal schlucken muss, wenn Vera [Lengsfeld, damals Wollenberger] zurückkommt. 17 Das wird dem nicht wehtun, denn zu Vera [Lengsfeld, damals Wollenberger] hatte er und hat bis heute keinen Kontakt. Sie ist ihm nicht so wichtig. Zu Fischer und Bohley spielten ja auch noch die persönlichen Beziehungen eine Rolle. Hirsch erkundigt sich dann, wie Fischer und Bohley in der DDR aufgenommen wurden. Fischer kann sich nicht beklagen. Alle verhalten sich sehr freundlich zu ihnen. Auch mit seiner Arbeit scheint es keine Probleme zu geben. Er fängt wieder bei seiner alten Firma an. Hirsch will dann wissen, ob es mit den Kritikern wie z. B. [Reinhard] Schult Schwierigkeiten gibt. Fischer berichtet, dass er von Bärbel [Bohley] weiß, dass Schult bei ihr mit einem Blumenstrauß aufkreuzte und sie sich sehr gut unterhielten. Als Fischer ihn auf dem letzten Hoffest in der UB sah, 18 ging Schult ihm aus dem Wege. Das fand Fischer merkwürdig. Im Allgemeinen ist die Stimmung aber so, dass alle Schults Verhalten als einen Schlag unter die Gürtellinie ansehen. Der Versuch einer Fehlerdiskussion wird anerkannt, jedoch nicht die Art und Weise, in der Schult auftrat. Dafür gibt es keine allgemeine Zustimmung. 19 Hirsch erkundigt sich dann nach [Reiner] Dietrich. Fischer meint lachend, der hockt jetzt immer bei Bärbel [Bohley]. Ansonsten geht’s dem wohl gut. Fischer stellt dann fest, dass er zusehen muss, dass er hier wieder die Beine auf den Boden bekommt. Dies ist nicht so einfach. Ihm macht die Beziehung zu Bärbel [Bohley] zu schaffen. Er hatte angenommen, dass die Sache für ihn erledigt ist. Das ist jedoch nicht der Fall. Sie begegnen sich ja ständig und dies ist nicht leicht für ihn. 12.34 Uhr
17 Ursprünglich sollte ihr Aufenthalt in England ein Jahr dauern. Sie hat ihn dann verlängert und reiste (zwischenzeitlich durfte sie im Juni 1989 ihre Familie drei Tage in Thüringen besuchen) am Vormittag des 9.11.1989 wieder nach Ost-Berlin zurück und pendelte noch einige Zeit zwischen England und Ost-Berlin. Vgl. zu den Einzelheiten Vera Lengsfeld: Von nun an ging’s bergauf … Mein Weg zur Freiheit. München 2002, S. 289–311. 18 Siehe Anm. 3. 19 Siehe zu den Hintergründen Dok. 79, Anm. 4.
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Dokument 97 Telefonat zwischen Regina Templin und Bärbel Bohley 19. September 1988 1 Von: MfS, Abt. 26 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 15, Bl. 52–54
Regina Templin meldet sich bei Bärbel Bohley, die sich noch in der Badewanne befindet. Nachdem sie sich anfangs über das Befinden austauschen, berichtet die Templin dann, dass sie zum Wochenende in Holland zu dem Treffen dieses Ost-West-Dialoges war. Sie hielt sich dort an Birgit [Voigt], denn sie selbst verstand dort kaum etwas. Das viele Englisch machte sie ganz verrückt. Sie wollen sich nun einen Privatlehrer ins Haus holen und büffeln. Die Bohley bestätigt, dass für einen Vortrag wirklich umfassende Englischkenntnisse vorhanden sein müssen. Ansonsten versteht man kaum etwas. Sie musste diese Feststellung selbst machen, obwohl sie dort lebte. Regina Templin will jetzt gemeinsam mit ihrem Sohn Sascha 2 lernen. Im Oktober wollen sie dann nach England rüber fahren. Jetzt haben sie sich erst einmal von ihren finanziellen Sommereinbrüchen etwas erholt. Sie hatten nur überall Schulden. Jetzt geht es aber langsam wieder bergauf und sie hofft, dass sie im Oktober das Geld zusammen haben, um überhaupt auf die Insel fahren zu können. Die Bohley erkundigt sich nach der finanziellen Situation der Templins überhaupt. Regina T[emplin] stellt fest, dass Wölfchen [Wolfgang Templin] bis jetzt überhaupt nichts bekommt. Ansonsten kommen sie gut zurecht. Ihr Einkommen stellt einen guten Durchschnitt dar. Dafür braucht sie auch nichts zu machen. Mit dem Studium klappt es nicht. Ihre Unterlagen liegen in irgendwelchen Ministerien und die Kirche interessiert sich offensichtlich doch nicht so sehr dafür. Regina Templin kann bestätigen, was Bärbel Bohley auch erlebte. Für sie wiederholt sich das auf andere Weise mit dem gleichen Ergebnis. Es besteht ein totales Desinteresse an ihrer Person. Auf Bitten der Bohley berichtet die Templin noch einmal von ihrer Hollandreise. Henning [Schierholz] hatte sie mit dorthin genommen. Er hatte ihr u. a. berichtet, wie er versucht hatte, im Westen und Osten einigen Kirchenleuten einen Anstoß zu geben. Das ging aber alles völlig vor den Baum. Mit [Wolfgang] Schnur hatte Henning [Schierholz] wohl sehr lange gesprochen. 1 Das Datum geht aus einer handschriftlichen Zusammenfassung des Gesprächs hervor: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 15, Bl. 55–56. 2 Er ist im September 1975 geboren worden.
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Schnur war zwar sehr ernst, bedeutsam und wichtig, aber es kam nichts heraus. Henning [Schierholz] war doch auch zu dem Rostocker Kirchentag, wo doch auch dieser Kirchenpräsident der EKD weilte. 3 Schnur hatte vier Tage Zeit mit dem ein Gespräch in ihrer Sache zu führen. Die beiden setzten sich aber nicht ein einziges Mal zusammen, um zu beraten, was man tun könne. Regina Templin hat den Eindruck, dass für die das Thema erledigt ist. Die Bohley stimmt dem zu. Für die sind ihre Sachen erst einmal nicht mehr interessant. Sie konnte das selbst feststellen, als sie in die DDR zurückkehrten. 4 Jetzt kam sie zu der Einsicht, dass man nur mit einzelnen Leuten etwas tun kann. Mit der Kirche als Institution ist nichts anzufangen. Da existiert nur das Verhältnis Staat und Kirche und in irgendeiner Ecke schwimmt bei beiden noch die Gesellschaft mit herum. Regina Templin bestätigt das. Sie sehen sich jetzt auch nicht mehr um. Spätestens seit Bärbel B[ohley] und Werner Fischer wieder in der DDR sind, kamen sie zu diesem Verhalten. Wölfchen [Wolfgang Templin] kämpft weiter und ist »verhuselt« wie immer. Sie macht sich einmal mehr und einmal weniger Sorgen um ihn. Aber dann sagt sie sich wieder, »ach wer weiß, was aus uns noch so wird«. »Manchmal macht Wölfchen [Wolfgang Templin] einen so bedeutenden Eindruck auf sie.« Sie fragt sich, ob er sich »überhaupt noch einmal im Leben reparieren kann, in so ein Gleichgewicht kommt, von wo aus er unterscheidet, was er nun macht, was ihn angeht und was ihn nicht angeht – er ist ziemlich aufgefressen«. Bärbel B[ohley] findet das eigentlich ziemlich schade. Aber sie glaubt, Wolfgang Templin braucht das. »Eigentlich braucht das ja jeder irgendwo.« Regina Templin sieht das auch so. Sie wird ihn auch nicht aufgeben. Sie wird danach suchen, »wo für ihn auch einmal Pausen entstehen können, dass man auch einmal ein bisschen repariert, dass er sich wieder auf seine eigenen Möglichkeiten, auf seine eigenen Strukturen, die ihm vielleicht ein bisschen verlorengegangen sind, besinnt«. Sie weiß auch nicht so recht. Manchmal ist sie auch nicht so optimistisch. Sie setzen dann einfach etwas fort, was auch so machbar ist, aber anders ist.
3 Vom 16. bis 19.6.1988 fand in Rostock ein Kirchentag statt, der gemeinsam von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und der Evangelischen Landeskirche Greifswald organisiert worden war. Aus der Bundesrepublik nahmen daran u. a. teil Altkanzler Helmut Schmidt, Hildegard Hamm-Brücher, Hans Otto Bräutigam. Ob auch Jürgen Schmude, Präses der Synode der EKD, den Regina Templin wahrscheinlich meinte, in Rostock war, ließ sich nicht eruieren. Er weilte allerdings vom 17. bis 19.6.1988 zu einem Privatbesuch in der DDR. Zu dem Auftritt von Schmidt auf dem Kirchentag vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 223–225. 4 Am 3.8.1988 kehrten Bärbel Bohley und Werner Fischer über Prag in die DDR zurück. In Prag sind sie von Konsistorialpräsident Stolpe und Rechtsanwalt Gysi in Empfang genommen worden.
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Jozek 5 ist inzwischen im Kindergarten. Es handelt sich um einen Dreistundenkindergarten. Sie haben daher keinen so erheblichen Zeitgewinn. Sascha [Templin] interessiert zurzeit nichts anderes als seine Freundin. Er hat sich das erste Mal verliebt. Regina Templin hofft, dass es mit dem Herumfahren etwas weniger wird. Allerdings ganz darauf verzichten, wird wohl auch nicht gehen. Die Versammlungen, Diskussionsveranstaltungen usw., was sie im ersten halben Jahr forciert betrieben, gibt es kaum noch. Wölfchen [Wolfgang Templin] hat jetzt eine Einladung nach Kanada bekommen. Sie wünscht ihm, dass er dort ein bisschen länger bleiben kann, um sich dort irgendwie ein bisschen beeindrucken zu lassen. 6 Regina T[emplin] selbst hält sich zurzeit in WB auf, weil sie jetzt mal einen Familienurlaub gebraucht hat. Sie will ihre Familie mal 14 Tage nicht sehen und fuhr ab. Von Birgit [Voigt] bekam sie Bärbels [Bohley] Telefonnummer. Bärbel B[ohley] möchte wissen, ob Regina T[emplin] sich nun die ganze Zeit bei Marie-Luise [Lindemann] aufhält, was diese bestätigt. Sie hat vor, ein klein wenig zu schreiben und dann will sie in WB Freunde besuchen, Leute, die irgendwann einmal ausgereist sind, nicht so die großen politischen Wühlarbeiter sind, sondern die einfach so »in irgendwelche Winkel ihres Herzens« gehören. Sie will sich ja auch einmal mit anderen Menschen treffen. Immer nur diese Diskussionen, was Leute aus diesen Ost-West-Kreisen so durchhecheln, das ist manchmal auch unangenehm. Bärbel B[ohley] geht es genauso. Von Werner Fischer erfuhr die Templin, dass er und Bärbel [Bohley] jetzt nach ihrer Rückkehr mit den verschiedensten DDR-Gruppen ständig zu reden haben. Bärbel Bohley betont, dass das nach ihrer Rückkehr eigentlich nicht so schlimm war. Durch ihre Rückkehr erklärte sich eigentlich vieles von selbst. Sie werden jetzt häufig von irgendwelchen Ausreisegruppen angesprochen, wo man weiß, dass sie drüben waren und jetzt wieder [hier] sind. Da kommt immer die Frage, warum sie wieder zurückgekommen sind. Solche Gespräche hält sie für nicht so sinnlos. Sie hat da schon einige Termine. Sie interessiert das ja eigentlich sehr, – die umgedrehte Variante. Vielleicht ergibt sich da auch etwas draus. Die Bohley spricht davon, dass sie jetzt auch erst einmal alles aufarbeiten möchte. Die Templin interessiert, ob die Bohley das Gefühl hat, dass die ganzen düsteren Stimmungen zurückgehen. Daraufhin entgegnet die Bohley, dass es bei ihr an der Grenze bereits wie weggeblasen war. Von Werner [Fischer] 5 Sohn von Regina und Wolfgang Templin, geb. im Januar 1985. 6 Wolfgang Templin hielt sich von Ende März 1989 bis Anfang/Mitte Mai 1989 zu Vorträgen und Gesprächen in den USA und Canada auf. Freunde von Marie-Luise Lindemann luden ihn ein, u. a. junge Gewerkschafter einer Fahrradgewerkschaft New Yorks, ein Detroiter Autogewerkschafter, Umweltschützer und ein Arbeiter aus Canada, die sich sehr für die Verhafteten engagiert hatten und dann später die USA-Reise organisierten (Mitteilung von Regina Weis am 20.5.2012). Ihr Netzwerk nannte sich »Neither East or West«.
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schätzt sie ein, dass er etwas orientierungsloser ist, während es ihr blendend geht. Weiter möchte die Templin wissen, wie es mit den anderen läuft, worauf die Bohley erwidert, dass es so wie immer ist. Sie selbst hat die Absicht, sich nicht gleich wieder in irgendetwas reinzustürzen. Sie will es gemächlich angehen. Es ist bei ihr wie eh und je. Nach ihrer Arbeit an einer Schule befragt, teilt die Bohley mit, dass die sich von selbst nach und nach melden werden. Sie lässt dies auf sich zukommen, da sie keine Privilegiertenstellung daraus beziehen möchte. »Die« haben sie rausgeschmissen und wenn sie sie wieder haben wollen, dann sollen sie kommen. Wenn nicht, dann ist es vorbei. 7 Da Besuch gekommen ist, beendet die Bohley das Gespräch. 16.11 Uhr
7 Bärbel Bohley bot an einer Volkshochschule Abendkurse im Fach Malerei an, die ihr auf staatlichen Druck hin im Herbst 1987 entzogen worden sind. Nach ihrer Rückkehr in die DDR stellte sich die Frage, ob sie diese Kurse wieder anbieten könne. Das wurde nach Auskunft von Weggefährten und nach Einsichtnahme in den bisher erschlossenen Nachlass (RHG) unterbunden. Das MfS wiederum notierte, dass Bärbel Bohley sich um einen Lehrauftrag an der Fachschule für Werbung und Gestaltung in Berlin-Schöneweide bewerben wolle (HA XX, Information über Aktivitäten der operativ bekannten Personen Bohley, Bärbel und Fischer, Werner seit ihrer Einreise am 3.8.1988, 15.8.1988. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 13, Bl. 97–98).
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Dokument 98 Telefonat zwischen Werner Fischer und Frieder Wolf 12. Oktober 1988 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 11, Bl. 71–72
Werner Fischer bittet Frieder Wolf 1 in Bonn um einen Rückruf. Nachdem sich Wolf bei Fischer meldet, gibt er gleich zu verstehen, schon mit Gisela Metz gesprochen zu haben, weil er dachte, Fischer ist dort zu erreichen. Fischer hat folgendes Anliegen, sie sammeln Material über Rumänien für den 15.11. 2 Von Elisabeth [Weber] und Marie-Luise [Lindemann] hörte er, Wolf würde schon etwas darüber sammeln. 3 Wolf sammelt nur das, was ihm so in 1 Frieder Wolf war 1984 bis 1989 wiss. Mitarbeiter von Petra Kelly im Bundestag. 2 Am 15.11.1987 war es in Braşov zu einem Aufstand gekommen. Ein Jahr später wurde europaweit daran erinnert und zugleich die damals brutalste kommunistische Diktatur angeprangert. Initiiert von Exil-Rumänen wurde der »Rumänientag« im November 1988 von zahlreichen Organisationen, Kirchen und Verbänden in Europa mitgetragen. Am 15.11.1988 fand abends auch in der Gethsemanekirche ein von der IFM veranstalteter Informationsabend zu Rumänien statt. U. a. hielten Gerd Poppe, Reinhard Weißhuhn, Ludwig Mehlhorn, Peter Grimm, Silvia Müller, Bärbel Bohley, Werner Fischer und Ulrike Poppe Vorträge zur Geschichte und Gegenwart Rumäniens (MfS, HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 16.11.1988. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 13, Bl. 334–336). Wegen dieser Veranstaltung sind mehrere IFM-Mitglieder tagsüber vom MfS sichtbar beschattet worden. Die meisten IFM-Mitglieder sind im Dienstwagen von Bischof Forck zur Kirche gebracht worden (MfS, BV Berlin, Abt. XX/2, Information zum Rumänienabend der »Initiative Frieden und Menschenrechte« am 15.11. in der Gethsemanekirche, 16.11.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 28, Bl. 255–258). In der DDR stand diese Aktion unter einem besonderen Vorzeichen, da Diktator Nicolae Ceauşescu auf Einladung Honeckers am 17. und 18.11.1988 die DDR besuchte. Bereits im Vorfeld hatte es bis weit in regimenahe Kreise darüber Unruhe gegeben, weil die Verhältnisse in der Ceauşescu-Diktatur bekannt waren und überwiegend abgelehnt wurden. Dies wurde noch befördert durch den Umstand, dass am 26.1.1988 das »ND« verkündet hatte, dass Ceauşescu anlässlich seines 70. Geburtstages die höchste DDR-Auszeichnung, der Karl-Marx-Orden, verliehen würde. Das sorgte für erhebliche Empörung. Zum »Rumänientag« siehe auch die SamisdatPublikation der IFM: Ostkreuz. Politik, Geschichte, Kultur. Heft 1, Januar 1989 (zu Rumänien mit Zeitzeugenberichten und Beiträgen u. a. von Christian Dietrich, Richard Wagner, Reinhard Weißhuhn, György Schöpflin und Marianne Birthler) sowie Ludwig Mehlhorn: Das mit dem Essen und Heizen ist nicht das Schlimmste – Notizen nach einem Besuch in Siebenbürgen, in: Stephan Bickhardt (Hg.): In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn. Leipzig 2012, S. 87–102. Siehe auch die Leipziger Protesterklärung vom 29.10.1988 zur Menschenrechtslage in Rumänien, abgedruckt in: Umweltblätter 12/1988, Dezemberausgabe, S. 46, sowie die ZAIG-Information 458/88 vom 2.11.1988 mit Aufruf von Lund und einer Erklärung der IFM unter: www.ddr-imblick.de. Siehe auch Dok. 95, 99, 104, 105 und 106. 3 Mit den beiden telefonierte Werner Fischer in dieser Angelegenheit u. a. am 8.10.1988 (Weber) und 10.10.1988 (Lindemann). BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 11, Bl. 66–67.
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Dokument 98 vom 12. Oktober 1988
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die Finger kommt. Fischer benötigt eine Aufstellung der Ceauşescu-Familie und in welchen Ämtern die alle untergebracht sind, interessiert dabei auch. Ansonsten sind sie an Material über die wirtschaftlichen Beziehungen, die Rumänien zu den sozialistischen und kapitalistischen Staaten hat, ebenfalls interessiert. Wolf wird versuchen, dass er über das Auswärtige Amt Material über diese Familie bekommt. Mit den wirtschaftlichen Fragen beschäftigt sich Elisabeth [Weber]. Wolf wird ihm das Material schicken. Außerdem wird er noch mit Elisabeth [Weber] darüber sprechen. […] 4 Fischer geht es zurzeit nicht gut. Mit dem Einleben tut er sich schwer. Es bestehen auch Schwierigkeiten mit der Arbeit. Er hat auf Honorarbasis in der Ausstellungsszene etwas gemacht. Nun versuchen die mittleren leitenden Kader der Betriebe und Institutionen, die ihm immer die Aufträge gegeben haben, ihn abzublocken. Die wollen übereifriger sein als die ganz oben. Sie gehen davon aus, von oben wird es gewünscht, dass man ihn nicht beschäftigt. Fischer war gestern bei der Generalstaatsanwaltschaft, um einige Sachen zu klären und hat gleich gefragt, ob es von der Staatsanwaltschaft Auflagen gibt, ihn nicht zu beschäftigen. Ihm wurde gesagt, das ganze Gegenteil ist der Fall, sie sind interessiert, dass Fischer da irgendwo unterkommt. Fischer schätzt ein, diese Leute haben einfach Berührungsängste, um vielleicht durch ihn Schwierigkeiten zu bekommen. Fischer interessiert, ob Wolf von der Demonstration am Montag gehört hat. 5 Wolf ist bekannt, dass dazu morgen eine Aktuelle Stunde im Bundestag 4 In dieser Passage geht es um Petra Kelly und Gert Bastian. 5 Ab Februar 1988 ging die SED-Zensur rigider gegen die Kirchenzeitungen vor. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche hatte sich seit November 1987 nachhaltig verschlechtert. Allein zwischen 28.2. und 11.12.1988 sind fast 50 Zensurmaßnahmen nachweisbar, die in 27 Fällen dazu führten, dass eine von 6 evangelischen Kirchenzeitungen oder eines von 4 Amtsblättern nicht erscheinen durften. In den anderen Fällen kam es zu Verzögerungen in der Auslieferung, weil staatlich bemängelte Texte korrigiert werden mussten. Die Gründe für die Zensureingriffe waren sehr verschieden. Auf der einen Seite wurden Texte über Debatten auf Synoden, bei denen Synodale gesellschaftspolitische Probleme ansprachen, zensiert. Auf der anderen Seite sind einzelne Texte nicht geduldet worden, in denen die Autoren Umweltverschmutzung, Folgen des Uranbergbaus, Ausländerfeindlichkeit, die Ausreiseproblematik, das DDR-Volksbildungssystem, Alltagsprobleme, Gorbatschows Glasnostpolitik oder Neofaschismus in der DDR thematisierten. Und es fielen alle Beiträge dem Zensurstift zum Opfer, in denen die Arbeit der staatlichen Zensoren kritisiert wurde (neben vielen Beispielen in MfS-Unterlagen siehe auch Beispiele in der zentralen SED-Überlieferung: BArch DY 30/9049, Bl. 37–131). Am 10.10.1988 versuchten annähernd 200, vorwiegend kirchliche Mitarbeiter öffentlich gegen die Zensur der Kirchenzeitungen zu demonstrieren. Dem Protestzug war eine Erklärung vom 3.10. vorangegangen, mit der 27 Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter überwiegend aus Ost-Berlin gegen die Zensurmaßnahmen protestiert hatten. Zugleich war eine namentlich nicht gezeichnete Erklärung in Umlauf gebracht worden, die zum »Schweigemarsch« aufrief. Gegen 16.40 Uhr zogen die Menschen vom Konsistorium der Berlin-Brandenburgischen Kirche im Zentrum Ost-Berlins los, um vor dem Presseamt beim Ministerrat zu demonstrieren. Mehrere kirchliche Mitarbeiter, darunter Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, hatten versucht, die Demonstranten von ihrem Vorhaben abzubringen, obwohl sich alle einig waren in ihrer Empörung über die Zensurmaßnahmen. Die Demonstranten trugen Transparente, auf denen stand: »Pressefreiheit für ›Die Kirche‹« oder »Schluss mit der
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Dokument 98 vom 19. September 1988
sein wird. 6 Wolf findet das auch eigenartig, wie das, was in WB passiert ist, auf der gleichen Ebene gelegen hat. Er meint dabei die Polizeiaktion. 7 Ferner haben die Grünen für Freitag ebenfalls eine Aktuelle Stunde beantragt. 8 Fischer fand es erfreulich, dass sie von den 300 Leuten nur 80 herausgegriffen haben und nach zwei bis drei Stunden Belehrungen und Verwarnungen wieder haben gehen lassen. 9 Die hatten wieder Schiss, dass die Kirchen abends wieder voll werden. Insofern haben sie wieder etwas dazugelernt. Fischer macht Wolf abschließend darauf aufmerksam, er möchte die Postsendung mit seinem (Fischers) Namen versehen, sonst landet das wieder anderswo. Fischer wird ansonsten heute Abend noch Bärbel Bohley sehen. Wolf läßt sie grüßen. Außerdem wird Wolf nach Hannover gehen und deshalb aufhören, für die [Petra] Kelly zu arbeiten. Diese Woche will er das der Kelly noch beibringen. Die Pendelei hin und her ist ihm zu beschwerlich. […] 10 10.02 Uhr
Verbotspraxis« sowie ein weißes Holzkreuz mit der Aufschrift »Schweigeweg zum Presseamt – gegen die Verbotspraxis«. Nach wenigen Metern lösten Polizei und MfS die Demonstration auf und nahmen 78 Personen vorläufig fest. Bundesdeutsche Kamerateams filmten die Aktion. Bis Mitternacht waren alle Verhafteten wieder frei. Am 24.10. sollte ein neuerlicher Demonstrationsversuch stattfinden. Die Staatssicherheit war mit Hunderten Mitarbeitern im Einsatz. Der Staat führte zuvor mit 23 »kirchenleitenden Kräften und kirchlichen Mitarbeitern« Gespräche, um den Protest zu verhindern. 115 Personen erhielten Verwarnungen und Belehrungen, 9 sind vorläufig festgenommen worden. Diese Einschüchterungspraxis sowie eine Distanzierung mehrerer »kirchenleitender Kräfte« führten dazu, dass weitere Demonstrationen unterblieben und es lediglich zu einer emotional aufgeladenen »Leserdebatte« mit etwa 260 Teilnehmern in den Räumen des Konsistoriums kam. 6 Vgl. Aktuelle Stunde betr. jüngste Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Ost-Berlin und der DDR, in: Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 100. Sitzung, 13.10.1988, Plenarprotokoll 11/100, S. 6840–6852. 7 Vom 27. bis 29.9.1988 fand in West-Berlin ein IWF-Kongress statt. Dagegen sind Proteste organisiert worden. Aufseiten der Protestierenden gab es Gewaltausbrüche, die die Polizei mit z. T. heftiger Gegengewalt beantwortete. Auch in Ost-Berlin hatte sich eine Anti-IWF-Bewegung organisiert. Siehe zu den Vorgängen u. a. Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 413–427; Zwei Welten in Berlin, in: Die Zeit vom 30.9.1988; Schlagstock-Tanz vor Deutscher Oper, in: taz vom 28.9.1988 usw. 8 Vgl. Aktuelle Stunde Besorgnisse im In- und Ausland über die Wahrung der Presse- und Demonstrationsfreiheit bei unter Mitwirkung der Bundesregierung durchgeführten Tagungen und Großveranstaltungen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West), in: Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 101. Sitzung, 14.10.1988, Plenarprotokoll 11/101, S. 6929–6942. 9 Siehe Anm. 5. 10 Abschließend geht es nur noch knapp um die Stelle bei Petra Kelly.
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Dokument 99 Telefonate von Werner Fischer 23. Oktober 1988 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 11, Bl. 87–91 Anmerkung: Handschriftlich ist auf dem Dokumente notiert: »10-T[ages]-ber[icht] erle[digt]«. 1
[…] 2 Werner Fischer setzt sich mit Frieder Wolf in Bonn Tel. 467XXX in Verbindung. Fischer möchte wissen, ob Wolf bereits Material für die Rumäniensache besorgt hat. 3 Wolf bestätigt dies. Elisabeth [Weber] wollte etwas nach »Ostberlin« schicken. Von »amnesty international« sollte er auch noch Material bekommen, was aber bisher noch nicht ankam. Wolf wird ihnen das dann auch noch zukommen lassen. Morgen wollten sie sich in Bonn treffen und überlegen, was sie in der BRD machen können. Er wird dann die Beteiligten der Zusammenkunft bitten, auch Material nach »Ostberlin« zu schicken. Was Fischer insbesondere haben wollte, dieses Material zu dem Ceauşescu-Clan 4, hatte Elisabeth [Weber] besorgt und es müsste bereits unterwegs sein. Fischer berichtet von seinem gestrigen Gespräch mit Marie-Luise Lindemann, die jedoch sagte, dass Elisabeth [Weber] in Berlin war und nur zu dieser Wirtschaftsgeschichte Material erarbeitete. 5 Wolf betont nochmals, er wisse genau, dass Elisabeth [Weber] das gewünschte Material besorgt und auf den Weg geschickt hat.
1 Bezieht sich vor allem auf das dokumentierte Telefonat mit Gert Bastian. Das MfS fertigte seit dem 24.11.1987 tägliche Lageberichte zu Aktivitäten der Opposition im Rahmen der Aktion »Störenfried« (MfS-interner Codename) an. Hinzu kamen Wochen-, 10-Tages- und Monatsberichte, die gemeinsam von den HA IX und XX sowie der ZAIG erarbeitet wurden. In den BStU-Archiven sind diese vollständig überliefert. Weiter gab es tägliche Rapporte sowie als eigener Berichtsstrang tägliche Vorkommnismeldungen des MdI, die ebenfalls in den Archiven des BStU komplett vorhanden sind. 2 In einem ersten dokumentierten Telefonat (21.10.1988) geht es um die Arbeitsplatzsituation von Werner Fischer. 3 Siehe zu den Hintergründen Dok. 98, Anm. 2, sowie Dok. 95, 104, 105 und 106. 4 Im Original: »-Plan«. 5 MfS, Abt. 26/7, an HA XX/9, Information A/70431/88/110/88 (Telefongespräch Werner Fischer und Marie-Luise Lindemann), 22.10.1988. BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 11, Bl. 85–86.
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Dokument 99 vom 19. September 1988
[…] 6 20.01 Uhr Gert Bastian meldet sich bei Werner Fischer. Dieser berichtet von seinem Gespräch mit Frieder Wolf. Bastian seinerseits erklärt, dass er gerade mit Gerd Poppe sprach und der ihn auch um Material für den »Rumänientag« bat. 7 Bastian erkundigt sich dann, wie Fischer sich seit Rückkehr wieder eingelebt hat. Fischer ist im Großen und Ganzen zufrieden. Mit der Arbeit läuft es so einigermaßen. Er ist auf Honorarbasis an der Organisierung von Ausstellungen tätig. Am Anfang sah es da nicht so gut aus. Einige niedere Abteilungsleiter meinten, übereifrig sein zu müssen und denen oben einen Gefallen zu erweisen, in dem sie ihn nicht beschäftigen. Fischer hat das aber über die Generalstaatsanwaltschaft geklärt. Ihm wurde versichert, dass es überhaupt nicht der Situation entspricht, ihn nicht zu beschäftigen. Derartige Auflagen gibt es nicht. Bastian hofft, dass der Anschluss an die Freunde wieder hergestellt ist. Fischer versichert, dass es eine ganze Reihe von Problemen gibt. Das hat auch mit dem gestörten Verhältnis zwischen Bärbel [Bohley] und ihm zu tun. Man kann fast sagen, dass es zwei Lager gibt. Die Differenzen tragen sie nicht offen aus, aber sie haben kaum noch Kontakt zueinander. Dadurch ist schon eine gewisse Spaltung da. Einige Leute gehen zu B. Bohley und andere kommen wieder zu ihm. Dieser Zustand ist sehr unerfreulich und unproduktiv. Die Situation ist dadurch absurd. Bastian berichtet dann von seiner Australienreise. Fischer hat keine Karte erhalten und gibt auf Bitten Bastians seine neue Adresse durch. Bastian spricht dann davon, dass es ihnen zurzeit auch nicht so gut geht, weder gesundheitlich noch allgemein. Fischer bringt hierauf den bevorstehenden Weggang von Frieder Wolf ins Gespräch. 8 Auf seine Frage nach passendem Ersatz versichert Bastian, dass sie noch niemand haben. […] Für Petra Kelly ist das nun doppelt stressig. Sie können da aber nichts machen. Fischer hatte bei ihrem letzten Telefonat vergessen mitzuteilen, dass bei den letzten Hausdurchsuchungen wieder sämtliche Bücher von Bastian und Kelly mitgenommen wurden. 9 Dabei war auch das von Bastian »Frieden schaffen«. 10 6 Im Weiteren geht es um Petra Kellys Büro und die Nachfolge von Frieder Wolf, der als wiss. Mitarbeiter im Büro von Kelly aufhören wollte. 7 Ein MfS-Mitschnitt des Gesprächs oder ein Bericht darüber ist bislang nicht aufgefunden worden. 8 Der wiss. Mitarbeiter von Petra Kelly beendete seine Arbeit in ihrem Bonner Büro. 9 Hausdurchsuchungen des MfS fanden bei Werner Fischer und anderen Oppositionellen mehrfach statt. Nicht alle lassen sich in den MfS-Unterlagen nachweisen. 10 Vgl. Gert Bastian: Frieden schaffen! Gedanken zur Sicherheitspolitik. München 1983.
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Dokument 99 vom 23. Oktober 1988
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Die wurden auch nicht wieder zurückgegeben. Bastian verweist auf die Pressemeldungen zur Verweigerung der Pragreise der Bohley und den Ereignissen um die Kirchenzeitung. Fischer bestätigt, dass die Sache mit der Kirchenzeitung am Brodeln ist. 11 Es sieht so aus, dass die Kirchenleitung ihre Diplomatiestrategie verlassen will. »Die reagieren da jetzt alle sehr sauer.« Für morgen hat die Kirchenleitung alle die eingeladen, die damals an dieser Demonstration teilgenommen haben. Es sieht so aus, dass da wieder etwas stattfinden würde, nun aber unter der Schirmherrschaft der Kirche. 12 Fischer berichtet dann, dass Henning Schierholz gestern keine Einreise bekam, obwohl er am Freitag hier herein konnte. Da hatte er an einem Ökologieseminar teilgenommen. 13 Bastian fragt sich, was diese Mätzchen bedeuten sollen. Er hofft, dass der Besuch von [Helmut] Kohl in Moskau auch auf das Verhalten der DDR abstrahlt, wenn man in Moskau zu mehr Einvernehmen kommt. 14 Man kann das nur hoffen. Sicher ist das nicht und wenn, dauert so etwas immer sehr lange. Fischer berichtet dann, dass sie in Berlin zurzeit ein größeres Problem haben. Von einer EOS wurden vier Schüler relegiert. Einer davon ist der Sohn von Vera Wollenberger. 15 Diese vier Schüler hatten einen Artikel zu Polen verfasst und an die Wandzeitung gebracht, Unterschriften gesammelt und Diskussionen organisiert. An die Wandzeitung wurden Erklärungen geheftet, die dazu aufriefen, zum Nationalfeiertag auf militärische Paraden zu verzichten usw. Damit kam ein Stein ins Rollen. Schüler wurden aus der FDJ ausgeschlossen, von der Schule geworfen, an allen Berliner Schulen bekamen die Lehrer die Linie gesagt. Man ist jetzt im Bereich der Bildungspolitik gewillt, knallhart durchzuziehen. Das gerade diese Schule der Auslöser ist, liegt daran, 11 Siehe zu den Hintergründen Dok. 98, Anm. 5. 12 Ebenda. 13 Gegen Henning Schierholz wurde nach dem 24.11.1987 und dem 17.1.1988 »Einreisesperre verfügt, die mit Wirkung vom 26.5.1988 in operative Fahndung und ab 16.9.1989 in Rückfrage vor Entscheid umgewandelt wurde. […] Die genehmigten Einreisen am 6.10.1988 nutzte Sch[ierholz] zur Einschleusung von Druckerzeugnissen […] als Diskussionsgrundlage für die sogenannten Basisgruppen. Durch die Zollorgane wurde am 21.10.1988 die Ausfuhr von nichtlizensierten Materialien wie ›Arche Nova‹ und ›Spuren‹ unterbunden. Am 22.10.1988 erfolgte eine Zurückweisung des Sch[ierholz]. Er drohte mit einem öffentlichkeitswirksamen Protest.« MfS, HA XX/5, Kurzauskunft, 29.9.1989. BStU, MfS, HA XX 6313, Bl. 32. Zum 5. Ökologieseminar in Ost-Berlin siehe u. a. Zivilisation, Sondermüll, Volkstanz, in: taz vom 23.10.1988. 14 Bundeskanzler Kohl war vom 24. bis 27.10.1988 zu einem offiziellen Staatsbesuch in Moskau. Gorbatschow und Kohl erklärten dabei, dass die Eiszeit vorbei sei und Kohl bekräftigte, die deutsche Wiedervereinigung gehöre weiterhin zum grundlegenden Ziel der bundesdeutschen Politik. In dieser Zeit sollen sich auch in sowjetischen Parteiinstitutionen die Stimmen gemehrt haben, die die Wiedervereinigung als mittelfristig unumgänglich ansahen. 15 Es handelt sich um Philipp Lengsfeld (geb. 1972). Er folgte im November 1988 seiner Mutter nach Cambridge und kehrte ein Jahr später nach dem Mauerfall an die Ossietzky-Schule zurück.
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Dokument 99 vom 19. September 1988
dass der Sohn von Egon Krenz an dieser Schule ist. Nachdem er seinem Vater die Zustände berichtete, gab Krenz der Ministerin für Volksbildung die Richtlinie zum Durchziehen. 16 Fischer betont, dass sie jetzt am Rühren sind, um den acht betroffenen Schülern dort Solidarität aufzubauen. 17 Das ist aber problematisch, weil die betroffenen Schüler zum Teil nervlich nicht so »gut drauf sind, auch ein bisschen ängstlich sind«. Andere wollen wieder so richtig losmarschieren. Sie müssen da etwas Rücksicht auf die Jugendlichen nehmen und aufpassen, was sie machen. Auf jeden Fall muss das öffentlich gemacht werden. Im Westen ist es ja schon über die Medien gegangen, wenn auch wie üblich etwas verzerrt. Sie müssen auch die Öffentlichkeit aufmerksam machen, denn es sieht so aus, als wollte die Führung jetzt DDR-weit in der Volksbildung »durchreißen«. In den Blättern der UB wurde über die Sache auch berichtet.18 Staatlicherseits wurden dagegen Einschüchterungsversuche unternommen und man forderte, diese 16 An der Carl-von-Ossietzky-EOS in Berlin-Pankow waren Oberschülerinnen und Oberschüler relegiert und anderweitig gemaßregelt worden, weil sie sich für freie Meinungsäußerung, gegen Militarisierung, gegen Neofaschismus und für die Solidarność ausgesprochen hatten. Fischer hatte namens der IFM eine Protesterklärung verfasst. Diese Ereignisse erschütterten die ganze Gesellschaft und beschäftigten nicht nur die Opposition, viele aufgebrachte Bürger, die Kirchen, sondern auch das MfS, die Schulbehörden, das Ministerium für Volksbildung (M. Honecker), die SED-Bezirksleitung Berlin (Schabowski) sowie das SED-Politbüro (Honecker, Krenz). Die Geschehnisse erhielten eine besondere Wirkung dadurch, dass ein Sohn von Vera Wollenberger direkt betroffen war, dass auch die Nachbarin der Templins, Maja Wiens, betroffen war, weil ihr Sohn belangt wurde, und dass schließlich ein Sohn von Egon Krenz nicht nur Mitschüler der relegierten Oberschüler war, sondern die Sache mit ins Rollen gebracht hatte, weil er seinem Vater einen an einer Wandzeitung angehängten Beitrag zeigte, in dem die Machtmitbeteiligung oppositioneller Kräfte gefordert wurde. Ausführlich dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 291–297. Carsten Krenz beteuert allerdings, dass er die Mitschüler nicht »verpfiffen« habe, zumal sein Vater angeblich zu der Zeit im Urlaub war (vgl. Schülerwiderstand in der DDR, in: Berliner Zeitung vom 11.9.2013; Kinder der Revolution, in: Der Tagesspiegel vom 11.9.2013). 17 Vgl. ebenda. 18 Vier Schüler von Pankower Schule geschmissen!, in: Umweltblätter 10/88, Oktober 1988, S. 48. Aber nicht nur die UB, auch die IFM, Bischof Forck oder Manfred Stolpe, der öffentlich erklärte, dies alles erinnere ihn an die 1950er Jahre, schalteten sich ein. Mehrere Oppositionsuntergrundblätter brachten ausführliche Darstellungen über die Ereignisse und stellten Öffentlichkeit her. Die Westmedien griffen das Thema auf. Marianne Birthler und Michael Frenzel vom Berliner Stadtjugendpfarramt verbreiteten am 4.11.1988 eine ausführliche Information, die allen Berliner evangelischen Gemeinden zuging. Die betroffenen Schüler hatten überdies Gedächtnisprotokolle verfasst, die verbreitet wurden. Am 27.11.1988 fand ein landesweiter Aktionstag mit Protest- und Informationsveranstaltungen in mehreren Ostberliner Kirchen sowie z. B. in Dresden, Halle, Leipzig, Jena, Magdeburg, Potsdam und Wismar statt. Tausende Protestschreiben erreichten SED, Ministerrat, Volkskammer, Medien und Institutionen der Volksbildung. Bekannte Persönlichkeiten, die nicht im Verdacht standen, oppositionell gegenüber dem SED-Staat zu agieren, verwendeten sich für die Relegierten, darunter z. B. Stephan Hermlin, Christa Wolf und Jürgen Kuczynski. Prominente Kritiker der DDR wie Christoph Hein protestierten ebenso. Und vor allem waren im ganzen Land ungezählte Schüler, Eltern und auch Lehrer entsetzt und geschockt.
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Dokument 99 vom 23. Oktober 1988
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Blätter nicht unter die Leute zu bringen. Das Beispiel belegt, dass man hier wieder vor den Organen Flagge zeigt, bereit ist, erneut zuzuschlagen. Fischer resümiert, dass es verrückt ist. »Die haben seit Februar nichts dazugelernt. Es hat sich nichts geändert.« 19 Bastian stimmt ihm zu. Manchmal denken sie, das neue Denken 20 setzt sich doch durch, aber [dann] stellen sie immer wieder diese kalten Duschen fest. Bastian möchte dann wissen, ob sie denn sonst noch so regelmäßig zusammenkommen. Fischer bestätigt dies. Morgen z. B. sehen sie sich wieder. 21 Bastian bittet, Katja [Havemann] zu grüßen, wenn sie mit dabei ist, auch die anderen Freunde. Bastian möchte dann wissen, ob Fischer nicht einmal zu ihnen kommen könnte. Der kann sich vorstellen, dass es vielleicht möglich ist. Wenn sie ihn einladen würden. Er würde dann frech mit seinem Pass hingehen und fragen, wie es mit der Reisegenehmigung aussieht. Bastian verspricht, die Einladung zu schicken. Fischer bittet, dass sie ihm die Einladung und an das MdI gleich einen Durchschlag davon schicken. Er gibt Bastian die Anschrift des MdI, Mauerstraße. Die werden das dann schon an die richtige Stelle bei der »Staasi« weiterleiten. So ein Besuch wäre sehr gut. Sie könnten dann mal in einer ganz anderen, einer entspannten Situation miteinander reden. In dem halben Jahr damals war das für ihn gar nicht möglich. 22 Er war ja fast nie er selbst. Bastian drückt die Hoffnung aus, dass sie sich bald einmal sehen. 23.02 Uhr
19 Gemeint sind die »Ausreisen« Anfang Februar 1988. 20 »Neues Denken« war eine zunächst mit der Außenpolitik Gorbatschows zusammenhängende Formulierung, die schnell generell für Gorbatschows Politik benutzt wurde und in der DDR auch als ein Synonym für die Hoffnung galt, Glasnost und Perestroika würden auch in der DDR Einzug halten. 21 Am 24.10.1988 trafen sich u. a. Bärbel Bohley, Reinhard Weißhuhn, Monika Haeger (IM), Sinico Schönfeld (IM), Martin Böttger, Mario Wetzky (IM), Peter Grimm, Peter Rölle, Manfred »Ibrahim« Böhme (IM), Werner Fischer und Lothar Pawliczak (IM) in der Wohnung von Gerd und Ulrike Poppe und berieten u. a. über die Rumänienproblematik, aber auch über die relegierten Schüler der Ossietzky-Schule. Von der Zusammenkunft informierten dann mind. 3 der 5 anwesenden IM das MfS: HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 24.10.1988, 25.10.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 28, Bl. 181–183; HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMB »Maximilian«, 25.10.1988. Ebenda, Bl. 184–186; o. Verf., Abschrift einer Information von »Martin«, 25.10.1988. Ebenda, Bl. 187–188. 22 Gemeint ist die Zeit in der Bundesrepublik und England von Februar bis Anfang August 1988.
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Dokument 100 Telefonat zwischen Werner Fischer und Birgit Voigt 27. Oktober 1988 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 11, Bl. 92–93
Birgit Voigt meldet sich bei Werner Fischer. Sie berichtet von ihrer gestern verhinderten Einreise in die Hauptstadt, von der Fischer schon hörte. 1 Fischer berichtet seinerseits, dass er zurzeit sehr engagiert in der Sache mit den Pankower relegierten Oberschülern aktiv ist. 2 Am Freitagabend findet in der Zionsgemeinde die 1. Zusammenkunft aller Berliner Gruppen zu dieser Sache statt. 3 Er schildert dann Ablauf, Hintergründe und Folgen der Relegation der vier Schüler der Ossietzky-Oberschule. Fischer schlussfolgert, dass »die hier einfach nicht lernen wollen und jetzt die gleiche Situation haben wie nach dem 17. Januar«. 4 Er erkundigt sich nach Dauer und Gründen des Berlinaufenthaltes der Voigt. Diese berichtet, am Montag gekommen zu sein. 5 […] Dann berichtet er auf ihre Frage hin, dass es mit der Arbeit bei ihm inzwischen gut läuft. Er ist wieder in seiner Branche tätig und organisiert zurzeit Ausstellungen. So gelang es ihm für die Berliner Kunstausstellung im nächsten Jahr, zwei Arbeiten von Bärbel Bohley unterzubringen, die dann im Mai im Ausstellungszentrum am Fernsehturm zu sehen sein werden. Ein Bild trägt den Titel »Reise nach England«. 1 »Die V[oigt] wurde bei dem Versuch der Einreise zu Fischer, Werner und Bohley, Bärbel am 26.10.1988 zurückgewiesen. […] Während der von 1985–6/89 laufenden Einreisesperre wurde die V[oigt] bei 5 Versuchen der Einreise zurückgewiesen. Von 6/89 bis 9/89 bestand auf zentralen Entscheid Fahndung mit Beobachtung.« MfS, HA XX/5, Kurzauskunft, 2.10.1989. BStU, MfS, HA XX 6313, Bl. 42. Im März 1986 konnte sie zur Leipziger Messe einreisen. Siehe dazu Dok. 2, Anm.18. 2 Siehe zu den Hintergründen Dok. 99, Anm. 16. 3 Im Vorfeld und im Laufe des genannten Freitags (28.10.1988) wurden Werner Fischer, Wolfgang Wolf (IM), Thomas Klein und Ulrike Poppe zugeführt bzw. vorläufig festgenommen. Dennoch fand am Abend in der Zionsgemeinde der geplante Informationsabend statt, an dem ca. 200 Personen teilgenommen haben sollen. »Bischof Forck ließ durch Pfarrer Hülsemann übermitteln, dass er sich bis zum 4.11.1988 Ruhe wünsche, um sich für die Betroffenen und ihre Eltern einsetzen zu können.« Die zugeführten Personen kamen spätestens am 29.10.1988 wieder frei. MfS, HA XX/9, Bericht über Aktivitäten, Vorhaben und Reaktionen feindlich-negativer Kräfte im Zusammenhang mit der für den 28.10.1988 geplanten Provokation, 28.10.1988. BStU, MfS, HA XX/9 1486, Bl. 482– 495, Zitat Bl. 484. 4 Gemeint sind die Folgen der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17.1.1988. 5 Am 24.10.1988.
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Dokument 100 vom 27. Oktober 1988
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Die Voigt ist zuversichtlich, später auch wieder einreisen zu dürfen. Vielleicht gelingt es auch über eine Besuchsreise. Sie wird ihm darum ihre Angaben schicken. Fischer möchte wissen, ob sie in Westberlin auch mit Ralf Hirsch zusammentraf. Die Voigt hatte heute eine Zusammenkunft mit ihm und morgen werden sie sich noch einmal treffen. Es gibt zwar noch einige Spannungen, aber ansonsten besteht zwischen ihnen ein gutes Verhältnis, versichert die Voigt auf entsprechende Fragen von Fischer. Birgit Voigt berichtet dann, dass sie am 14. November wieder in Berlin sein wird. Sie weilt dann mit einer Schulklasse hier und wird nochmals versuchen, einzureisen. 6 Der eigentliche Anlass ihres jetzigen Berlin-Besuches war, dass sie mal ihren Keller leerräumen musste. 7 Sie meint dann: »Ihr bekommt am Samstag wahrscheinlich Besuch. Da reden wir aber jetzt nicht drüber.« Fischer möchte wissen, wer mit »ihr« gemeint ist, worauf sie die ausweichende Antwort, »die Menschen dort« gibt. Weiter bemerkt sie, dass sie darüber jetzt nicht soviel reden dürfen. Fischer müsste sich auf jeden Fall denken können, wer das ist. Das weiß er nicht. Die Voigt erinnert, dass es der ist, der sie hauptsächlich in Berlin sehen wollte, bevor er über den großen Teich fliegt. Da sie ja nun entschieden hatten, nach Berlin zu fahren und nicht dorthin, haben sie das einmal umgedreht. Fischer soll einmal überlegen, wo sie in den letzten Jahren unheimlich oft war. Es ist jemand, den Fischer noch nicht kennt. Fischer behauptet, jetzt zu wissen, wen sie meint. Die Voigt rät, sie sollen sich auf dessen Besuch einstellen. Sie bekommen noch nähere Informationen dazu. 8 Birgit Voigt selbst fährt am Samstag wieder zurück. Ab 14. ist sie dann wieder für eine Woche in Berlin. Vielleicht lässt man sie dann durch. Vorher bekommt Fischer auf jeden Fall noch einen Brief. Fischer möchte wissen, ob sie mit [Stephan] Krawczyk oder [Freya] Klier sprechen konnte. Die Voigt verneint das. Sie hatte überhaupt keine Zeit. Fischer möchte wissen, ob sie einmal mit Joscha Schmierer 9 gesprochen hat, 6 Im Rahmen von Geschichtskursen reiste Birgit Voigt jedes Jahr nach West-Berlin und bis zu ihrer Einreisesperre dann auch besuchsweise nach Ost-Berlin. Als anschaulichen Politikunterricht versuchte sie auch nach 1985 trotz Einreisesperre jedes Jahr mit ihren Schülerinnen und Schülern nach Ost-Berlin einzureisen, was ihr vor den Augen ihrer Schüler und Schülerinnen verweigert wurde und dann immer zu ganz neuen Diskussionen zwischen ihr und der Klasse führte. 7 Damit war die Einliegerwohnung in dem damaligen Haus der Voigts gemeint. Dort haben Bärbel und Anselm Bohley sowie Werner Fischer während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik gewohnt. U. U. waren Fotos, Bücher, Briefe und Bilder gemeint (Mitteilung von Birgit Voigt am 28.10.2013; Mitteilung von Werner Fischer am 7.11.2013). 8 Wahrscheinlich handelte es sich um einen langjährigen ungarischen Freund von Birgit Voigt (Mitteilung von Birgit Voigt am 28.10.2013; Mitteilung von Werner Fischer am 7.11.2013). 9 Hans-Gerhart »Joscha« Schmierer (geb. 1942), 1973 Mitbegründer und bis zu dessen Selbstauflösung 1985 Führungsfigur des linksradikalen maoistischen »Kommunistischen Bundes Westdeutschlands« (KBW), der u. a. das Terrorregime von Pol Pot unterstützte; 1983–1999 Chefredakteur der Zeitschrift »Kommune«; 1999–2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.
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Dokument 100 vom 19. September 1988
worauf sie versichert, dass sie dem geschrieben hat. Sie hat das auch in die Wege geleitet und es noch besprochen heute noch. »Das wird sich regeln.« Fischer freut sich, dass sie das mit Hirsch so gut in die Reihe bekommen hat. Er bekam einen Brief von Hirsch, der sehr gut war. Sie soll ihn grüßen. 0.48 Uhr
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Dokument 101 Telefonat von Werner Fischer mit seiner Mutter 1 29. Oktober 1988 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, Major [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Bd. 11, Bl. 97
Werner Fischer meldet sich bei seiner Mutter [Erna Fischer] 2. Diese bringt zum Ausdruck, dass sie sich Sorgen gemacht hat, wobei sie sich fragt, wann er endlich mal vernünftig werden will. Sie betont dabei, dass sie ihn nicht versteht. Fischer versichert, dass er wegen nichts weggefangen wurde. 3 »Die« wollten ihn nicht zu einer Versammlung lassen, zu der er übrigens gar nicht gehen wollte. Und da fragt sie ihn, wann er erwachsen wird. Das soll sie ihre Regierung 1 Siehe auch Dok. 102. 2 Erna Fischer (geb. 1926) war seit 1949 SED-Mitglied, Leiterin einer Wochenkrippe und bekleidete zahlreiche Funktionen. Von 1976 bis 1987 war sie GMS des MfS. Sie berichtete sehr umfangreich über ihren Sohn Werner Fischer und dessen Umfeld (BStU, MfS, AGMS 6266/87). 3 Am 28.10.1988 war Werner Fischer gegen 12.30 Uhr von MfS-Einsatzkräften zugeführt worden (wie in den nachfolgenden Wochen noch mehrfach). Er war gemeinsam mit Peter Grimm auf dem Weg in ein Café zu einem Treffen mit Gerd und Ulrike Poppe sowie Martin Böttger. Er wurde vorläufig festgenommen, wie z. B. auch Thomas Klein oder am frühen Abend Ulrike Poppe (andere wie Bärbel Bohley wurden »belehrt«), weil am Abend in der Zionskirche eine Informationsandacht zu den Geschehnissen an der EOS Carl-von-Ossietzky in Berlin-Pankow geplant war (von dieser Veranstaltung gab es einen Mitschnitt. Vgl. MfS, BV Berlin, Abt. XX, Abschrift des Tonbandmitschnittes der Veranstaltung vom 28.10.1988 im Gemeindesaal der Zionskirchgemeinde, 28.10.1988. BStU, MfS, HA IX 9933, Bl. 90–98). An der EOS waren Oberschülerinnen und Oberschüler relegiert und anderweitig gemaßregelt worden, weil sie sich für freie Meinungsäußerung, gegen Militarisierung, gegen Neofaschismus und für die Solidarność ausgesprochen hatten. Fischer hatte namens der IFM eine Protesterklärung verfasst. Diese Ereignisse erschütterten die ganze Gesellschaft und beschäftigten nicht nur die Opposition, viele aufgebrachte Bürger, die Kirchen, sondern auch das MfS, die Schulbehörden, das Ministerium für Volksbildung (M. Honecker), die SED-Bezirksleitung Berlin (Schabowski) sowie das SED-Politbüro (Honecker, Krenz). Werner Fischers »Zuführung« ist wenige Stunden später in westlichen Radionachrichten bekannt gegeben worden (MfS, HA XX/9, Bericht über Aktivitäten, Vorhaben und Reaktionen feindlich-negativer Kräfte im Zusammenhang mit der für den 28.10.1988 geplanten Provokation, 28.10.1988. BStU, MfS, HA XX/9 1486, Bl. 482–496). Die Geschehnisse erhielten eine besondere Wirkung dadurch, dass ein Sohn von Vera Wollenberger direkt betroffen war, dass auch die Nachbarin der Templins, Maja Wiens, betroffen war, weil ihr Sohn belangt wurde, und dass schließlich ein Sohn von Egon Krenz nicht nur Mitschüler der relegierten Oberschüler war, sondern die Sache mit ins Rollen gebracht hatte, weil er seinem Vater einen an einer Wandzeitung angehängten Beitrag zeigte, in dem die Machtbeteiligung oppositioneller Kräfte gefordert wurde. Zu den Vorgängen und Folgen vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 291–297. Carsten Krenz beteuert allerdings, dass er die Mitschüler nicht »verpfiffen« habe, zumal sein Vater zu der Zeit angeblich im Urlaub war (vgl. Schülerwiderstand in der DDR, in: Berliner Zeitung vom 11.9.2013; Kinder der Revolution, in: Der Tagesspiegel vom 11.9.2013).
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Dokument 101 vom 19. September 1988
und ihre »Scheißpartei« fragen. In diesem Land stinkt es bis zum Himmel, und dagegen wird er sich wehren. »Dieses Politbüro gehört abgesetzt, da müsste es mal hingehen, diese Einparteienherrschaft müsste aufgelöst werden.« Fischer beschimpft die Genossen, schimpft auf die Staatssicherheit und auf alle Bürger, die in seinen Augen »Arschlöcher« sind, weil sie sich alles gefallen lassen. In diesem Jargon geht es weiter. Die Mutter versucht, sich gegen seine Meinung auszusprechen, aber Fischer lässt sie kaum zu Wort kommen. Fischer betont, dass es ihm nicht darum geht, den Staat »zu kippen«, aber er will die Probleme, die es hier gibt, öffentlich diskutieren. Dabei denkt er an solche Probleme wie die 400 000 Anträge auf Ausreisegenehmigung, 4 an die 50 neonazistischen Gruppen, die es allein in Berlin gebe 5 und an die Schüler, die von der EOS relegiert wurden. 6 Fischer versichert abschließend, dass sie um ihn keine Angst zu haben braucht, wenn er ins Gefängnis geht, er kommt da immer wieder raus. 12.10 Uhr
4 Über die Zahl der Anträge auf ständige Ausreise aus der DDR wurde stets gemunkelt, da keine offiziellen und verlässlichen Zahlen darüber existierten. In den letzten Jahren vor dem Herbst 1989 stieg die Zahl beständig an, obwohl oder gerade weil immer wieder größere Ausreisewellen von der SED-Führung initiiert wurden, um so – dies die vergebliche Hoffnung – Druck abzulassen. 1987 gab es am Jahresende etwa 105 000 Ausreiseanträge, ein Jahr später etwa 120 000 und im Spätfrühjahr 1989 über 160 000. Zugleich sind zwischen Anfang 1988 und Juni 1989 über 61 000 Menschen legal in die Bundesrepublik ausgereist. 5 Seit 1987 waren die Debatten über aufkommende neofaschistische Gruppen gerade in den Großstädten nicht mehr abgerissen. In den Oppositionsgruppen war dies ein wichtiges Thema. Vgl. dazu ausführlicher Kowalczuk: Endspiel, S. 168–175. 6 Siehe Anm. 3.
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Dokument 101 vom 29. Oktober 1988
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Gisela Metz meldet sich bei Fischer, und er berichtete von der gestrigen »Zuführung«, wobei er erwähnt, dass er die Erklärung der »Initiative« bei sich hatte, die er dort einigen zeigen wollte. 7 15.21 Uhr
7 In der IFM-Erklärung ist knapp dargelegt worden, was geschehen war. Dann hieß es u. a.: »Das Ziel der gegenwärtigen Bildungspolitik ist letztendlich die Erziehung zu Untertanen. (…) Als Voraussetzung für eine grundsätzliche Veränderung der Bildungspolitik müssen wir die Aufhebung aller das Recht auf Bildung einschränkenden Sanktionswege der Inanspruchnahme anerkannter Menschenrechte fordern.« (Die Erklärung ist überliefert als Anlage in: MfS, HA XX, Information über Aktivitäten von Kräften des politischen Untergrundes im Zusammenhang mit der Relegierung von Schülern der »Carlvon-Ossietzky«-Oberschule Berlin-Pankow, 28.10.1988. BStU, MfS, HA XX/9 1486, Bl. 503–506, hier 506.) Aber nicht nur die IFM, Bischof Forck oder Manfred Stolpe, der öffentlich erklärte, dies alles erinnere ihn an die 1950er Jahre, schalteten sich ein. Die »Umweltblätter«, der »Friedrichsfelder Feuermelder« und andere Oppositionsuntergrundblätter brachten ausführliche Darstellungen über die Ereignisse und stellten Öffentlichkeit her. Die Westmedien griffen das Thema auf. Marianne Birthler und Michael Frenzel vom Berliner Stadtjugendpfarramt verbreiteten am 4.11.1988 eine ausführliche Information, die allen Berliner evangelischen Gemeinden zuging. Die betroffenen Schüler hatten überdies Gedächtnisprotokolle verfasst, die verbreitet wurden. Am 27.11.1988 fand ein landesweiter Aktionstag mit Protest- und Informationsveranstaltungen in mehreren Ostberliner Kirchen sowie z. B. in Dresden, Halle, Leipzig, Jena, Magdeburg, Potsdam und Wismar statt. Tausende Protestschreiben erreichten SED, Ministerrat, Volkskammer, Medien und Institutionen der Volksbildung. Bekannte Persönlichkeiten, die nicht im Verdacht standen, oppositionell gegenüber dem SED-Staat zu agieren, verwendeten sich für die Relegierten, darunter z. B. Stephan Hermlin, Christa Wolf und Jürgen Kuczynski. Prominente Kritiker der DDR wie Christoph Hein protestierten ebenso. Und vor allem waren im ganzen Land ungezählte Schüler, Eltern und auch Lehrer entsetzt und geschockt.
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Dokument 102 Telefongespräch von Werner Fischer mit seiner Mutter 1 30. Oktober 1988 Von: MfS, BV Potsdam, Abteilung 26 An: MfS, BV Potsdam, Abt. XX, Major [Rainer] Blume, 2 Oberst [Dieter] Weißbach 3 Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 17, Bl. 3–13 Anmerkung: Das Gespräch fand am 29. Oktober 1988 statt. 4
Werner Fischer meldet sich bei seiner Mutter [Erna Fischer] 5. Zwischen beiden kommt es zu folgendem Dialog: Herr F[ischer]: Mutti, hier ist der Werner. Frau F[ischer]: Na du! Herr F[ischer]: Was denn? Hast du dir Sorgen gemacht? Frau F[ischer]: Na Frage! Herr F[ischer]: Ich habe doch gesagt, sollst du nicht machen. Es ist immer alles in Ordnung. Frau F[ischer]: Mensch, wann wirst du mal vernünftig? Herr F[ischer]: Das ist doch wohl die falsche Adresse, was? Frau F[ischer]: Wieso? 1 Das Dokument der Abt. 26 der BV Potsdam trägt im Titel »Fischer, Martin«. Das war der Vater von Werner Fischer. Die Zuordnung des Protokolls zum Vater belegt, dass diese Telefonleitung mit einem Auftrag abgehört worden ist. Dies lässt sich damit erklären, dass das gesamte persönliche Umfeld von Werner Fischer, auch seine systemtreuen Eltern, überwacht wurden, um Informationen über Werner Fischer zu gewinnen. 2 Rainer Blume (geb. 1943) war seit 1.8.1969 beim MfS, BV Potsdam, angestellt. Er begann in der Abt. XX als Oberfeldwebel, wurde 1980 Referatsleiter (Abt. XX/2) im Rang eines Hauptmanns, ist 1981 zum Major befördert worden wurde, 1985 zum Referatsleiter in der Abt. XX/9 und schließlich am 15.6.1989 zum stellv. Abteilungsleiter der Abt. XX der BV Potsdam. 3 Dieter Weißbach (geb. 1936), Dreher, SED 1956, seit 1954 operativer Mitarbeiter im MfS, KD Marienberg; 1955 Versetzung zur Abt. VI (Forschung und Rüstungsindustrie) der BV Berlin, 1964 Versetzung zur HA XVIII und dort 1975 Leiter der Abt. 5; 1977 Diplomjurist an der JHS mit der Kollektivarbeit: »Die Herausarbeitung und Bestimmung politisch-operativer Schwerpunkte und die Arbeit mit Sicherungskonzeptionen zur politisch-operativen Sicherung der wissenschaftlichtechnischen Zusammenarbeit der sozialistischen Länder im Rahmen der sozialistischen ökonomischen Integration«; 1982 Promotion an der JHS mit der Arbeit und 5 (!) Koautoren: »Die politischoperative Sicherung wachstumsbestimmender Bereiche und Prozesse von Wissenschaft und Technik«; 1983 Versetzung zur BV Potsdam als Stellv. Operativ, ab 1987 1. Stellvertreter Operativ der BV Potsdam, 1984 Beförderung zum Oberst. 4 Siehe auch Dok. 101. 5 Erna Fischer (geb. 1926) war seit 1949 SED-Mitglied, Leiterin einer Wochenkrippe und bekleidete zahlreiche Funktionen. Von 1976 bis 1987 war sie GMS des MfS. Sie berichtete sehr umfangreich über ihren Sohn Werner Fischer und dessen Umfeld (BStU, MfS, AGMS 6266/87).
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Dokument 102 vom 30. Oktober 1988
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Herr F[ischer]: Was heißt, ob ich vernünftig. Das sag’ mal deinen Genossen. Frau F[ischer]: Entschuldige Werner, ich verstehe dich bald nicht mehr. Herr F[ischer]: Nein? Dann hat es auch gar keinen Sinn, wenn ich dir das versuche zu erklären, glaube ich. Frau F[ischer]: Na weißt du, du musst doch mal an dein eigenes Leben denken, du musst doch mal was draus machen können. Herr F[ischer]: Sag mal! Weshalb sprichst du denn so? Weißt du überhaupt, was gewesen ist? Nein! Frau F[ischer]: Na ja, ich weiß bloß, dass du wieder »aufgehoben« warst. Herr F[ischer]: Weißt du auch warum? Frau F[ischer]: Nein! Herr F[ischer]: Na wegen nichts. Wegen nichts. Auf der Straße weggefangen, weil sie meinten, weil sie mich abends nicht zu einer Veranstaltung lassen wollten, zu der ich im Übrigen gar nicht hin wollte. In irgendeiner Kirche war eine Veranstaltung und sicherheitshalber haben sie mich vorher weggekascht. 6 Das sind deine Genossen. Frau F[ischer]: Du kannst das doch nicht verallgemeinern. Herr F[ischer]: Dann sag’ doch nicht zu mir, wann werd ich mal erwachsen! Das musst du dann deiner Regierung und deiner Scheißpartei sagen, wirklich. Frau F[ischer]: Werner, weißt du! Herr F[ischer]: Ich habe es nicht nötig, mir so etwas anzuhören. Diese Arschlöcher greifen mich auf der Straße weg, wie einen Schwerverbrecher, lassen mich da acht Stunden bei der Staatssicherheit sitzen, wegen nichts, wegen absolut nichts. Dieses Recht nehmen die Schweine sich einfach heraus. Da sag’ doch nicht, wann wirst du mal erwachsen. Soll ich vor denen knien oder was? Frau F[ischer]: Na ja, aber du musst doch den richtigen Weg gehen können. Herr F[ischer]: Na, welchen Weg! In diesem Land stinkt es bis zum Himmel, welchen Weg willst du da gehen? Frau F[ischer]: Na in andern stinkt es noch viel mehr. In anderen Ländern stinkt es noch viel mehr. Herr F[ischer]: Ich lebe aber in diesem Land und mich interessiert nicht, was in anderen Ländern passiert, hier stinkt es in diesem Land und dagegen werde ich mich wehren. Frau F[ischer]: Du wirst es trotzdem nicht ändern. Herr F[ischer]: Aber ihr auch nicht, ihr habt es ja auch nicht geschafft. Frau F[ischer]: Wir sind mit unserem Los zufrieden. Herr F[ischer]: Aber ich nicht. Frau F[ischer]: Denn was wir früher hatten, wir haben ja auch die andere Seite mal kennengelernt.
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Siehe zu den Hintergründen Dok. 101, Anm. 3.
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Dokument 102 vom 19. September 1988
Herr F[ischer]: Mann, darum geht es doch gar nicht. Es geht doch nicht andere Seite und da. Ich kenne die andere Seite wesentlich besser als du, das musst du mir wirklich nicht sagen, Mutti! Ich lebe hier, deshalb bin ich auch zurückgekommen und mich interessiert das, was hier passiert. Aber das interessiert die Schweine von der Staatssicherheit überhaupt nicht. Die fangen dich von der Straße weg, ohne jeden Grund, dieses Recht haben sie hier nämlich, weil das kein Rechtsstaat ist. Frau F[ischer]: Was machst du denn jetzt überhaupt beruflich? Herr F[ischer]: Na, das hat geklappt alles wieder, ich mache meine Ausstellung.7 Frau F[ischer]: Da müsstest du doch eigentlich zufrieden sein. Herr F[ischer]: Na sag’ mal! Ich habe vielleicht einen anderen Anspruch ans Leben als du. Was heißt zufrieden? Frau F[ischer]: Junge, denkst du nicht an dein Kind? 8 Herr F[ischer]: Also, ich kann diese Sprüche nicht hören. Ich denke ständig an mein Kind. Aber deshalb verkrieche ich mich nicht, wie die ganzen anderen Arschlöcher hier. Deshalb sage ich meine Meinung, verstehst du das? Frau F[ischer]: Na, deine Meinung kannst du doch sagen. Herr F[ischer]: (lachend) Die sage ich ja auch. Bloß das passt den Herren nicht, mitunter nicht. Das ist nicht mein Problem. Meine Meinung sage ich trotzdem. Frau F[ischer]: Einverstanden Werner! Aber in Beschimpfungen und – Herr F[ischer]: Wen habe ich beschimpft? Frau F[ischer]: Du hast ja eben recht abfällig von Menschen gesprochen. Herr F[ischer]: So etwas sage ich zu dir, das mache ich nicht öffentlich. Natürlich sind das absolute Schweine, die diesen Job machen, muss ich dir wirklich übers Telefon sagen, obwohl ich weiß, dass das abgehört wird. Das sind absolute Schweine. Ohne Gewissen und operieren auf keiner vorhandenen Rechtsgrundlage. Die können dich zehn Stunden festhalten wegen nichts, wegen nichts und ich möchte dich mal sehen in so einer Situation. Wenn sie dich von der Straße weg fangen, dir nicht sagen warum, ich möchte dich wirklich mal erleben. Frau F[ischer]: Na, ich kann mir kein Bild machen. Herr F[ischer]: Dann glaube mir doch wenigstens. Frau F[ischer]: Mich wundert immer, dass die sofort, die anderen Bescheid wissen.
7 Werner Fischer blieb nach seiner Rückkehr aus England Anfang August 1988 ohne Arbeitsrechtsverhältnis. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, u. a. bei der Gestaltung von Ausstellungen. 8 Das Kind ist im Mai 1979 geboren worden.
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Herr F[ischer]: Na das ist doch richtig, Gott sei Dank. Gott sei Dank! ADN oder N[eues] D[eutschland] meldet das nicht. Gott sei Dank wissen die immer sofort Bescheid. Das ist ja die einzige Öffentlichkeit, die man hier in diesem Land herstellen kann, eine andere gibt es ja nicht. Die andere wird zensiert. Frau F[ischer]: Wobei die selber Dreck am Stecken haben, da drüben. Herr F[ischer]: Wirklich, du weißt nicht wovon du redest. Frau F[ischer]: Doch, ich weiß, ich bin ein bisschen länger durchs Leben gegangen als du. Herr F[ischer]: Ja, ja! Also es bringt alles nichts, weißt du, diese Ratschläge, die haben vielleicht vor 30 Jahren gegolten. Frau F[ischer]: Na, ich habe geglaubt, du wirst ein bisschen, bist du ja jetzt durch die Welt gekommen, ein bisschen mal zum Überlegen kommen. Herr F[ischer]: Du, was unterstellst du mir. Ich bin keine 14 und ich habe wahrscheinlich – Frau F[ischer]: Eben weil du keine 14 mehr bist, sondern bald 40. Herr F[ischer]: Na ja, da musst du mir aber mal ganz konkret sagen, weil ich dich absolut nicht verstehe, was ich überlegen soll. Frau F[ischer]: Na, wo soll ich denn hingehen nach deiner Meinung? Einen Kapitalisten brauchen wir nicht, einen Ausbeuter. Herr F[ischer]: Du hast mir nie zugehört, wenn ich dir erzählt habe. Ich merke das wirklich immer wieder, du hörst mir nicht zu. Frau F[ischer]: Doch, ich höre dir zu. Und die sogenannte Einheit Deutschlands, wie die sich es vorstellen, die können sie sich sonst wohin klatschen. Herr F[ischer]: Wovon redest du denn? Frau F[ischer]: Wir sehnen uns nicht nach deren Gesellschaftsordnung. Herr F[ischer]: Wovon redest du denn? Von so etwas habe ich nie gesprochen, das ist überhaupt nicht mein Thema. Verstehst du denn das überhaupt nicht. Mir geht es nicht um Kapitalismus oder Westen. Habe ich dir das nicht oft genug gesagt! Frau F[ischer]: Um was geht es dir denn dann? Herr F[ischer]: Das steht mir wirklich nicht zu. Es geht mir um Veränderungen in diesem Lande, weil es hier stinkt und da geht es nicht darum zu sagen, drüben ist es aber auch so und in Chile ist es so und in Südafrika oder was weiß ich. Wir leben hier und hier werden wir uns gegen Dinge wehren, die nicht in Ordnung sind. Und dagegen hat die Staatsmacht was. Dagegen hat das Machtmonopol einer einzigen Partei was. Und dagegen wehren wir uns, selbstverständlich, weil wir uns nicht entmündigen lassen und uns unwürdig behandeln lassen müssen, von diesen Knallärschen. Dieses Politbüro gehört abgesetzt, dahin müsstest du mal hingehen. Frau F[ischer]: Ja, aber solche Unruhestifter gibt es auch in der ČSSR und die sind auch in der SU und die gibt es jetzt überall und die werden nichts ändern, das will ich dir sagen.
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Dokument 102 vom 19. September 1988
Herr F[ischer]: Au! Was meinst du, dann hast du die Entwicklung in diesen Ländern schlecht beobachtet, es hat sich dadurch sehr viel in den letzten fünf, sechs Jahren geändert. Da nimmst du diese Beobachtung einfach nicht wahr. Ich merk’ das hautnah und deshalb bin ich auch zurückgekommen, weil ich genau die Hoffnung habe, dass sich hier was ändert. Wenn ich ohne Hoffnung wäre, könnte ich hier gar nicht leben, da würde ich hier ersticken in diesem Mief. Ihr empfindet diesen Mief wahrscheinlich gar nicht so, aber wenn du ein bisschen politisch wach bist in diesem Lande und dich ein bisschen umguckst, dann empfindest du das sehr stark, diese ständige Entmündigung und Bevormundung und die Gängelei der Leute hier, dieser unwürdige Umgang mit denen, da hilft mir überhaupt nicht, wenn du sagst, ich kenne die andere Seite und wir wollen keinen Kapitalismus, das sind Plattheiten. Frau F[ischer]: Das sind keine Plattheiten, das sind Erlebnisse. Herr F[ischer]: Mein Gott, der Kapitalismus hat sich entwickelt. Du glaubst gar nicht auf welche Art und Weise und ich bin überhaupt kein Anhänger des Kapitalismus, ich glaube, das habe ich dir schon einmal gesagt, ich habe ein halbes Jahr in Westeuropa zugebracht und zwar 1988 und nicht 1943 wie du. Frau F[ischer]: Nein, ich habe die ganze Nazizeit mitbekommen, ich habe alles viel mehr mitbekommen. Du hast noch nie hungrig ins Bett gehen müssen, obwohl meine Eltern sich die Hände wundgearbeitet haben, aber ich habe es erlebt. Herr F[ischer]: Na du, das ist hier überhaupt nicht die Frage. Soll ich das erleben und dann die Schnauze halten. Soll ich sagen, ich bin so dankbar …, dass ich in einem Land lebe, wo ich [nicht] hungere und dann halte ich die Schnauze. Frau F[ischer]: Ich habe auch nie den Mund gehalten, wenn was zu kritisieren war, aber Werner, ich verstehe das einfach nicht mehr. Herr F[ischer]: Ich habe es immer versucht, dir zu erklären, immer an Beispielen. Ich bin doch kein Revolutionär oder sonst etwas. Ich wehre mich im Rahmen meiner Möglichkeiten. Frau F[ischer]: Da bin ich auch der Meinung, dass man sich mit den Leuten vernünftig unterhalten kann. Herr F[ischer]: Ich kann dir 1 000 Beispiele nennen, wo ich es angeboten habe. Ich habe einen Schriftwechsel mit dem Friedensrat der DDR, mit anderen staatlichen Stellen. Da haben sie mir strafrechtliche Sanktionen angedroht, also dass ich in den Knast gehe. Das Gespräch ist immer von staatlicher Seite abgelehnt worden. Frau F[ischer]: Menschenskinder, man kommt überhaupt nicht mehr zur Ruhe. Herr F[ischer]: Nein, musst dich um mich nicht sorgen, ich komme da immer wieder raus, das wusste ich auch ganz genau, das habe ich den Stasitypen ges-
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tern im Ministerium für Staatssicherheit auch gesagt, bloß er kommt da nie wieder raus, das ist sein Problem. Die haben ja so eine lange Kündigungsfrist. Frau F[ischer]: Denk doch mal an dein Kind! Herr F[ischer]: Mein Gott, ich denke ständig an mein Kind, aber ich kann mich deswegen nicht verkriechen und mich anpassen. Ein schöner braver DDR-Bürger sein, der immer alles schön mitmacht. Frau F[ischer]: Ach, das ist Quatsch, das bin ich nie, auch nicht gewesen. Herr F[ischer]: Na ja, ich weiß nicht. Ich denke, ich habe dir oft genug, mir war es ganz wichtig, es euch zu erzählen, damit ihr euch wirklich konkret ein Bild macht von dem, was ich tue. Frau F[ischer]: Komischerweise passiert dir das aber bloß verflucht noch mal. Herr F[ischer]: Na, das ist doch völlig klar, Mutti! Es ist doch völlig klar, dass die irgendwo Schiss haben, jetzt wo der Name noch bekannter ist und andere Namen, dass, wenn wir auf irgendwelche Veranstaltungen auftreten oder so, dass da mehr Zulauf ist. Deshalb versuchen sie uns von vornherein einzukassieren, stundenlang festzuhalten und lassen uns wieder laufen. Frau F[ischer]: So erzähle mir bloß mal, was ihr überhaupt wollt. Da bin ich immer noch nicht dahinter gestiegen. Herr F[ischer]: Du das würde jetzt am Telefon wirklich zu weit führen. Also ich sage dir mal eher, was ich nicht will oder was wir nicht wollen. Wir wollen diesen Staat nicht umkippen, wir sind keine Staatsfeinde, wir basteln auch keine Bomben und nichts; was wir wollen, ist reden mit den Leuten, in einen Dialog treten und zwar in einen Dialog, den sie nach außen so schön fördern und wünschen und was weiß ich und deshalb so unglaubwürdig ist, weil dieser Dialog im eigenen Lande nicht stattfindet. Über Probleme die es hier tatsächlich gibt. Über das Problem der Ausreise, denn du weißt, dass hier 100 000 Leute einen Ausreiseantrag haben. 9 Frau F[ischer]: Na dann sollen sie gehen, wenn sie glauben, dass sie da Honig – Herr F[ischer]: Also sag’ einmal. Frau F[ischer]: Wenn ich was zu sagen hätte, ich würde sie alle laufen lassen. Herr F[ischer]: Ja, das ist eine verbrecherische Politik. Weißt du, was dahinter steht, weshalb Leute gehen, es sind nicht nur Leute, die den Westen besser finden, es sind Leute, die Berufsverbot haben, weil sie irgendwann mal ihre Klappe aufgemacht haben. Es sind Leute, die andere Schwierigkeiten haben, es sind Leute, die hier keine Hoffnungen mehr haben, die resigniert haben und da sollte man mal über die Ursachen öffentlich nachdenken und diskutieren, damit eben nicht so viele Leute abhauen, das ist ja auch ein Ausbluten des 9 1987 gab es am Jahresende etwa 105 000 Ausreiseanträge, ein Jahr später etwa 120 000 und im Spätfrühjahr 1989 über 160 000. Zugleich sind zwischen Anfang 1988 und Juni 1989 über 61 000 Menschen legal in die Bundesrepublik ausgereist. Solche Zahlen waren öffentlich nicht bekannt, sind aber in bundesdeutschen Medien geschätzt (Anträge) bzw. bekannt gegeben worden (tatsächliche Ausreisen).
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Landes, das ist ja wie [19]61. Aber über dieses Thema darf in diesem Land offiziell nicht gesprochen werden. Da werden Verhandlungen mit der Bundesrepublik geführt, damit schön viel Westgeld auch noch – Frau F[ischer]: Nein, die werben ja drüben, die gehen ja bis in weiß der Kuckuck welche Generationen, als die sogenannten Deutschen. Das haben wir schon einmal gehabt. Herr F[ischer]: Das ist genau die gleiche Scheiße, das habe ich in Bonn und überall erzählt, dass das eine absolute Scheiße ist, dass sie sich in diese Dinge nicht einmischen sollen. Frau F[ischer]: Eben, das haben wir schon gehabt, das alles und das nächste ist dann Volk ohne Raum. Herr F[ischer]: Ach, Mensch Mutti, du bist nicht mehr von dieser Welt, das muss ich dir wirklich sagen. Frau F[ischer]: Ach, nun komm’ Werner, ich bin ein Stückchen länger durchgegangen. Herr F[ischer]: Weißt du, es ist gut, dass du mich darauf bringst. Es gibt in diesem Land unheimlich, du ahnst es nicht, neofaschistische Tendenzen, es gibt Gruppen, organisierte Gruppen von Neonazis. In Berlin gibt es allein 50 Gruppen, weißt du das! Das steht nicht im Neuen Deutschland. Unsere Forderung, das öffentlich zu machen, darüber zu diskutieren, um das abzustellen, wenn wir diese Forderung haben, werden wir mit verfolgt, da sitzen wir wieder bei der Stasi und so etwas. Weißt du, dass es das alles gibt? 10 Frau F[ischer]: Die Neonazis müssten sie richten (ph). Herr F[ischer]: Es gibt Grabschänder, jüdische Friedhöfe werden in Berlin geschändet. 11 Frau F[ischer]: Ja, das weiß ich, dass es solche Schweinehunde wieder gibt. Herr F[ischer]: Und das benennen wir, das sind die Probleme, die wir benennen, nichts anderes. Frau F[ischer]: Dann ist es ja nichts Falsches. Herr F[ischer]: Ja, das sage mal der Staatssicherheit. Frau F[ischer]: Glaub doch nicht, dass sie das gut heißen. Herr F[ischer]: Tja, sicherlich nicht, aber die wollen nicht, dass wir das von uns [aus] in die Öffentlichkeit bringen. Die wollen darüber die Diskussion nicht 10 Seit 1987 waren die Debatten über aufkommende neofaschistische Gruppen gerade in den Großstädten nicht mehr abgerissen. In den Oppositionsgruppen war dies ein wichtiges Thema, zumal neofaschistische Erscheinungen und die Opposition von der SED öffentlich bewusst vermengt wurden. Vgl. dazu ausführlicher Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 168–175. 11 Das gab es in der gesamten DDR-Geschichte und in vielen Regionen, besonders gehäuft aber Ende der 1980er Jahre. Vgl. dazu Monika Schmidt: Schändungen jüdischer Friedhöfe in der DDR. Eine Dokumentation. Berlin 2007; Annette Leo: Umgestoßen. Provokation auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin Prenzlauer Berg 1988. Mit Fotos von Nadja Klier. Berlin 2005.
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führen, weil es offiziell nicht sein darf, in dieser ach so sozialistischen DDR gibt es so etwas nicht, verstehst du! Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Und dadurch wird ein Problem totgeschwiegen, was unheimlich gefährlich ist. Weißt du was an den Schulen abläuft? Frau F[ischer]: Also ich kann mir nicht vorstellen, dass man seine Meinung nicht sagen kann. Herr F[ischer]: Ich habe dir doch Beispiele dafür gegeben. Du musst doch eine Vorstellung davon nun haben. Wir können sie nicht, aber ich werde es trotzdem tun, ich werde mich nicht verkriechen, weil mich genau diese neofaschistischen Tendenzen, diese Ausreiseproblematik unheimlich beschäftigt, weil ich hier in dieser Gesellschaft groß geworden bin, hier lebe und hier leben möchte. Frau F[ischer]: In der Richtung gebe ich dir völlig Recht. Denn das herzugeben, was wir uns zusammengescharrt haben, das wieder herzugeben, dazu ist, glaube ich, keiner von uns bereit. Denn uns haben sie es ja nicht in den Schoß gelegt. Wie gesagt, ich kann nur von meinen Erfahrungen ausgehen und wenn sie sich mit sonst was behängen da drüben und wenn du sagst die Neonazis, also die haben auf keinen Fall meine Sympathie. Herr F[ischer]: Weil du immer sagst, drüben und hier. Für mich und meine Freunde geht es überhaupt nicht um diesen Vergleich. Es geht gar nicht darum, ob drüben oder hier. Wir leben hier und hier gibt es Probleme und die benennen wir. Mehr ist dazu einfach nicht zu sagen und das sind Probleme, die öffentlich nicht gern gehört werden, weil die so selbstherrlich gemacht, da oben im Politbüro sind, sich da nicht reinfunken lassen wollen. Frau F[ischer]: Werner, verallgemeinerst du das nicht. Es muss doch Menschen geben, mit denen man sich über solche Thematik unterhalten kann. Herr F[ischer]: Ja, es gibt Tausende von Menschen, die abends beispielsweise die Kirchen füllen, es gibt unter den Genossen, Gott sei Dank, immer mehr Leute. Ich habe mit diesen Kontakt, bis hoch in Kreisebenen. Es rührt sich Gott sei Dank einiges, es setzt sich scheinbar irgendwo langsam, langsam die Vernunft durch. Die können sich dem Wind aus Moskau hier nicht mehr entziehen. Und wir befördern das, selbstverständlich, weil ich in einem Land leben möchte, wo es nicht diesig ist und wo irgendwo Probleme offen diskutiert werden und ohne dass unten drei Autos von der Staatssicherheit stehen, nämlich jetzt stehen sie auch schon wieder. Ich weiß nicht, was die wollen. Frau F[ischer]: Meinst du, dass das welche sind? Herr F[ischer]: Na ja, selbstverständlich. Weil jeden Abend Veranstaltungen in Kirchen stattfinden. Frau F[ischer]: Na bist du denn mit den Leuten in der Kirche zusammen? Herr F[ischer]: Ich gehe hin und wieder hin, selbstverständlich. Bloß man kann mir ja nicht verbieten an kirchlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Frau F[ischer]: Nein, nein.
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Dokument 102 vom 19. September 1988
Herr F[ischer]: Eine unheimliche Geschichte ist hier passiert und hier werden wir uns mit dem Ministerium für Volksbildung auseinandersetzen. Vier Jugendliche in der 11. Klasse in der Pankower Oberschule gefeuert, relegiert, das heißt, die haben in der Zukunft nie wieder die Chance, ein Abitur zu machen, geschweige Studium usw. Man hat sie aus dem Grunde geschmissen, sie waren bei der offiziellen Demonstration anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Faschismus am Marx-Engels-Platz und haben zwei Losungen, zwei eigene, das darf man hier ja nicht, das muss ja zensiert sein, zwei eigene Losungen gezeigt, auf der einen stand, »gegen faschistische Tendenzen« die es in diesem Land gibt und auf der anderen stand »Neonazis raus«. Aufgrund dieser Losung sind sie von der Schule geflogen. 12 Frau F[ischer]: Das kann ich mir nicht vorstellen. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Herr F[ischer]: Ob du dir das vorstellen kannst oder nicht, es ist eine Tatsache. Und weißt du wie das ausgelöst wurde? An dieser Schule, in dieser einen Klasse geht der Sohn von Egon Krenz. 13 Kannst du dir nun ausmalen, welcher Machtmechanismus hier herrscht? Frau F[ischer]: Na also (sprachlos). Herr F[ischer]: Das ist Tatsache, das ist von mir nicht erfunden und erlogen, weil ich irgendwelche Rebellion machen will, das ist eine Tatsache. Ich habe auch keine Lust, jeden Abend in eine Kirche zu gehen, oder mich irgendwo zu äußern oder Artikel zu schreiben. Ich muss mich aber äußern, wenn ich merke hier stinkt es. Und hier stinkt es ganz gewaltig, in diesem Volksbildungsapparat. Die Eltern werden verwarnt, überhaupt mit niemandem zusammenzukommen, keine Informationen weiterzugeben. Das Ding ist ganz groß angelegt. An anderen Schulen, wo sich Jugendliche darüber unterhalten und sich empören, wird ihnen auch angedroht, dass sie von der Schule geschmissen werden. Vom Sozialismus sind wir sowieso weit entfernt, das ist wieder ein anderes Thema. Aber das ist kein Umgang mit dem Menschen. Humanistische Gesellschaft ist das hier schon lange nicht. Dazu muss der Machtapparat erst einmal gesäubert werden und umfunktioniert. Die machen ja wirklich selbstherrlich ihre Machtpolitik nach Gutdünken, wie es ihnen gerade passt, wie im Feudalismus. 12 Gemeint sind die Vorgänge an der EOS Carl-von-Ossietzky in Berlin-Pankow. Siehe dazu Dok. 99, Anm. 16. 13 Der Sohn, Carsten, hatte einen Beitrag von der Wandzeitung mit nach Hause genommen und seinem Vater gezeigt. Darin war gefordert worden, oppositionelle Kräfte an der Macht zu beteiligen. Was der Sohn tatsächlich bezweckte, sei dahingestellt, sein Vater jedenfalls hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass anschließend die Maßregelung der Oberschüler begann. Carsten Krenz beteuert allerdings, dass er die Mitschüler nicht »verpfiffen« habe, zumal sein Vater angeblich zu dieser Zeit im Urlaub war (vgl. Schülerwiderstand in der DDR, in: Berliner Zeitung vom 11.9.2013; Kinder der Revolution, in: Der Tagesspiegel vom 11.9.2013).
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Frau F[ischer]: (lacht) Den habe ich nicht kennengelernt. Herr F[ischer]: Aber so ist das. Ein Absolutismus. Der Landesfürst und die Landeskinder und der Landesfürst vergibt Geschenke manchmal, Westreisen, ohne Gesetzesgrundlage, ohne dass der Bürger die Möglichkeit hat, sich zu beschweren und es abgelehnt ist, oder was weiß ich, alles nicht einklagbar. Ach, da könnte ich stundenlang reden. Mir geht es nicht darum, diesen Staat zu kippen oder irgendwas, bloß ich möchte mich wie viele, Tausende, Gott sei Dank, Tausende in diesem Land dagegen wehren und das diskutieren und wenn sie nicht bereit sind zu diskutieren, sondern ständig mit ihrer Staatssicherheit winken, die mich wirklich am Arsch lecken kann, dann tut es mir leid, dann müssen sie eben das tun, dann müssen sie aber die politischen Folgen in Kauf nehmen beispielsweise wie im Januar, wo sie fast ihr Gesicht verloren haben, außenpolitisch hier, die Heinis. Tun sich unheimlich wichtig und meinen wirklich im Besitz der Wahrheit zu sein, um daher ihre Politik machen zu können. Die Leute in diesem Land sind denen wirklich scheißegal und die Jugend erst recht. Das muss ich dir wirklich mal sagen. Frau F[ischer]: Na, denen blasen wir ja so viel Zucker in den Hintern. Herr F[ischer]: Ja, das kenne ich alles aus der Zeitung. Frau F[ischer]: Nein nicht aus der Zeitung, das sind Fakten. Herr F[ischer]: Da möchte ich dich wirklich fragen, wo sie denen Zucker in den Hintern blasen, weißt du wie es in den Schulen abläuft? Mit welcher Disziplin das dort funktioniert, dass sie die Schnauze halten, ansonsten bekommen sie keinen zur EOS, das ist ja sowieso schon ein Glücksfall, wenn sie dahin kommen. Da zählt ja nicht mehr die Note, da zählt das politische Wohlverhalten. Abgesehen vom Studienplatz, den sie sich auch so nicht aussuchen können. Einer der Arzt werden will, der muss zum Schluss Friseur werden. Da kann ich dir tausend Beispiele aufführen. Ich habe das gesammelt. Die Realität ist nicht so, wie du sie siehst, das muss ich dir ganz einfach sagen. Frau F[ischer]: Ich habe diese Realität ein Stückchen mitgeformt. Herr F[ischer]: Ja, … sich geändert, aber sie war damals genau so scharf, muss ich dir sagen. Ich mache das ja nicht oder äußere mich, weil ich unheimlich Lust habe, hier Rebellion zu machen, ganz und gar nicht. Ich fühle mich eigentlich viel wohler, wenn ich meine Ruhe habe. Frau F[ischer]: Ich bin der Meinung, du bist alt genug, um dein Leben selber zu formen und zu leben. Und wenn du glaubst, dass das der richtige Weg ist, ich kann es nicht mit dir teilen, es tut mir leid, deine Meinung. Herr F[ischer]: Na ja, das ist die Frage und deshalb habe ich mich ja oft genug mit dir unterhalten über genau konkrete Sachen, die mich beschäftigen. Frau F[ischer]: Weil ich der Meinung bin, man kann sich über alles unterhalten. Versuchs noch mal. Herr F[ischer]: Mit wem? Mit dir vielleicht, aber doch nicht mit irgendwelchen staatlichen Stellen, die Entscheidungen treffen können. Das geht nicht. Ich
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Dokument 102 vom 19. September 1988
kann dir doch tausend Beispiele nennen. Es ist doch nicht so, dass wir hier im Vakuum leben. Wir bieten doch ständig an, wir … in tausend Briefen, allerdings werde ich das in Zukunft nicht mehr tun, ich bettle nicht mehr um ein Gespräch mit diesen Heinis. Ständig haben wir das gemacht. Möchten ein Gespräch zu diesem und jenem Thema und, und, und. Und viele andere machen das auch, ständig ohne Erfolg, da kommt keine Antwort, sondern es wird gedroht, wenn wir das nicht unterlassen, dann und so. Tja, ich habe andere Erfahrungen gemacht als du, aber ich habe mich wahrscheinlich auch an anderen … – Frau F[ischer]: Na ja, du musst mit deinen Erfahrungen leben und musst daraus Schlussfolgerungen ziehen und nach deiner Meinung, die richtigen. Was du für richtig hältst. Herr F[ischer]: Das ist schon einmal schön, wenn du das so anerkennst. Frau F[ischer]: Werner, weißt du, du bist keine 14, sondern wie gesagt, du wirst ja bald 40. Jeder schafft sich sein Leben alleine, wobei ich immer wieder der Meinung bin, ich war nie ein Duckmäuser, ich habe immer Kritik geübt, da wo es angebracht war. Und habe mich nie versteckt. Herr F[ischer]: Na ja, da hast du andere Erfahrungen und da hast du einen anderen Hintergrund mit deiner Parteizugehörigkeit. Frau F[ischer]: Vielleicht habe ich ein anderes Umfeld gehabt. Herr F[ischer]: Wobei ich dir andererseits sagen kann, zu meinem Freundeskreis gehört eine ganze Reihe ehemaliger Parteimitglieder, die auch ihren Mund aufgemacht haben, vielleicht ein bisschen zu weit, die Probleme ein bisschen zu klar benannt, die sind rausgeflogen. So etwas gibt es alles. Also es gibt nicht nur die eine Sicht. Frau F[ischer]: Ich habe den Eindruck, du triffst nur welche, die negative Erfahrungen gemacht haben. Herr F[ischer]: Nein, es gibt auch Leute, die meinen, positive Erfahrungen gemacht zu haben, aber wenn man ein bisschen dahinter guckt, dann sind das keine so positiven Erfahrungen, weil es nichts berührt. Höchstens so in kleinen Bereichen. Denke an deine, sicherlich hast du irgendwelche Erfolge gehabt, aber wenn du an der großen politischen Geschichte kratzt, da wird es schon brenzlig. … völlig falsch. Es dauert vielleicht eins, zwei, drei, sagen wir mal vier Jahre, dann haben sie sich wirtschaftlich abgearbeitet, das ist ganz klar, dann möchte ich mal sehen was hier passiert. Und genau das, was in Polen läuft, wünsche ich eigentlich nicht. Frau F[ischer]: Na ja, gut, Werner, für uns ist es natürlich immer wahnsinnig schwer, weil du immerhin zu uns gehörst. Herr F[ischer]: Du, ich weiß nicht, das klingt jetzt so, am liebsten würdest du dich distanzieren, das kannst du nicht --Frau F[ischer]: Nein, nein! Das habe ich dir vorhin klar gesagt, dass du selber dein Leben formen musst.
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Herr F[ischer]: Das tue ich auch, das habe ich seit meinem 14. Lebensjahr getan. Frau F[ischer]: Und deshalb muss das andere ja nicht davon berührt werden. Die Familie ist das eine und dein Leben ist das andere. Also deshalb werde ich nicht sagen, du gehörst nicht zu mir oder du gehörst nicht zu uns. Herr F[ischer]: Ich bin bloß erstaunt über den großen Mangel an Unverständnis. Es ist ja wirklich so einfach und ich habe bei euch nie darüber berichtet, weil ich euch überzeugen will. Ich habe euch darüber berichtet, gerade weil ihr meine Eltern seid, darüber zu informieren, warum ich etwas mache, immer an ganz konkreten Dingen, für euch nachvollziehbar und mehr ist es eigentlich nicht. Frau F[ischer]: Dann verflucht noch mal, suche dir diesen Menschen, der dich zu verstehen versucht. Herr F[ischer]: Du, da brauche ich nicht einen Menschen, da brauche ich genau die Tausende in diesem Land, die genau so denken und die sich weiter vor wagen. Es gibt andere Millionen in diesem Lande, die eben so denken, die aber noch nicht wagen, die Klappe aufzumachen. Frau F[ischer]: Vielleicht bist 14 du ein Partner in mir, wenn ich in eine solche Situation geraten würde. Herr F[ischer]: Und das ist genau ein Punkt, ganz viele Partner haben wir genau bekommen, weil sie in so eine Situation geraten sind, ohne dass sie es wussten, weil sie ehrlichen Herzens irgendwann mal ihre Klappe aufgetan haben und aus dem Rechtsverständnis, was man ihnen anerzogen hat, ihre Meinung gesagt haben und dann kam für sie das Aus. Berufsverbot und was weiß ich. Frau F[ischer]: Sieh mal, das alles fällt mir wahnsinnig schwer, das zu verstehen, da ich diese Erfahrungen nicht gemacht habe. Herr F[ischer]: Es ist immer wahrscheinlich eine Frage der Erfahrung, bei mir ja auch. Frau F[ischer]: Also, weil ich solche Erfahrungen nicht gemacht habe. Ich bin meinen Weg gegangen und ich war sicher in vielen Fällen ein angenehmer Partner, aber wie gesagt, ich wusste, was mein Hauptziel war. Weil ich ganz andere Erfahrungen schon als Kind gemacht habe als du. Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten. Die Gesellschaftsordnung, die es eben dort auf der anderen Seite gibt, und so wie sie sich das vorstellen und nach der Einheit schreien, also da finden sie in mir kein – Herr F[ischer]: Lenk’ doch nicht ab, das ist doch überhaupt nicht das Thema. Du unterstellst immer wieder, dass wir hier nach dem Westen gucken, das ist doch Quatsch. Frau F[ischer]: Nein, dann verstehst du mich nicht. 14
Vermutlich Hörfehler, eher: find’st.
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Dokument 102 vom 19. September 1988
Herr F[ischer]: Es gibt auch nicht nur zwei Wege, sondern es gibt drei. Es gibt vielleicht sogar einen 4. Weg. Gucke dir die Welt an, welche Gesellschaftsordnungen dort existieren, es gibt mehrere Wege. Und dieser Weg, der hier eingeschlagen worden ist, war von Anfang an fehlprogrammiert. Das ist keine sozialistische Gesellschaft, überhaupt nicht. Ihr fehlt jegliche Grundlage und die Grundlage in einer sozialistischen Gesellschaft ist eben nicht das Volkseigentum, das existiert hier nicht das Volkseigentum. Es gibt ein Staatseigentum. Ein Volkseigentum wäre es, wenn die Werktätigen ihre Betriebe selber verwalten, das ist ein ganz großer Unterschied. Und wie sieht es denn aus mit deiner Demokratie, die gibt es hier nicht. Oder das Wahlsystem, das ist eine Farce, da sind die Ursachen für diese ganze Kacke hier. Und was wir machen. Wir stellen nicht die Machtfrage, das ist überhaupt nicht unser Thema, aber was wir machen können, an den Symptomen zu arbeiten, die in diesem Land vorhanden sind oder so deutlich zu machen und sagen, das geht nicht, wir steuern hier völlig falsch, wenn wir das zulassen, Neonazis beispielsweise. Dieses Land hat wahnsinnige Probleme, deshalb wollen hier 400 000 Menschen raus. 15 Stell’ dir mal vor, was das bedeutet. Es sind ja nicht nur Jugendliche, es sind ja Leute, 50 oder was weiß ich wie alt, was das menschlich bedeutet zu sagen, ich breche hier alles ab, ich fange noch einmal neu an und das interessante ist ja, ich habe mich mit vielen unterhalten, es ist jetzt so mein Hauptthema mich mit dieser Ausreiseproblematik zu besch …, die meisten wollen gar nicht in den Westen, es ist nur die einzige Alternative, die meisten wollen nur raus. Hätten sie eine andere Alternative, dann würden sie wahrscheinlich woanders hingehen. Die wissen ganz genau, was sie im Westen erwartet, Arbeitsmöglichkeit und Schwierigkeiten und was weiß ich. Die wollen raus. Die können diese Atmosphäre hier nicht mehr ertragen. Das ist erschreckend, wenn du die Leute hörst und es ist nicht nur so weil, natürlich gibt es welche die sagen, der Westen ist ganz toll, da kannst du dir das kaufen und das kaufen, aber das ist nicht die Mehrheit, es ist wirklich nicht die Mehrheit. Und das muss aufgearbeitet werden in einem Land, was sich sozialistisch und demokratisch nennt. Nicht um Wiedervereinigung, darum geht es überhaupt nicht. Es geht um diese Probleme, die in diesem Land existieren und über die muss man öffentlich sprechen können und gemeinsam versuchen, auch mit dem Staat, gemeinsam versuchen, dem zu begegnen. Und das wollen sie nicht, können sie aus irgendeinem Grunde nicht, weil sie meinen, 15 Es ist unklar, warum es hier den Unterschied zu der obigen Angabe gibt. Es könnte sich sowohl um einen Hör- als auch Schreibfehler handeln. Unterstellt man, dass Werner Fischer beim ersten Mal sagte »Hundertausende«, könnte das in der Abschrift schnell zu »100 000« geraten sein. Werner Fischer könnte beim zweiten Ansprechen die konkretere Zahl von 400 000 gemeint haben, unabhängig von Schätzungen über die realen Ausreiseanträge. Solche und andere Zahlen kursierten durchaus und schlugen sich nicht zuletzt in zahlreichen sarkastischen Witzen nieder (»Der Letzte macht das Licht aus…«).
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Dokument 102 vom 30. Oktober 1988
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dann verlieren sie ihren Machtanspruch, wenn sie in der ganzen Gesellschaft öffentlich solche Dinge – und dann stellen sie die Stasi vor die Tür, das ist alles so lächerlich. Frau F[ischer]: Na ja, Werner. Herr F[ischer]: Die Medien puschen auch alles immer ein bisschen auf. Frau F[ischer]: Na ja, das ist klar. Herr F[ischer]: Gut ist es, dass sie berichten. Es soll jeder wissen in diesem Lande, was hier passiert. Mehr kann ich dazu nicht sagen, und um mich musst du dich da überhaupt nicht sorgen. Ich komme da immer wieder raus. Frau F[ischer]: Meinst du! Herr F[ischer]: Natürlich! Na sicher, es kann auch mal sein, dass sie sagen, jetzt machen wir mal ganz ernst, dann wägen sie ab, ob sie den politischen Scherbenhaufen mit in den Kauf nehmen können, na ja gut, dann muss ich auch damit leben. Das weiß ich ja, darauf bin ich eingestellt. Ich weiß doch, wo ich lebe. Sicherlich habe ich keine Lust, irgendwo über lange Zeit ins Gefängnis zu gehen, aber wenn sie meinen, es machen zu müssen, auch da komme ich irgendwann mal wieder raus. Frau F[ischer]: Na ja, du sagst das so einfach, mache dich nicht verrückt und so. Herr F[ischer]: Na ja, ich verstehe dich schon. Frau F[ischer]: Mh, mh, mich hat es eine Nacht gekostet. Herr F[ischer]: Deshalb habe ich dich auch angerufen, aber ich habe dir doch immer gesagt, wenn so etwas kommt, nehme es mit Gelassenheit, es ist alles nicht so toll. Frau F[ischer]: Na, nun nimm es mal gelassen. Herr F[ischer]: Gut Mutti, das bringt jetzt alles nichts am Telefon. Dann grüße den Vati. Beide verabschieden sich voneinander. 12.14 Uhr
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Dokument 103 RIAS-Telefoninterview mit Werner Fischer 4. November 1988 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, Major [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Bd. 10, Bl. 10–12
Frau XXX vom RIAS-Berlin meldet sich bei Werner F[ischer]. Sie teilt Werner F[ischer] mit, dass Frau XXX mit Werner F[ischer] das Interview machen wird. Werner F[ischer] möchte anschließend wissen, wann das Interview gesendet wird. Die Dame erklärt, dass das Interview um 8.10 Uhr gesendet wird. Interview: Dame: Werner Fischer seit Jahren aktives Mitglied der »Initiative Frieden und Menschenrechte« in der DDR wurde in der vergangenen Woche in Ostberlin vorläufig festgenommen. Der Grund, eine Solidaritätsaktion für vier Schüler, die von der Schule flogen, weil sie u. a. nach dem Sinn von Militärparaden am DDR-Staatsfeiertag fragten. 1 Zweite Verhaftung innerhalb kürzester Zeit, denn Werner Fischer war im Januar wegen einer Demonstration zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wegen Landesverrats verhaftet und dann in den Westen abgeschoben worden. Er lebte ein halbes Jahr in Großbritannien und ist im August in die DDR zurückgekehrt und jetzt am Telefon – Herr Fischer, haben Sie die Rückkehr bis jetzt bereut? W[erner] F[ischer]: Ich darf zunächst zwei Korrekturen anbringen. Es war keine Teilnahme an einer Protestaktion, sondern lediglich die Teilnahme an einem Informationsabend in der Zionsgemeinde. 2 Zum anderen war es keine Verhaftung, [sondern], wie es hier heißt, eine »Zuführung«. Eine Verhaftung hat eine ganz andere Qualität. Zu Ihrer Frage – dieses halbe Jahr in Westeuropa und das letzte viertel Jahr in Großbritannien war natürlich auch bestimmt durch diese Angst, nicht wieder rein zu können. Es war ein sehr schwieriges Jahr. Aber auch das letzte viertel Jahr hier in der DDR war nicht ganz leicht zu 1 Es handelt sich um die Vorgänge an der EOS Carl-von-Ossietzky in Berlin-Pankow. Siehe dazu auch Dok. 99, Anm. 16. Zu den Hintergründen, Abläufen und Folgen vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 291–297. 2 Werner Fischer war am 28.10.1988 mittags zugeführt worden und konnte an der Informationsveranstaltung am Abend in der Zionsgemeinde nicht teilnehmen. Von der Abendveranstaltung gab es einen Mitschnitt. Vgl. MfS, BV Berlin, Abt. XX, Abschrift des Tonbandmitschnittes der Veranstaltung vom 28.10.1988 im Gemeindesaal der Zionskirchgemeinde, 28.10.1988. BStU, MfS, HA IX 9933, Bl. 90–98.
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Dokument 103 vom 4. November 1988
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bewältigen. Ich hatte also ziemliche Eingewöhnungsprobleme – musste feststellen, dass sich hier also kaum etwas geändert hatte, hatte auch nicht die große Hoffnung, dass sich hier etwas geändert hätte. Am letzten Freitag 3 bei der Festnahme hatte ich dann allerdings das Gefühl, wieder angekommen zu sein, zu Hause zu sein. Ich hatte immer das Gefühl, es fehlte was, was mir vertraut war – am letzten Freitag ist dieses Gefühl mir wieder gegenübergetreten. Dame: Herr Fischer, Ihr Engagement hat ja offensichtlich nicht nachgelassen. Sie setzen sich ein für Frieden und Menschenrechte, man versucht, Sie mundtot zu machen. Glauben Sie denn, diesem Druck standhalten zu können? W[erner] F[ischer]: Also, ich habe noch nicht so sehr das Gefühl, dass man versucht, mich mundtot zu machen. Diese Festnahme am Freitag hat ja nicht nur mich betroffen, sondern auch vier andere Mitglieder anderer Gruppen. 4 Also so stark empfinde ich das noch nicht. Den Entschluss, wieder zurückzukommen, habe ich bis jetzt in keiner Weise bereut. Ich wusste, was auf mich zukommt, ich wusste, welche Probleme hier vorhanden sind, an denen ich mich nach wie vor reiben werde, mit denen ich mich nach wie vor beschäftigen werde. Dame: Eine andere Frage. Der sowjetische Reformkurs wurde dieser Tage von der DDR-Führung erneut zurückgewiesen. 5 Von Liberalisierung ist ja immer noch eigentlich nichts zu spüren. Umgestaltung in der DDR – Wird sich denn bald etwas ändern? W[erner] F[ischer]: Also, ich habe die große Hoffnung, dass sich bald etwas ändert. Ich weiß nicht, ob man das zeitlich einordnen kann. Ich glaube aber nicht, dass sich in absehbarer Zeit etwas ändert. Alles, was sich in bestimmten Bereichen unserer Gesellschaft an Liberalisierung vollzieht, gleichsetzen zu wollen mit Umgestaltung und was in der Sowjetunion passiert, halte ich eigentlich für blauäugig. Dame: Worauf gründet sich denn Ihre Hoffnung ganz konkret? W[erner] F[ischer]: Die Hoffnung ganz schlicht – ich kann das gar nicht so sehr belegen. Es ist eine Hoffnung, die sich – das etwas passieren muss. Es gibt einen solchen Unmut in der Bevölkerung – es entsteht auch ein Klima – Entschuldigung hier bin ich etwas durcheinander gekommen, hier müssen wir etwas streichen. Dame: Das macht nichts. W[erner] F[ischer]: Also es gibt in der Gesellschaft eine größere Sensibilität für die Probleme. Die Leute werden mündiger, sie äußern sich mehr und ich 3 Freitag, den 28.10.1988. 4 U. a. waren auch Thomas Klein und Ulrike Poppe zugeführt worden. 5 Das übernahm erneut SED-Ideologiechef Kurt Hager. Vgl. von ihm: Unser Weg und unser Ziel. Rede auf dem Schulräteseminar am 28. Oktober 1988 in Ludwigsfelde, in: Neues Deutschland vom 29./30.10.1988, S. 9–11.
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Dokument 103 vom 19. September 1988
denke, dass das irgendwo mit dazu beiträgt, den Prozess einer Umgestaltung von Reformen, welcher Art auch immer, zu beschleunigen. Dame: Was geschieht denn mit den von der Schule verwiesenen Oberschülern – man will demnächst darüber entscheiden –, haben die denn Chancen, noch mal an der Carl-von-Ossietzky-Oberschule aufgenommen zu werden? W[erner] F[ischer]: Also erstmal sind ja diese vier Relegierungen ausgesprochen worden – und eine Relegierung heißt, dass man hier also auch in der Zukunft nie wieder die Chance hat, sein Abitur zu machen. Diese Relegierungen sind ein Ausdruck der erneuten Übergriffe des Machtapparates, insbesondere in einem Bereich, wo man wohl meint, dort ansetzen zu müssen, weil dort die neue Generation heranwächst, man versucht diese aufmüpfigen, renitenten Jugendlichen abzuschrecken – sie wirklich mundtot zu machen. Ich bin informiert über Gespräche, die in der nächsten Zeit laufen sollen zwischen Kirchenleitung und staatlichen Einrichtungen. Wie sie ausgehen werden, weiß ich nicht. Ich denke, dass es der DDR gut zu Gesicht stehen würde, diesen Schritt rückgängig zu machen. 6 Dame: Vielen Dank Werner Fischer nach Ostberlin. Die Dame möchte anschließend wissen, ob er schon aufgelegt hat, was Werner F[ischer] verneint. Die Dame erklärt weiter, dass man ja vielleicht das eine oder andere Gespräch noch führen [könnte], was Fischer bejaht. Fischer erklärt dann wörtlich: »Also, was mir ganz wichtig gewesen wäre – das haben Sie aber auch nicht gefragt, aber vielleicht können Sie es irgendwo einflechten. Es geht darum, womit ich mich zurzeit beschäftige. Es ist ja nicht so, dass ich hier als Werner Fischer, der hier so weiter in der Opposition oder wie auch immer arbeitet – also mir ist ganz wichtig diese Ausreiseproblematik – die Frage der Freizügigkeit. Das hat mich natürlich im Westen stark beschäftigt – das ist hier so mein Hauptthema und das Thema vieler unserer Freunde und wo es nicht mehr um die Ausreise geht – auch um die Rückkehrmöglichkeit. Da hätte ich ganz gerne was gesagt.« Die Dame wirft ein, dass sie eigentlich dachte, dass er das bei der Liberalisierung mit einfließen lässt. Aber sie können es ja auch anfügen. Werner F[ischer] wirft ein, dass es ihm reichen würde, wenn die Dame es mit einem Satz anfügen würde. Die Hauptsache dabei ist, dass sie versuchen, die Ursachen der ganzen Ausreisen erarbeiten [zu] wollen und öffentlich [zu] diskutieren. Die Dame verspricht, es anzufügen. Werner F[ischer] hofft, dass alles gut ankommen wird, wovon die Dame überzeugt ist. Anschließend erklärt der [Werner] Fischer, dass heute Abend wieder eine Veranstaltung in der Gethse6 Die Relegierten sind erst am 1.11.1989 unter dem Druck der Herbstrevolution faktisch rehabilitiert worden. Eine Kommission stellte später fest, dass selbst nach DDR-Recht 11 Gesetze bzw. Verordnungen bei den Maßregelungen verletzt worden seien.
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Dokument 103 vom 4. November 1988
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mane-Kirche zu den vier Jugendlichen stattfinden wird. Er ist schon gespannt, ob er dort hinkommen wird. 7 Die Dame bedankt sich für das Interview und verabschiedet sich. 7.15 Uhr
7 Im Vorfeld erarbeitete das MfS eine Liste mit 13 Namen, die im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung zugeführt werden sollten, sofern sie beabsichtigten, dorthin zu gehen. Es handelte sich u. a. um: Bärbel Bohley, Gerd und Ulrike Poppe, Werner Fischer, Thomas Klein, Harald Hauswald, Reinhard Weißhuhn, Peter Grimm, Wolfgang Rüddenklau, Reinhart Schult und Wolfram »Tom« Sello (MfS, HA XX/9, Übersicht zu den Beobachtungsmaßnahmen am 4.11.1988, 3.11.1988. BStU, MfS, HA XX/9 1466, Bl. 472–473). Tatsächlich zugeführt wurden u. a. Werner Fischer und Reinhard Weißhuhn. Ulrike Poppe weigerte sich vor der Gethsemanekirche, aus dem sie zur Kirche bringenden Auto auszusteigen, weshalb die MfSler sie schließlich unbehelligt ließen, zumal Passanten dies mitbekamen, aus der Kirche Unterstützung holten und Poppe dann in die Kirche »eskortierten« (MfS, HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMB »Wolf« am 5.11.1989, 14.11.1988. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 13, Bl. 331–333; MfS, HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMS »Franz« am 4.11.1988, 14.11.1988. BStU, MfS, AOP 1011/91, Bd. 4, Bl. 127–128) ). IM »Franz« ist Xaver Aichinger (geb. 1935, 1980–1989 IM des MfS), bei dem Ulrike Poppe im Auto saß.
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Dokument 104 Telefonat zwischen Werner Fischer und Gerd Poppe 15. November 1988 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, Major [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Bd. 10, Bl. 30
Werner Fischer meldet sich im Baubüro des Diakonischen Werkes 1 bei Gerd Poppe und möchte Auskunft wie es aussieht. P[oppe] erklärt, sie sitzen gerade bei einer Tasse Kaffee zusammen. 2 Was die Heerscharen vor der Tür machen, weiß er nicht. F[ischer] weiß es aber ganz genau. Bei ihm vor der Tür hat es sich stark zusammengezogen. Bei ihm vor der Tür ist seine alte »Zuführungs«mannschaft, auch der Typ, der ihn immer festnimmt. Bei F[ischers] Versuch, in seinen Konsum zu gehen, sind alle ausgestiegen und auf ihn zugekommen. F[ischer] ist daraufhin schnell zurück. Es sieht so aus, wenn der die Straße verlässt, greifen sie zu. F[ischer] ist der Meinung, dass er seine Wohnung nicht verlassen kann. F[ischer] wird versuchen, noch andere Leute zu erreichen. 3 10.02 Uhr
1 Arbeitsstelle von Gerd Poppe seit 1984. 2 Seit 1985 arbeitete dort auch Reinhard Weißhuhn. 3 Am Abend fand in der Gethsemanekirche ein von der IFM veranstalteter Informationsabend zu Rumänien statt. U. a. hielten Gerd Poppe, Reinhard Weißhuhn, Ludwig Mehlhorn, Peter Grimm, Silvia Müller, Bärbel Bohley, Werner Fischer und Ulrike Poppe Vorträge zur Geschichte und Gegenwart Rumäniens (MfS, HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 16.11.1988. BStU, MfS, AOP 1055/91, Bd. 13, Bl. 334–336). Wegen dieser Veranstaltung sind mehrere IFM-Mitglieder tagsüber vom MfS sichtbar beschattet worden. Die meisten IFM-Mitglieder sind im Dienstwagen von Bischof Forck zur Kirche gebracht worden (MfS, BV Berlin, Abt. XX/2, Information zum Rumänienabend der »Initiative Frieden und Menschenrechte« am 15.11. in der Gethsemanekirche, 16.11.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 28, Bl. 255–258). Siehe auch Dok. 95, 98, 99, 105 und 106.
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Dokument 105 Telefonate von Werner Fischer mit Marianne Birthler und Ralf Hirsch 15. November 1988 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, Major [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Bd. 10, Bl. 31
Marianne Birthler setzt Werner Fischer davon in Kenntnis, dass sie zwischen 17.30 Uhr und 18 Uhr vorbeikommen wollte. Fischer ist einverstanden, da er ohnehin nicht rauskommt. 15.44 Uhr Ralf Hirsch will wissen, wie es Fischer geht. Der kommt nicht aus der Haustür heraus und hat sozusagen Hausarrest und sein personengebundenes »Zuführungs«kommando steht unten, also die, die ihn immer mitnehmen. Heute früh wollte Fischer zwei Häuser weiter ein Brot holen, da sind »sie« gleich ausgestiegen und wollten los, wobei sie sahen, dass er nicht weiter wollte und haben ihn also in Ruhe gelassen. Er wäre sicher Mode, wenn er den Versuch unternehmen würde, weitergehen zu wollen. Die wechseln sich mit den Autos ab und es ist eine ziemliche Hektik hier auf der Straße. Fischer würde schon sagen, unter Hinweis, dass ja nun heute der Internationale Aktionstag ist, ist es nicht von ungefähr, dass man die Veranstaltung der »Initiative« hier versucht, massiv zu unterbinden. 1 Hirsch nennt die Gethsemanekirche und 20.00 Uhr. Fischer bestätigt das und setzt hinzu, mehr weiß er jetzt nicht zu sagen. Fischer bestätigt Hirschs Frage, dass er zu Hause bleibt. Gegen 17.30 Uhr wollen welche kommen. Fischer nimmt an, es sind Vertreter von der Kirchenleitung. Er sieht keinen Sinn darin loszufahren, aber mal sehen, was da passiert. Fischer stimmt Hirschs Vorschlag zu, er könne sich gegen 17.30 Uhr nochmals melden. 16.43 Uhr
1
Zu den Hintergründen siehe Dok. 104, Anm. 3 sowie Dok. 95, 98, 99 und 106.
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Dokument 106 Telefonat zwischen Werner Fischer und Ralf Hirsch 16. November 1988 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, Major [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Bd. 10, Bl. 32
Ralf Hirsch meldet sich bei Werner Fischer und erkundigt sich, ob er bei der Veranstaltung in der Gethsemanekirche war. 1 Fischer bestätigt dieses, er wurde mit dem Pkw des Bischofs [Gottfried Forck] abgeholt. Die Veranstaltung schätzt er als gelungen ein. [Reinhard] Weißhuhn, [Gerd] Poppe und Monika Haeger 2 wurden ebenfalls mit dem Pkw des Bischofs vom Baubüro [des Diakonischen Werks] abgeholt. 3 Fischer äußert weiter, dass er Bedenken hat, dass er über Nacht noch aus seiner Wohnung geholt wird. Er bittet darum, dass sich Hirsch morgen gegen 9.00 Uhr nochmals telefonisch bei Fischer meldet, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Hirsch hat die Rundfunkmeldungen von »Hundert,6« und RIAS aufgenommen und spielt diese dem Fischer vor. Fischer ist mit den Beiträgen einverstanden, da in allen Berichten von der »Initiative« und nicht von seiner Person gesprochen wird. 4 0.14 Uhr
1 Zu den Hintergründen siehe Dok. 104, Anm. 3 sowie Dok. 95, 98, 99 und 105. 2 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 3 Die drei genannten Personen arbeiteten dort. 4 RIAS, SFB, Hundert,6 u. a. Radiosender berichteten kontinuierlich über die Aktivitäten der Opposition. Ralf Hirsch versorgte die Sender nicht nur mit Informationen, sondern gab auch mehrfach Interviews, so am 14.10.1988 dem RIAS zu dem Rumänien-Tag und den geplanten IFMAktivitäten oder am 28.10.1988 dem selben Sender zur Festnahme von Oppositionellen im Vorfeld der geplanten Informationsandacht wegen der Relegierungen der Schüler von der Ossietzky-EOS. Siehe dazu die Dok. 101, 102 und 103.
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Dokument 107 Telefonat zwischen Werner Fischer und Wolfgang Templin 21./22. November 1988 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, Major [Manfred] Pesch, HA XX/4, HA XX/5 Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 10, Bl. 38–41
Wolfgang Templin, welcher sich zurzeit in Westberlin aufhält, führt eine Unterhaltung mit Werner Fischer. Fischer erkundigt sich nach dem Befinden von Templin. Dieser legt dar, dass dieses Berlin ihm sehr zu schaffen macht. Bis morgen früh wird er noch in Westberlin sein. Die Frage, ob er noch in Hektik ist, beantwortet Templin dahingehend, dass es manches Mal doch recht schlimm ist. Zum Arbeiten kommt er nur ab und an. Die Leute aus Holland haben sich noch nicht bei ihm gemeldet. Diese Woche werden jedoch einige Leute nach Bochum 1 kommen, welche über Holland gefahren sind. Darunter ist auch Herbert 2 (ph), welcher direkten Kontakt zu den IKVLeuten 3 hatte. In Bochum wird eine Würdigungsveranstaltung anlässlich seines 75. Geburtstages stattfinden, 4 mit einem dafür geeigneten Teilnehmerkreis. So wurde auch Herr [Otto] Reinhold gebeten zu kommen. Fischer wird sich dies merken, um sich da auch einmal zu melden. Im weiteren Verlauf kommt Fischer darauf zu sprechen, dass es hier nicht gut aussieht. Die Frage, ob Templin mit Ralf [Hirsch] gesprochen hat, bejaht dieser. Jedoch war dieses Gespräch nicht so gut. Fischer spricht davon, dass es hier so aussieht, als ob »sie« Flagge zeigen wollen, um 5 hart durchzugreifen. Fischer betont, dass er kaum zum Luftholen kommt, da sich die Ereignisse überschlagen. Seinen festen Vorsatz, sich nicht in solch einen Sog zu begeben, musste er fallen lassen. Er kann sich dem nicht entziehen. Es ist das alte Spiel, mit noch verschärfteren Akzenten als früher. 1 Regina und Wolfgang Templin wohnten in Bochum. 2 Offenkundig – wie aus dem nächsten Satz deutlich wird – ist Willy Brandt gemeint. »Herbert« war offenbar eine Anspielung auf seinen ursprünglichen Namen: Herbert Ernst Karl Frahm. Den Namen Willy Brandt legte er sich 1934 in der Emigration als einen von mehreren Decknamen zu, 1949 ließ er ihn offiziell als seinen Namen eintragen. 3 IKV – Interkerkelijk Vredesberaad (Zwischenkirchlicher Friedensrat, Niederlande). 4 Die dreitägige Veranstaltung aus Anlass des bevorstehenden 75. Geburtstages von Willy Brandt (geb. am 18.12.1913) stand unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Johannes Rau. Sie fand vom 23. bis 26.11.1988 unter dem Titel »Sozialismus in Europa – Bilanz und Perspektiven« statt. Siehe u. a. Sozialistische Hoffnungsträger gesucht, in: taz vom 5.12.1988 (mit Hinweisen auf Templins Beiträge). 5 Im Original: »und«.
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Dokument 107 vom 19. September 1988
Templin sieht in der faktischen Einstellung des »Sputnik« eine Art Größenwahn. 6 Fischer hatte zuerst den Eindruck, dass dies in der Partisanenmanier irgendwelcher Redakteure erfolgt ist und nicht abgesegnet ist. Offensichtlich ist dies aber doch der Fall. Auch Templin ist der Meinung, dass man solch eine Entscheidung nicht mit links machen kann. Fischer trifft die Feststellung, dass er wieder voll drin ist, also er ist wieder zu Hause. Weiter kommt Fischer auf die Sache mit den vier Schülern zu sprechen, 7 wo die Fronten sehr verhärtet sind. Er betont, dass es gestern eine große Veranstaltung diesbezüglich in der Erlöserkirche gegeben hat, 8 worauf Templin einwirft, dass er unmittelbar danach genau davon erfahren hat. Fischer hat davon gehört, dass [es] am nächsten Sonntag ein[en] DDR-weiten Aktionstag zu diesem Thema geben soll. 9 Er nimmt an, dass dies der Beginn eines Prozesses sein könnte, um sich genau mit dem Bildungswesen und dessen Ministerium auseinanderzusetzen, auch im Hinblick auf den im nächsten Jahr stattfindenden Pädagogischen Kongress. 10 Templin hofft, dass die Kirchenleute es 6 Am 19.11.1988 meldete das »ND«, dass die sowjetische Monatszeitschrift »Sputnik« nicht mehr in der DDR vertrieben würde. Die Begründung lautete: »Sie bringt keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, stattdessen verzerrende Beiträge zur Geschichte.« Zugleich ist angewiesen worden, dass 5 sowjetische Filme, die seit 27.10. in den Kinos liefen, abzusetzen seien. Dieses Filmverbot fügte sich in eine Reihe von Zensurmaßnahmen gegenüber sowjetischen Presseerzeugnissen in den Monaten zuvor. Das »Sputnik«-Verbot jedoch bedeutete eine neue Dimension in der Abgrenzung der SED gegenüber der Perestroika- und Glasnost-Politik. Im »Sputnik«-Heft 10/1988 waren u. a. kritische Beiträge zur kommunistischen Vergangenheit abgedruckt worden. Stalin wurde auf eine Stufe mit Hitler gestellt. Den deutschen Kommunisten wurden ihre Anteile am Aufstieg Hitlers vorgerechnet. Die SED-Führungsriege sah sich direkt in ihrer Integrität angegriffen. Am 30.9. entschied sie, das Heft 10/1988 nicht auszuliefern. Die SED-Spitze verprellte auf einen Schlag 190 000 Abonnenten und Käufer und wohl noch viel mehr Leser der Zeitschrift, die überdies – und das machte die Angelegenheit erst so brisant – zumeist dem System nahestanden oder ihm kritisch verbunden waren. 130 000 Abonnenten waren die Ersten, die das Fehlen der Zeitschrift bemerkten. Zehntausende Eingaben an die SED und andere Institutionen folgten innerhalb kürzester Zeit. Das »Sputnik«-Verbot wurde allerorten, zuweilen sogar öffentlich, thematisiert und kritisiert. Vgl. dazu ausführlich Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 72–84. 7 Gemeint sind die Vorgänge an der Ostberliner Carl-von-Ossietzky-EOS. Siehe zu den Hintergründen Dok. 99, Anm. 16. 8 Am 20.11.1988 fand in der Ostberliner Erlöserkirche eine Informationsandacht mit etwa 1 000 Teilnehmern zum Stand der Vorfälle an der Ossietzky-EOS statt. U. a. berichteten dort Manfred Stolpe, Günter Krusche und Wolfram Hülsemann. Vor allem Stolpe forderte nicht nur eine Änderung der Bildungspolitik, sondern auch, dass sich jeder für freie Meinungsäußerung einsetzen müsse, wozu auch gehöre, die Ossietzky-Vorfälle nicht zu beschweigen (MfS, HA XX, Lagebericht zur Aktion »Störenfried«, 21.11.1988. BStU, MfS, HA IX 3247, Bl. 248–250; MfS, BV Berlin, Abt. XX/2, Major Ludewig, Operative Information basierend auf IMB »Christian«: Veranstaltung in der Erlöserkirche am 20.11.1988, 21.11.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 28, Bl. 272–273). 9 Am 27.11.1988 fand ein DDR-weiter Aktionstag wegen der Vorfälle an der Ossietzky-EOS in vielen Kirchen statt. Günter Krusche war zwar strikt dagegen, konnte sich aber nicht durchsetzen. 10 Vom 13. bis 15.6.1989 fand der »IX. Pädagogische Kongress« statt. Volksbildungsministerin Margot Honecker verkündete, dass alles so bleiben müsse, wie es sei, und dass gegen jede Abweichung scharf vorgegangen würde. Das Entsetzen darüber war allgemein. Im Vorfeld hatten sich oppositionelle
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Dokument 107 vom 21./22. November 1988
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nicht wieder abwürgen. Fischer bezeichnet es als einen Fakt, dass es hier allmählich brodelt, wovon auch viele außerhalb der Kirche betroffen sind. So hört er ständig, was in den Betrieben zu diesem Thema vor sich geht. Aus diesem Grund nimmt er an, dass der Aktionstag auch außerhalb der Kirche etwas bringen wird. Nochmals kommt Fischer darauf zurück, dass er nicht umsonst gefragt hat, ob Templin mit Ralf [Hirsch] gesprochen hat. Er wird dann an Templin noch etwas schreiben. Templin erwidert, dass er nicht umsonst gezögert hat. Er hatte angenommen, dass »ihr« einige Sachen wisst. Templin selbst hat jetzt die ganze Zeit genutzt, damit etwas passiert. Er nimmt an, dass »es« jetzt auch kommt. Dafür musste er aber umschalten. Weiter führt Templin aus, dass er nicht einmal »davon« eine Rückmeldung erhalten hat. Er ging davon aus, dass bestimmte Sachen, welche wichtig sind, längst für »Euch« vorhanden sind. Fischer wird Templin noch einmal ausführlich schreiben. 11 Templin hält sich seit Ende letzter Woche in Berlin auf, wo er mit verschiedenen Leuten hat sprechen können. Er nennt die Namen von [Gerd] Poppe und Martin [Böttger] und XXX, was er als wichtig empfand. 12 Fischer setzt Templin davon in Kenntnis, dass er am Wochenende in Halle und Leipzig war, 13 was auch die Staatssicherheit als sehr wichtig einschätzte. Drei Autos hatte er ständig um sich herum, was er als ein Psycho-Ding bezeichnet. Weiter erwähnt Fischer seine »Zuführungen« 14 und bemerkt lachend, dass davon auch der »Bürgerrechtler [Wolfgang] Wolf« betroffen war. 15 Er ist der Arbeitsgruppen gebildet, die Eingaben und Vorschläge an diesen Staatskongress sandten. Zum Kongress vgl. u. a. Ulrich Wiegmann: Der IX. Pädagogische Kongress – am Vorabend der DDR. Impressionen einer Saalreserve, in: Sonja Häder, Christian Ritzi, Uwe Sandfuchs (Hg.): Schule und Jugend im Umbruch. Analysen und Reflexionen von Wandlungsprozessen zwischen DDR und Bundesrepublik. Baltmannsweiler 2001, S. 199–205. 11 Dieser Absatz ließ sich von den Personen, die telefonierten bzw. genannt werden, nicht aufklären. 12 Wolfgang Templin hielt sich in West-Berlin auf und konnte mit den genannten Personen telefonieren. 13 Am 19./20.11.1988. Er berichtete dort, wie es zu dem halbjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik und England aus seiner Sicht gekommen war. Außerdem ging es um die Vorgänge an der Ossietzky-EOS (MfS, HA XX/9, Sachstandsbericht zum OV »Schieber«, 30.11.1988. BStU, MfS, AOP 17793/91, Bd. 2, Bl. 186–192). 14 Fischer wurde am 28.10., 4. und 24.11. zugeführt. 15 Wolfgang Wolf wurde am 28.10.1988 zugeführt. Er war seit 1964, wie auch seine Ehefrau Helga, als IM für das MfS tätig. Sein letzter Deckname lautete »Max«, der seiner Ehefrau »Mutter«. Sie waren in der Ostberliner Opposition aktiv, er gehörte zu den IM, die besonders intensiv für das MfS arbeiteten. Auch ihr Sohn Rainer Wolf war von Ende 1979 bis 1985, bis zu seiner Ausreise nach West-Berlin, zuletzt als IMB »Schreiber« für das MfS tätig. Gerüchte über Wolfgang Wolfs MfSTätigkeit kursierten schon länger. Als am 15.3.1988 in dem ARD-Politmagazin »Panorama« Rainer Wolf ausführlich über seine frühere IM-Tätigkeit berichtete, flammten sofort wieder die Gerüchte auf, auch sein Vater Wolfgang wäre MfS-Mitarbeiter. Dieser galt zudem mit seinen Auffassungen eher als
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Dokument 107 vom 19. September 1988
Ansicht, dass eine solche Geschichte auch nicht frei von Komik ist. Fischer hat das Gefühl, dass »die« versuchen, ihm hier die Luft zu nehmen, was sich in einer ständigen Präsenz ihrer »Dackel« auf der Straße zeigt. Im Moment ist er davon unberührt, obwohl er dadurch kaum in eine kirchliche Veranstaltung kommt. Fischer interessiert, ob Templin auch Birgit [Voigt] getroffen hat. Das bejaht dieser. Er hat sie ganz kurz an einem Abend getroffen, wo er auch kurz mit Ralf [Hirsch] gesprochen hat. Dieser Abend war ziemlich hektisch, da die Meinungen verschieden waren. Dabei hat er auch gemerkt, wie viele Probleme es dort (sagt hier) gibt. Den Abend bei Guntolf [Herzberg] fand Templin sehr gut. Diesbezüglich schätzt er ein, dass es mit ihnen (Herzberg und Templin) gut weitergehen wird. 16 Im weiteren Verlauf möchte Fischer wissen, wie groß die Distanz von Templin zur DDR bereits ist. Dieser entgegnet, dass seine Ungeduld wächst. Wenn er eine Distanz verspürt, dann nur zu der Kleinkariertheit, da er etwas Gründlicheres machen möchte. Was seine Frau [Regina Templin] angeht, so ist dies genauso. Nach Sascha befragt, teilt Templin mit, dass dieser jetzt 13 Jahre ist, ein Alter, wo es ihn in verschiedene Richtungen zieht. Das Verliebtsein spielt dabei eine Rolle, jedoch denkt er auch an seine alten Freunde. So ist Sascha auch ganz wach bei dem, was sie selbst machen. Fischer interessiert, ob Templin über Informationen verfügt, zu dem was in Prag gelaufen ist. 17 Das verneint dieser. Er versucht jedoch, an einen TeilnehSED-nah. Rainer Wolf offenbarte, dass er z. B. Rainer Eppelmann, Ralf Hirsch und Guntolf Herzberg ausspioniert und sich an Zersetzungsmaßnahmen gegen sie beteiligt hätte. Hirsch und Herzberg kamen in derselben Sendung ebenfalls zu Wort und zeigten sich beide nicht sonderlich überrascht (Sendeprotokoll: Aktionen des MfS gegen Kirchen, 15.3.1988. BStU, MfS, ZAIG 23351, Bl. 15–22). Zur Biografie Wolfgang Wolfs siehe u. a. Wolfgang Rüddenklau: Kein leichter Fall. Zum Umgang mit dem Verrat, in: Bernd Gehrke, Wolfgang Rüddenklau (Hg.): »... das war doch nicht unsere Alternative«. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende. Westfälisches Dampfboot. Münster 1999, S. 246–254. 16 Das Treffen fand in der Wohnung von Guntolf Herzberg am 18.11.1988 von 22.45 bis 3.00 Uhr statt, wie Herzberg anhand seiner persönlichen Unterlagen feststellen konnte (schriftliche Mitteilung von Guntolf Herzberg vom 17.10.2011). 17 Am 28.10.1988 kam es zu einer oppositionellen Kundgebung auf dem Prager Wenzelsplatz mit etwa 5 000 Menschen. Sie demonstrierten für Demokratie und Freiheit. Die Polizei ging mit großer Brutalität gegen die Menschen vor. Es gab über 100 Verhaftungen (vgl. Martina Kirfel: Zum Jubiläum Razzien und Verhaftungen, in: taz vom 29.10.1988; 87 Demonstranten auf dem Prager Wenzelsplatz festgenommen, in: taz vom 31.10.1988). Am 10.11.1988 ereignete sich Folgendes: »Das erste Helsinki-Komitee in der Tschechoslowakei hat sich nach Angaben der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) vom Donnerstag konstituiert. Entsprechende Informationen habe die IGFM von Prager Bürgerrechtlern erhalten. Die Gründungserklärung des Komitees sei von 19 Personen unterzeichnet worden, darunter Václav Havel, Rudolf Battěk, Petr Uhl, Ján Čarnogurský und Pfarrer Václav Malý. Vorsitzender des Komitees sei der frühere Außenminister Jiří Hájek« (taz vom 11.11.1988). Am 11.11.1988 kam es zu diesem Vorfall: »In Prag ist ein internationales Symposium mit dem Thema ›Die Tschechoslowakei und die europäischen Ereignisse von 1918 bis 1988‹ am Freitag gewaltsam von der Polizei aufgelöst worden. Kaum hatte der tschechoslowakische Bürgerrechtler Vaclav Havel die unabhängige Veranstaltung im ›Hotel Paris‹ für ›eröffnet‹ erklärt, wurde er auch
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Dokument 107 vom 21./22. November 1988
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mer heranzukommen. Beide kommen dann noch auf Rumänien zu sprechen. Templin bemerkt, dass die rumänischen Politiker seit letztem Spätsommer gezielt Falschmeldungen lancieren. In diesem Zusammenhang äußert Fischer, dass es einfach doll ist, was die mit dem »Kumpel« ([Nicolae] Ceauşescu) hier wieder abgezogen haben. 18 Er hatte angenommen, dass man sich in der Berichterstattung zurückhält. Jedoch ist es sehr peinlich und entlarvend für diese »Heinis« hier, betont Fischer. Fischer spricht davon, dass die Gefahr hier ganz groß ist, wieder in einen blinden Aktionismus zu verfallen. Über die Situation in der »Initiative [Frieden und Menschenrechte]« wird Fischer einmal einen Brief schreiben. Templin ist bekannt, dass es dort besonders geklemmt hat. Er hat von Ibrahim [Manfred Böhme 19] Informationen erhalten. In diesem Zusammenhang betont Templin, dass Ibrahim [Manfred Böhme] derjenige ist, an welchen sie mit am meisten gedacht haben. Auf sein Zusammenleben mit Regina Templin schätzt Templin ein, dass er das Gefühl hat, dass es gut weitergehen wird. Er selbst ist schon sehr auf den Jahresanfang fixiert. Fischer gibt Templin den Rat, die Gratwanderung genau zu bedenken, das was er macht. Templin bemerkt, dass einige Kirchenleute ihnen gegenüber sehr ausweichend sich verhalten. Daraufhin macht Fischer darauf aufmerksam, dass sie morgen eine Zusammenkunft mit der Kirchenleitung haben, wo er ohnehin über die Passvariante und die Rolle der Kirche sprechen wollte. 20 Templin betont, dass sie sehr intensiv versuchen, einen leitenden Kirchenmann zu sprechen, was jedoch nie gelungen ist. Fischer verspricht, diese Frage morgen zu stellen und [zu] fragen, wie sie sich verhalten werden. Templin ist der Meinung, dass es in einem bestimmten Umkreis der Kirchenleitung möglich sein müsste, eine Information weiterzugeben. In diesem Zusammenhang kommt Templin noch einmal auf die Verschon von drei Polizisten in Zivil abgeführt. Einer Teilnehmerin aus Großbritannien, die die Szene mit dem Fotoapparat festgehalten hatte, wurde der Film entrissen. Sie und die übrigen 15 ausländischen Gäste wurden auf einem Flugblatt in vier Sprachen auf die Illegalität der Geschichtstagung hingewiesen« (taz vom 12.11.1988). Die Ereignisse standen im Zusammenhang, es kam am 11.11. zu über 30 Festnahmen (taz vom 17.11.1988). 18 Am 17./18.11.1988 weilte Ceausesçu zu einem offiziellen Arbeitsbesuch in der DDR. Bei dieser Gelegenheit verlieh ihm Honecker den Karl-Marx-Orden, der ihm bereits aus Anlass seines 70. Geburtstages am 26.1.1988 zugesprochen worden war (vgl. ND vom 26.1., 18. und 19./20.11.1988). Dagegen hatte es viele Proteste gegeben. Die Rumänien-Veranstaltung der IFM am 15.11.1988 stand im direkten Bezug dazu (siehe auch Dok. 95, 98, 99, 104, 105 und 106). 19 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 20 Das Treffen ist kurzfristig von der Kirchenleitung auf den 13.12.1988 verschoben worden (MfS, HA XX, Rapportberichterstattung über Pläne, Absichten und Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte (Zeitraum: 21.11. bis 30.11.1988), 30.11.1988. BStU, MfS, HA XX/AKG 5653, Bl. 475). Werner Fischer stellte gegenüber Bischof Forck bei diesem Treffen seine Sicht auf die Ereignisse vom Januar/Februar 1988 dar, Forck scheint diese zurückgewiesen zu haben, insbesondere dass die Kirchenleitung gelogen habe (MfS, HA XX, Rapportberichterstattung über Pläne, Absichten und Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte (Zeitraum: 10.12. bis 20.12.1988), 20.12.1988. BStU, MfS, HA XX/AKG 5653, Bl. 499).
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Dokument 107 vom 19. September 1988
anstaltung in der Erlöserkirche zu sprechen, wo [Manfred] Stolpe gesagt hat »Leute, die der DDR zeitweilig den Rücken gekehrt haben«. 21 Templin bezeichnet Stolpe als Mann, welcher sehr gut weiß, in welcher Runde er was anbietet. Fischer versichert, dass dieses Problem ein Hauptteil in der morgigen Gesprächsrunde sein wird, wo sie sich auf das Gespräch mit der Kirchenleitung vorbereiten wollen. 22 Nochmals betont Templin, dass sie ein Gespräch mit jemandem von der Kirchenleitung führen möchten. An ihrer Entscheidung ist nicht zu rütteln. Die Gründe, zurück zu wollen, liegen nicht darin, in der BRD nicht leben zu können. Sie wollen weitermachen und mit Leuten wie Fischer zusammen sein. Fischer erwähnt sein Gespräch mit der Staatssicherheit, wo ihm klargemacht wurde, dass es ihre Entscheidung ist, ob sie wieder in die DDR konnten oder nicht. 23 Er versichert, dass sie immer versuchen werden, es am Kochen zu halten. Zwei Jahre sind jedoch eine lange Zeit, sodass auch Templin aufpassen muss. Templin hält es für wichtig, die Kirche aus ihrer Mitverantwortung nicht zu entlasten. Fischer interessiert, ob Templin sich schriftlich an Stolpe oder [Gottfried] Forck gewandt hat. Dieser hat sich an [Wolfgang] Schnur 24 gewandt, der dann mit Stolpe telefonisch gesprochen hat. XXX aus Hannover hat auch den direkten Kontakt gesucht. Am Ende des Gespräches möchte Fischer noch wissen, ob Templin Kontakt zu Freya [Klier] und [Stephan] Krawczyk hatte. Das bejaht dieser. Freya [Klier] machte keinen entspannten Eindruck, Fischer selbst hat seine Probleme mit beiden. Auch der Mythos Krawczyk ist hier nicht mehr vorhanden. In diesem Zusammenhang kommt er auf den Nachfolger von Krawczyk, den [Karl-Heinz] Bomberg, 25 zu sprechen, welcher zurzeit versucht, sich stark in Szene zu setzen. Fischer selbst empfindet Bomberg als peinlich. Templin entgegnet, dass Bomberg ein ganz fairer und gutartiger Mensch sei, worauf Fischer einwirft, dass er jedoch gar nichts kann. Beide verbleiben dahingehend, dass Fischer in der nächsten Woche einen Brief schreiben wird, mit alle dem, was er an dieser Stelle nicht so sagen kann.
21 Ob Manfred Stolpe dies wortwörtlich tatsächlich so sagte, ließ sich nicht eruieren. Zu dieser Veranstaltung siehe Anm. 8. 22 Zur IFM-Sitzung am 23.11.1988 in der Wohnung von Gerd und Ulrike Poppe kamen nur wenige Mitglieder, weshalb ganz offenbar auch nicht über die von Werner Fischer angekündigte Problematik gesprochen wurde. Fischer selbst nahm offenbar auch nicht teil (MfS, HA XX/9, Hptm. Wetzel, Bericht zum Treff mit IMB »Wolf« am 24.11.1988, 24.11.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 28, Bl. 283–284; MfS, BV Berlin, Abt. XX/2, Major Ludewig, Operative Information basierend auf IMB »Christian«, 25.11.1988. Ebenda, Bl. 287–288). 23 Offenbar ist ihm dies während einer »Zuführung« am 28.10., 4. oder 24.11. gesagt worden. 24 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 25 Karl-Heinz Bomberg (geb. 1955), Arzt, Psychoanalytiker, Liedermacher und Autor; ist viele Jahre bis 1989 intensiv vom MfS verfolgt und bearbeitet worden, hatte seit 1982 Auftrittsverbot und ist 1984 3 Monate lang inhaftiert worden.
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Dokument 107 vom 21./22. November 1988
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Templin hält sich zurzeit bei Rüdiger [Rosenthal] auf. Mit Grüßen an alle verabschieden sie sich. 0.19 Uhr/22.11.
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Dokument 108 Telefonate von Gerd Poppe mit Heiko Lietz und Wolfgang Templin 25. November 1988 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Karl-Heinz] Zönnchen 1 Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 15, Bl. 120–121
Heiko Lietz erkundigt sich bei Gerd Poppe, ob er seinen Brief bekommen hat. P[oppe] bestätigt das, heute lag er im Briefkasten. Lietz möchte wissen, ob die Sache klar geht. P[oppe] denkt, es wird klappen, sie wissen noch nicht genau, wer fahren wird, aber wahrscheinlich wird Ulrike [Poppe] kommen und vielleicht noch jemand anders von ihnen. –P[oppe] wird nicht kommen können, weil sie nicht immer die Kinder allein lassen können. Ulrike [Poppe] hat zumindest die feste Absicht, zu kommen. 2 Wie Lietz abschließend bemerkt, gibt es ansonsten viel zu erzählen. P[oppe] denkt, das können sie ja dann nächste Woche an Ort und Stelle machen. P[oppe] wird morgen nach Rostock fahren, um seine Mutter zu besuchen, sie hat Geburtstag. Sonntag fährt er nach Berlin zurück. 20.24 Uhr Gerd P[oppe] gratuliert Wolfgang Templin, BRD, zum Geburtstag. P[oppe] hofft, Templin bekommt dieser Geburtstag in etwas veränderter Umgebung trotzdem einigermaßen. Templin führt an, dass ihm Otto Reinhold zu guter Letzt auch noch gratulierte. Er zeigte ausgesprochene menschliche Züge. 3 1 Karl-Heinz Zönnchen (geb. 1951), Elektroinstallateur, SED 1970, Eintritt ins MfSWachregiment 1971, seit 1974 operativer Mitarbeiter der HA XX/6, ab 1975 in der HA XX/2, 1987 Beförderung zum Hauptmann, 1989 Versetzung zur HA XX/9; Entlassung zum 15.2.1990. 2 Vom 2. bis 4.12.1988 fand im Rüstzeitheim Warin/Kreis Sternberg ein Menschenrechtsseminar statt, das Heiko Lietz organisiert hatte. Es nahmen Vertreter verschiedener Gruppen teil. U. a. wurde darüber gesprochen, wie die Opposition mit den Kommunalwahlen im Mai 1989 umgehen sollte (MfS, HA XX, Rapportberichterstattung über Pläne, Absichten und Aktivitäten feindlichnegativer Kräfte (Zeitraum: 20.12. bis 31.12.1988), 30.12.1988. BStU, MfS, HA XX/AKG 5653, Bl. 504). Ulrike Poppe erinnert sich nicht, daran teilgenommen zu haben (Mitteilung vom 4.1.2012). Auch in einem Bericht mit den 14 Teilnehmern ist sie nicht erwähnt: BV Rostock, Abt. XX/4, Information zum feindlichen »Menschenrechtsseminar« am 3.12.1988 in Warin. BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX 507, Teil 1, Bl. 101–103. 3 Templin und Reinhold nahmen vom 23. bis 26.11.1988 an einer Tagung »Sozialismus in Europa – Bilanz und Perspektiven« in Bochum teil. Sie ist aus Anlass des bevorstehenden 75. Geburtstages von Willy Brandt (geb. am 18.12.1913) organisiert worden. Siehe u. a. Sozialistische Hoffnungsträger gesucht, in: taz vom 5.12.1988 (mit Hinweisen auf Templins und Reinholds Beiträge).
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Dokument 108 vom 25. November 1988
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[Wolfgang] Templin erinnert, dass ja dieses dreitägige Symposium stattfindet. Und heute Abend gab [Johannes] Rau als Ministerpräsident einen Empfang anlässlich dieser Veranstaltung. [Willy] Brandt nahm am Nachmittag an der Veranstaltung teil und abends war er auch noch zugegen. Gegenwärtig ist Templin noch mit einigen Leuten zusammen. Z. B. Baumgarts [Christine und Jürgen], die Pastoren aus Bernburg, XXX (ph) vom Ost/West-Dialog, holländischer Sozialist. P[oppe] meint, »wir« haben jetzt was gelesen. Nach langem Herumliegen kam nun doch ein bisschen was an. Darüber ist P[oppe] etwas ärgerlich, weil er seit zwei Monaten auf diese und andere Sachen wartet. 4 Templin konnte überhaupt nicht mitkriegen, dass »die« nicht bei »euch« waren. P[oppe] denkt, hier müssen sie noch etwas klären. Dabei war ja noch eine interessante Sache, die, weil sie so lange gelegen hat, noch schwieriger geworden ist. Wie P[oppe] betont, werden »wir« jedenfalls darauf reagieren. 5 Doch P[oppe] möchte jetzt nicht weiter mit Templin politisieren, denn er soll lieber Wein trinken und schöne Gespräche führen. Danach gratuliert Ulrike P[oppe] Templin zum Geburtstag. Unter anderem berichtet Templin, dass er auch ein Gespräch mit Otto Reinhold führte, der dann nicht mehr so verkrampft gewesen ist. Die P[oppe] meint, vielleicht war Reinhold durch den Wein etwas entkrampft gewesen. Templin meint, aber auch dadurch, dass er gemerkt hat, bei allem, was uns trennt, ist bei uns kein Hass oder Verbitterung vorhanden. Dies muss Reinhold irgendwie geholfen haben, normaler zu werden. Vorher hatte Templin noch mit der Annelies [Laschitza] 6 gesprochen. Die hatte zwei Tage gebraucht, um sich wirklich ein bisschen von ihrer Verspannung wegzubewegen. Am letzten Abend konnten 4 Bücher und andere Unterlagen, die für die IFM bestimmt waren, lagen mehrere Wochen in West-Berlin und sind nicht nach Ost-Berlin gebracht worden. 5 Wahrscheinlich ist das Buch gemeint: Freya Klier: Abreißkalender. Ein deutsch-deutsches Tagebuch. München 1988. Es war im Herbst erschienen und ist ausweislich verschiedener IMBerichte in den Oppositionskreisen Ost-Berlins mehrfach kritisch beurteilt worden. 6 Annelies Laschitza (geb. 1934), Professorin mit Leitungsfunktion am Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED, gab in der DDR die Werke und Briefe von Rosa Luxemburg heraus und war u. a. wissenschaftliche Beraterin des international preisgekrönten bundesdeutschen Spielfilms »Rosa Luxemburg« (1986) von Margarethe von Trotta. In einem Zeitungsartikel Ende Januar 1988 beschrieb sie, wie Luxemburgs berühmter Satz zu den Andersdenkenden zustande gekommen sei. Sie schrieb abschließend: »Alle Versuche, Rosa Luxemburg für einen jenseits vom Marxismus-Leninismus und vom realen Sozialismus liegenden sogenannten dritten Weg zu einem angeblich demokratischen Sozialismus auszudeuten, befinden sich in unüberbrückbarem Gegensatz zu Rosa Luxemburgs tatsächlicher Entwicklung und ihrem Verständnis von Demokratie und Sozialismus, das sie an die Seite Lenins führte.« Die Seite ziert noch eine Hervorhebung: »Übrigens im Namen dieser ›Freiheit‹ wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von ›Andersdenkenden‹ ermordet.« (Annelies Laschitza: Rosa Luxemburgs Verständnis und Kampf für Demokratie, in: Junge Welt vom 29.1.1988) Im November 1989 äußerte Laschitza sich erneut zum Thema, nun um die SED als »Andersdenkende« zu verteidigen und vor ihrem drohenden Untergang zu retten (Annelies Laschitza: Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden, in: ND vom 11./12.11.1989).
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Dokument 108 vom 19. September 1988
sie sich unterhalten. Und jedes Mal ist es das Gleiche: Sie können sich nicht vorstellen, dass wir, ihr oder wer auch immer, einen ganz normalen Lebensanspruch haben, den man auch von ihrer Warte aus irgendwo nachvollziehen oder begreifen kann. Es muss etwas ganz Monströses sein, was in deren Köpfen gesponnen wird. Templin traf in Westberlin neulich mit Wolfgang Schenk zusammen, und Templin hatte gehofft, dass die Sachen, die »wir« mit ihm besprochen haben, die ihm sehr wichtig waren, längst bei »euch« sind. Templin hörte, dass Werner Fischer in dieser Woche wieder mal mitgenommen worden ist. 7 Templin fragt, ob sie das Gefühl hat, dass man ihn versuchen will, kaputt zu spielen. Ulrike P[oppe] glaubt, dieses Mal ist es ein Zufall gewesen. Templin meint, in der letzten Zeit ist es doch häufiger gewesen. Ulrike P[oppe] glaubt, es hat auch mit Fischer selbst zu tun. Und zwar mit seinen Sachen, die er gemacht hat. 8 Sicher ist er auch ein bisschen bedroht. Fischer hatte es ihr auch gesagt, dass er sich in Gefahr begibt, wenn er so weitermacht. Auf die Frage, wie es ihr (Ulrike P[oppe]) geht, erwidert sie, es geht ihr rauf und runter, so wie immer. Sie wünscht ihm abschließend alles Gute, und hofft, bald werden sie sich mal wieder sehen. 23.35 Uhr
7 Am 24.11.1988 ist er zugeführt worden. 8 Diese Stasi-Zusammenfassung des Gesprächs lässt offen, was Ulrike Poppe gemeint haben könnte. Sie erinnert sich, dass sie glaubte, Werner Fischer würde zu leichtfertig eine neuerliche Verhaftung riskieren (Mitteilung von Ulrike Poppe am 4.1.2012).
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Dokument 109 Telefonate von Werner Fischer 26. November 1988 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 10, Bl. 56–59
Ein Willi wollte sich nur mal erkundigen, ob W[erner] Fischer noch da ist. Fischer bejaht dies, er war heute nur einige Stunden außer Haus. 14.30 Uhr Ibrahim [Manfred] Böhme 1 hatte die Absicht, heute zu F[ischer] zu kommen, nachdem er diese schlimme Nachricht erhielt. F[ischer] meint, es war nicht so schlimm. 2 Böhme packt es noch nicht, er kommt Anfang der Woche vorbei. Evtl. schon am Montag. 14.38 Uhr Frank 3 erkundigt sich, ob F[ischer] morgen zu Hause ist. F[ischer] wird wahrscheinlich da sein, er hat nicht vor, wegzugehen. Frank erwähnt, dass alle wieder da sind. 20.29 Uhr Wolfgang Templin, Bochum/BRD, meldet sich und übermittelt an Werner F[ischer] einen lieben Gruß von Willy Brandt. Templin hat Brandt gestern gesprochen. 4 Wie F[ischer] meint, wollte er Brandt noch ein Telegramm 1 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 2 Am 24.11.1988 war Werner Fischer zugeführt worden, worauf sich die Bemerkung wahrscheinlich bezog. Er hatte an einer Sitzung des Arbeitskreises Gerechtigkeit und Frieden der Bekenntniskirche, ein Kreis von Antragstellern auf ständige Ausreise, in einer Wohnung teilgenommen. Dort war u. a. eine Erklärung zum »Tag der Menschenrechte« (10.12.) vorbereitet worden. Beim Verlassen der Wohnung sind sämtliche Teilnehmer zugeführt worden, darunter auch Werner Fischer (MfS, HA XX/9, Sachstandsbericht zum OV »Schieber«, 30.11.1988. BStU, MfS, AOP 177393/91, Bd. 2, Bl. 191). 3 Wahrscheinlich handelt es sich um Frank Hartz (IM des MfS). Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 4 Vom 23. bis 26.11.1988 nahm Templin an einer Tagung »Sozialismus in Europa – Bilanz und Perspektiven« in Bochum teil. Sie ist aus Anlass des bevorstehenden 75. Geburtstages von Willy Brandt (geb. am 18.12.1913) organisiert worden. Brandt nahm am 25.11.1988 auch selbst an der
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Dokument 109 vom 19. September 1988
schicken. Templin erklärt darauf, er hat es ihm übermittelt, auch im Namen von F[ischer] und den anderen Freunden. Wie gesagt, Brandt lässt sie grüßen und er verfolgt aufmerksam, was sich so tut. Brandts Reaktion dazu ist natürlich klar. Templin veranstaltet gegenwärtig eine Fete. 5 Templin erinnert, dass er gestern Abend in dem Bochumer Stadtparkrestaurant war, wo ein breiter Kreis von Personen vertreten war, die aufgrund des Symposiums, was stattfand, zusammengekommen sind. 6 Zum Schluss, so meint Templin, fasste sich auch Otto Reinhold ein Herz, um Templin zum Geburtstag zu gratulieren. Templin hatte bereits einige Male versucht, F[ischer] telefonisch zu sprechen. T[emplin] hatte Angst, dass es wegen morgen schon wieder Theater gibt. 7 F[ischer] war in Pankow und half Gisela Metz beim Packen, da sie umzieht. Wegen Morgen ist F[ischer] wieder zurück in seine Wohnung gekommen, weil wahrscheinlich viele Leute anrufen werden, und wenn er dann nicht da ist, wird Alarm geschlagen. F[ischer] will morgen den ganzen Tag in seiner Wohnung bleiben. Templin hatte Angst, dass »die« heute bereits vorbeugen werden. Wie F[ischer] erwidert, hat es auch so ausgesehen. »Wir« hatten auch schon Vorwarnung, dass »sie« also ziemlich sicher gehen wollen dieses Mal und beabsichtigten schon vorab, etwas zu unternehmen, bei ihm, F[ischer], haben »sie« aber nichts gemacht. Er weiß natürlich nicht, wie es bei den anderen aussieht. Gestern Nacht telefonierte Templin auch mit Peter Grimm und Gerd Poppe. 8 Heute erhielt er ein Telegramm von Martin und Antje [Böttger]. Sie wünschten alles Gute und »frohes Wiegeln«. Templin wartet auf den Moment, wo er wieder mit F[ischer] zusammen sein kann. F[ischer] denkt, in der heutigen Welt ist alles möglich. Hauptsache ist, sie kommen nicht drüben bei Templin zusammen. Denn im Moment sieht hier alles ein bisschen doof aus. Die drücken, dass man wieder rüber geht. Aber, so betont F[ischer], dem werden wir widerstehen 9. Templin gibt zu verstehen, dass er ihm wahrscheinlich jetzt nicht [zu] sagen braucht, welche Verantwortung auf F[ischer] liegt. Templin wünscht F[ischer] die Kraft, weil er denkt, es ist ganz wichtig. Wir, so Templin, werden uns hier Konferenz teil. Siehe u. a. Sozialistische Hoffnungsträger gesucht, in: taz vom 5.12.1988 (mit Hinweisen auf Templins Beiträge). Siehe auch Dok. 108. 5 Am Tag zuvor, dem 25.11.1988, hatte Wolfgang Templin seinen 40. Geburtstag. 6 Siehe Anm. 4. 7 Am Sonntag, dem 27.11.1988 fand ein DDR-weiter Aktionstag aus Anlass der Relegierungen an der Pankower Carl-von-Ossietzky-EOS statt. In zahlreichen Städten kam es zu Informationsandachten sowie Diskussionsveranstaltungen, die die DDR-Volksbildung kritisch thematisierten. Siehe auch Dok. 101–103. 8 Zum Gespräch mit Gerd Poppe siehe Dok. 108, jenes mit Peter Grimm ist bislang nicht gefunden worden. 9 Im Original: »überstehen«.
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Dokument 109 vom 26. November 1988
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durch nichts abhalten lassen, das zu machen, was wichtig ist. »Denn aus allen Reaktionen, die ich […] DDR hier merke, ist, die spielen in einer Art auf Zeit, die auf der einen Seite ganz schlimm und unverantwortlich ist und die ihnen nichts nützen wird, wirklich nicht. Weil die immer ihre Verhaltensweisen in die Vergangenheit projizieren, die nicht mehr stimmt.« F[ischer] denkt, »sie« waren es ja noch nie, aber jetzt umso weniger. Man weiß überhaupt nicht, welche Überreaktion zeigen sie morgen. Und da müssen »wir« uns hier einfach ein dickes Fell zulegen und abwarten, bis »sie« irgendwie davon lassen. Templin war in den letzten Tagen besonders froh über die Leute von der SPD, denn »sie« hatten überhaupt keine Lust in die Rolle zu geraten, … halb diplomatischer Begleitmusik mit Otto Reinhold, den Arenakampf auszuführen. Sie haben das, was wir wollten, und das, was uns wichtig war, ganz klar vertreten. Aber das Wichtigste war, und das ist, denke ich, mittlerweile innerhalb der SPD ein Fortschritt, dass die ihre Probleme und ihre Sicht auf die Sache ganz klar angebracht haben. Das war nicht nur mal ein Protestgeschrei auf der großen öffentlichen Versammlung für Otto Reinhold, weil er sich nicht von der Seite, die er auch hat, gezeigt hat, nämlich zu differenzieren, sondern alte Linie gefahren hat, ist er offen ausgelacht worden. 10 F[ischer] nennt es als wichtig, das hat ja jetzt bei [Egon] Bahr nicht geklappt, obwohl es nicht so toll gewesen wäre, der hätte es wahrscheinlich auch zu verhindern versucht, aber wenn sich Leute von der Grundwertekommission ansagen – Templin hat ja mit diesen Leuten oft zu tun – dann sollen sie unbedingt mal zu »uns« kommen. Oder sie sollen zumindest mitteilen, wo sie zu erreichen sind. Es wäre doch wichtig, dass »wir« diese Gespräche, die »wir« ansatzweise in Bonn hatten, auch hier fortsetzen. F[ischer] bezeichnet es als positiv, wenn Templin sagt, die SPD-Leute beziehen nun langsam mal klar Stellung. Templin wirft ein, es sind natürlich immer Einzelne. Aber darauf muss man aufbauen. F[ischer] betont, es wäre schon ganz toll, wenn Leute mal das Kreuz hätten und sagen würden, jetzt fahre ich mal in die Fehrbelliner Straße 11. Und so etwas brauchen »wir«. Bei dem, was »sie« jetzt an Überreaktion täglich zeigen, brauchen »wir« jetzt tatsächlich die Rückenstärkung durch diese Leute. F[ischer] rät, sie sollen verfolgen, was morgen hier im Lande abläuft, es ist ganz spannend. 12 Templin erwidert: »Wir haben die ganze letzte Woche versucht, den Stellenwert, den mittlerweile der Konflikt, der ja nun zuerst ganz partiell erschien, 10 Das bezieht sich auf die unter Anm. 4 genannte Tagung. 11 In der Fehrbelliner Str. wohnten u. a. Bärbel Bohley (Nr. 91), Werner Fischer (Nr. 56), Peter und Sabine Grimm (Nr. 89) sowie Carlo Jordan, Tom Sello und Wolfgang Rüddenklau (alle Nr. 7). 12 Siehe Anm. 7.
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Dokument 109 vom 19. September 1988
um die paar Schüler in Pankow. Jetzt, dies ist das Allerwichtigste, sind sie nicht mehr bereit, sich in die Opferrolle zwingen zu lassen. Sondern sie sagen, wir wollen an die Schule zurück, aber es geht um viel mehr. Das haben wir versucht zu verdeutlichen.« 13 Templin erwähnt, dass Reinhold noch eine junge Kollegin bei sich hatte […]. 14 Auf dem großen Forum in Bochum, so meint Templin, haben »wir« die Sache »Pankow« zur Sprache gebracht. 15 Hinterher hatte Templin diese Frau XXX angesprochen. Sie erklärte ihm, dass sie mitten drin in dem Konflikt steckt. Sie weiß genau, worum es geht, sie ist mit im Elternbeirat dieser Schule. 16 Den Namen XXX kennt F[ischer]. Diese Frau machte auf Templin nicht den negativsten Eindruck, sie konnte sicher nicht aus ihrer Rolle heraus. Templin war jedoch klar, mittlerweile lassen sich Konflikte in der DDR nicht mehr beliebig verlagern oder wegschieben. F[ischer] kann sagen, es gärt hier an verschiedenen Schulen und die Diskussion in Betrieben und Institutionen sind toll. Von daher macht es wirklich Spaß, hier wieder zu sein. F[ischer] ist gespannt, wie sich Templins Kontakt zu Reinhold fortsetzt, wie er sich gestalten wird. (Beide lachen.) Sie wünschen sich gegenseitig alles Gute. 23.05 Uhr
13 Es geht um die Relegierungen an der Ossietzky-EOS. 14 Otto Reinhold war Direktor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, die Kollegin arbeitete hingegen an einem Historischen Institut der AdW. Sie erhielt zwar eine offizielle Reiseerlaubnis zu dieser Tagung, reiste auch gemeinsam mit Reinhold an und ab, hatte aber sonst weder vorher noch nachher Kontakte zu Reinhold. Vielmehr kam es zu der Tagungseinladung, weil ihr über persönliche Kontakte eine offizielle Einladung an ihr Institut geschickt worden war (Brief vom 8.10.2011). Das war durchaus kein unüblicher Weg, Einladungen zu erhalten. 15 Er meint die Relegierungen an der Ossietzky-EOS. 16 Das traf zu diesem Zeitpunkt nicht zu, da die Tochter bereits 1980 Abitur an dieser EOS abgelegt hatte (Brief vom 8.10.2011).
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Dokument 110 Telefonat zwischen Bärbel Bohley und Wolfgang und Regina Templin 27. November 1988 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 1057/91, Bd. 15, Bl. 122–124 Anmerkung: Das Gespräch fand in der Nacht vom 26. zum 27. November 1988 statt.
Wolfgang Templin meldet sich bei Bärbel Bohley. Er ist erfreut, dass er sie sprechen kann. Sie freut sich ebenfalls, gerade las sie seinen »Reisebericht«, den sie als positiv einschätzt. 1 Auf dieser Linie soll er weiterhin voranschreiten. Der Bericht ist sehr locker geschrieben. Er ist nicht verbiestert oder verbissen. Templin soll Grüße von Willy Brandt ausrichten, den er gestern sprechen konnte. 2 Brandt ist das, was momentan passiert, ein absoluter Horror. Die B[ohley] meint, dass sie da durch müssen. Templin erinnert, dass an den letzten drei Tagen in Bochum eine Konferenz stattfand, wo auch Otto Reinhold dabei war. Selbst der hatte sich an die Wirklichkeit gewöhnen müssen, dass »wir« genauso da sind wie er. Auch Reinhold gratulierte ihm, Templin, zum Schluss zum Geburtstag. 3 Die B[ohley] hatte Templins Geburtstag ganz vergessen. Sie schämt sich dafür. Sie wünscht Templin alles Gute. Templin erhielt einige Telegramme. So z. B. von Martin König. 4 Die B[ohley] kann anlässlich Templins Geburtstag nur sagen: Die »Initiative [Frieden und Menschenrechte]« steht hinter ihm. Er soll sich locker halten, dann kann er wieder in die DDR kommen. Templin ist überzeugt, dass er wieder zurück in die DDR kommen kann. Die B[ohley] bittet ihn, er soll sich aber weiterhin so locker halten, wie er es in seinem »Reisebericht« getan hat. Dieses »Festbeißen von Macht und Gesellschaft« hat ihr 1 Vgl. Wolfgang Templin: Reisenotizen aus Osteuropa, in: Grenzfall 1–12/1988, S. 3–7, nachgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 497–502. 2 Vom 23. bis 26.11.1988 nahm Templin an einer Tagung »Sozialismus in Europa – Bilanz und Perspektiven« in Bochum teil. Sie ist aus Anlass des bevorstehenden 75. Geburtstages von Willy Brandt (geb. am 18.12.1913) organisiert worden. Brandt nahm am 25.11.1988 auch selbst an der Konferenz teil. Siehe u. a. Sozialistische Hoffnungsträger gesucht, in: taz vom 5.12.1988 (mit Hinweisen auf Templins Beiträge).Werner Fischer und Bärbel Bohley hatten auf Vermittlung von Petra Kelly am 23.2.1988 Willy Brandt in Bonn getroffen. Vgl. Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram. Berlin 2011, S. 49–50. 3 Wolfgang Templin beging am 25.11.1988 seinen 40. Geburtstag. 4 Der Theologe Martin König (geb. 1954) war in mehreren oppositionellen Gruppen aktiv und interessierte sich u. a. besonders für deutschlandpolitische Fragen und die Überwindung der innerdeutschen und europäischen Grenzen.
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außerordentlich gefallen. Das war ganz sensibel für die Situation. Darüber hat sie sich wirklich gefreut, weil sie das nicht gedacht hatte. 5 Dann setzt die B[ohley] das Gespräch mit Lotte [Regina] Templin fort. Die B[ohley] erwähnt, dass ihr Lotte Templins »Freund« sehr gut gefallen hat. Die Templin macht die Feststellung, dass es also doch klappte. Die B[ohley] meint, dass dieser Mann also bei ihnen, Templins, ist. Sie meint den Freund aus Persien. Die Templin erläutert, der ist nicht bei ihnen in Bochum, sondern er lebt in Westberlin. Zu der B[ohley] hat er gesagt, dass er irgendwann nach Bochum fährt, dann geht’s weiter nach Wien und durch die halbe Welt, und wenn er wieder zurückkommt, machen sie ein großes Kochen. Lotte Templin lernte diesen Perser 6 zufällig kennen, er ist Maler. Die B[ohley] weiß das, sie hatten sich lange unterhalten. Er war zu dem Zeitpunkt zu ihr gekommen, als Wolfgang Templin neulich anrief. Der Perser schilderte, dass er Wolfgang Templin gar nicht kennt, sondern nur Lotte Templin und einige Trotzkisten. Daraufhin dachte die B[ohley], hoffentlich landen »die« nicht in einer verkanteten Ecke. Jetzt las sie Wolfgang Templins »Reisebericht« und sie war danach sehr froh. Lotte Templin bittet die B[ohley], keine Angst zu haben, sie haben nicht nur mit Trotzkisten zu tun. Die B[ohley] hat ja nichts gegen Trotzkisten. Aber, wenn Templins hier mit Trotzkisten ankommen würden, kann die B[ohley] nur sagen, dann gibt es Probleme. Darauf erwidert Lotte Templin: 5 Templin hatte in dem erwähnten Aufsatz über Polen u. a. geschrieben: »Vom Land selbst hatte ich nach über fünf Jahren der Entfernung einen sehr bedrückenden Eindruck. Den Menschen ist die tägliche Rennerei und Plackerei für das Lebensnotwendigste förmlich ins Gesicht geschrieben, in den Läden sieht es katastrophal aus und das öffentliche Leben scheint nur noch aus Spannungen zu bestehen. Irgendwie konnte ich mir die Konflikt- und Verhandlungsabläufe der letzten Zeit fast physisch erklären. Beide Gegenüber, die Macht und die Gesellschaft, haben fast nicht mehr die Kraft weiterzukämpfen, klammern sich nur noch instinktiv aneinander und warten auf die nächsten Erschütterungen. Wenn es wirklich zu einer schrittweisen Legalisierung von Solidarność kommt, wird es ungeheuer schwer sein, die dann zu erwartende neue Energie der Bevölkerung und die Bereitschaft, bei Veränderungen mitzumachen, angesichts der allgemeinen Zerrüttung eben, nicht nur der Wirtschaft, sondern der gesamten Gesellschaft, produktiv umzusetzen. Der Machterhalt um jeden Preis und die verspielten Möglichkeiten aller vorangegangenen Chancen für Veränderungen durch die Partei haben dem Land einen ungeheuren Preis gekostet.« (Templin: Reisenotizen aus Osteuropa, S. 7, nachgedruckt in: Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit, S. 501). 6 Bei diesem »Persier«, wie es im Original des Dokuments heißt, handelt es sich um den Iraner Ahmad Majd. Er war offenbar Doppelagent und war in West-Berlin aktiv. Als IM des MfS ist er erstmals von Elsbeth Zylla (geb. 1955, AL, engagiert in der grenzüberschreitenden Friedensbewegung, Übersetzerin, Lektorin, Herausgeberin; seit 1993 in der Heinrich-Böll-Stiftung tätig) nach ihrer Akteneinsicht enttarnt worden. Zu seiner IM-Tätigkeit und seiner V-Arbeit für den Verfassungsschutz vgl. Thomas Moser: Wechselspiel. IM »Amir« ist V-Mann »Reuter« ist IM »Amir«: Der Fall eines deutsch-deutschen Doppelagenten, in: Deutschland Archiv 41 (2008) 5, S. 850–856 (in diesem Beitrag wird allerdings der »Klarname« von Ahmad Majd nicht genannt). Ein IM-Bericht über die Kontaktaufnahme von ihm zur Ostberliner Opposition, wegen seiner Kontakte in West-Berlin, wäre z. B. MfS, HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMB »Karin Lenz« am 19.12.1988: Zusammenkunft bei der Bohley am 16.12.1988, 22.12.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 28, Bl. 355–356).
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»Immer nach der alten in der DDR trainierten Spielregel: also, wo es nicht fair ist, wo es nicht offen geht, dann geht es nicht. Wir lassen uns doch nicht benutzen für irgendeinen Kickifax.« Lotte Templin geht es so, dass sie sich nur gespalten fühlt. Alles, was sie aus der DDR hören, klingt nicht gut. Und die Typen, die sie in der BRD als offizielle SED-Vertreter treffen, machen den denkbar schlechtesten Eindruck. Und alles, was sie dazu lernt in Sachen DDR-Geschichte usw., macht ihr nicht viel Hoffnung. 7 Sie denkt, »die« sind sehr schwierige Menschen geworden, die über »uns« die Entscheidung treffen. B. B[ohley] meint, das waren »sie doch schon immer«. Lotte Templin denkt, das, was sie machen können in der BRD, auch ein bisschen Sinn hat. Die B[ohley] betont, entweder gelingt es oder nicht. So ist es doch jetzt. Da kann man ja nur zum Gelingen beitragen. »Ihr« da und »wir« hier. Und wenn das misslingt, dann kannst du wirklich einpacken. Die B[ohley] meint »wir« alle. Sie denkt, dann wird es wirklich eine Katastrophe geben. Diese alten Knacker dürfen einfach nicht siegen. Aber ihr biologischer Untergang liegt ja in näherer Nähe als unserer, dann haben wir ja auch noch ein bisschen Hoffnung. Auch wenn es noch 20 Jahre andauern sollte, bis die alten Bastionen weggeräumt sind, wir lassen uns nicht unterkriegen. Die Templin möchte erfahren, wie es der B[ohley] eigentlich geht, nachdem sie in die DDR zurückkehrte. Darauf erwidert die B[ohley], dass sie einfach angekommen ist. Irgendwelche Probleme hat sie eigentlich nicht. Sie musste erst mal Geld verdienen, um das letzte Jahr aufzuholen, damit ihr nicht die Steuernummer entzogen wird. Sie hat mit Katja [Havemann] gearbeitet. Nächste Woche hat Katja [Havemann] Geburtstag, 8 gemeinsam wollen sie verreisen, damit sie endlich mal in Ruhe reden können, was sie nämlich noch nicht gemacht haben. Wie gesagt, sie ist hier in der DDR angekommen, für Werner Fischer ist es vielleicht etwas schwieriger. Sie denkt, irgendwie wird er es hinkriegen. Lotte Templin erwähnt, dass Wolfgang T[emplin] neulich mit XXX über das Problem der Pankower Schüler sprach. 9 B[ohley] glaubt, die machen es schon ganz gut. Morgen ist zu dem Problem ein Aktionstag. Etliche Gottes-
7 Vgl. dazu auch das Interview von Peter Wensierski mit Regina Templin, das am 20.10.1988 ab 20.05 Uhr im Deutschlandfunk ausgestrahlt wurde: BStU, MfS, HA XX 9763, Bl. 3–5. Eine längere und für die Drucklegung überarbeitete Variante stellt dar: Demokratisierung der Gesellschaft. Interview von Peter Wensierski mit Regina Templin, in: Kirche im Sozialismus 14 (1988) 6, S. 219– 222. Das ist auch im DDR-Samisdat nachgedruckt worden. 8 Sie wurde 30.11.1947 geboren. 9 Die anonymisierte Person lebte in Ost-Berlin. Gemeint sind die Relegierungen an der Carlvon-Ossietzky-EOS in Pankow. Siehe dazu Dok. 101–103.
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Dokument 110 vom 19. September 1988
dienste und alles Mögliche finden statt, also nicht nur in Berlin, sondern in der DDR. 10 Die B[ohley] denkt, es läuft nicht mehr so alles unter dem Tisch. Die B[ohley] kommt auf Templins Reisebericht zurück, über den sie sich sehr freute. Hier kann sie nur sagen, endlich haben wir ihn an den Ort delegiert, und er kommt als der richtige Mann zurück. Manchmal hatte sie ein bisschen Angst. Abschließend bittet Lotte Templin, alle zu grüßen. 1.05 Uhr
10 Am 27.11.1988 fand ein landesweiter Aktionstag mit Protest- und Informationsveranstaltungen in mehreren Ostberliner Kirchen sowie z. B. in Dresden, Halle, Leipzig, Jena, Magdeburg, Potsdam und Wismar statt.
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Dokument 111 Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch 7. Januar 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Kurt] Dohmeyer Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7191, Bl. 67–71
Rainer Eppelmann nimmt Kontakt auf zu Ralf Hirsch, WB 41, Selerweg 30, und erklärt, dass er gestern um 23.30 Uhr schon einmal versucht hat, aber Ralf Hirsch war nicht da. Ralf Hirsch teilt mit, dass er sein Telefon abgestellt hatte. Er war noch mit drei anderen Personen in seiner Wohnung gemütlich zusammen. Ralf Hirsch ruft zurück und während der Unterhaltung kommen noch Reiner Dietrich 1 und Thomas [Welz] 2 zu Rainer E[ppelmann], die sich am Gespräch beteiligen. Ralf Hirsch will wissen, wie Rainer E[ppelmann] die letzten Tage überstanden hat. Rainer E[ppelmann] legt dar, dass er eine Autopanne hatte, als er gestern die beiden alten Damen wieder hinter Bad Elsterwerda gefahren hat. Es lag eine Vereisung des Vergasers vor und Rainer E[ppelmann] hatte Glück, dass er noch bis Freienhufen gekommen ist, wo ein Kfz-Hilfsdienst existiert. Er musste aber eine Stunde warten. Danach berichtet Rainer E[ppelmann], dass er ein Gespräch mit dem Generalstaatsanwalt gehabt hat, 3 der mit ein paar Technikern bei Rainer E[ppelmann] war. Rainer E[ppelmann] meint, dass das alles noch so weitergeht. Nun werden weitere Zeugen vernommen, die beim Ausbau dabei waren und so was. 4 Er selbst muss Mitte nächster Woche noch einmal hin. Rainer 1 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 2 Thomas Welz, geb. Berndt (geb. 1957), zusammen mit Rainer Eppelmann Herausgeber und Autor mehrerer Samisdatpublikationen des Friedenskreises der Samaritergemeinde in BerlinFriedrichshain, 1989 Mitbegründer des »Demokratischen Aufbruch«. Er war von Oktober 1978 bis März 1979 Häftling der Militärstrafvollzugseinrichtung Schwedt. Lebensgeschichtliches Interview bei Torsten Dressler: Stillgestanden – Blick zur Flamme! Berlin 2013, S. 101–116. 3 Gespräch am 27.12.1988. Von dieser Zeugenvernehmung existieren zwei Protokolle. Das offizielle: Generalstaatsanwalt der DDR, Vernehmungsprotokoll des Zeugen Rainer Eppelmann, 27.12.1988. BStU, MfS, HA XX/4 207, Bl. 127–131. Daneben existiert eine wortwörtliche inoffizielle Abschrift des Tonbandmitschnitts: ebenda, Bl. 67–85. Diese bricht allerdings nach einem vom Staatsanwalt vorgenommenen »Bandwechsel« ab, da, wie auf dem Schriftstück vermerkt ist, »auf der 2. Seite … durch Bedienungsfehler nichts zu hören« ist (ebenda, Bl. 85). 4 Am 4. Advent 1988 (18.12.1988) lokalisierte Rainer Eppelmann mit Hilfe eines entsprechenden Geräts aus West-Berlin, das ihm der »Spiegel«-Korrespondent Ulrich Schwarz geborgt hatte, eine erste Abhörwanze in seinen Wohn- und Diensträumen. Im Januar 1989 fand er dann mit einem Gerät, das ihm der ARD-Korrespondent Hans-Jürgen Börner besorgt hatte, zwei weitere Abhörwan-
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Dokument 111 vom 19. September 1988
E[ppelmann] weist Ralf Hirsch darauf hin, dass er das für sich behalten soll, weil Rainer E[ppelmann] über den weiteren Verlauf der Ermittlungen überhaupt nichts sagen darf, weil »die« von ihm offensichtlich wissen wollen, wie der »Spiegel« zu dem Foto gekommen ist. 5 Ralf Hirsch fragt, dass das »die« interessiert. Rainer E[ppelmann] bringt zum Ausdruck, dass »die« sich offensichtlich über die Veröffentlichung geärgert haben. Das ist ihm bloß so mitgeteilt worden, aber nicht vom Staatsanwalt selber. 6 Dieses Gespräch findet ja erst am zen. Diese Technik diente der »Maßnahme B«, der Raumüberwachung. Wie Eppelmann herausfand, konnten mit diesen Wanzen seine gesamten privaten und dienstlichen Räume abgehört werden sowie weitere Zimmer in dem Haus. Beim Finden und Ausbau der Wanzen waren ihm mehrere Gemeindemitglieder und Kollegen behilflich, aber auch Reiner Dietrich, der als IM dem MfS diente und der dafür von seinen Auftraggebern gerügt wurde. Zu weiteren Einzelheiten vgl. Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Land. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993, S. 308–316. Bei der Übergabe des Geräts von Schwarz am 17.12.1988 war auch Wolfgang Schnur zugegen, der davon am 19.12.1988 umgehend seinem MfS-Führungsoffizier berichtete: MfS, HA XX/4, Bericht vom 19.12.1988 über eine Begegnung vom 17.12.1988 bei dem »Spiegel«-Korrespondenten Ulrich Schwarz in seiner Berliner Wohnung. BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Teil II, Bd. XIII, Bl. 171–172. Eine Woche später berichtete »Dr. Schirmer« alias Wolfgang Schnur ausführlich über den Wanzenfund und wer daran wie beteiligt war und was Eppelmann nun vorhat: MfS, HA XX/4, Treffbericht vom 30.12.1988 (über Treffen am 28. und 29.12.1988 zwischen Schnur und Oberst Wiegand) und: MfS, HA XX/4, Bericht vom 29.12.1988 über einen Vorgang eines Gesprächs vom 28.12.1988 in der Wohnung von Pfarrer Rainer Eppelmann gegen 21.00 Uhr. Ebenda, Bl. 180–184. Das Auffinden der drei Abhörwanzen bedeutete für die Stasi einen herben Rückschlag in der Bearbeitung Eppelmanns. Im April 1989 hielten Offiziere fest, dass seit 1983 3 Stasi-Mitarbeiter ständig im Schichtbetrieb Eppelmann abgehört haben, außerdem war ein Mitarbeiter mit der »analytischen Aufbereitung von Informationen« beschäftigt und schließlich hätten sich 4 bis 6 IM-führende StasiMitarbeiter ständig mit Eppelmann beschäftigt. Durch die Entdeckung der Wanzen sei dem MfS die wichtigste Quelle abhandengekommen. Außerdem habe Eppelmann einige Personen im Verdacht, als IM für das MfS zu arbeiten. Da diese Verdächtigungen zuträfen, müssten sie wohl aus dem Umfeld Eppelmanns abgezogen werden. Ein Neueinbau von Wanzen käme überdies gegenwärtig nicht in Betracht (MfS, BV Berlin, Abt. XX, Sachstandsbericht zum OV »Blues«, Pfarrer Rainer Eppelmann. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 4, Bl. 178–188). In den Dokumenten finden sich zudem detaillierte Angaben darüber, wie das MfS die Wanzen bei Eppelmann 1983 genau eingebaut hatte (BStU, MfS, HA XX/4 207; ergänzend Andreas Schmidt: Hauptabteilung III: Funkaufklärung und Funkabwehr. Hg. BStU (MfS-Handbuch). Berlin 2010, S. 150). Als Abhörstation diente dem MfS seit 1983 eine nicht bewohnte Wohnung (IMK/KO »Gramkow«) in der Dolziger Str. 14 (4. Etage rechts), die legendiert vom MfS angemietet worden war und sich an der Ecke zur Samariterstr. befand. Zwischen dieser und dem Gemeindehaus/Wohnung von Eppelmann stand nur noch ein weiteres Wohnhaus. IMK/KO »Gramkow« wurde nach den Wanzenfunden aufgelöst (BStU, MfS, BV Berlin, AIM 3903/89). 5 DDR. Wanze im Beichtzimmer, in: Der Spiegel Nr. 1 vom 2.1.1989, S. 16–17. 6 Die Ev. Kirche hatte Anzeige erstattet. Den Fall bearbeitete Staatsanwalt Ludwig Gläßner, der in Ost-Berlin in den 1980er Jahren in enger Kooperation mit dem MfS einen Großteil der wichtigsten politischen Prozesse vorbereitete und durchführte, u. a. hatte er die Verhaftung Eppelmanns im Februar 1982 ebenso veranlasst wie die strafprozessualen Maßnahmen gegen die UB im November 1987 u.v. a. Am 14.2.1989 ist Manfred Stolpe mitgeteilt worden, dass keine Voraussetzungen zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vorlägen. Eppelmann habe durch den »unsachgemäßen Ausbau« der Wanzen alle Spuren verwischt und außerdem habe er eine Medienkampagne entfachen
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Dokument 111 vom 7. Januar 1989
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Mittwoch 7 statt. Er sagte nur, dass er mit Rainer E[ppelmann] über die Veröffentlichung reden will. Rainer E[ppelmann] ist der Meinung, dass die interessierende Frage wohl besonders die ist, wie das Foto in den »Spiegel« gekommen sein kann. Ralf Hirsch ist der Meinung, dass »die« sich lieber darum kümmern sollten, den zu finden, der das Ding eingebaut hat. Wenn so eine Schweinerei nicht passiert, muss man auch nichts veröffentlichen. Rainer E[ppelmann] bemerkt, dass das ein gutes Argument ist und lacht dazu. Ralf Hirsch setzt fort, dass »die« sich erst einmal darum kümmern sollten, dass sie das klären. Einen Schritt nach dem anderen. Erst einmal klären, wer das Ding eingebaut hat und dann kann man über die Veröffentlichung reden. Rainer E[ppelmann] bringt zum Ausdruck, dass das wahrscheinlich nicht so wichtig ist. Wichtiger ist die Veröffentlichung. Danach fragt Rainer E[ppelmann], wie viele »Wanzen« in der Wohnung von Ralf Hirsch sind. Das weiß Ralf Hirsch nicht. Er meint, dass sie das laufen lassen. Rainer E[ppelmann] fragt, ob Ralf Hirsch ihm sagen kann, was bei ihm so gelaufen ist, weil seine Tochter Wiebke das Foto von Ralf Hirsch in der »Berliner Abendschau« gesehen hat. Ralf Hirsch bestätigt das und weist darauf hin, dass »unsere Klage« beim Verwaltungsgericht in Köln eingereicht ist und das hat natürlich einen Wirbel verursacht. Ralf Hirsch meint, dass das Schlagzeilen sind. Erstmals verklagen zwei DDR-Bürger die Bundesregierung und dies hat ein bisschen für Aufregung gesorgt. 8 Ralf Hirsch erkundigt sich, ob Rainer E[ppelmann] weiß, ob »unser Freund« (Ulrich Schwarz) im Land ist, weil Ralf Hirsch ihn unbedingt anrufen muss. Diesen braucht Ralf Hirsch dringend. Rainer E[ppelmann] verneint und weist darauf hin, dass sich der Freund im Land von Ralf Hirsch befindet. Rainer E[ppelmann] fragt, ob Ralf Hirsch ihm bei kundschafterlichen Ermittlungen behilflich sein kann, was dieser bejaht. Ralf Hirsch soll sich Schreibzeug holen. Ralf Hirsch soll versuchen, an die Firma »Siemens und
wollen, um das »gute« Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu beeinträchtigen (MfS, BV Berlin, Abt. XX, Sachstandsbericht zum OV »Blues«, Pfarrer Rainer Eppelmann. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 4, Bl. 183). 7 11.1.1989. 8 Ralf Hirsch u. a. ehemalige DDR-Bürger durften auch die Transitwege von und nach WestBerlin nicht benutzen. Dagegen hatten Hirsch und Karl Bohley (geb. 1942, ist Anfang 1977 wegen »Staatsverleumdung« verurteilt worden und wurde nach einem halben Jahr in die Bundesrepublik abgeschoben) erfolglos vor dem Verwaltungsgericht Köln zu klagen versucht (u. a.: Kein Transit, in: taz vom 19.9.1988; RIAS-Interview mit Ralf Hirsch am 16.5.1988 (Abschrift). BStU, MfS, HA XX/9 793, Bl. 326–327). Sie wollten erreichen, dass die Bundesregierung ihr Transitrecht auf der Grundlage deutsch-deutscher Vereinbarungen durchsetzt. In dem Transitabkommen (1971/72) war zudem vereinbart worden, dass Zurückweisungen an der Grenze von der DDR begründet werden müssten. Dies wollten sie ebenfalls durchsetzen.
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Dokument 111 vom 19. September 1988
Halske« heranzukommen. Ralf Hirsch soll sich notieren: Ein Kondensator 0,47 Mikrofarad, 630 Volt, SE 37231. 9 Ralf Hirsch soll fragen, ab wann, in welchem Zeitraum und bis wann das in dieser Art hergestellt wurde. Rainer E[ppelmann] wollte Ralf Hirsch noch die andere Aufschrift übermitteln, aber diese kann er nicht richtig erkennen. Rainer E[ppelmann] interessiert die Frage, ab wann es genau in dieser Art hergestellt wurde. Nach seinen bisherigen Informationen wird das eben nur in einer bestimmten Zeit, meistens bloß zwei oder drei Jahre, in einer bestimmten Betriebsanordnung hergestellt. Rainer E[ppelmann] vermutet, dass man bei Siemens anhand der Nummer SE 37231 herausbekommen kann, ab wann und bis wann das hergestellt worden ist. Ab wann ist für Rainer E[ppelmann] die spannendste Frage. Ralf Hirsch gibt Rainer E[ppelmann] zu verstehen, dass er sich gleich am Montag ans Telefon setzen wird. Rainer E[ppelmann] interessiert sich dafür, ab wann es das gibt und ab wann es hier frühestens eingebaut werden konnte. Rainer E[ppelmann] bringt zum Ausdruck, dass es ihn reizen würde, den ermittlungsführenden Organen dabei behilflich zu sein, dass man herausbekommt, ab wann das hier frühestens eingebaut worden sein kann. Rainer E[ppelmann] vermutet durch die Art, wie es eingebaut gewesen ist, dass es nicht zu der Zeit eingebaut worden ist, als sie dabei waren, hier einzuziehen, sondern Rainer E[ppelmann] geht davon aus, dass sie hier schon gewohnt haben, als es eingebaut wurde. Ralf Hirsch sichert zu, dass er es am Montag erledigen wird. Er fragt, ob Rainer E[ppelmann] das Ding zurückgegeben hat. Rainer E[ppelmann] bejaht dies und erklärt, dass er das gegen ein Übergabeprotokoll gemacht hat. Rainer E[ppelmann] hat aber auch zum Ausdruck gebracht, dass er diese Anlage gern wiederhaben will. Ralf Hirsch fragt, ob Rainer E[ppelmann] der Meinung ist, dass er das wiederbekommt. Rainer E[ppelmann] weiß es nicht. Er meint, dass das offen sein wird. Dies wird von dem Lauf der Ermittlungen abhängen. Wenn man den Eigentümer herauskriegt, dann soll man das dem Eigentümer schon zurückgeben. Rainer E[ppelmann] bemerkt, dass er schon dafür ist. Was einem gehört, das soll man auch behalten. Es gibt ja auch ein Schutz des Eigentums. Wenn sich aber kein Eigentümer findet, so ist er (Rainer E[ppelmann]) der glückliche Finder. Dem stimmt Ralf Hirsch zu. Nicht, dass »die« das bei dem nächsten wieder benutzen. Rainer E[ppelmann] fragt, wer das schon benutzen soll. Ralf Hirsch bemerkt lakonisch, dass ja keiner ein Interesse daran hat. Ralf Hirsch ist der Ansicht, dass das noch spannend wird. Er bringt zum Ausdruck, dass die Kirchenleitung erst einmal alle Pfarrer und Gemeinden informiert hat. Rainer E[ppelmann] bejaht das. Der Propst Doktor [Hans-Otto] Furian hat einen Brief geschrieben. Wenn Rainer E[ppelmann] den Kopf des Briefes richtig gelesen hat, dann ist der Brief an sämtliche Gemeinden und Mitarbeiter 9
Es handelt sich um Angaben zu der aufgefundenen Abhörtechnik.
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Dokument 111 vom 7. Januar 1989
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im Verkündigungs- und Verwaltungsdienst in unserer Landeskirche gegangen und aus diesem Grund wird dies noch Folgen haben. 10 Rainer E[ppelmann] weiß bloß, dass sie im Pfarrkonvent am letzten Mittwoch darüber geredet haben. Und der Pfarrkonvent Friedrichshain wird dem Konsistorium die Erwartung ausdrücken, dass sie ihre sämtlichen Amtsräume kontrolliert haben wollen, damit auszuschließen ist, dass seelsorgerische Gespräche abgehört werden. Ralf Hirsch bemerkt, dass das ein Riesenaufwand ist. Rainer E[ppelmann] weist darauf hin, dass das schon von den Pfarrern des Kirchenkreises gesagt worden ist. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Ermittlungen nicht mit einem Erfolg abschließen können. Dann wird sich der Pfarrkonvent mit diesem Ergebnis nicht zufrieden geben. Rainer E[ppelmann] bemerkt, dass man erst einmal sehen muss, wie das weitergeht. Rainer E[ppelmann] muss deutlich sagen, dass das erhebliche Betroffenheit hervorgerufen hat. Ralf Hirsch erklärt, dass er in Westberlin auch schlimme Reaktionen gehört hat, dass man sich das einmal vorstellen muss, wenn man zur Beichte geht. Rainer E[ppelmann] meint, dass es das eben ist. Wenn sein Freund Ulf Fink zu ihm kommt und er mit ihm über Grundzüge seiner Politik redet, dann mag das möglicherweise für irgendwelche Leute wahnsinnig interessant sein, sich das anzuhören und das mitzuschneiden. Rainer E[ppelmann] findet aber auch, dass das noch ein Eingriff in seine Intimsphäre ist, womit er aber leben könnte. Sich aber vorzustellen, dass Menschen zu ihm kommen, die natürlich davon ausgehen, dass das, was sie ihm sagen, zwischen ihnen und ihm bleibt. Rainer E[ppelmann] muss sich nun vorstellen, dass es jetzt Kassetten gibt, die sich viele Leute anhören können, [das] ist für ihn ein unerträglicher Zustand. Rainer E[ppelmann] kann doch nicht jedem, der zu ihm ins Zimmer kommt sagen, dass er ab sofort jedes Wort auf die Goldwaage legen muss, weil mitgeschnitten werden könnte. Ralf Hirsch ist gespannt, wie »die« sich da herausringen wollen. Rainer E[ppelmann] kommt auf XXX 11 zu sprechen. XXX hat sich dahingehend geäußert, dass eigentlich alles klar ist. Diese Abhöranlage ist von XXX 12 gelegt worden. Ralf Hirsch meint lakonisch ja und dann denkt man an die westlichen Geheimdienste. Rainer E[ppelmann] legt in einem Unterton dar, 10 Vgl. Ev. Kirche Berlin-Brandenburg, Konsistorium, Prof. Dr. Furian: Mitteilung über eine Abhöranlage bei Pfarrer Rainer Eppelmann, Ost-Berlin, 3.1.1989, abgedruckt in: epd-Dokumentation vom 30.1.1989, Nr. 6/89, S. 25. Der Brief war gerichtet an die Gemeindekirchenräte und die Mitarbeiter im Verkündigungs- und Verwaltungsdienst. Furian berichtet, dass Eppelmann am 19.12.1988 das Konsistorium von dem Wanzenfund unterrichtete. Am 20.12.1988 wurde Strafanzeige gegen Unbekannt bei der Generalstaatsanwaltschaft erstattet. Eine Woche später fand die erste Vernehmung des Betroffenen statt. 11 Eine ihm nahestehende Person aus Ost-Berlin. 12 Ein bundesdeutscher Journalist.
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Dokument 111 vom 19. September 1988
dass das mit XXX auffällig ist. Jetzt ist er in XXX und scheint sich offensichtlich rechtzeitig abgesetzt zu haben, nachdem dieser die Sorge bekam, dass das auffliegen könnte. 13 Rainer E[ppelmann] will dann wissen, wie Ralf Hirsch das Wochenende verbringen wird. Ralf Hirsch legt dar, dass er mit der Familie XXX zusammen sein wird. Ralf Hirsch soll alle grüßen. Ralf Hirsch bemerkt, dass die abends ein Essen geben. Vorher will Ralf Hirsch aber noch seinen Schreibtisch aufräumen. In diesem Zusammenhang weist Ralf Hirsch darauf hin, dass in der nächsten Woche auch ein Buch erscheint und deshalb ist bei ihm der Schreibtisch so voll. 14 Reiner Dietrich stellt sich mit Ministerium für Staatssicherheit Mielke vor und teilt nach einer Frage mit, dass er sich in der abgehörten Wohnung der Evangelischen Kirche aufhält. 15 Ralf Hirsch meint, dass es das Richtige für Reiner Dietrich ist. Ralf Hirsch erklärt, dass es ihm stressig geht, weil er viel zu tun hatte. Reiner Dietrich weist darauf hin, dass Ralf Hirsch an einem Morgen ein Interview im RIAS 2 gegeben hat, was dieser bejaht. Im RIAS TV ebenfalls, was aber Reiner Dietrich nicht gesehen hat. Auf eine Frage teilt Reiner Dietrich mit, dass das Interview gut war. 16 Ralf Hirsch erwähnt, dass er auch noch mit der Transitsache viel zu tun hatte. 17 Reiner Dietrich legt scherzhaft dar, dass Rainer E[ppelmann] nun einen Pflegevertrag mit dem Ministerium [für Staatssicherheit] hat. Rainer E[ppelmann] wird die »Dinger« pflegen und sauber halten. Dabei meint Reiner Dietrich, dass sie jedoch nicht wissen, ob es vom Ministerium [für Staatssicherheit] ist. Dies können sie nicht so sagen, aber zumindest kann ja »das« saubergehalten werden. Ralf Hirsch meint, dass sie sehen werden. Er gibt Reiner Dietrich zu verstehen, dass die Kirchenleitung sich dafür auch eingesetzt hat und die Gemeinden informierte. 18 Das hat Ralf Hirsch in der »Berliner Abendschau« gehört. Reiner Dietrich bringt zum Ausdruck, dass das ja auch sein muss. Lakonisch setzt er fort, dass er als Christ wissen muss, wenn er zu seinem Pfarrer geht, was er ihm sagen kann und was nicht. Nun kann er ihm nicht mehr alles erzählen. Ralf Hirsch erklärt, dass das hier bei vielen für Empörung gesorgt hat. Auf eine Frage teilt Ralf Hirsch mit, dass er noch seinen Schlafanzug anhat, weil er erst um 5.00 Uhr ins Bett gegangen ist. Ralf 13 Es geht ironisch um den bundesdeutschen Journalisten. 14 Es handelte sich um: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989. 15 Dieser Witz von Dietrich war, was noch niemand ahnte, keiner, da er IM des MfS war. 16 In den Interviews bei RIAS 2 oder RIAS-TV am 5.1.1989 ging es um die Zurückweisungen an der Grenze und Ralf Hirschs Klage vor dem Kölner Verwaltungsgericht. Siehe Anm. 8. 17 Siehe Anm. 8. 18 Siehe Anm. 10.
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Hirsch fragt, ob er in dieser Woche noch etwas von Reiner Dietrich hört, was dieser bejaht und nochmals zusichert. Ralf Hirsch meint, dass er sich dann bald bemühen muss. Reiner Dietrich gibt Ralf Hirsch zu verstehen, dass dieser solange warten soll, bis er sich bei Ralf Hirsch gemeldet hat. Reiner Dietrich bemerkt, dass dann noch etwas dazu steht. Ralf Hirsch weist darauf hin, dass das jetzt ja aktuell wird. Reiner Dietrich erklärt erneut, dass Ralf Hirsch Anfang der Woche etwas von ihm hören wird. Ralf Hirsch wirft Reiner Dietrich vor, dass dieser schon vor fünf Wochen versprochen hat, einmal zu schreiben. Reiner Dietrich bittet Ralf Hirsch, dass er einmal bei dem Lutz (Rathenow?) anrufen soll. Ralf Hirsch soll dann gleich einen Gruß von Rainer E[ppelmann] übermitteln. Reiner Dietrich meint, dass die Grußübermittlung wieder einmal über den Westen läuft. Ralf Hirsch meint scherzhaft, dass sie sich dann auch nicht wundern sollen, wenn man auf sie aufmerksam wird. Anschließend legt Reiner Dietrich dar, dass das mit der Reise von XXX nichts wird, weil es die Tante aus der ersten Ehe von der Oma ist. Nun soll XXX den Beweis erbringen, dass das ihre Tante ist. Ralf Hirsch fragt, was das für ein Quatsch sein soll. Er würde gleich eine Beschwerde schreiben. Reiner Dietrich bemerkt, dass XXX dazu keine Nerven hat. Reiner Dietrich bringt zum Ausdruck, dass Polen offen wäre, wenn man dies mit ihm machen würde. Reiner Dietrich würde dann die Worte des Staatsratsvorsitzenden wörtlich nehmen. Der hat gesagt, dass die Grenze zur BRD genauso werden soll, wie die Grenze zu Polen. Dann würde dieser die Frage stellen, wie das einzuordnen ist. 19 Ralf Hirsch erklärt, dass er einen Tag wieder einmal Karl-Eduard von Schnitzler gesehen hat. 20 Reiner Dietrich ist darüber erstaunt, dass Ralf Hirsch sich das ansieht. Reiner Dietrich glaubt, dass die Einschaltquote, die KarlEduard von Schnitzler hat, nur durch Leute von drüben kommt, weil in der DDR das keiner mehr sieht. Ralf Hirsch führt über Karl-Eduard von Schnitz19 Am 10.9.1987 hatte Erich Honecker in seiner Geburtsstadt Neunkirchen (Saarland) während seines Arbeitsbesuches abweichend vom Redekonzept und zur allgemeinen Überraschung gesagt: »Dass unter diesen Bedingungen die Grenzen nicht so sind, wie sie es sein sollten, ist nur allzu verständlich. Aber ich glaube, wenn wir gemeinsam hinwirken entsprechend dem Kommuniqué, (…) dann wird auch der Tag kommen, an dem Grenzen uns nicht trennen, sondern Grenzen uns vereinen, so wie uns die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen vereint.« Wiedersehen mit alten Bekannten, Freunden und Kampfgefährten. Vom abendlichen Zusammentreffen im Neunkirchner Bürgerhaus, in: ND vom 11.9.1987, S. 5. In allen bundesdeutschen Zeitungen und Kommentaren ist diese Äußerung aufgegriffen worden. Generell zu diesem Besuch siehe die zeitgenössische Einschätzung von Karl Wilhelm Fricke: Der Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik Deutschland, in: Europa-Archiv, Folge 23/1987, S. 683–690. 20 Jeden Montagabend vom 21.3.1980 bis 30.10.1989 (1519 Folgen) strahlte das DDRFernsehen die Sendung »Der schwarze Kanal« von Karl-Eduard von Schnitzler (1918–2001) aus, in dem er anhand von Ausschnitten des bundesdeutschen Fernsehens gegen die Bundesrepublik hetzte und zugleich die DDR verherrlichte. Die Sendungen sind online recherchierbar: sk.dra.de.
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ler aus, dass das der letzte Kalte Krieger ist, der herumläuft. Dem stimmt Reiner Dietrich zu. […] 21 10.30 Uhr
21 Es geht zunächst um eine Beerdigung und abschließend spricht Ralf Hirsch noch mit Thomas Welz.
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Dokument 112 Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Manfred Stolpe 1 12. Januar 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Kurt] Dohmeyer Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7191, Bl. 98–99
Rainer Eppelmann setzt sich mit dem Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe in Verbindung und teilt mit, gerade mit dem Bruder Hans-Peter Schneider 2 »mit fliegenden Fahnen« aus dem Rathaus gekommen zu sein. Er (Eppelmann) hatte vorher kurzfristig eine Einladung bekommen und es ging um »unsere Erklärung«, die Rainer E[ppelmann] eingesteckt haben sollte. Gemeint, so Rainer E[ppelmann], ist die Erklärung in Sachen »Menschenrechte« anläßlich des Tages der Menschenrechte. Um dieses Gespräch hatte Herr XXX gebeten. 3 Rainer E[ppelmann] nahm zu diesem Gespräch Bruder Schneider mit, weil Frau [Ingrid] Laudien 4 gegenwärtig zur Kur ist. Herr XXX hielt dann einen ausgearbeiteten Vortrag, welchen er offenbar selbst ausgearbeitet hatte. Dieser Vortrag, so Rainer E[ppelmann] weiter, war sehr schlimm, denn er enthielt die massive Drohung mit dem Paragrafen 220 StGB. 5 Deshalb konnte Rainer 1 Dieses Gespräch trägt den Vermerk von der Abt. 26 »Samaritergemeinde«, was darauf hindeutet, dass dieses Gespräch von einem kirchlichen Diensttelefon aus geführt worden ist. 2 Hans-Peter Schneider (1941–2009), Theologe, seit den 1970er Jahren Pfarrer in der AndreasMarkus-Gemeinde in Ost-Berlin, engagiert in der Friedensbewegung sowie für die »KvU« und die Arche; nach 1989 u. a. Pressesprecher von »Bündnis 90« und Pfarrer im brandenburgischen Dobbrikow. 3 Ein Mitarbeiter der Abt. Inneres des Rates des Stadtbezirks Friedrichshain. Rainer Eppelmann hatte am 8.12.1988 gemeinsam mit 13 weiteren Mitstreitern und kirchlichen Mitarbeitern zum 40. Jahrestag der UNO-Menschenrechtserklärung eine Erklärung herausgegeben und sie der Volkskammer u. a. zugesandt. Darin forderten die Unterzeichner die Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR sowie Rechtssicherheit und eine Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit (BStU, MfS, HA XX/9 771, Bl. 445–446). Die Konferenz der Ev. Kirchenleitungen hatte am 3.12.1988 ebenfalls ein »Votum … zum 40. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« herausgegeben, das aber deutlich hinter der klaren Kritik in der von Eppelmann u. a. herausgegebenen Erklärung zurückblieb (MfS, ZAIG-Information über ein von der KKL beschlossenes Votum, Nr. 533/88, o. D. BStU, MfS, HA XX/AKG 5619, Bl. 47–51). Zu dem hier erwähnten Gespräch siehe Rat des Stadtbezirks Berlin-Friedrichshain, Stellvertreter für Inneres, Niederschrift über ein Gespräch mit Pfarrer Eppelmann am 12.1.1989, 12.30 Uhr. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 8, Bl. 10–12. Das »Gespräch« dauerte etwa 30 Minuten. 4 Ingrid Laudien (1934–2009), Theologin, war bis 1994 Superintendentin des Kirchenkreises Friedrichshain in Berlin und von 1994 bis 1996 als Nachfolgerin von Günter Krusche amtierende Generalsuperintendentin des Sprengels Berlin, ihr Nachfolger wurde Martin-Michael Passauer. 5 Der § 220 StGB der DDR betraf »Staatsverleumdung«, die mit bis zu 3 Jahren Gefängnis geahndet werden konnte.
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Dokument 112 vom 19. September 1988
E[ppelmann] mit Herrn XXX kein Gespräch führen, u. a. auch, weil dieser Vortrag »beleidigende und unannehm[bar]-belehrende Aussagen« enthielt. Rainer E[ppelmann] brachte nur die Hoffnung zum Ausdruck, dass es irgendwann ein Gespräch in einem besseren Rahmen gibt und dann nicht mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gedroht wird. Ansonsten, so Rainer E[ppelmann], und das dürfte seiner Meinung nach Manfred Stolpe besonders interessieren, wurde er (Eppelmann) mit ihm (Stolpe) »in eine Kiste gesperrt«, was ganz besonders weh tut, weil Manfred Stolpe »ein ganz schlimmer Mensch sei«. So stellte Herr XXX Rainer E[ppelmann] die Frage, ob er die gleichen Methoden wie der Herr Stolpe anwenden will und verwies dabei auf die Aussagen des »Neuen Deutschlands«. 6 Rainer E[ppelmann] vermutet aber, dass 6 Am 10.1.1989 hatte »Die Welt« ein Interview mit Manfred Stolpe veröffentlicht (Ein Weg, der zu einem guten Ziel führen kann, in: Die Welt vom 10.1.1989). Er forderte zum wiederholten Mal, dass die Präambel im Grundgesetz verändert werden müsste. Eine Wiedervereinigung komme in absehbarer Zeit nicht in Betracht und eine darauf gerichtete Politik, wie sie das Grundgesetz vorsehe, behindere deutsch-deutsche Annäherungen. Von Wiedervereinigung zu sprechen sei »politisch und historisch falsch, weckt Emotionen und verwirrt die Menschen«. Dem Springer-Verlag schlug er zudem vor, die Anführungszeichen bei der Nennung der »DDR« in ihren Blättern künftig zu unterlassen (den Plan gab es bereits und die Umsetzung erfolgte am 2.8.1989; Bild-Zeitung vom 2.8.1989). Die SED-Führung veröffentlichte einen Tag darauf in fast allen DDR-Tageszeitungen die Glosse: »Herr Stolpe und der Idealfall«. Der Artikel stellte fest, die Gottesdienste in Kirchen würden nur mäßig besucht. Das scheine aber Stolpe nicht zu interessieren, stattdessen betreibe er Politik und wolle der DDR »etwas Schlechtes« anhängen. »Herrn Stolpe sollte schon allein aus der Zeit seiner FDJErfahrung bis zum heutigen Tage nicht entgangen sein, dass in der DDR volle Religionsfreiheit herrscht. Dies zu übersehen und sich stattdessen mit staatlichen Fragen zu beschäftigen, ist selbstverständlich kein Dienst an der freien Religionsausübung. Offensichtlich muss nicht die DDR-Führung in Bezug auf die Europapolitik einen Lernprozess durchmachen, sondern Herr Stolpe in Fragen der freien Religionsausübung.« (ND vom 11.1.1989) In den Kirchenleitungen ist das als Generalangriff gewertet worden. Westkorrespondent Gerhard Rein kommentierte u. a.: »Man attackiert einen Mann, der jede Gelegenheit dazu benutzt, die DDR gut darzustellen, meistens besser als sie ist.« (Kommentar im SFB vom 11.1.1989, in: epd-Dokumentation 6/1989, S. 27.) Stolpe lehnte es ab, wie er Staatssekretär für Kirchenfragen Löffler sagte, diesen »ND«-Kommentar seinerseits trotz unzähliger Anfragen zu kommentieren. Löffler wies Stolpe mündlich darauf hin, diesen Kommentar ernst zu nehmen (Information über ein Gespräch des Gen. Löffler mit Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, 20.1.1989. BArch DY 30/9049, Bl., 186–187). Dieser Angriff deutete aber nicht nur innenpolitische Verhärtungen an, er bereitete auch etwas anderes vor. Denn wenige Tage später verkündeten alle DDR-Zeitungen in großer Aufmachung, dass sich ein Vorbereitungsausschuss zur Gründung eines »Freidenker-Verbandes« konstituiert habe. Dieser setze sich zum Ziel, persönliche und familiäre Feiertage wie auch Beerdigungen weltlich zu begleiten und würdig zu begehen. Er stelle »Kontakttelefone« (!) bereit und biete Diskussionsangebote zu allen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Fragen an. Im Juni 1989 ist er offiziell gegründet worden. Die Bereitschaft zur Mitarbeit blieb gering und umfasste nur wenige Tausend Menschen. Darunter befand sich eine Reihe von Personen, die zwar Materialien des Verbandes haben wollten, aber gar nicht an eine Mitarbeit dachten. Das MfS befürchtete von Anfang an eine Unterwanderung durch »feindlich-negative Kräfte«. Der Freidenker-Verband war der letzte Versuch der SED, offiziell in die Räume vorzustoßen, die von Kirchen und Opposition besetzt waren. Das SED-Politbüro hatte am 6.12.1988 mit dem Beschluss zur Verbandsgründung auf die Ereignisse von 1987/88 reagiert. Das MfS war von Anfang an einbezogen. In der Zentrale in OstBerlin bezog es einen eigenen Arbeitsraum. Der als Vorsitzende vorgesehene Helmut Klein (1930– 2004, langjähriger Rektor der HUB und in der Zusammenarbeit mit der Stasi erfahren, vgl. Ilko-
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Dokument 112 vom 12. Januar 1989
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Bruder Schneider alles intensiv mitgeschrieben hat, sodass man davon ausgehen kann, es liegt ein genaues Gesprächsprotokoll vor. Manfred Stolpe bedankt sich für die Vorankündigung, die für ihn ganz wichtig ist, und er vergewissert sich, ob der Anlass für dieses Gespräch diese »berühmte Erklärung« ist. Rainer E[ppelmann] bestätigt das mit dem Hinweis, dass das Original dieses Briefes an die Volkskammer der DDR geschickt worden ist. 7 Allerdings hatte Herr XXX dieses Original vor sich liegen. Deshalb fragte Rainer E[ppelmann] zum Schluss, ob er davon ausgehen kann, dass das (Gespräch mit XXX) die einzige und letzte Antwort der Volkskammer der DDR sei, weil er (XXX) jetzt das Original besitzt. Die Antwort von Herrn XXX lautete, er (Eppelmann) werde von der Volkskammer der DDR keine zusätzliche oder andere Antwort bekommen. 8 Auf eine entsprechende Frage erwidert Rainer E[ppelmann], dass dieser Vortrag handschriftlich ausgearbeitet war und er vermutet, es handelte sich um Herrn XXX Handschrift. 9 Ob jedoch dieses Papier von Herrn XXX selbst ausgearbeitet oder nur verlesen wurde, kann Rainer E[ppelmann] nicht sagen. Wiederholt drohte Herr XXX aber mit dem Paragrafen 220, wegen »vieler vieler Sachen«, seit er (XXX) da ist und auch wegen Sachen vor seiner Amtszeit. Als besonders interessant war aber für Rainer E[ppelmann] die Frage, ob er (Eppelmann) genauso wie Manfred Stolpe handeln will. Manfred Stolpe bedankt sich für die Information und wünscht seinem Gesprächspartner abschießend noch ein frohes Schaffen. 13.11 Uhr
Sascha Kowalczuk: Die Humboldt-Universität zu Berlin und das Ministerium für Staatssicherheit, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden. Bd. 3: Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die Humboldt-Universität zu Berlin 1945–2010. Berlin 2012, S. 437–553, spez. S. 503) wünschte im Januar »ein enges Zusammenwirken mit dem MfS« (MfS, HA XX/4, Bericht über das Gespräch mit dem Vors. VdF am 19.1.1989, 25.1.1989. BStU, MfS, HA XX/4 934, Bl. 42–44). Sein Ansprechpartner war Oberst Joachim Wiegand, der seit 1979 die HA XX/4 im MfS leitete. Diese war für die Bearbeitung der Kirchen zuständig. Die Freidenker erwiesen sich als das, was sie waren: SED-Funktionäre, die sich mit einem Verband tarnen wollten, um als eine Speerspitze im Kampf gegen Kirchen und Opposition zu wirken, aber offiziell eine gesellschaftspolitische Öffnung versprachen. Die innenpolitische Situation war bereits so zugespitzt, dass solche Angebote kaum noch ernsthaft wahr- oder angenommen wurden. Zum Verband siehe IlkoSascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 304–307. 7 Gemeint ist der in Anm. 3 erwähnte Brief zur UNO-Menschenrechtserklärung. 8 So ist es auch vermerkt in: Rat des Stadtbezirks Berlin-Friedrichshain, Stellvertreter für Inneres, Niederschrift über ein Gespräch mit Pfarrer Eppelmann am 12.1.1989, 12.30 Uhr. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 8, Bl. 10–12. 9 Das stimmte, wie aus dem Vermerk hervorgeht (ebenda).
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Dokument 113 Telefonate von Werner Fischer 14. Januar 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 18, Bl. 18–20
XXX meldet sich bei Werner Fischer und informiert, dass es gestern in Leipzig fünf Verhaftungen gegeben hat. 1 Weiterhin gab es drei »Zuführungen«. XXX vermutet, dass die Maßnahmen in Zusammenhang mit der angekündigten unabhängigen Demonstration stehen. Fischer wirft ein, ob die nie auslernen. XXX hat aus Leipzig die Information erhalten, dass die Verhafteten mit der Vorbereitung der Demonstration nichts zu tun haben. Diese Bemerkung findet Fischer sehr wichtig, dass es sich um Leute handelt, die mit der Demonstration nicht zu tun haben. XXX äußert weiter, dass XXX bereits Peter 1 Die Leipziger Oppositionsgruppen begannen 1988 ihren politischen Protest deutlicher als bislang auf die Straßen zu tragen. Aus Anlass des ersten Jahrestages der Berliner Ereignisse vom 17.1.1988 forderte die »Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft«, ein Zusammenschluss von Personen verschiedener Leipziger Oppositionsgruppen, zu einer Gedenkdemonstration aus Anlass der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht auf. In dem Aufruf hieß es: »Lassen Sie uns gemeinsam eintreten für das Recht auf freie Meinungsäußerung, für die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, für die Pressefreiheit und gegen das Verbot der Zeitschrift ›Sputnik‹ und kritischer sowjetischer Filme.« (Der Aufruf ist nachgedruckt in: Tobias Hollitzer, Reinhard Bohse (Hg.): Heute vor 10 Jahren. Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution. Bonn 2000, S. 16.) Die Gruppe druckte nach eigenen Angaben etwa 10 000 Flugblätter mit dem Aufruf zur Demonstration am 15.1.1989. Bis zum 12.1. waren etwa 6 000 bis 7 000 verteilt worden. Vom 12. bis 14.1. nahm die Staatssicherheit 11 Personen fest. Dennoch versammelten sich zur verabredeten Zeit etwa 150 bis 200 Menschen. Fred Kowasch hielt eine kurze Rede und informierte über die 11 Festnahmen. Anschließend zogen sie los, der Gruppe schlossen sich spontan weitere Menschen an, sodass 300 bis 500 schweigend durch die Innenstadt liefen. Die Polizei löste die Demonstration auf und nahm erneut 53 Personen vorläufig fest. Bis zum Abend waren sie wieder frei. Die zuvor Festgenommenen kamen bis zum 19.1. wieder aus der Haft. Honecker veranlasste das selbst. Unmittelbar nach den Festnahmen solidarisierten sich Gruppen in mehreren Städten mit den Verhafteten. Auch die ein Jahr zuvor ausgebürgerten Bürgerrechtler aus Ost-Berlin schrieben eine gemeinsame Erklärung (abgedruckt in: taz vom 18.1.1989). Wirkungsvoll war der Protest von US-Außenminister Shultz und Bundesaußenminister Genscher noch am 15.1.1989 in Wien, wo sie wenige Tage später das KSZENachfolgedokument unterzeichneten. Die »Junge Welt« brachte in ihrer Ausgabe vom 20./21.1.1989 unter der großen Überschrift »So groß ist eine Mücke …« ein Foto des Insekts mit dem Kommentar, einige Personen wollten in Leipzig das Gedenken an Liebknecht und Luxemburg stören, 53 seien zugeführt, belehrt und entlassen worden. Daneben ist ein Elefant ganz klein abgedruckt worden (»… und so klein ein Elefant«) und darunter stehen in winziger Schrift 11 Meldungen über Menschenrechtsverletzungen und Massenelend in der westlichen Welt. Im März antworteten Leipziger Oppositionelle mit einer umfangreichen Dokumentation über die Ereignisse und die Solidarität. Der Titel dieser Samisdat-Schrift lautete: »Die Mücke«. Zu den Ereignissen vgl. auch Die Demonstration für Demokratie und Pressefreiheit – 15. Januar 1989, in: Hollitzer; Bohse (Hg.): Heute vor 10 Jahren, S. 13–59.
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Dokument 113 vom 14. Januar 1989
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[Grimm] informiert hat und dieser wollte Martin Böttger darüber in Kenntnis setzen. Böttger ist zu Hause aber nicht anzutreffen, fügt XXX an. Fischer fügt ein, dass Böttger nach Erfurt gefahren ist. Abschließend nennt XXX die Rufnummer von Pfarrer [Christoph] Wonneberger in Leipzig (0941 61XXX), wo ständig Informationen abgerufen werden können. XXX ist der Ansicht, dass die Informationen über die Verhaftungen verbreitet werden müssten. XXX ist ebenfalls unter der Rufnummer in Leipzig zu erreichen. Fischer bedankt sich für die Information; er wird sich um alles kümmern. 11.14 Uhr Werner Fischer setzt sich mit XXX in Leipzig in Verbindung und informiert sich über den Stand der Dinge. XXX zählt die Namen der Verhafteten und der einen »Zuführung« auf. Fischer wirft ein, dass er von XXX erfahren hat, dass es drei »Zuführungen« waren und nennt [Wolfgang]2 Sarstedt 3 und Uwe Schwabe. XXX stellt richtig, dass die Sache mit S[arstedt] eine »Ente« ist und die »Zuführung« von Schwabe kann noch nicht bestätigt werden. 4 Er erklärt, dass Schwabe und drei weitere Leute sich melden wollten, jedoch noch keine Information angekommen ist. XXX möchte wissen, ob sich die Berliner schon etwas einfallen lassen haben, welches Fischer bestätigt. Abschließend äußert XXX, dass er bereits in Halle, Jena, Weimar, Naumburg und Zwickau Informationen abgesetzt hat. Heiko (vermutlich Lietz) konnte er bisher noch nicht erreichen. 12.10 Uhr Werner Fischer setzt sich mit Ralf Hirsch in WB in Verbindung. Er informiert über die Verhaftungen, die es in Leipzig gegeben hat. Er nennt die Namen und die Arbeitskreise, aus denen die Leute stammen. Es gab bisher eine »Zuführung« und drei Leute sind überfällig. Fischer macht darauf aufmerksam, dass es sich um Leute handelt, die mit der angekündigten unabhängigen Demonstration nichts zu tun haben. Hirsch interessiert, ob sich Antragsteller unter den Verhafteten befinden, welches Fischer verneint. Es gibt eine Antragstellerin und dabei handelt es sich
2 Im Original: »André«. 3 Wolfgang Sarstedt (geb. 1961) engagierte sich in Leipziger Oppositionsgruppen, darunter in der AG Menschenrechte in der DDR. Er hatte seit Mitte der 1980er Jahre aber auch Kontakte zum MfS, für das er mit dem Decknamen »Wolfgang« mündlich über Aktivitäten z. B. der Menschenrechtsgruppe berichtete und dabei auch Kirchen- bzw. Samisdatmaterial übergab. Er entzog sich ab Anfang 1989 der Zusammenarbeit mit der Begründung, kein Vertrauen in die Arbeit des MfS zu besitzen. Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1228/89. 4 Siehe Dok. 115.
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Dokument 113 vom 19. September 1988
um Gesine Oltmanns, 5 die zugeführt wurde. Hirsch wirft ein, dass er gerade von Roland (verm. Jahn) einen Anruf erhalten hat, dass ein anonymer Anruf bei AP eingegangen ist, wo ebenfalls über die Situation in Leipzig berichtet wurde. Fischer meint, dass er mit Leipzig in Verbindung steht und jede Stunde informiert wird. Hirsch wird sich alle anderthalb Stunden bei Fischer melden, was es Neues gibt. Fischer verabschiedet sich mit »Feuer frei!« 12.29 Uhr Werner Fischer spricht mit Ulrike Poppe. Sie bemerkt, dass sie bereits versucht hat, Fischer zu erreichen. Fischer meint, dass sie sich sicherlich gegenseitig über Leipzig informieren wollten, welches bestätigt wird. Fischer macht darauf aufmerksam, dass die Verhafteten mit dem Aufruf zur Demonstration nichts zu tun haben. Der Aufruf kam von Leuten, die sich außerhalb der Kirche bewegen. Sollte Fischer was Neues erfahren, wird er sich wieder melden. 12.33 Uhr Ralf Hirsch meldet sich erneut bei Werner Fischer und möchte wissen, von welchen Personen der Aufruf zur Demonstration ausgegangen ist. Fischer meint, dass er dazu noch nichts Konkretes nennen kann, aber er vermutet, dass es sich um die Gruppe »Demokratische Sozialisten« handelt. Es handelt sich auf jeden Fall um Leute, die außerhalb der Kirche tätig sind. 6 Fischer bemerkt, dass in Berlin keine Maßnahmen geplant sind und er hält davon auch nichts. Hirsch bemerkt, dass das »Grenzfall«-Buch erschienen ist, und er wird Fischer ein Exemplar schicken. 7 Hirsch möchte wissen, ob die Sachen von Guntolf [Herzberg] 8 alle angekommen sind, welches bestätigt wird. 12.38 Uhr […] 9
5 Gesine Oltmanns (geb. 1965) stellte 1988 einen Ausreiseantrag, zog ihn aber im Frühjahr 1989 nach diesen Ereignissen zurück. Vgl. Thomas Mayer: Helden der Friedlichen Revolution. 18 Porträts von Wegbereitern aus Leipzig. Leipzig 2009, S. 51–55. 6 In der »Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft« (siehe Anm. 1) engagierten sich sowohl der Kirche eng verbundene wie ihr eher ferner stehende Personen. 7 Vgl. Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989. 8 Ein MfS-Mitarbeiter fügte handschriftlich auch »Herzberg« ein. 9 Es ist dokumentiert, dass Werner Fischer um 13.18 Uhr versuchte, Rainer Eppelmann telefonisch zu erreichen.
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Dokument 114 Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch 15. Januar 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Kurt] Dohmeyer Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7191, Bl. 112–114
Ralf Hirsch aus Westberlin setzt sich in einem Rückruf 1 mit Rainer Eppelmann in Verbindung. Ralf Hirsch erzählt, dass bei ihm ständig das Telefon klingelt, weil es in der DDR sehr hektisch ist, vor allem in Leipzig. 2 Rainer Eppelmann hat davon durch die »Tagesschau« erfahren. Heute war Rainer Eppelmann bei XXX, von dem er Grüße bestellen soll. Außerdem hat sich Rainer Eppelmann bei XXX die »erleuchtenden Worte von Stephan (Krawczyk) und Freya (Klier) angehört«. 3 Ralf Hirsch erzählt dann, dass das Wochenende sehr anstrengend war, wegen den gestrigen Verhaftungen und den heutigen Ereignissen. Erstaunt fragt Rainer Eppelmann, ob es denn gestern schon Verhaftungen gegeben hat. Ralf Hirsch erklärt, dass gestern elf Personen von der »Arbeitsgruppe Gerechtigkeit«, von der »Aktion Sühnezeichen«, in Leipzig verhaftet wurden. 4 Die Gründe sind noch unbekannt, aber alle haben einen Haftbefehl erhalten und Haussuchungen fanden statt. Es wären alles Leute, die keinen Ausreiseantrag haben, behauptet Ralf Hirsch. 5 Heute war ja auch das »Einjährige«, 6 weshalb viele Interviews stattfanden und die Leute wissen wollten, wie es Ralf Hirsch geht. Ralf Hirsch konnte sagen, dass es ihm gut geht. Rainer Eppelmann erkundigt sich dann, was der Wahlkampf macht. 7 Ralf Hirsch äußert, dass er davon kaum etwas mitbekommt. In diesem Zusammenhang erzählt Ralf Hirsch, dass er wieder einmal eine Sendung von Karl-Eduard von Schnitzler gesehen hat. 8 Er bezeichnet diesen als den »letzten Kalten Krie1 Ein Telefongespräch von West- nach Ost-Berlin kostete nur den Ortstarif, was deutlich kostengünstiger war als in entgegengesetzter Richtung. 2 Siehe Dok. 113, 115, 116, 117, 118, 119 und 121. 3 Siehe Anm. 23. 4 Zur Leipziger Opposition siehe Dok. 113, Anm. 1. 5 Eine Person, Gesine Oltmanns, hatte 1988 einen Ausreiseantrag gestellt, zog ihn aber im Frühjahr 1989 nach diesen Ereignissen zurück. Vgl. Gesine Oltmanns, in: Thomas Mayer: Helden der Friedlichen Revolution. 18 Porträts von Wegbereitern aus Leipzig. Leipzig 2009, S. 51–55. 6 Gemeint sind die Ereignisse nach dem 17.1.1988, in deren Ralf Hirsch und andere die DDR verlassen mussten. 7 Am 29.1.1989 fanden in West-Berlin Wahlen zum Abgeordnetenhaus statt. 8 Jeden Montagabend vom 21.3.1980 bis 30.10.1989 (1 519 Folgen) strahlte das DDRFernsehen die Sendung »Der schwarze Kanal« von Karl-Eduard von Schnitzler (1918–2001) aus, in
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Dokument 114 vom 19. September 1988
ger, der noch rumrennt«. Rainer Eppelmann will wissen, ob auch Karl-Eduard von Schnitzler den Artikel gegen Manfred Stolpe geschrieben hat.9 Ralf Hirsch weiß dies nicht. Es gab keinen Hinweis dazu. Ralf Hirsch informiert weiter, dass sein Buch, mit [Lew] Kopelew10 zusammen, erschienen ist. 11 Ralf Hirsch äußert, dass er dieses Buch hervorragend findet. Bei Rainer Eppelmann haben sich schon einige Leute beschwert, dass sie keine Informationen über dieses Buch haben und nicht wissen, wie sie es bekommen können. Ralf Hirsch behauptet, dass dies ein Insider-Buch ist. Das Buch haben sie erst einmal selbst finanziert. Er wollte nicht zu einem Verlag gehen, um mehr Geld zu bekommen. Bei 900 verkauften Exemplaren haben [sie] keinen Verlust mehr. Ralf Hirsch schätzt ein, dass das Interesse für dieses Buch groß ist. Das Buch kostet 19,80 DM, hat 160 Seiten DIN A 4 und enthält Originalgrafiken. Rainer Eppelmann glaubt, dass der Pfarrer aus Westberlin, mit dem er sich kürzlich unterhielt, ein solches Buch kaufen würde. Ralf Hirsch erzählt dann, dass sie mit ihrer Klage große Wellen verursacht haben.12 Es gab große Artikel und Überschriften wie »Bonn müsste in Ostberlin auf den Busch klopfen« usw.13 Ein Gericht in Köln forderte sie inzwischen auf, von dem Punkt 1 Abstand zu nehmen, denn dies wird nicht als hilfreich angesehen.
der er anhand von Ausschnitten des bundesdeutschen Fernsehens gegen die Bundesrepublik hetzte und zugleich die DDR verherrlichte. Die Sendungen sind online recherchierbar: sk.dra.de. 9 Gemeint ist der Kommentar: Herr Stolpe und der Idealfall, in: ND vom 11.1.1989. Siehe dazu Dok. 112, Anm. 6. Solche Kommentare sind in der SED-Führung endgültig formuliert und dann bestätigt worden. 10 Der russische Schriftsteller und Germanist (1912–1997) zählt zu den bedeutendsten Intellektuellen Europas im 20. Jahrhundert, 1981 wurde er aus der Sowjetunion ausgebürgert und lebte seither in der Bundesrepublik. Neben seinen zahlreichen Büchern und autobiografischen Schriften siehe Elsbeth Zylla (Hg.): Heinrich Böll – Lew Kopelew. Briefwechsel. Göttingen 2011; Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.): Aufrechter Gang. Lev Kopelev und Heinrich Böll. Berlin 2012. 11 Vgl. Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989. 12 Ralf Hirsch u. a. ehemalige DDR-Bürger durften auch die Transitwege von und nach WestBerlin nicht benutzen. Dagegen hatten Hirsch und Karl Bohley (geb. 1942, ist Anfang 1977 wegen »Staatsverleumdung« verurteilt worden und wurde nach einem halben Jahr in die Bundesrepublik abgeschoben) erfolglos vor dem Verwaltungsgericht Köln zu klagen versucht (u. a. Kein Transit, in: taz vom 19.9.1988; RIAS-Interview mit Ralf Hirsch am 16.5.1988 (Abschrift). BStU, MfS, HA XX/9 793, Bl. 326–327). Sie wollten erreichen, dass die Bundesregierung ihr Transitrecht auf der Grundlage deutsch-deutscher Vereinbarungen durchsetzt. In dem Transitabkommen (1971/72) war zudem vereinbart worden, dass Zurückweisungen an der Grenze von der DDR begründet werden müssten. Dies wollten sie ebenfalls durchsetzen. 13 Dieser Beitrag konnte nicht ermittelt werden. Siehe aber z. B. Transit-Klage. Zwei DDRBürger verklagen Bundesregierung. Sie soll Ost-Berlin zu Verhandlungen zwingen, in: taz 5.1.1989; Klage soll Transit ermöglichen, in: Frankfurter Rundschau vom 5.1.1989; Zwei verklagen die BundesRegierung: Wir dürfen nicht über die Transitstrecke, in: Bild-Zeitung vom 5.1.1989.
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Dokument 114 vom 15. Januar 1989
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Ralf Hirsch will aber davon nicht abgehen.14 Er äußert, dass es noch interessant wird und viele Leute schon heiß darauf sind. Rainer Eppelmann freut sich darüber. Rainer Eppelmann erkundigt sich dann, wie es ihrem Freund aus Norddeutschland [Ulrich Schwarz] geht. Ralf Hirsch schätzt ein, dass dies sein Gesprächspartner besser wissen müsste, da er engeren Kontakt zu diesem hat. Ralf Hirsch wird ihn erst am Dienstag sehen. Rainer Eppelmann äußert, dass er ihn auch einige Tage lang nicht sah, da er auf seinen guten Ruf achten muss, nachdem der »Spiegel« gleich die Version einer »Wanze« parat hatte, die man bei ihm gefunden hat. 15 Ironisch meint Rainer Eppelmann, dass es ja auch ein Staubsauger sein könnte. Rainer Eppelmann erzählt weiter, dass er auch massiv bedroht wurde mit dem § 220. 16 Er hatte eine Vorladung im Rathaus. Er verließ während des Gesprächs zusammen mit dem Superintendenten einfach den Raum, als es beleidigend und belehrend wurde. 17 [HansPeter] Schneider 18 bedauerte, dass er keinen Rechtsanwalt mithatte. Es ging um den Brief zum 40. Jahrestag der Menschenrechte. 19 Rainer Eppelmann äußerte, wenn es dem ernst sei, solle er ein Ermittlungsverfahren gegen ihn einleiten. Schneider verlas dort noch seinen Brief, den er an ADN als Reaktion auf die »Stolpe-Beleidigung« geschrieben hatte. Diesen Brief hat Rainer Eppelmann aus Sympathie gleich unterschrieben. 20 14 Die Klageschrift konnte bis zum Erscheinen der Publikation nicht ermittelt werden. Ralf Hirsch konnte uns leider auch kein Exemplar zur Verfügung stellen (Mitteilung am 27.11.2013). 15 Vgl. DDR. Wanze im Beichtzimmer, in: Der Spiegel Nr. 1 vom 2.1.1989, S. 16–17. 16 Gemeint ist § 220 StGB: »Öffentliche Herabwürdigung«, der ein Strafmaß von bis zu 3 Jahren Haft bei einer Verurteilung nach sich ziehen konnte. 17 Rat des Stadtbezirks Berlin-Friedrichshain, Stellvertreter für Inneres, Niederschrift über ein Gespräch mit Pfarrer Eppelmann am 12.1.1989, 12.30 Uhr. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 8, Bl. 10–12. 18 Hans-Peter Schneider (1941–2009), Theologe, seit den 1970er Jahren Pfarrer in der AndreasMarkus-Gemeinde in Ost-Berlin, engagiert in der Friedensbewegung sowie für die »KvU« und die Arche; nach 1989 u. a. Pressesprecher von »Bündnis 90« und Pfarrer im brandenburgischen Dobbrikow. 19 Rainer Eppelmann hatte am 8.12.1988 gemeinsam mit 13 weiteren Mitstreitern und kirchlichen Mitarbeitern zum 40. Jahrestag der UNO-Menschenrechtserklärung eine Erklärung herausgegeben und sie der Volkskammer u. a. zugesandt. Darin forderten die Unterzeichner die Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR sowie Rechtssicherheit und eine Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit (BStU, MfS, HA XX/9 771, Bl. 445–446). Die Konferenz der Ev. Kirchenleitungen hatte am 3.12.1988 ebenfalls ein »Votum … zum 40. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« herausgegeben, das aber deutlich hinter der klaren Kritik in der von Eppelmann u. a. herausgegebenen Erklärung zurückblieb (MfS, ZAIG Information über ein von der KKL beschlossenes Votum, Nr. 533/88, o. D. BStU, MfS, HA XX/AKG 5619, Bl. 47–51). 20 Die KKL verabschiedete auf ihrer 121. Tagung am 13./14.1.1989 folgende »Stellungnahme …. zur ADN-Meldung vom 10.1.1989«: »Die Konferenz hat über die Hintergründe der unter der Überschrift ›Herr Stolpe und der Idealfall‹ veröffentlichten ADN-Meldung vom 10. Januar 1989 gesprochen. Sie ist befremdet über die Art und Weise dieser Meldung. Dies betrifft vor allem Unterstellungen und Andeutungen, die durch Tatsachen nicht gedeckt sind und Konsistorialpräsident Stolpe offensiv diskreditieren sollen. Die Konferenz steht zu der von ihm vertretenen Auffassung, dass
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Dokument 114 vom 19. September 1988
Ralf Hirsch erzählt dann, dass er den Luxemburger Freund vorgestern getroffen hat. 21 Die Gesprächspartner unterhalten sich dann erneut über die Ereignisse in Leipzig. Rainer Eppelmann findet es gut, wenn die Leute ihre Meinung zum Ausdruck bringen, ohne Übersiedlungsersuchende zu sein. Ralf Hirsch behauptet, dass sich unter den Verhafteten keine Ausreiseleute befinden würden. Es ist aber noch nicht sicher, was man diesen Leuten vorwirft. Die Gesprächspartner kommen auch auf die Ereignisse in Prag zu sprechen und bezeichnen die in den Nachrichtensendungen gezeigten Bilder als schrecklich.22 Rainer Eppelmann erkundigt sich dann, was die Qualifizierung seines Gesprächspartners macht. Ralf Hirsch erzählt, dass er morgen beginnt und dann immer montags damit beschäftigt ist. Rainer Eppelmann bittet dann, Ulf Fink zu grüßen. Er soll einmal in die DDR kommen. Ralf Hirsch erkundigt sich dann, wie sein Gesprächspartner den Film über Stephan Krawczyk und Freya Klier fand. Rainer Eppelmann schätzt diesen Film als nichtssagend ein, aber seiner Meinung nach hätte es auch schlimmer kommen können. 23 23.02 Uhr die Kirche von ihrem Auftrag her zu gesellschaftlichen Problemen Stellung nehmen muss. Die Konferenz beauftragt das Sekretariat, über das Staatssekretariat für Kirchenfragen, dem ADN das Befremden über diese Veröffentlichung in der Aktuellen Kamera und in den Tageszeitungen der DDR zum Ausdruck zu bringen.« (Anlage 1 zu: MfS, ZAIG, Information über die 121. Sitzung der KKL vom 13. bis 14.1.1989, 20.1.1989. BStU, MfS, ZAIG 3735, Bl. 10). 21 Gemeint ist Thomas Schwarz, der für Radio Luxemburg arbeitete. 22 Auf dem Prager Wenzelsplatz kam es vom 16. bis 20.1.1989 zu oppositionellen Demonstrationen und dagegen gerichteten Polizeieinsätzen. Zu den Verhaftungen und Verurteilungen siehe Dok. 115. 23 Die ARD strahlte am Abend des 15.1.1989 ab 21.55 Uhr den Film »Ein Jahr nach der Ausbürgerung« von Uwe Heitkamp aus. In einer Filmkritik hieß es: »Stephan Krawczyk, mit dem sich der Beitrag hauptsächlich beschäftigt, scheint seine jetzige Situation eher zu entspannen. Er habe doch die Medien nicht gesucht; der Zustand als Symbolfigur im Osten ›war ein krankhafter‹. Nun könne er endlich Freiheiten nutzen, auf der Bühne stehen und mit Menschen reden. Er strahlt, als er von seinen Reisen erzählt, von Amsterdam bis Portugal mit dem Auto, von einer Segeltour auf dem Atlantik. Krawczyk sieht man in seiner karg eingerichteten Kreuzberger Wohnung, sieht ihn mit seinem Sohn an dieser Seite der Mauer spielen, hört ihn Liedtexte rezitieren und begleitet ihn auf Tournee. Sehr viel distanzierter der Versuch, sich der Theaterregisseurin Freya Klier zu nähern. Zwar wird auch sie an ihren Arbeitsplatz begleitet, auf Spaziergängen gefilmt, aber offenbar will er von ihr eher die politische als die persönliche Befindlichkeit wissen. […] Sie kritisiert die deutsche Linke ob ihrer Blauäugigkeit der DDR gegenüber, beklagt deren Einäugigkeit, wenn es um Regimes wie das rumänische geht, über das sie gerade ein Stück einstudiert. Zu glatt präsentiert der Film die ›politische‹ Freya Klier und den ›privaten‹ Stephan Krawczyk. Gefehlt hat mir die Information über und die Konfrontation mit der Kritik an dem Prominentenpaar. Dass sie sich zu schnell in den Westen abgesetzt hätten, dass sie wegen ihres Bekanntheitsgrades mehr Möglichkeiten gehabt hätten, in der DDR etwas zu verändern, ist ihnen von Teilen der Friedensbewegung oft vorgeworfen worden. Ob diese Kritik berechtigt ist oder nicht, sei dahingestellt – nur gehört hätte man sie gerne dazu. Das Paar weitgehend als sympathische Zeitgenossen, die vor einem Jahr aus dem Osten kamen, zu präsentieren, spart Widersprüche aus und tut ihnen gerade damit Unrecht« (Rita Hermanns: Widerspruch ausgespart, in: taz vom 17.1.1989). Diese Filmkritik ist treffend, lediglich unerwähnt bleibt, dass in dem Film auch die Biografien der beiden sowie die Umstände ihrer Ausbürgerung beleuchtet werden.
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Dokument 115 Telefonat zwischen Werner Fischer und Anna Šabatová und Petr Uhl 16. Januar 1989 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 18, Bl. 54–57
Anna Šabatová meldet sich bei Werner Fischer. 1 Sie will den Text jetzt vorlesen. Sie haben ihn selbst übersetzt. Sie können nicht gut Deutsch. F[ischer] soll aus diesem Grunde den Text dann selbst in ein richtiges Deutsch umsetzen. Petr [Uhl] wird F[ischer] den Text vorlesen. F[ischer] zeichnet es auf Band auf. 2 »Erklärung der polnisch-tschechoslowakischen Solidarität. Die Staatspolizei der DDR hat in den Tagen vom 12. bis 14. Januar 1989 eine breite Aktion durchgeführt. Während dieser Aktion wurden Aktivisten von drei unabhängigen Bürgerinitiativen festgenommen, beschuldigt und in [die] Untersuchungshaft geworfen. Es handelt sich um die Initiativgruppe Leben, [den] Arbeitskreis Gerechtigkeit und [die] Aktion Sühnezeichen. [Zu den Verhafteten gehören:] Gesine Oltmanns,3 Rainer Müller, 4 Jochen Läßig, 5
1 Zur Leipziger Opposition siehe Dok. 113, Anm. 1. 2 Die nachfolgende Erklärung ist mit der schließlich veröffentlichten Variante abgeglichen und entsprechend sichtbar korrigiert worden. Zusätzlich ist die Reihenfolge der Namen entsprechend der publizierten Variante verändert worden. Abgedruckt in: Die Mücke. Dokumentation der Ereignisse in Leipzig, hg. von Mitarbeitern der Arbeitsgruppe Menschenrechte und des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Leipzig März 1989, S. 33–34 (die in den Umweltblättern März 1989, S. 51–52 wiedergegebene Variante weicht nur geringfügig davon ab). 3 Gesine Oltmanns (geb. 1965) tätig als Pflegerin und Hilfskraft, engagiert in Oppositionsgruppen, vgl. Thomas Mayer: Helden der Friedlichen Revolution. 18 Porträts von Wegbereitern aus Leipzig. Leipzig 2009, S. 51–55. 4 Rainer Müller (geb. 1966), Wehrdiensttotalverweigerer, ab 1988 Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit, 1987 bis 1989 Mitglied der Umweltgruppe Borna, Mitglied der IFM, seit 1988 vom MfS im OV »Märtyrer« bearbeitet, mehrfache Inhaftierung, Mitglied des Neuen Forums, vgl. Reinhard Weißhuhn: Rainer Müller, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 329–332. 5 Jochen Läßig (geb. 1961), 1985 vom Theologiestudium aus politischen Gründen vorzeitig exmatrikuliert, in den 1980er Jahren in verschiedenen Oppositionsgruppen aktiv, 1989 Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig, seit 1998 als Rechtsanwalt zugelassen, vgl. Mayer: Helden der Friedlichen Revolution. Leipzig 2009, S. 22–29.
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Dokument 115 vom 19. September 1988
Michael Arnold, 6 Frank Sellentin, 7 André Botz, 8 Uwe Schwabe, Udo Hartmann, 9 Carola Bornschlegel, 10 Constanze Wolf, 11 [Michaela Ziegs] 12. und [Sie] sind zwanzig bis achtundzwanzig Jahre alt und gehören zu den Hunderten und Tausenden der jungen Leute, die in der immer mehr erstarkenden [stärker werdenden] unabhängigen Bewegung wirken, die die Hoffnung des Landes ist. Die [Ihre] Inhaftierung [wird allgemein in Zusammenhang gebracht] ist mit einer öffentlichen Versammlung, die heute Nachmittag zu dem zum 70. Jahrestag der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, [die heute stattfinden soll und zu deren Teilnahme] durch die Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR [aufgerufen hat] vorbereitet wird, in Zusammenhang allgemein gebracht. Diese Initiative will durch die Versammlung vor dem Alten Rathaus und durch einen Schweigemarsch mit Kerzen nach zur Braustraße nicht nur das Andenken der Repräsentanten des Proletariats ehren, sondern auch darauf hinweisen, dass die Grundmenschenrechte[,] als[o] das Recht auf die Rede-, Versammlungs- und Verein[igung]sfreiheit in der DDR bisher nicht gesichert sind. Gleichzeitig wird man auch auf das Verbot auf die [der] sowjetische[n] Zeitschrift ›Sputnik‹ und das Verbot einiger sowjetischer Filme in der DDR hinweisen. 13 Die [Organe der] DDR-Staatsmachtorgane beschlossen, eine 6 Michael Arnold (geb. 1964) studierte Stomatologie, arbeitete seit 1987 in verschiedenen Leipziger Oppositionsgruppen mit, vgl. Mayer: Helden der Friedlichen Revolution, S. 64–70. 7 Frank Sellentin (1966–2013) arbeitete als Zimmermann, Tischler und Hilfspfleger, aktiv in verschiedenen Leipziger Oppositionsgruppen, vom MfS in einem OV verfolgt und mehrfach festgenommen. 8 André Botz (geb. 1963), aktiv in Leipziger Oppositionsgruppen und als Hausmann tätig. 9 Udo Hartmann (geb. 1962), aktiv in der Jungen Gemeinde, in der Leipziger Opposition und ist mehrfach festgenommen worden. 10 Carola Bornschlegel (geb. 1969) engagierte sich in Leipziger Oppositionsgruppen, ist 1989 noch mehrfach zugeführt worden. 11 Constanze Wolf (geb. 1966), Krankenschwester, Pflegerin in einem Altersheim, engagiert in Leipziger Oppositionsgruppen, 1987–1989 Mitherausgeberin der Samisdatzeitschrift »Die zweite Person«. 12 Michaela Ziegs (geb. 1970), Altenpflegerin, seit Ende 1987 in verschiedenen Leipziger Oppositionsgruppen engagiert. 13 Am 19.11.1988 meldete das »Neue Deutschland«, dass die sowjetische Monatszeitschrift »Sputnik« nicht mehr in der DDR vertrieben würde. Die Begründung lautete: »Sie bringt keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, stattdessen verzerrende Beiträge zur Geschichte.« Zugleich ist angewiesen worden, dass 5 sowjetische Filme, die seit 27.10. in den Kinos liefen, abzusetzen seien. Dieses Filmverbot reihte sich ein in eine Reihe von Zensurmaßnahmen gegenüber sowjetischen Presseerzeugnissen in den Monaten zuvor. Das »Sputnik«-Verbot jedoch bedeutete eine neue Dimension in der Abgrenzung der SED gegenüber der Perestroika- und Glasnost-Politik. Im »Sputnik«-Heft 10/1988 waren u. a. kritische Beiträge zur kommunistischen Vergangenheit abgedruckt worden. Stalin wurde auf eine Stufe mit Hitler gestellt. Den deutschen Kommunisten wurden ihre Anteile am Aufstieg Hitlers vorgerechnet. Die SED-Führungsriege sah sich direkt in ihrer Integrität angegriffen. Am 30.9.1988 entschied sie, das Heft 10/1988 nicht auszuliefern. Die SED-Spitze verprellte auf einen Schlag 190 000 Abonnenten und Käufer und wohl noch viel
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Dokument 115 vom 16. Januar 1989
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rasante Aktion zu unternehmen, da [wo]durch die Manifestation unterdrückt sein [werden] soll und gleichzeitig die ganze unabhängige Bewegung in der DDR abgeschwächt sein soll. An [Mit] diesem Schritt, [der] der Unterschrift der DDR-Verfassungsorgane unter der [die Schlussakte von] HelsinkiSchlußakte [und] unter den die Dokumenten des Helsinkin [N]achfolgeprozesses ins Gesicht schlägt, ist die DDR-Führung herangetreten und zwar nur ein paar Tage vor der Unterzeichnung des Ergebnisdokumentes der des Wiener Nachfolge[treffens]konferenz[, der Konferenz] über die Sicherheit und Mitarbeit [Zusammenarbeit in] Europas. Dadurch gedenkt sie zu der noch sorgfältigeren Einhaltung der Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten und zu der noch wirksameren internationalen Kontrolle dieses Gebietes sich zu verpflichten. Wir rufen deshalb die Regierungen der allen 34 Länder a[uf]n, die zusammen mit den Repräsentanten der DDR dieses Dokument[e] unterzeichnen [sollen], dass sie an die DDR-Regierung appellieren, damit sie die elf Inhaftierten auf der Stelle entlässt, ihre [die] Strafver[fahren]folgung einstellt und mit der Kriminalisierung und Aussiedlung der Andersdenkenden aufhört. Wir wenden uns besonders an die Regierungen Ungarns, der Sowjetunion und der Jugoslaw[i]en[s]. Wir bie[t]ten diese Grundinformationen über die Repressionen in der DDR allen Initiativen und Organisationen der unabhängigen Bewegung in Polen, in der Tschechoslowakei [ČSSR], Ungarn und [der] Sowjetunion mit einem A[uf]nruf [bekanntzumachen], dass sie ihre Solidarität aufruft, dass sie ihre Solidarität mit den deutschen Freunden [ausdrücken], s[d]ie sich zusammen mit uns allen für die gemeinsame Sache Menschenrechte und Demokratie in diesem Teil Europas einsetzen. Prag und Wrocław, den 15. Januar 1989. Für polnische und tschechoslowakische Solidarität Mirosław Jasiński, 14 Józef Pinior, 15 Petr Pospíchal 16 und Anna Šabatová.« mehr Leser der Zeitschrift, die überdies – und das machte die Angelegenheit erst so brisant – zumeist dem System nahestanden oder ihm kritisch verbunden waren. 130 000 Abonnenten waren die Ersten, die das Fehlen der Zeitschrift bemerkten. Zehntausende Eingaben an die SED und andere Institutionen folgten innerhalb kürzester Zeit. Das »Sputnik«-Verbot wurde allerorten, zuweilen sogar öffentlich in den Medien, thematisiert und kritisiert. Vgl. dazu ausführlich Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 72–84. 14 Mirosław Jasiński (geb. 1960), Kunsthistoriker, war u. a. Mitbegründer der oppositionellen »Polnisch-tschechoslowakischen Solidarität«, vgl. Słownik dysydentów. Czołowe pstacie ruchów opozychjnych w krajach komunistycznych w latach 1956–1989. Warszawa 2007, Bd. 1, S. 585–587. 15 Józef Pinior (geb. 1955), seit 1980 führend in der Solidarność tätig, mehrfach in Haft. Nach 1989 u. a. von 2004–2009 Mitglied des Europäischen Parlaments. 16 Petr Pospíchal (geb. 1960), Drucker, Journalist, Mitglied der »Charta 77«, der VONS und der Polnisch-Tschechoslowakischen Solidarität; 1978–1979 Haftstrafe wegen oppositioneller Arbeit
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Dokument 115 vom 19. September 1988
Petr [Uhl] machte am Anfang noch eine Einfügung, dass es sich um Leipzig handele. F[ischer] hat alles verstanden. Es ist ein sehr schöner Text. Petr [Uhl] möchte nun noch einige Informationen darüber, was gestern in Leipzig war. F[ischer] informiert, dass lediglich eine Informationsveranstaltung in einer Kirche stattfand. Es waren nicht mehr als 100 Leute. Man hatte versucht, die Leute, die daran teilnehmen wollten, schon vor der Kirche festzunehmen. Es gab etwa 40 Festnahmen. 17 Inzwischen sind etwa vier der Verhafteten entlassen worden. Einer davon ist heute [erneut] verhaftet worden. 18 Petr [Uhl] hat davon gehört, dass es eine riesige Manifestation mit Kerzen war. F[ischer] erklärt, dass bei der Demonstration am Sonntag etwa 800 Leute anwesend waren. Während dieser Demonstration sind etwa 80 Personen verhaftet worden. 19 Sie sind aber zum Teil entlassen worden. Es fehlen dazu aber Informationen, weil sich viele nicht kannten. Petr [Uhl] möchte wissen, was den nicht freigelassenen Personen passieren könnte. Das ist noch nicht bekannt, inwieweit dort schon Haftbefehl erlassen worden ist. Sie unterliegen aber einem anderen Rechtsstand als die zehn Personen, bei denen Hausdurchsuchungen durchgeführt worden sind. Bei den Verhafteten wendet man den Paragraf »Beeinträchtigung der staatlichen Ordnung« an. Es ist der § 214 [StGB]. Die Höchststrafe beträgt fünf Jahre. 20 F[ischer] möchte wissen, was bei Petr [Uhl] heute los war. 21 Es waren mehrere tausend Leute am Wenzelsplatz. Es war durch die Polizei provoziert, weil »unsere Leute« nur Blumen am Wenzel niedergelegt hatten. Sie wurden sofort an diesem Ort festgenommen. Man musste dann eine halbe Stunde auf ein Auto warten, obwohl viele Polizeiautos (11 Monate). Im Mai 1982 während des Pflichtwehrdienstes erneute Verurteilung zu 18 Monaten Haft wegen oppositioneller Tätigkeit in der Armee. Ab 1986 Zusammenarbeit mit der polnischtschechischen Redaktion der BBC. Im Januar 1987 erneute Festnahme, aber wegen nationaler und internationaler Proteste ohne Verurteilung freigelassen (siehe auch Grenzfall 4/1987, S. 7), zählte im November 1989 zu den Mitbegründern des »Bürgerforums« um Václav Havel. Vgl. Alexander von Plato, Tomáš Vilímek, Piotr Filipkowski, Joanna Wawrzyniak: Opposition als Lebensform. Dissidenz in der DDR, ČSSR und in Polen. Berlin 2013, S. 435–438. Nach 1990 u. a. Botschafter in Bulgarien. 17 Es sind kurzzeitige »Zuführungen« gemeint. 18 Wahrscheinlich ist Fred Kowasch gemeint, der aufgrund einer Denunziation verhaftet worden ist. Der Denunziant ging aus eigenem Antrieb zur der Protestveranstaltung, fotografierte dort und übergab die Fotos den »Sicherheitsorganen«, sodass Kowasch identifiziert werden konnte (vgl. Hollitzer; Bohse (Hg.): Heute vor 10 Jahren). 19 Vgl. Dok. 113, Anm. 1. Der Fürbittgottesdienst mit Pfarrer Christoph Wonneberger für die Inhaftierten fand am 15.1.1989 in der Leipziger Lukaskirche statt. Nach MfS-Berichten konnten daran lediglich 26 Personen teilnehmen (MfS, HA XX, Lagebericht zur Aktion »Störenfried«, 16.1.1989. BStU, MfS, HA IX 3208, Bl. 67). 20 § 214 Abs. 3 StGB. 21 Auf dem Prager Wenzelsplatz kam es vom 16. bis 20.1.1989 zu oppositionellen Demonstrationen. Die Teilnehmer forderten Freiheit und Demokratie und erinnerten zugleich an die Selbstverbrennung von Jan Palach am 16.1.1969. Vgl. Neun Verletzte bei Unruhen in Prag, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.1.1989; Gedenkstunden, in: Umweltblätter März 1989, S. 27.
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Dokument 115 vom 16. Januar 1989
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da waren. Es waren anfangs nur die zehn Leute, die diese Aktion geheim durchführen wollten. Nach der halben Stunde waren es dann schon mehr als 100 Leute. Es wurden immer mehr und die Leute begannen zu schreien. Es kam dann zu Angriffen der Polizei mit Gas gegen die Leute. Wasserkanonen wurden ebenfalls eingesetzt. Petr [Uhl] sagt, dass Prag eine Frontstadt geworden ist. Heute sind nur noch zwei von den gestern inhaftierten Leuten in Haft, die Petr [Uhl] aber nicht kennt. Vor wenigen Minuten hat das Fernsehen aber 14 Namen genannt. Diese Personen unterliegen besonderen Bestimmungen, die nicht im Moment mit Haft zu vergleichen sind. Es kann aber in zwei Tagen durchaus zu Inhaftierungen von den 14 Personen kommen. Unter den 14 Personen sind zwei Sprecher der »Charta 77« – Dana Němcová 22 und Saša Vondra 23. Václav Havel ist auch unter den 14 Personen. 24 F[ischer] nimmt das mit Interesse zur Kenntnis. Außerdem sind noch neun Personen aus der unabhängigen Friedensbewegung in Haft – seit Oktober. Petr [Uhl] verbessert, dass es nur noch zwei von der Friedensbewegung sind und drei von anderen Vereinen. Dazu kommen noch zwei, sodass es alles in allem sechs Personen sind, die seit Oktober noch inhaftiert sind. Es handelt sich jetzt um neue politische Häftlinge. Von Oktober sind allerdings nur vier Personen darunter. Die zwei anderen sind später dazugekommen. F[ischer] hat ansonsten von den zehn Personen genug Informationen. Er möchte nur eben die Namen haben, damit er die streichen kann, die nicht mehr inhaftiert sind. F[ischer] hat eine Liste. Es werden darauf die Na-
22 Dana Němcová (geb. 1934), Signatarin der »Charta 77« und Mitbegründerin VONS, 1989 Sprecherin der »Charta 77«. Sie lag nach den Ereignissen im Krankenhaus und war deshalb nur kurzzeitig festgenommen worden. Von den folgenden tschechischen Namen war außer Havels keiner auch nur annähernd korrekt mitgeschrieben worden, zum Teil waren sie geradezu auf groteske Art entstellt worden, was z. T. auch zu einer falschen Geschlechterzuordnung durch das MfS führte. Statt Petr Cibulka stand dort z. B. »Petra Dschibulga«. 23 Er erhielt eine 2-jährige Bewährungsstrafe. Alexandr »Saša« Vondra (geb. 1961) promovierte 1985 im Fach Geografie; managte eine Underground-Rockband, gab eine Samisdatzeitschrift mit heraus und pflegte Kontakte zu Oppositionellen in Ungarn, Polen und Litauen; 1989 Sprecher der »Charta 77«; wurde mehrmals inhaftiert; 1990–1992 außenpolitischer Berater von Václav Havel, anschließend bis 1997 stellvertretender Außenminister der Tschechischen Republik, 1997–2001 Botschafter in den USA, 2010–2012 Verteidigungsminister. 24 Havel wurde am 21.2.1989 wegen »Rowdytums« zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Zu den Hintergründen und Abläufen siehe z. B. Eda Kriseová: Václav Havel. Dichter und Präsident. Berlin 1991, S. 236–247. In folgender, sonst hervorragender Biografie fehlt dieser wichtige Aspekt in der Vorgeschichte der Revolution fast vollständig: John Keane: Vaclav Havel. Biographie eines tragischen Helden. München 2000, S. 395–396 (die Ereignisse, in wenigen Sätzen »abgehandelt«, werden zudem irrtümlich ins Jahr 1986 verlegt). Havels Schlussrede vor dem Prager Gericht ist veröffentlich worden in: Václav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben. Neuausgabe Mai 1989. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 6–8. Im Dokument 9/89 der Charta 77 vom 23.1.1989 sind 16 Verhaftete namentlich aufgeführt worden. Vgl. Blanka Císařovská, Vilém Prečan (Hg.): Charta 77: Dokumenty 1977–1989. Bd. 2: 1984–1989, Prag 2007, S. 1077.
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Dokument 115 vom 19. September 1988
men genannt, zu denen Petr [Uhl] etwas sagen kann: Tomáš Dvořák 25 und Lubomír (Luboš) Vydra. 26 Vydra ist frei. Hana Marvanová. 27 Sie ist in Haft. Tomáš Dvořák. Der ist frei. Jiří Stencl. 28 Der ist frei. Petr Cibulka. 29 Er ist in Haft. Ivan Martin Jirous. 30 Er ist in Haft. Dušan Skála 31. Der ist frei. Jiří Tichý. 32 Der ist frei. Mehr hat [Werner] F[ischer] nicht. Gegen alle, die frei sind, läuft aber noch ein Strafverfahren. Eine Ausnahme gibt es. Das ist Dvořák. Der wurde schon verurteilt und hat seine Strafe abgebüßt. Petr [Uhl] führt Eva Vidlářová 33 an. […] Sie wurde nur dafür inhaftiert, weil sie Petr Cibulka verteidigt hatte. Es ist aber keine Rechtsanwältin. Sie kommt vom Komitee zur Verteidigung von Cibulka, Skála und Stencl. Petr [Uhl] fügt weiter hinzu, dass Jaroslav (Slávek) Popelka 34 noch in Haft ist. Der wird aber nur zwei Monate bekommen. Cibulka drohen hingegen zehn Jahre. Er zählt von den oben angeführten noch einige auf und deren zu erwartende Strafmaße, die alle aber geringer sind als [das von] Cibulka. 35 25 Tomáš Dvořák (geb. 1965), technischer Angestellter in Prag, aktiv in der Bürgerrechtsbewegung. 26 Luboš Vydra hatte Ende 1977 die »Charta 77« unterzeichnet. 27 Hana Marvanová (geb. 1962), Juristin, engagiert in der Bürgerrechtsbewegung, erhielt eine Gefängnisstrafe von 10 Monaten. 28 Der Minderjährige war bereits im Oktober 1988 in Brno für 12 Tage in Haft. Er hatte die Demonstration im Januar 1989 u. a. gemeinsam mit Cibulka und Popelka vorbereitet. 29 Petr Cibulka (geb. 1950) aus Brno, gehörte zur »Charta 77«, ist mehrfach zu Haftstrafen (insgesamt 59 Monate) verurteilt worden (http://www.cibulka.net). 30 Er erhielt eine Gefängnisstrafe von 6 Monaten. Ivan Martin Jirous (1944–2011) war eine der zentralen Persönlichkeiten des tschechischen Untergrunds, er war eine Art künstlerischer Leiter der im September 1968 gegründeten legendären Band »Plastic People of the Universe«. 1976 ist die Band verboten worden, Jirous erhielt 18 Monate Gefängnis – dies war einer der Gründe für die Bildung der »Charta 77«. Er ist mehrfach seit 1973 inhaftiert worden und saß insgesamt 8 Jahre und 5 Monate in Gefängnissen. Bekannt wurde er unter seinem Spitznamen »Magor« (dt. Spinner). Vgl. v. a. das überaus bemerkenswerte und Jirous erstmals auf Deutsch umfassend würdigende Werk von: Abbé Libansky, Barbara Zeidler (Hg.): Ivan Martin Jirous – Leben, Werk, Zeit. Wien 2013; siehe auch Jonathan Bolton: Worlds of Dissent. Charta 77, The Plastic People of the Universe, and Czech Culture under Communism. Cambridge (Mass.), London 2012. 31 Dušan Skála (geb. 1955) studierte Agrarwissenschaften, Signatar der »Charta 77«, anschließend Hilfsarbeiter, gründete 1985 die literarische Untergrundzeitschrift »Host« (dt. Gast, Besucher). 32 Jiří Tichý (geb. 1946), Gärtner und Schriftsteller, »Charta 77«, zuvor bereits mehrfach in Haft, erhielt eine Gefängnisstrafe von 6 Monaten. 33 Eva Vidlářová (geb. 1947), Regieassistentin an einem Theater in Brno. 34 Jaroslav Popelka (geb. 1956) studierte in Brno ein technisches Fach (1975–1979); war an vielen oppositionellen Aktivitäten seit 1988 in der ČSSR beteiligt, blieb bis zum 24.2.1989 in Haft; setzte sich 1988/89 für die Gründung einer Grünen Partei ein; studierte nach 1989 Theologie und Journalismus. 35 In den nachfolgenden Wochen kam es in der DDR zu zahlreichen Solidaritätsbekundungen mit den politischen Gefangenen in der ČSSR. Es kam im Samisdat ein Sonderheft mit Texten V. Havels (Hg. Gerd Poppe und Benn Roolf) heraus, am 19.3.1989 fand ein Aktionstag für die Gefangenen statt u.v.a.m.
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Petr [Uhl] hat noch eine Frage. Zuvor erklärt er, dass sie mit Leuten aus Moskau, Prag, Budapest und Warschau sowie Brno eine Presseagentur machen werden. Diese soll ONA heißen und unabhängig sein. Das heißt soviel wie Osteuropäische Nachrichtenagentur. F[ischer] hat schon davon gehört. Petr [Uhl] möchte nun wissen, ob eine Möglichkeit besteht, ein Telefon dazu in Berlin zu installieren. Von ihm möchte man dann entsprechende Informationen bekommen. Für F[ischer] ist diese Frage ein wenig überraschend, weil es anders abgesprochen worden war. Das weiß Petr [Uhl]. Aber dieser Weg geht nicht. Das würde die Möglichkeit der Arbeit dieser Agentur übersteigen. Darin arbeiten ein paar Leute aus Polen und aus der Sowjetunion. Es gibt da doch einige Probleme in allen Städten. Sie haben einen Brief von [Gerd] Poppe bekommen. 36 Das war noch mit das Beste. Aus den anderen Städten kommen weniger Meldungen. Petr [Uhl] erzählt weiter, dass es sich um eine Idee von Wolfgang Templin handelt. Der war in Prag, im August. 37 Das weiß F[ischer]. F[ischer] soll sich die Sache aber mal überlegen. Sie brauchen nicht mehr als einmal in der Woche ein Telefonat. Diese Informationen haben für die DDR
36 Bei dem von Petr Uhl erwähnten Brief handelt es sich wahrscheinlich um den Brief von Gerd Poppe an Petr Uhl und Jan Urban vom 7.12.1988, der ein gemeinsames ost- und ostmitteleuropäisches Zeitschriftenprojekt betraf. Poppe beschreibt darin auch die Schwierigkeiten eines solchen gemeinsamen Vorhabens. So sei allein der Brief aus Prag vom 7.9.1988 an ihn 2,5 Monate unterwegs gewesen (eine von Gerd Poppe damals verfasste Abschrift findet sich in: RHG, GP 002, 1982–1992). Petr Uhl und Gerd Poppe telefonierten mehrere Male in den Jahren 1988–1989 miteinander. Persönliche Kontakte mit Uhl und seiner Ehefrau Anna Šabatova waren in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in Prag zustande gekommen. Sie wurden von 1980–1989 aufgrund von Poppes totalem Auslandsreiseverbot unterbrochen. Bei den Telefonaten ging es vor allem um 3 Probleme bzw. Projekte: 1. gemeinsame Proteste gegen Inhaftierungen, 2. die in einem Versuchsstadium befindliche unabhängige Nachrichtenagentur und 3. um eine geplante gemeinsame und mehrsprachige Oppositionszeitschrift. An dieser sollten Oppositionelle aus 6 mittel- und osteuropäischen Ländern beteiligt werden. Dazu sind auch in Ost-Berlin Vorbereitungen getroffen worden. Geplant war die Mitarbeit von Reinhard Weißhuhn, Ludwig Mehlhorn, Stephan Bickhardt, Gerd Poppe und anderen. Die das Zeitschriftenprojekt betreffenden Briefe wurden auf Umwegen zugestellt: Von Ost- nach West-Berlin gebracht, von dort nach London geschickt, von dort schließlich nach Prag – und umgekehrt. Dabei halfen Unterstützer, die an Grenzübergängen nicht kontrolliert wurden, sowie in London Jan Kavan, der dort »Jan Palach Press« betrieb und die Zeitschrift »East European Reporter« herausgab, beides die wichtigsten Sprachrohre der »Charta 77« in Westeuropa. In der Zeitschrift sind auch zahlreiche Texte aus der DDR-Opposition abgedruckt worden. Aufgrund der revolutionären Ereignisse in der ČSSR und der DDR sowie des Mauerfalls ist das Zeitschriftenprojekt nicht weiter verfolgt worden (e-mails von Gerd Poppe vom 4. und 9.10.2011). Vgl. auch Gerd Poppe: Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. (= Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren, Bd. 3) Opladen 1999, S. 349– 377, bes. 362–363. 37 Vgl. Wolfgang Templin: Reisenotizen aus Osteuropa, in: Grenzfall 1–12/1988, S. 3–7, nachgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 497–502.
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nicht die Bedeutung. Sie sollen vor allem in die anderen Länder gehen. Dabei sollen sie auch in den Westen gelangen. F[ischer] sagt zu, dass sie die Sache angehen werden. Petr [Uhl] möchte sich mit F[ischer] auf einen Tag einigen. Es ist ihm erst einmal egal. F[ischer] ist es auch egal, an welchem Tag sie das Telefonat führen wollen. Petr [Uhl] informiert dann, dass die eigentliche Arbeit donnerstags gemacht wird. Es wäre also günstig, das Gespräch am Dienstag oder am Mittwoch zu führen. Sie einigen sich auf Mittwoch. Petr [Uhl] bringt die Überlegung mit ein, dass dies auch eine Geldfrage ist. Wenn Petr [Uhl] ein wenig Geld dafür hat, dann hält er es für besser, wenn er F[ischer] anruft und nicht er [den] Petr [Uhl]. F[ischer] sieht in der Geldfrage keine Probleme. Bei dem Anruf soll nicht mehr als eine Seite vorgelesen werden. Petr [Uhl] wird »um neun« anrufen oder Anna [Šabatová]. 22.25 Uhr
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Dokument 116 Telefonate von Werner Fischer 18./19. Januar 1989 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 18, Bl. 81–83
XXX meldet sich noch einmal 1 bei Werner Fischer 2 und erklärt, dass sie ihm vorhin etwas Falsches gesagt hat. Das mit XXX ist noch nicht offiziell. XXX (sagt: wir) haben noch etwas anderes. Wenn »die« absagen, ist es aber offiziell. Werner [Fischer] findet es gut, dass sie sich noch mal meldet. Er hat ihr nämlich auch etwas Falsches gesagt. Das mit Weißensee ist nicht morgen, sondern übermorgen. XXX weiß dann Bescheid. Sie berichtet dann weiter, dass in Finsterwalde Ökogruppen und Pfarrer eine Eingabe an Erich Honecker und die Bezirksverwaltung des MfS in Leipzig geschrieben haben. Werner [Fischer] notiert sich das. XXX sagt dann etwas leiser, dass sich Presseleute nicht vorstellen sollen, wenn sie zu ihnen kommen. Die sollen sich an jemanden wenden, dem Werner [Fischer] auch bekannt ist. Werner [Fischer] hätte es auch nicht anders gemacht. »Die« haben von ihm drei Namen bekommen. XXX äußert, dass etwas schief gelaufen ist. Werner [Fischer] erläutert, dass er den »einen« immer darauf orientiert hat. Trotzdem ist es gut, dass XXX es noch mal sagt. Sie verabschieden sich voneinander. 22.25 Uhr Wolfgang Templin informiert Werner Fischer, dass sie heute Vormittag »die« in Leipzig erreicht haben. Die konnten aber auch nur das sagen, was sich bis gestern Abend abgezeichnet hatte. Ansonsten machten die einen sehr zögerlichen Eindruck. Werner [Fischer] vermutet, dass es mit dem zu tun hatte, mit dem Wolfgang [Templin] gesprochen hat. Wolfgang [Templin] hatte mit einer jungen Frau gesprochen. Die war zwar sehr lieb, aber auch sehr unsicher. Werner [Fischer] erläutert, dass »das« dort in Leipzig eine sehr merkwürdige Einrichtung ist. Die Leute, die sie kennen und das Telefon dort besetzen, sind nur 1 Die zuvor erfolgten Gespräche sind ebenfalls dokumentiert: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 18, Bl. 77, 80. Zur Leipziger Opposition siehe Dok. 113, Anm. 1. 2 Werner Fischer hielt in diesen Tagen engen telefonischen Kontakt nach Leipzig, fuhr u. a. mit Peter Grimm mehrfach hin und gab die Informationen u. a. an Ralf Hirsch, Roland Jahn, Petra Kelly sowie bundesdeutsche Journalisten weiter.
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Dokument 116 vom 19. September 1988
Gast. Alles, was sie dort rausgeben, wird mehr oder weniger zensiert. Wolfgang [Templin] hat es auch so verstanden. Deswegen hat Wolfgang [Templin] eine zweite Telefonnummer bekommen. Er hat dann dort auch angerufen, was wohl die Nummer vom Superintendenten war. 3 Die sind dann dort fast aufs Kreuz gefallen, als sie merkten, wer sich gemeldet hatte. So haben die sich irgendetwas abgestottert. Werner [Fischer] möchte dann, dass sich Wolfgang [Templin] die PSFNummer der Inhaftierten merkt. Die Nummer soll er dann auch verbreiten. Es handelt sich um die UHA 7010 Leipzig PSF 225. Wolfgang [Templin] hat es notiert. Dann informiert Werner [Fischer], dass sie heute die erste Veranstaltung hatten, die ein bisschen zähflüssig lief. Das wird sich aber bestimmt noch verbessern. Es waren ungefähr 400 Leute da. 4 Wenn es Sonnabend und Sonntag weitergeht, kommen bestimmt mehr Leute. Es läuft auf jeden Fall an. Man kann auch sagen, dass in der gesamten DDR etwas passiert. So nimmt Werner [Fischer] an, dass sie übermorgen ein geschütztes Telefon haben. Dann hat Werner [Fischer] auch schon mit dem [Roland] Jahn und XXX und London gesprochen. Es wäre nun gut, wenn sie (sagt: ihr) mit XXX in Holland sprechen würden. Wolfgang [Templin] erwähnt, dass die vom »Ost-West-Dialog« sich am Wochenende in Mailand [treffen]. Über den XXX bekommen sie den allerneuesten Stand. Werner [Fischer] findet das sehr schön. Wolfgang [Templin] äußert weiter, dass sie die bestimmten Leute in Bonn abgeklappert haben. Zum Schluss haben sie auch mit dem Referenten von [Egon] Bahr gesprochen. Mit Frieder Wolf haben sie auch gesprochen. Wolfgang [Templin] hat dann mit der Post den Brief von Petra [Kelly] und Gert [Bastian] bekommen. Werner [Fischer] wirft ein, dass der Brief heute verlesen wurde. 5 Wolfgang hat auch die Stellungnahme der Fraktion [Die Grünen] bekommen. 6 Werner [Fischer] möchte, dass Wolfgang [Templin] etwas über Oskar Lafontaine versucht. XXX kann man auch ansprechen. Wolfgang [Templin] hat heute mit ihm gesprochen. Mit [Wolf] Biermann und dem DDR-Referenten der SPD, [Josef] Dolezal (ph), 7 hat Wolfgang [Templin] auch geredet. Werner [Fischer] denkt jetzt auch an Gert Weisskir3 Gemeint sind Friedrich Magirius oder Johannes Richter. 4 In den Räumen der Ostberliner Elisabethgemeinde fand am 18.1.1989 abends – wie in vielen anderen Städten – eine Informationsandacht statt. Am 17.1.1989 hatte bereits ein Informationsabend in der Galerie der Ostberliner »Umweltbibliothek« stattgefunden. 5 Petra Kelly und Gert Bastian schickten an Erich Honecker ein Protestschreiben. Vgl. Umweltblätter März 1989, S. 52. 6 Abgedruckt in: Die Mücke. Dokumentation der Ereignisse in Leipzig, hg. von Mitarbeitern der Arbeitsgruppe Menschenrechte und des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Leipzig März 1989, S. 33. 7 Im Original stand »Dolezahl«. Josef Dolezal (geb. 1948) war zu diesem Zeitpunkt Referent der SPD-Bundestagsfraktion und u. a. in der Arbeitsgruppe innerdeutsche Beziehungen tätig.
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Dokument 116 vom 18./19. Januar 1989
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chen 8 und die Grundwertekommission [der SPD], wo Wolfgang [Templin] doch einen Draht hin hat. Wolfgang [Templin] wird das in Angriff nehmen. In Kirchenfragen kann man auch den [Erhard] Eppler 9 ansprechen. Werner [Fischer] findet das gut. Übrigens läuft seit heute gegen einen Kontaktmann von ihm (Werner [Fischer]) in Leipzig ein EV ohne Haft. Man vermutet, dass in Leipzig noch nachgefasst wird. Werner [Fischer] hat dann auch noch an den [Ingvar] Carlsson gedacht, der am Sonnabend in die DDR kommt. 10 Man sollte im Vorfeld über die schwedische Botschaft etwas versuchen. Werner [Fischer] notiert sich das. Er schlägt Wolfgang [Templin] vor, dass er sich sonst an Ralf Hirsch und Roland Jahn wendet. Die wissen auch sehr viel. Dann bestellt Werner [Fischer] Grüße von Uwe und Marianne [Birthler], die gerade bei ihm sind. Er meint den Uwe Lehmann. 11 23.42 Uhr 19.1.1989 Roland Jahn meldet sich bei Werner Fischer, der wissen will, ob Roland [Jahn] etwas von Ralf [Hirsch] gehört hat. Roland [Jahn] erklärt, dass Ralf [Hirsch] sehr viel arbeiten musste. Aus dem Grund hatte er heute ein bisschen Kopfschmerzen. Dann übermittelt Werner [Fischer] die PSF-Nummer der Inhaftierten in Leipzig. Roland [Jahn] notiert sie. Werner [Fischer] berichtet weiter, dass es heute Vorladungen gegeben hat. Roland [Jahn] hat von zwei Vorladungen in Leipzig gehört. Gegen den XXX ist ein EV nach § 218 StGB 12 eröffnet worden. Werner [Fischer] fügt hinzu, dass dem Heiko Lietz ein EV angedroht worden ist. 13 Roland [Jahn] weiß auch, dass die Befragung in Richtung des Rundbriefes vom 10.12.[1988] ging, wo die Adresse vom Heiko [Lietz] auch 8 Gert Weisskirchen (geb. 1944) war von 1976 bis 2009 MdB für die SPD und u. a. beschäftigt mit Bildungs- und Wissenschaftsfragen sowie Außenpolitik. Er gehörte zu den MdB, die Kontakte zu Bürgerrechtlern in Osteuropa unterhielten. 9 Der frühere Bundesminister Erhard Eppler (geb. 1926; MdB 1961–1976) war von 1973 bis 1992 Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission und zählte zu den profiliertesten Deutschlandpolitikern seiner Partei. Gesellschaftlich war er stark in der Evangelischen Kirche, u. a. als Kirchentagspräsident (1981–1983, 1989–1991), aktiv. 10 Vom 23. bis 24.1.1989 weilte Ingvar Carlsson als erster schwedischer Ministerpräsident zu einem Staatsbesuch in der DDR. Am Wochenende zuvor, am 21./22.1.1989, war er bereits mehr oder weniger »privat« in der DDR und besuchte Dresden (Neues Deutschland vom 23.1.1989). 11 Uwe Lehmann (geb. 1957), Bauingenieur, engagierte sich u. a. im AKSK und ab 1989 in der IFM. 12 § 218 StGB: Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele. Dafür waren Freiheitsstrafen von bis zu 5 bzw. 8 (»Rädelsführer«) Jahren möglich. 13 Es blieb bei der Androhung. Das MfS bearbeitete Lietz im OV »Zersetzer«; das war ein Teilvorgang in einem ZOV.
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Dokument 116 vom 19. September 1988
draufstand. 14 Werner [Fischer] bestätigt das. Roland [Jahn] interessiert es, wie es mit den anderen Kontaktadressen wie z. B. die Katrin [Hattenhauer] 15 aussieht. Werner [Fischer] erklärt, dass bei ihr und auch beim Michael [Arnold] 16 noch nichts passiert ist. 17 Roland [Jahn] gibt Werner [Fischer] dann zu verstehen, dass er ihm nicht zu erzählen braucht, was bis heute in der DDR passiert ist. Er weiß es schon alles. Werner [Fischer] weiß, dass morgen in Langenschade bei Saalfeld – Roland [Jahn] unterbricht ihn mit der Bemerkung, dass er das weiß. Werner [Fischer] ist auch informiert, dass in einer katholischen Gemeinde bei Altenburg jeden Sonntag ein Fürbittgottesdienst für die Inhaftierten stattfindet. Werner [Fischer] will dann wissen, wie in die »heute-Sendung« die Meldung hineingekommen ist, dass die evang[elische] Kirche zu Fürbittgottesdiensten aufgerufen hat. Roland [Jahn] weiß es nicht. Auf jeden Fall kommt es nicht von ihm. Lachend äußert Werner [Fischer], dass er ihm das auch nicht unterstellt hat. Trotzdem fand er die Meldung nicht schlecht. Roland [Jahn] äußert, dass er bis jetzt wirklich gut informiert ist. Er will sich aber den zweiten Teil noch anhören. 18 Werner [Fischer] fordert den Roland [Jahn] dann auf, dass er wegen der PSF-Nummer etwas macht. Roland [Jahn] macht das. Vielleicht wird sie mal veröffentlicht. Dann hat er heute das Interview mit [Gregor] Gysi gesehen. 19 14 Aus Anlass des Tages der Menschenrechte am 10.12.1988 konstituierte sich die »Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR«, die die Menschenrechtsproblematik dokumentieren und öffentlich machen wollte. Daran waren Vertreter mehrerer Berliner, sächsischer und thüringischer Oppositionsgruppen beteiligt. Es wurden Kontaktadressen angegeben, darunter auch die von Heiko Lietz (der Aufruf in: BStU, MfS, HA XX/9 1776, Bl. 3–4). 15 Katrin Hattenhauer (geb. 1968) war in verschiedenen Leipziger Oppositionsgruppen engagiert. Sie wurde mehrfach festgenommen, zuletzt am 11.9.1989 für vier Wochen. Vgl. Thomas Mayer: Helden der Friedlichen Revolution. 18 Porträts von Wegbereitern aus Leipzig. Leipzig 2009, S. 80– 87. 16 Michael Arnold (geb. 1964) studierte Stomatologie und arbeitete seit 1987 in verschiedenen Leipziger Oppositionsgruppen mit. Vgl. Mayer: Helden der Friedlichen Revolution, S. 64–70. 17 Auf dem erwähnten Dokument waren 2 andere Leipziger Gruppenmitglieder erfasst (ebenda; ein Dokument zu dem Schreiben: MfS, HA XX/9, Information über eine geplante Zusammenkunft negativ-feindlicher Kräfte in Halle, 14.2.1989. BStU, MfS, HA XX/9 1486, Bl. 287). 18 Die Leipziger Superintendenten Magirius und Richter erklärten am 16.1.1989, dass sie bei aller Distanz zum Geschehen die Gemeinden darum bitten, »verantwortliche Fürbitten in den Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen« für die Inhaftierten zu halten (das Dokument ist abgedruckt in: Die Mücke, S. 22). Nur einen Tag später nahm das Ev.-Luth. Landeskirchenamt in Dresden diese Bitte praktisch zurück und legte nahe, möglichst gar nichts zu tun (abgedruckt in: ebenda, S. 22–23). Die wichtigsten Ostberliner Oppositionsgruppen gaben daraufhin eine Erklärung heraus, in der sie kritisierten, dass die Kirchen in Leipzig und Sachsen so zögerlich und zurückhaltend auf die Inhaftierungen reagieren würden (abgedruckt in: ebenda, S. 23–24). 19 Am 18.1.1989 strahlte das ZDF ein Interview mit Gregor Gysi aus. Dort sagte er u. a.: »Ich kenne die Dokumente von Wien nicht, und ich kenne auch die Vorgänge in Leipzig nicht, ich bin damit auch nicht im Auftrag. Aber alles, was ich gehört habe, spricht dafür, dass es um Fragen der Störung der öffentlichen Ordnung geht und die werden, glaube ich, von Menschenrechtsfragen nicht
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Dokument 116 vom 18./19. Januar 1989
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Er fand es einfach furchtbar. Gysi sprach ja so, als wenn die DDR dazu berechtigt ist. Werner [Fischer] hält den Gysi für ein Schlitzohr. Man weiß ja auch um die Rolle, die Gysi hier spielt. Roland [Jahn] äußert, dass die öffentliche Wirkung ja eine andere ist. Werner [Fischer] stimmt dem zu. 0.15 Uhr
erfasst. … Also ohne dass ich jetzt mit Ihnen ein längeres Gespräch über die Fragen der Meinungsfreiheit in der DDR führen will, weil ich glaube, dass wir da besser sind als vielleicht der Ruf im ZDF, den wir auf diesem Gebiet genießen, wenn eine Demonstration beantragt wird, gibt es ein Verwaltungsrechtsverfahren über die Genehmigung. Und wenn eine Demonstration genehmigt wird, dann kann sie selbstverständlich durchgeführt werden.« (Staatl. Komitee für Rundfunk, Redaktion Monitor, Abschrift: Interview mit DDR-Anwalt Gregor Gysi, 18.1.1989, ZDF, 20.15 Uhr. BStU, MfS, HA XX 6886, Bl. 326–327).
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Dokument 117 Telefonate von Werner Fischer 19. Januar 1989 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 18, Bl. 89–92
XXX erkundigt sich bei Werner Fischer, was nun wirklich los ist. 1 Werner lacht darüber und bemerkt, dass XXX ja mehr wie er wissen müsste. XXX schlussfolgert, dass sie also keine Informationen mehr aus Leipzig bekommen. Werner [Fischer] bekommt schon noch Nachrichten. Es sind jedenfalls alle in Leipzig entlassen worden. Nur der Fred Kowasch sitzt noch. 2 Dann erklärt 1 Die Leipziger Oppositionsgruppen begannen 1988 ihren politischen Protest deutlicher als bislang auf die Straßen zu tragen. Aus Anlass des ersten Jahrestages der Berliner Ereignisse vom 17.1.1988 forderte die »Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft«, ein Zusammenschluss von Personen verschiedener Leipziger Oppositionsgruppen, zu einer Gedenkdemonstration aus Anlass der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht auf. In dem Aufruf hieß es: »Lassen Sie uns gemeinsam eintreten für das Recht auf freie Meinungsäußerung, für die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, für die Pressefreiheit und gegen das Verbot der Zeitschrift ›Sputnik‹ und kritischer sowjetischer Filme.« (Der Aufruf ist nachgedruckt in: Tobias Hollitzer, Reinhard Bohse (Hg.): Heute vor 10 Jahren. Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution. Bonn 2000, S. 16.) Die Gruppe druckte nach eigenen Angaben etwa 10.000 Flugblätter mit dem Aufruf zur Demonstration am 15.1.1989. Bis zum 12.1. waren etwa 6 000 bis 7 000 verteilt worden. Vom 12. bis 14.1. nahm die Staatssicherheit 11 Personen fest. Dennoch versammelten sich zur verabredeten Zeit etwa 150 bis 200 Menschen. Fred Kowasch hielt eine kurze Rede und informierte über die 11 Festnahmen. Anschließend zogen sie los, der Gruppe schlossen sich spontan weitere Menschen an, sodass 300 bis 500 schweigend durch die Innenstadt liefen. Die Polizei löste die Demonstration auf und nahm erneut 53 Personen vorläufig fest. Bis zum Abend waren sie wieder frei. Die zuvor Festgenommenen kamen bis zum 19.1. wieder aus der Haft. Honecker veranlasste das selbst. Unmittelbar nach den Festnahmen solidarisierten sich Gruppen in mehreren Städten mit den Verhafteten. Auch die ein Jahr zuvor ausgebürgerten Bürgerrechtler aus Ost-Berlin schrieben eine gemeinsame Erklärung (abgedruckt in: taz vom 18.1.1989). Wirkungsvoll war der Protest von US-Außenminister Shultz und Bundesaußenminister Genscher noch am 15.1. in Wien, wo sie wenige Tage später das KSZE-Nachfolgedokument unterzeichneten. Die »Junge Welt« brachte in ihrer Ausgabe vom 20./21.1.1989 unter der großen Überschrift »So groß ist eine Mücke …« ein Foto des Insekts mit dem Kommentar, einige Personen wollten in Leipzig das Gedenken an Liebknecht und Luxemburg stören, 53 seien zugeführt, belehrt und entlassen worden. Daneben ist ein Elefant ganz klein abgedruckt worden (»… und so klein ein Elefant«) und darunter stehen in winziger Schrift 11 Meldungen über Menschenrechtsverletzungen und Massenelend in der westlichen Welt. Im März antworteten Leipziger Oppositionelle mit einer umfangreichen Dokumentation über die Ereignisse und die Solidarität. Der Titel dieser SamisdatSchrift lautete: »Die Mücke«. Zu den Ereignissen vgl. auch Die Demonstration für Demokratie und Pressefreiheit – 15. Januar 1989, in: Hollitzer; Bohse (Hg.): Heute vor 10 Jahren, S. 13–59. 2 Fred Kowasch (geb. 1965) hielt am 15.1.1989 auf dem Alten Markt in Leipzig eine kurze Rede. Am nächsten Tag wurde er deshalb festgenommen, am 20.1.1989 ist er wieder entlassen worden. Nach seiner Ausreise arbeitete er u. a. bei »Radio Glasnost« mit.
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Dokument 117 vom 19. Januar 1989
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Werner [Fischer], dass gerade er mit [Wolfgang] Schnur 3 gesprochen hat. Morgen zwischen 18.00 und 19.00 Uhr wird Werner [Fischer] mit Wolfgang [Schnur] in Leipzig ankommen. Werner [Fischer] wird bis Montag bleiben. Übrigens ist Peter [Grimm] schon wieder unten. XXX weiß dann Bescheid. 21.16 Uhr Werner Fischer erkundigt sich bei einem Herrn – 0941/31XXX –, der sich mit Informationsstelle meldet, ob der Peter [Grimm] da ist. Der Herr, der sich dann mit XXX vorstellt, bejaht das. Werner [Fischer] interessiert es jetzt noch, ob sie vom XXX etwas gehört haben. XXX bejaht. Der XXX ist noch nicht draußen und es sieht auch nicht danach aus, dass er entlassen wird. Werner [Fischer] informiert dann, dass er morgen Abend mit [Wolfgang] Schnur runterkommen wird. Werner [Fischer] wird bis Montag bleiben und bittet darum, dass ihm ein Bett organisiert wird. XXX schlägt vor, dass Werner [Fischer] zu ihm kommt. Werner [Fischer] ist einverstanden. XXX wird morgen Abend auf jeden Fall in der ESG sein. Werner [Fischer] wird auch als Erstes dort hinkommen. Dann spricht der Werner [Fischer] mit dem Peter [Grimm] und informiert ihn, dass gerade der XXX angerufen hat. Werner [Fischer] äußert weiter, dass sich bei ihm etwas geändert hat. Er wird morgen Abend mit [Wolfgang] Schnur nach Leipzig kommen. Peter [Grimm] soll sich um eine Übernachtungsmöglichkeit für Werner [Fischer] kümmern. Das macht Peter [Grimm]. Werner [Fischer] will weiter wissen, ob sie noch etwas brauchen. Peter [Grimm] weiß es jetzt nicht. Werner [Fischer] wird dann noch ein paar von den Exemplaren mitbringen. 4 Peter [Grimm] findet das richtig. Er vergewissert sich dann, ob XXX die Vorladung zur Zeugenvernehmung durchgegeben hat. Werner [Fischer] verneint das. Peter [Grimm] übermittelt, dass der XXX heute von der Stasi auf Arbeit aufgesucht worden ist. Er ist morgen zu 9.00 Uhr zur Zeugenvernehmung vorgeladen worden. Peter [Grimm] vermutet, dass der XXX zum Umfeld von XXX gehört. Werner [Fischer] notiert sich den Namen von XXX. Peter [Grimm] schlägt vor, dass damit nichts gemacht wird. Sie wollen den morgigen Tag noch abwarten. Da wird sich ja zeigen, wie es sich mit XXX entwickelt. Peter [Grimm] wird dem Werner [Fischer] morgen Abend noch mehr erzählen. Werner [Fischer] übermittelt dann Grüße. Die Kontaktgruppe hat gerade zusammengesessen. Peter [Grimm] interessiert es, ob es internationale Reaktionen gibt. Werner [Fischer] bejaht. Er hat die letzte 3 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 4 Es handelte sich um Kopien der Protesterklärung Ostberliner Oppositionsgruppen. Vgl. den Nachdruck in: Die Mücke. Dokumentation der Ereignisse in Leipzig, hg. von Mitarbeitern der Arbeitsgruppe Menschenrechte und des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Leipzig März 1989, S. 23–24.
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Dokument 117 vom 19. September 1988
Nacht auch mit Wolfgang [Templin] telefoniert. 5 Es gibt ein Schreiben von END und IKV und fast allen Bonner Parteien, der GEW in WB. Sie haben aber leider noch keine Zusammenfassung. Werner [Fischer] erfährt manchmal nur, dass irgendjemand protestiert hat. Peter [Grimm] fände es schön, wenn sie eine Zusammenstellung bekommen würden. Werner [Fischer] kümmert sich noch mal darum. Peter [Grimm] will dann wissen, wie es mit dem Kontakttelefon aussieht. Werner [Fischer] erwähnt, dass daran noch gearbeitet wird. Morgen ab 14.00 Uhr wird es vermutlich existieren. Es ist aber noch nicht entschieden. Werner [Fischer] wird den ersten Dienst machen, wenn das Telefon existiert. 6 Dann ruft er Peter [Grimm] gleich an. Peter [Grimm] freut sich jedenfalls, dass Werner [Fischer] morgen kommt. Werner [Fischer] interessiert es dann noch, woran dem »Besuch« gelegen war. Peter [Grimm] bleibt da dran. Werner [Fischer] berichtet dann noch, dass Sabine [Grimm] bei ihm war. Sie macht jetzt gerade Dienst in der UB. Sie verabschieden sich voneinander bis morgen. 21.34 Uhr Werner Fischer setzt sich mit dem ARD-Korrespondenten Hans-Jürgen Börner (Wohnung) in Verbindung. Sie siezen sich. Werner F[ischer] erklärt, dass es sich vorhin gerade entschieden hat, dass er morgen am späten Nachmittag mit Wolfgang Schnur nach Leipzig fährt und deshalb nicht anzutreffen ist. Werner F[ischer] möchte nun, dass [Hans-Jürgen] Börner ihm den Namen von demjenigen sagt, den er dann erreichen kann. [Hans-Jürgen] Börner entgegnet, dass dies XXX ist, der jedoch bei Werner F[ischer] vorbeikommen müsste. Aufgrund dessen erkundigt sich [Hans-Jürgen] Börner, wann Werner F[ischer] wieder da ist. Werner F[ischer] kann auf diese Frage keine Antwort geben, denn er wird morgen tagsüber wahrscheinlich unterwegs sein. Werner F[ischer] hält es deshalb für am günstigsten, wenn er die Frau XXX anruft. [Hans-Jürgen] Börner ist einverstanden. Die Gesprächspartner verabschieden sich mit »bis die Tage«. 21.49 Uhr Marianne Birthler teilt Werner Fischer mit, dass sie das Okay für das Telefon hat. 7 Es ist jetzt nur die Frage, ob sie es brauchen. Werner [Fischer] ist davon überzeugt, dass sie es trotz alledem brauchen. Marianne [Birthler] nimmt an, 5 Siehe Dok. 116. 6 Es geht um das Berliner Kontakttelefon, das nach monatelangen Verhandlungen schließlich Anfang Februar 1989 in den Räumen der Gethsemanegemeinde eröffnet wurde (RHG, Bestand MBi 08). 7 Siehe Anm. 6.
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Dokument 117 vom 19. Januar 1989
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dass sie es zumindest die nächsten Tage brauchen, um die Sache abzuwickeln. Werner [Fischer] ist der Ansicht, dass das alles nach einem taktischen Schachzug aussieht. Die sind entlassen worden, um die Angelegenheit international stillzulegen. Die EV laufen ja weiter und man kann ihnen in aller Stille einen auf die Rübe hauen. Allerdings glaubt Werner [Fischer] nicht, dass man sie nach der Verhandlung inhaftiert. Werner [Fischer] möchte sich dann morgen Vormittag mit Marianne [Birthler] treffen, da er am Nachmittag mit [Wolfgang] Schnur nach Leipzig fährt. Marianne [Birthler] sitzt morgen aber im Konsistorium. Sie hat ab 8.00 Uhr eine Sitzung. Werner [Fischer] wollte morgen auch von 14.00 bis 16.00 Uhr den ersten Dienst machen. 8 Marianne findet das gut. Sie hat wegen der Dienste auch schon Ulrike [Poppe] und Dankwart [Kirchner] vorinformiert. Werner [Fischer] möchte dann erst mal die Telefonnummer wissen. Marianne übermittelt die Nummer – 448XXX –, die zwischen 14.00 und 22.00 Uhr besetzt werden muss. In der Gemeinde ist auch ein Kollege, der stark »daran« interessiert ist. Werner [Fischer] möchte den Namen wissen. Marianne [Birthler] sagt, dass der Jürgen Gernentz heißt. 9 Werner [Fischer] hat den Namen notiert. Er bittet sie dann darum, dass sie noch ein paar Sachen vervielfältigt. Marianne [Birthler] macht das. Da sie nicht weiß, ob sie sich morgen noch sehen, wird sie jetzt noch vorbeikommen. Werner [Fischer] findet das sehr schön. 21.57 Uhr Roland Jahn führt mit Werner Fischer eine Unterhaltung. Werner [Fischer] übermittelt ihm die Nummer des Kontakttelefons, und wie lange es besetzt ist. Werner [Fischer] wird morgen mit [Wolfgang] Schnur nach Leipzig fahren und Montag 10 zurückkommen. Da wird sich Werner [Fischer] aus Leipzig mal bei Roland [Jahn] melden. Jetzt interessiert sich Werner [Fischer], ob Roland [Jahn] eine Aufstellung hat, was international eingegangen ist. Roland [Jahn] gibt zu verstehen, dass es keine vollständige Aufstellung gibt. Morgen treffen sich aber Leute, die das alles machen. Da kann Roland [Jahn] das ansprechen, sodass es zusammengetragen wird. Werner [Fischer] braucht es bis spätestens Montagnachmittag in Leipzig. Roland [Jahn] wird die Freundin mit den langen Haaren mal ansprechen. Werner [Fischer] möchte, dass die Freundin sich bei Werner [Fischer] meldet. Roland [Jahn] vergewissert sich, ob Werner [Fischer] die Adresse von XXX Vater hat. Werner [Fischer] verneint. Roland [Jahn] übermittelt, dass der Vater in der XXXstr. (ph) XXX wohnt. Der hat 8 9 10
Am Kontakttelefon. Er (geb. 1959) arbeitete in der Gemeinde als Sozialdiakon. 23.1.1989.
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Dokument 117 vom 19. September 1988
die Telefonnummer – 58XXX –. Werner [Fischer] hat es notiert. Er vergewissert sich, ob Roland [Jahn] mit London gesprochen hat. Roland [Jahn] bejaht. Werner [Fischer] hat aber mit XXX und XXX gesprochen. Die waren einverstanden. Nun hat Werner [Fischer] aber keine Rückmeldung. Da fällt ihm noch XXX ein. Ansonsten wird Werner [Fischer] bis Montag alles besorgen. Er möchte dann, dass die Marie-Luise [Lindemann] ihn anruft. Roland [Jahn] übermittelt das. 22.22 Uhr Marianne Birthler (bei [Werner] Fischer) erkundigt sich bei Gerd Poppe, ob denn Ulrike [Poppe] da ist. Gerd [Poppe] verneint. Ulrike [Poppe] ist unterwegs. Marianne [Birthler] geht es um die Besetzung des Telefons. Sie sucht da noch jemanden für morgen 18.00 bis 22.00 Uhr in der Gethsemanegemeinde. Marianne [Birthler] übermittelt dann die Telefonnummer, die Gerd [Poppe] sich notiert. Gerd [Poppe] wird Ulrike [Poppe] alles übermitteln. Marianne [Birthler] teilt dann Gerd [Poppe] noch mit, dass bis auf einen alle in Leipzig entlassen worden sind. Die EV laufen aber weiter. Sie bemerkt, dass [Wolfgang] Schnur heute in Berlin war. Gerd [Poppe] findet, dass das erst einmal eine gute Nachricht ist. Marianne [Birthler] stimmt dem zu. Sie verabschieden sich voneinander. 22.44 Uhr Marianne Birthler erkundigt sich bei Dankwart [Kirchner] – 449XXX –, ob er schon mit Ulrike [Poppe] gesprochen hat. Dankwart [Kirchner] verneint. Marianne [Birthler] geht es um die Besetzung des Kontakttelefons in der Gethsemanegemeinde am Wochenende. Dankwart [Kirchner] wird am Sonnabend von 14.00 bis 18.00 Uhr am Telefon sitzen. Marianne [Birthler] erwähnt, dass XXX ihn ablösen wird. Sie verabschieden sich voneinander. 22.50 Uhr
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Dokument 118 Telefonate von Werner Fischer 19. Januar 1989 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 18, Bl. 93–94
Wolfgang Templin teilt Werner Fischer mit, 1 dass sie kurz vor acht im Deutschlandfunk gehört haben, dass alle bis auf [Fred] Kowasch entlassen worden sind. 2 Werner [Fischer] bestätigt das. Das hat aber überhaupt noch nichts zu bedeuten. Wolfgang [Templin] geht davon auch aus. Werner [Fischer] übermittelt dann die Nummer des Kontakttelefons, 3 welches von 14.00 bis 22.00 Uhr besetzt ist. Wolfgang [Templin] notiert es sich. Dann erkundigt sich Werner [Fischer], ob Wolfgang [Templin] sagen kann, was international gelaufen ist. Wolfgang [Templin] übermittelt, dass er noch mal mit der Petra [Kelly] gesprochen hat. Somit weiß Wolfgang [Templin] jetzt, wen man in der schwedischen Botschaft ansprechen kann. Werner [Fischer] wird das morgen hier selber noch mal machen. Wolfgang [Templin] hat heute mit dem schwedischen Botschafter in Bonn gesprochen. Übrigens kommt der [Ingvar] Carlsson heute erst einmal nach Bonn. 4 Der Botschafter 5 hat sich alles genau notiert. Werner [Fischer] erläutert, dass er morgen in der Botschaft einen Termin hat. Wolfgang [Templin] findet das gut. Er schlägt dann vor, dass sie in Leipzig auch mal über die Prager Geschichte reden. Werner [Fischer] hält das für selbstverständlich. Er fährt ja morgen nach Leipzig und bleibt bis Montag dort. Wolfgang [Templin] wird übers Wochenende nicht wegfahren. Regina [Templin] ist aber in Amsterdam, wo ein Treffen von 1 Zur Leipziger Opposition siehe Dok. 117, Anm. 1. 2 Am 19.1.1989 wurden auch Gesine Oltmanns, Michael Arnold, Frank Sellentin, Uwe Schwabe, Jochen Läßig und Rainer Müller aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Ermittlungsverfahren gegen sie sowie André Botz, Michaela Ziegs, Udo Hartmann, Carola Bornschlegel und Constanze Wolf wurden Ende des Monats eingestellt (MfS, BV Leipzig, Abt. IX, Schlussbericht vom 31.1.1989. BStU, MfS, BV Leipzig, AU 681/90, Bd. 12, Bl. 30–43). Fred Kowasch (geb. 1965) wurde am 20.1.1989 aus der U-Haft entlassen. Nach seiner Ausreise arbeitete er u. a. bei »Radio Glasnost« mit. 3 Das Kontakttelefon ist nach monatelangen Verhandlungen schließlich von der Ostberliner Gethsemanegemeinde zur Verfügung gestellt worden (RHG, Bestand MBi 08). 4 Vom 23. bis 24.1.1989 weilte Ingvar Carlsson als erster schwedischer Ministerpräsident zu einem Staatsbesuch in der DDR. Am Wochenende zuvor, am 21./22.1.1989, war er bereits mehr oder weniger »privat« in der DDR und besuchte Dresden (Neues Deutschland vom 23.1.1989). 5 Es handelte sich um Lennart Eckerberg (geb.1928), von 1983 bis 1990 Botschafter Schwedens in Bonn.
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Dokument 118 vom 19. September 1988
Amnesty International stattfindet. Das wird ja für Regina [Templin] auch noch eine Möglichkeit ergeben. Werner [Fischer] sieht das auch so. Er würde sich für die Nummer von Amnesty International in London interessieren. Wolfgang [Templin] will sich darum kümmern. Werner [Fischer] äußert, dass er die Nummer hat. Sie lautet London – 833XXX –, wo man dann gleich in der »deutschen Abteilung« landet. Da sitzen sehr nette Mädchen, die Wolfgang [Templin] von ihm grüßen soll. Wolfgang [Templin] macht das. Sie verabschieden sich voneinander. 23.27 Uhr Ulrike Poppe teilt Werner Fischer mit, dass man ja erfreuliche Nachrichten bekommt. Werner [Fischer] bestätigt das. Die EV laufen aber weiter. Es wird aber nicht mit einer Haftstraße gerechnet. Nun wird Werner [Fischer] morgen mit [Wolfgang] Schnur 6 nach Leipzig fahren. Er wird aber telefonisch Kontakt zu ihnen halten. Ulrike [Poppe] würde sich für die Inhalte der Befragung interessieren. Deswegen fährt Werner [Fischer] hauptsächlich runter. Ulrike möchte dann mal mit der Marianne Birthler sprechen. Anschließend sprechen die Ulrike [Poppe] und die Marianne [Birthler] über den Telefondienst im Gemeindehaus von Gethsemane. 7 Ulrike [Poppe] macht morgen Dienst von 18.00 bis 22.00 Uhr. Sie verabschieden sich voneinander bis morgen. 23.32 Uhr
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IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. Siehe Anm. 3.
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Dokument 119 Telefonat zwischen Werner Fischer und Kontakttelefon Leipzig 19. Januar 1989 Von: MfS, Abteilung 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Steffen] Kray 1 Verteiler: Kopie an MfS, Leiter HA XX/9, Oberst Wolfgang Reuter 2 Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 18, Bl. 95–96
Werner [Fischer], 3 der sich mit »Zionsgemeinde Berlin« vorstellt,4 nimmt Kontakt auf zu einem Herrn in Leipzig, der sich mit »ESG-Informationsstelle« meldet (Studentenpfarramt Leipzig, A.-Kästner-Str. 11). Auf die Frage von Werner [Fischer], ob heute schon jemand aus Berlin angerufen hat, erwidert der Herr, dass ihnen bekannt ist, dass es in Berlin 400 Leute waren. 5 Daran anschließend berichtet Werner [Fischer], dass dann morgen Abend im »Heinrich-Krüger-Gemeindezentrum« in Wartenberg eine Informationsandacht im Rahmen eines Gemeindeabends stattfinden wird und für den Sonntag ein Gottesdienst geplant ist. 6 Von Werner [Fischer] nach dem gegenwärtigen Stand gefragt, berichtet der Herr, dass sich seit gestern Abend nichts groß geändert hat. Als Neuigkeit kann er aber vermelden, dass Wolfgang Sarstedt 7 1 Steffen Kray (geb. 1963), Kfz-Schlosser, 1982 SED, Mai 1982 Einstellung im MfS, Wachregiment Berlin (Soldat); seit 1986 operativer Mitarbeiter der KD Berlin-Treptow, April 1988 Versetzung zur Abt. XX/4 der BV Berlin, am 1.10.1989 Beförderung zum Unterleutnant; Entlassung Anfang Februar 1990. 2 Wolfgang Reuter (geb. 1936), Maschinenschlosser, SED 1954, seit 1954 operativer Mitarbeiter der Staatssicherheit (KD Flöha), ab Juli 1956 HA V, 1965 Referatsleiter in der HA XX/1; Diplomjurist der JHS mit der Kollektivarbeit: »Die Qualifizierung der IM/GMS-Systeme, ihres Einsatzes und der Zusammenarbeit mit ihnen zur zielgerichteten Aufklärung und Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion«; seit 1.2.1981 Abteilungsleiter der HA XX/9, 1985 Beförderung zum Oberst; Entlassung zum 28.2.1990. 3 Zur Leipziger Opposition siehe Dok. 117, Anm. 1. 4 Der Anruf erfolgte von der Gemeindeschwesternstation. 5 Gemeint ist eine Informationsandacht am 18.1.1989 in der Ostberliner Elisabethgemeinde. 6 Bei der Veranstaltung in Wartenberg (Berlin-Höhenschönhausen) bildeten die Leipziger Ereignisse einen Themenschwerpunkt. In der Zionsgemeinde fand am 22.1. der Sonntagsgottesdienst statt. Im Vorfeld wurde Pfarrer Simon von staatlichen Vertretern ermahnt, keine Fürbitten für Leipziger zuzulassen. Dennoch wurde nach seiner Predigt ausführlich über die Vorgänge berichtet, es sind Materialien und Aufrufe verteilt und auch eine Fürbitte vorgetragen worden. 7 Wolfgang Sarstedt (geb. 1961) engagierte sich in Leipziger Oppositionsgruppen, darunter in der AG Menschenrechte in der DDR. Er hatte seit Mitte der 1980er Jahre aber auch Kontakte zum MfS, für das er mit dem Decknamen »Wolfgang« mündlich über Aktivitäten z. B. der Menschenrechtsgruppe berichtete und dabei auch Kirchen- bzw. Samisdatmaterial übergab. Er entzog sich ab Anfang 1989 der Zusammenarbeit mit der Begründung, kein Vertrauen in die Arbeit des MfS zu besitzen. Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 1228/89.
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Dokument 119 vom 19. September 1988
eine Vorladung erhalten hatte, zehn Stunden lang »verhört« worden ist und gegen ihn gemäß §§ 218 und 220 StGB 8 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Sich auf den Brief (des LKA in Dresden) und auf die Reaktionen der Leipziger Superintendenten beziehend, was bei ihnen ein ziemliches Befremden ausgelöst hat, teilt Werner [Fischer] mit, dass die Berliner Basisgruppen dazu eine Erklärung verfassen werden. 9 Als der Herr erklärt, dass sie daran natürlich stark interessiert sind, meint Werner [Fischer], dass »das« erst heute Abend etwas werden dürfte und sie dann die Erklärung dem Herrn übermitteln werden. Ansonsten, so der Herr weiter, sind sie natürlich auch über die Erklärungen von [Friedrich] Magirius 10 und [Johannes] Richter 11 befremdet. 12 Wie Werner [Fischer] darlegt, hat ihn auch betroffen gemacht, dass gesagt worden ist, die Leipziger wollten keine Aktivitäten. Weil er in Leipzig gewesen ist, so Werner [Fischer], weiß er nämlich, dass die dortigen »Basisgruppen« sehr an unserer Solidarität interessiert sind. »Ja, auf jeden Fall!«, äußert der Herr. Von Werner [Fischer] nach Terminen von Andachten und Gottesdiensten gefragt, teilt der Herr mit, dass morgen um 20.00 Uhr in der MarkusGemeinde und am Sonntag (21.1.1989) um 18.00 Uhr in der Trinitatisgemeinde in Anger-Crottendorf (Lzg) 13 etwas stattfinden wird. Wie Werner [Fischer] berichtet, haben sie hier die Information erhalten, dass die Leute in Weimar, die dort in einer Kirche »Zuflucht gesucht hatten«, zu Strafen zwischen ein und drei Jahren verurteilt worden sind. 14 Den Leuten 8 § 218 StGB: »Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele«; § 220: »Öffentliche Herabwürdigung«. 9 Die Leipziger Superintendenten Magirius und Richter erklärten am 16.1.1989, dass sie bei aller Distanz zum Geschehen die Gemeinden darum bitten, »verantwortliche Fürbitten in den Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen« für die Inhaftierten zu halten (das Dokument ist abgedruckt in: Die Mücke. Dokumentation der Ereignisse in Leipzig, hg. von Mitarbeitern der Arbeitsgruppe Menschenrechte und des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Leipzig März 1989, S. 22). Nur einen Tag später nahm das Ev.-Luth. Landeskirchenamt in Dresden diese Bitte praktisch zurück und legte nahe, möglichst gar nichts zu tun (abgedruckt in: ebenda, S. 22–23). Die wichtigsten Ostberliner Oppositionsgruppen gaben daraufhin eine Erklärung heraus, in der sie kritisierten, dass die Kirchen in Leipzig und Sachsen so zögerlich und zurückhaltend auf die Inhaftierungen reagieren würden (abgedruckt in: ebenda, S. 23–24). 10 Friedrich Magirius (geb. 1930), Pfarrer, 1966–1968 vom MfS als IM »Einsiedel« erfasst, 1973–1982 Leiter der Aktion Sühnezeichen in der DDR, 1982–1995 Superintendent des Kirchenbezirks Leipzig-Ost. 11 Johannes Richter (1934–2004), Theologe, Pfarrer an der Thomaskirche Leipzig und von 1976 bis 1998 Superintendent im Kirchenbezirk Leipzig-West. 12 Siehe Anm. 9. 13 Stadtteil von Leipzig-Ost. 14 Es kam mehrfach zu Kirchenbesetzungen, um die eigene Ausreise zu befördern. Dazu existierte eine kircheninterne Absprache, wonach die Pfarrer im Falle gewaltloser Besetzungen keine DDR-Institutionen einschalten. Der Superintendent Weimars, Hans Reder, hielt sich am 4.12.1988 nicht daran und rief die Polizei, um »Besetzer« aus der Stadtkirche (Herderkirche), die bereits zum 5. Mal besetzt wurde, herausholen zu lassen. 2 Pfarrer waren von der Besetzung zuvor informiert worden. Reders Verhalten stieß nicht nur in seiner Landeskirche auf heftige Empörung und Protest.
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Dokument 119 vom 19. Januar 1989
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dort, so Werner [Fischer], haben wir auch eure Telefon-Nummer gegeben, sodass sie sich bei euch melden können. Wie Werner [Fischer] dann mitteilt, sind bei der »ArcheRegionalversammlung« 15 210 Mark als Spende zusammengekommen, wobei es bei der Andacht sicher etwas mehr geben wird. Als letzte Neuigkeit berichtet Werner [Fischer], dass hier ein »Kontakttelefon« 16 eingerichtet wird, wobei sie die Nummer dieses Telefons, wenn sie bekannt ist, gleich durchgeben wollen; »oder die melden sich selbst gleich bei euch«. 13.02 Uhr
Am 10.1.1989 sind 7 DDR-Bürger zu Haftstrafen zwischen 9 Monaten und 3 Jahren verurteilt worden (vgl. epd-Dokumentation Nr. 6/1989, S. 24). Reder, der seit 1970 als IM des MfS registriert war, trat zum 1.3.1989 freiwillig in den Ruhestand – und siedelte in die Bundesrepublik über. Die ersten beiden Verurteilten konnten ihm erst Mitte April folgen – freigekauft von der Bundesregierung. Auch als am 6.9.1988 18 Erwachsene und 14 Kinder die Evangelische Kirche in Eisfeld (Kreis Hildburghausen) nicht mehr verließen, um ihre Ausreise zu erzwingen, schaltete Oberkirchenrat Martin Kirchner (geb. 1949) den Staat ein. Da er als IM für das MfS unter mehreren Decknamen arbeitete, war es ein Leichtes, mit seiner Hilfe die staatliche Linie durchzusetzen. So war er auch daran beteiligt, eine Veranstaltung des »Offenen Gesprächskreises« am 21.1.1989 in der Weimarer Jakobskirche zu verhindern. Es sollte über die Leipziger Vorgänge informiert und Solidarität geübt werden. Das MfS glaubte zudem, die Kirche solle zu diesem Zweck besetzt werden (z. B. BStU, MfS, HA IX 3208, Bl. 21–24). 15 Gemeint ist das »Grün-ökologische Netzwerk Arche«, das in Regionalgruppen, die sich an der alten Länder- und nicht der DDR-Bezirksstruktur anlehnten, untergliedert war. Zur Arche siehe Carlo Jordan, Hans Michael Kloth (Hg.): Arche Nova. Opposition in der DDR. Das »Grünökologische Netzwerk Arche« 1988–90. Berlin 1995. 16 Es stand, nach monatelangen Verhandlungen mit der Kirchenleitung Berlin-Brandenburgs, seit Winter 1989 in der Ostberliner Gethsemanegemeinde zur Verfügung.
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Dokument 120 Prüfung der Anwendung der Möglichkeit des »Widerrufs von Anschlussgenehmigungen für Fernsprechanschlüsse« durch die Deutsche Post in Bezug auf sogenannte Kontakttelefone in kirchlichen Einrichtungen (Originaltitel) [nach dem 22. Januar] 1989 1 Von: MfS 2 An: MfS, HA XX/4 3 Quelle: BStU, MfS, HA XX/4 1533, Bl. 135–137
Nach den dem MfS vorliegenden Erkenntnissen wurden bestimmte Telefonanschlüsse von Kräften der politischen Untergrundtätigkeit, insbesondere nach der Durchführung rechtlicher Maßnahmen (zum Beispiel »Zuführungen«, Einleitung von Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchungen, Ordnungsstrafverfahren), politisch missbraucht. Sie wurden als sogenannte Kontakttelefone (ständige bzw. zeitweilige Besetzung) eingerichtet. Es war beabsichtigt, damit einen ständigen Informationsaustausch zum bekannt gewordenen Sachverhalt zu gewährleisten. Bei den bisher für derartige Zwecke benutzten Telefonanschlüssen in Berlin, Hauptstadt der DDR, handelte es sich um Fernsprechanschlüsse in kirchlichen Einrichtungen, wie zum Beispiel in der Generalsuperintendentur, der Gethsemanekirche, der Gemeindeschwesternstation [der] Zionskirchgemeinde und im Stadtjugendpfarramt. Gegenwärtig liegen keine Hinweise über die Tätigkeit mit derartigen Kontakttelefonen vor, sodass jetzt keine Veranlassung für die Durchführung besonderer Maßnahmen besteht. Streng vertraulich wurde bekannt, dass die Birthler, Marianne (41), Mitarbeiterin des Stadtjugendpfarramtes, beabsichtigt, einen Antrag an den Gemeindekirchenrat zu stellen, ein Kontakttelefon einzurichten. Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg hat sich, nachdem staatliche Forderungen erhoben wurden, gegen die Praxis der Einrichtung ständiger Kontakttelefone ausgesprochen, jedoch die zeitweilige 1 Ein Tagesdatum fehlt. Die vorgenommene Eingrenzung legt das Dokument selbst nahe, da Marianne Birthlers Alter mit 41 Jahren angegeben wird. Es könnte aber auch wenige Tage zuvor erstellt worden sein, da die Einrichtung des Kontakttelefons bei der Gethsemanegemeinde noch unterbunden werden sollte. Der endgültige Antrag (nach verschiedenen Arbeitspapieren) an den Gemeindekirchenrat der Gethsemanegemeinde stammt vom 6.2.1989 und wurde von Marianne Birthler und Dankwart Kirchner unterzeichnet (Mitteilung von Marianne Birthler am 7.11.2013; RHG MBi). 2 Der genaue Absender lässt sich aus dem vorliegenden Dokument nicht ersehen, neben der HA XX kommt auch die HA IX infrage. 3 Handschriftlich auf dem Dokument vermerkt.
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Dokument 120 [nach dem 22. Januar] 1989
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Nutzung kirchlicher Telefonanschlüsse toleriert. Durch operative Einflussnahme wird die Einrichtung eines derartigen Kontakttelefons durch die Birthler verhindert. 4 Falls es erforderlich ist, besteht entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen die Möglichkeit, derartige Kontakttelefone abzuschalten. Anlage Möglichkeiten des »Widerrufs von Anschlussgenehmigungen für Fernsprechanschlüsse« durch die Deutsche Post Der »Widerruf von Anschlussgenehmigungen für Fernsprechanschlüsse« erfolgt durch die Deutsche Post auf der Grundlage des § 12 Abs. 4 des Gesetzes vom 29. November 1985 über das Post- und Fernmeldewesen in Verbindung mit § 12 Abs. 1 der Durchführungsverordnung vom 29. November 1985 zum Gesetz über das Post- und Fernmeldewesen. Der Widerruf kann erfolgen, wenn u. a. durch den Anschlussinhaber die staatliche Ordnung erheblich beeinträchtigt wird (vgl. § 12 Abs. 4 Buchstabe b). 5 Der Widerruf muss begründet werden. Diese Begründung ist schriftlich dem Anschlussinhaber mitzuteilen. Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass zum »Widerruf des Fernsprechanschlusses« gem. § 33 des Gesetzes über das Post- und Fernmeldewesen das Rechtsmittel der Beschwerde gegeben ist und Rechtsanwälte einbezogen werden können.
4 Das gelang nicht, da im Februar 1989 ein Kontakttelefon in den Räumen der Gethsemanegemeinde eröffnet wurde. 5 Gesetz über das Post- und Fernmeldewesen vom 29.11.1985 § 12 Abs. 4 Buchstabe b: »Genehmigungen können geändert oder widerrufen werden, wenn […] b) die staatliche oder öffentliche Ordnung erheblich beeinträchtigt ist.«
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Dokument 121 Telefonat zwischen Werner Fischer und Wolfgang Templin 23. Januar 1989 Von: MfS, Abteilung 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 18, Bl. 102–106 bzw. AOP 1957/91, Bd. 15, Bl. 173–177
Wolfgang Templin ruft an. [Werner] Fischer teilt ihm sofort mit, dass er bis jetzt unterwegs war. Er ist soeben aus Leipzig zurückgekehrt. 1 Er war dort und hat sich umgesehen, was dort so passiert. Das interessiert Templin. Er erkundigt sich nach Fischers Eindruck. Der antwortet, es war irgendwie deprimierend, was an Blauäugigkeit, Naivität und Unbeholfenheit sowohl in den Gruppen als auch bei den Betroffenen abläuft. Fischer hat mit allen gesprochen, und die waren sich bei vielen Dingen gar nicht über die Konsequenzen im Klaren. Er kann jetzt auch ganz offen am Telefon darüber sprechen, weil es in mehrfacher Ausführung bei der Staatssicherheit liegt, denn die haben alle dort munter darauf los geplaudert, und sie sind natürlich die Initiatoren und Vorbereiter dieses Marsches dort. Dieser Name »Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung« ist ein Kunstname, und sie stehen fast alle dahinter. 2 Fischer hat sie veranlassen können, um wenigstens ein Stück Glaubwürdigkeit zu retten, dass sie in einer Erklärung, die morgen veröffentlicht wird, sich auch dazu bekennen. 3 Templin hält das auch für die einzige Chance. Fischer fährt fort, es waren auch sehr viel junge Leute dabei – Fischer hat mit denen viel geredet, und man hätte das schon viel früher machen sollen – aber er denkt, da das so glimpflich ausgegangen ist, obwohl die Ermittlungsverfahren weiterlaufen, sind bei vielen eine ganze Reihe an Gedankenprozessen in Gang gekommen. Die graben wahrscheinlich nun ein bisschen tiefer, überlegen was sie tun. Fischer hat den Leuten in Leipzig immer wieder klargemacht, wenn man so etwas initiiert und betreibt, dann soll man sich das vorher überlegen. Und man soll dahinter stehen oder nicht. Das macht einen dann auch in den Vernehmungen sicherer. Aber sich so zurückzuziehen und zu sagen, man wisse nichts – die Stasi-Leute wussten natürlich alles und konnten denen das auch beweisen –, das bringt alles nichts. Fischer findet, in Leipzig ist es im Argen, und er ist auch froh, wieder zu Hause zu sein. Heute Abend war er noch in der großen 1 2 3
Zur Leipziger Opposition siehe Dok. 117, Anm. 1. Siehe ebenda. Siehe Anm. 8.
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Dokument 121 vom 23. Januar 1989
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Veranstaltung in der Leipziger Nikolaikirche, von der er sich eine ganze Menge versprochen hat, da waren etwa 800 bis 1 000 Leute, 4 ganz viele Ausreiser, die aber nicht so militant aufgetreten sind, aber noch viel mehr waren Stasi und Grüne 5 dort. Die Innenstadt war abgeriegelt und da die Kirchenleitung dort stockkonservativ ist, wurde alles weggedrückt, weggebissen, was in irgendeiner Weise provozieren könnte. Die haben das alles schön eingebettet in Gebete und so weiter, und das Einzige, was sie zugelassen haben, war das Verlesen einer Erklärung durch den Michael Arnold 6, der mitinhaftiert war. 7 In dieser Erklärung bekennen sie sich ausdrücklich und bedanken sich bei allen, die sich mit ihnen solidarisiert haben. 8 Den Text kann sich Templin von Roland [Jahn] abfragen. Gleich danach hat sich Fischer in das Auto gesetzt und ist sofort nach Berlin zurückgefahren, weil er etwas um sich gebangt hat. Fischer findet es zwar nicht so gut, wenn man so etwas in der Öffentlichkeit wiedergibt, aber es war nicht sehr erfrischend. Templin fragt, ob Fischer nicht auch glaubt, dass es etwas mit an der Berliner Arroganz liegt. Fischer bejaht. Er hat das sehr deutlich gemerkt und sich mit vielen dort auch gestritten, diese 4 Am 23.1.1989 fand das jeden Montag abgehaltene Friedensgebet statt (vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 307–311). Am Vormittag waren die Superintendenten Magirius und Richter vom Staat ermahnt worden, keine politische Veranstaltung am Nachmittag zuzulassen. Das MfS jedenfalls zeigte sich nicht unzufrieden über den Verlauf des Friedensgebets. Werner Fischer wurde, wie gemeldet wurde, nicht unter den Teilnehmern entdeckt (MfS, HA XX, Lagebericht zur Aktion »Störenfried«, 24.1.1989. BStU, MfS, HA IX 3208, Bl. 13–14). 5 Neben Polizisten (»Grüne«) in Uniform und MfS-Angehörigen kamen auch sogenannte »gesellschaftliche Kräfte« zum Einsatz, das waren SED- und FDJ-Kader, die die Kirchenbänke rein physisch füllen sollten, später sollten sie auch diskutieren, was fast immer dazu führte, dass sie spätestens nun als SED-Abgesandte erkennbar waren. 6 Michael Arnold (geb. 1964) studierte Stomatologie und arbeitete seit 1987 in verschiedenen Leipziger Oppositionsgruppen mit. 7 Uwe Schwabe teilte am 27.9.2011 mit, dass sie tatsächlich eine andere harmlose Erklärung verfasst haben und von Magirius bestätigen ließen. Verlesen haben sie dann aber eine andere, die weitaus schärfer war (vgl. dazu diese Erklärung in Anm. 8). »Andere Gruppenmitglieder«, so Uwe Schwabe, »warfen uns hinterher ›Kamikaze‹ vor.« (E-Mail vom 27.9.2011). 8 Die 12 zeitweilig Festgenommenen bedankten sich für die erwiesene Solidarität und schrieben u. a. zu ihren Beweggründen: »Anliegen war es, die schon vor mehr als 70 Jahren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht eingeforderten Rechte der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit den Menschen unseres Landes nahezubringen. Dieser Aufruf gilt den gemeinsamen Forderungen nach einem Demokratisierungsprozess in unserer Gesellschaft. Als Voraussetzung dafür sehen wir die Überwindung politischer Teilnahmslosigkeit und Trägheit der Bürger zu bewusster Meinungsbildung und -äußerung, basierend auf der gesetzlichen Garantie politischer Grundrechte. Diesen Prozess betrachten wir als eine Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft. Wir sind der Meinung, dass politische Auseinandersetzung nicht durch das Strafgesetz gelöst werden kann. Trotz laufender Ermittlungsverfahren werden wir unsere Arbeit zu gesellschaftlichen Themen weiterführen.« (Die Erklärung vom 23.1.1989 ist abgedruckt in: Die Mücke. Dokumentation der Ereignisse in Leipzig, hg. von Mitarbeitern der Arbeitsgruppe Menschenrechte und des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Leipzig März 1989, S. 28.) Die EV wurden erst wenige Tage später eingestellt.
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Dokument 121 vom 19. September 1988
Ignoranz und Arroganz war nicht zu übersehen. Es hat sich zwar keiner hingestellt und gesagt, hier ist Leipzig oder so, aber Fischer merkte, wie zögernd das alles so kam. Er fand das bedauerlich und will da auch noch etwas kurbeln, um in einigen Gruppen da einiges deutlich zu machen. Peter [Grimm] ist am Dienstag gefahren, und [Werner] Fischer hat ihn am Freitag dort abgelöst. [Werner] Fischer hat dort versucht, einiges deutlich zu machen, und er musste natürlich dort auch spinnen, um denen dort zu helfen, um denen moralisch Auftrieb zu geben, indem er denen klarmachte, es passiert eine ganze Menge, »wir« sind da und verkriechen »uns« nicht in Berlin. Templin äußert, es ist ja auch eine ganze Menge passiert. Fischer redet weiter, alle zwölf Betroffenen waren fast zu Tränen gerührt, als Fischer denen gesagt hat, was so alles gelaufen ist. Damit hatten sie nicht gerechnet. Und das hat Fischer die Möglichkeit gegeben, denen in aller Härte zu sagen, was sie für Scheiße gebaut haben. Es geht los bei solchen simplen Sachen, dass sie alles unterschrieben haben, auf jede simple Frage munter ihre Antworten gegeben haben, bis auf einige wenige, aber das entschuldigt Fischer damit, dass sie noch sehr jung sind. Zwei waren es, die dort wirklich Courage gezeigt haben. 9 Templin will wissen, ob Fischer auch einige von den älteren Leipzigern hat sprechen können. Fischer bejaht, er sprach mit vielen. Es waren etliche aus anderen Städten da, und von der Seite aus gesehen war es ganz gut. Fischer weiß nicht, ob er als jemand betrachtet wurde, der dort helfen will, oder als jemand, der aus dem großen Berlin kommt und die Richtung zeigen will. Das war eigentlich nicht sein Anliegen, aber die Hörigkeit gegenüber Berlin ist noch ziemlich groß. Fischer findet das komisch. Er konnte denen in Leipzig mitunter erzählen, was er wollte, die sperrten dort die Münder auf und nahmen alles an. Aber Fischer hat denen gesagt, dass das Käse ist, dass es so nicht geht. Er hat sie aufgefordert, sie sollen in sich hineinhorchen, sich selbst überlegen, woher sie kommen, wohin sie wollen, sie sollen sich ihren Standort 9 Uwe Schwabe teilte hierzu am 27.9.2011 schriftlich mit: »Diese Interpretation von Werner Fischer kann so nicht stehen bleiben. Die Aussage, die 12 Betroffenen waren fast zu Tränen gerührt und sperrten dort die Münder auf und nahmen alles an, deckt sich nicht mit meiner Erinnerung. Es gab ein Gespräch in der Wohnung von Thomas Rudolph mit Peter Grimm. Dieser versuchte uns zu belehren, wie wir das in Zukunft besser oder anders machen sollten. Wir haben uns hinterher nur an den Kopf gegriffen und uns sehr über diese Berliner Arroganz aufgeregt. Es gab dann auch in den Berliner »Umweltblättern« einen Bericht über Leipzig von Peter Grimm. Nach diesem Bericht habe ich einen ›Leserbrief‹ an die »Umweltblätter« geschrieben und mich über diese Arroganz aufgeregt. Der ist aber leider nicht abgedruckt worden.« Vgl. (Peter Grimm): Leipziger Januar, in: Umweltblätter 1/1989, S. 3–7 (und weitere Dokumente). Der Brief von Uwe Schwabe ist nicht überliefert, weder im Privatarchiv Schwabe noch in den Archiven der RHG und auch nicht in den bisher eingesehenen MfS-Unterlagen. Im Archiv der RHG liegt lediglich ein handschriftliches Anschreiben ohne Datum von Uwe Schwabe vor, mit dem er einen Beitrag über »unsere Situation in diesem Land« zum Abdruck in den »Umweltblättern« anbietet. Er fügte hinzu, falls er nicht abgedruckt werden kann, »könnt Ihr es vielleicht an anderer Stelle verwenden« (RHG; das angebotene Manuskript ist bislang nicht gefunden worden).
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Dokument 121 vom 23. Januar 1989
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wirklich bestimmen, und na ja. Er denkt aber, es hat ein bisschen dort gefunkt. Die mussten ihre Erfahrungen machen, und Gott sei Dank ist es ja glimpflich abgelaufen. Sie sind alle nach relativ kurzer Zeit wieder entlassen worden, und Fischer denkt, dass es in ihren Diskussionen etwas bewirkt. Templin will nun etwas über Fischers Gefühle vom Freitag in der Botschaft wissen. 10 Fischer antwortet, das war gut. Er hatte das Gefühl, man hat darauf gewartet. Templin ging es am Donnerstag bei dem Gespräch auch ganz gut. 11 Fischer wiederholt, »der« hatte darauf gewartet, wollte sich mit Informationen vollpumpen und hat Fischer zugesichert, alles entsprechend weiterzuleiten. Fischer hat sich die »Aktuelle Kamera« vorhin angesehen, und da war eine Stelle, wo »er« [Ingvar Carlsson] auf Menschenrechte zu sprechen kam, aber da sagte auf einmal eine Sprecherstimme etwas ganz anderes darüber. Fischer nimmt also an, dass »er« das dort mit angebracht hat. Aber wie auch immer, befindet Fischer, »sie« mussten diesem Druck wieder einmal weichen, und eigentlich ziemlich schnell. Für Fischer war es ein Phänomen, dass am Sonntag trotz der Verhaftungen noch 800 Leute zur Demonstration gegangen sind. 12 Das wäre in Berlin nicht machbar gewesen. Auf Templin hat das auch viel Eindruck gemacht. Für Fischer war die letzte Woche ein Pokerspiel, mit seinem Telefon und so, aber er konnte nicht anders, aber bis jetzt ist es ja erst einmal gut gegangen. Templin hatte in der Woche von den Medien, aber auch von den Reaktionen das Gefühl, dass die Stimmung gegenüber der DDR randvoll ist. Da waren die KSZE-Geschichten, die DDR-internen Sachen, dann noch solche Superäußerungen wie mit 100 Jahre Mauer, das müsste endlich die schlafmützigsten Leute auf die Palme gebracht haben. 13 Das wurde zwar nicht so sehr 10 Vom 23. bis 24.1.1989 weilte Ingvar Carlsson als erster schwedischer Ministerpräsident zu einem Staatsbesuch in der DDR. Am Wochenende zuvor, am 21./22.1.1989, war er bereits mehr oder weniger »privat« in der DDR und besuchte Dresden (Neues Deutschland vom 23.1.1989). Werner Fischer sprach am 20.1.1989 in der Botschaft Schwedens vor und versuchte zu erreichen, dass Carlsson in seiner Unterredung mit Honecker auch die jüngsten Vorgänge in Leipzig sowie allgemein die Menschenrechtssituation in der DDR ansprechen würde. 11 Wolfgang Templin hatte am 19.1.1989 aus demselben Grund in der Botschaft Schwedens in Bonn vorgesprochen. 12 Gemeint ist die Demonstration vom 15.1.1989. 13 Erich Honecker hielt zu Beginn des Thomas-Müntzer-Gedenkjahres am 19.1.1989 eine Rede. Dabei nahm er auf die gerade zu Ende gehende KSZE-Nachfolgekonferenz von Wien Bezug und behauptete, in der DDR würden alle Menschenrechte geachtet. Dass die DDR gerade wegen der Menschenrechtssituation isoliert war und selbst »Bruderstaaten« wie Polen, Ungarn und die UdSSR erkennbar Distanz hielten, erwähnte Honecker in seiner Rede nicht. Stattdessen griff er die Bundesrepublik und die USA scharf an und schob ihnen die Verantwortung für die fehlende Reisefreiheit zu. Sie wären dafür verantwortlich gewesen, dass die DDR 1961 den »antifaschistischen Schutzwall« habe bauen müssen, und noch gebe es keine Gründe, daran etwas zu ändern: »Die Mauer wird (…) so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind.« (Neues Deutschland vom 20.1.1989).
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Dokument 121 vom 19. September 1988
übers Fernsehen ausgetragen, umso deutlicher war es jedoch in den Zeitungen. Da hat die DDR auf einmal wieder einen frappierenden Stellenwert bekommen. Fischer schätzt ein, »sie« lernen nie aus, »sie« stolpern von einem Fehler in den anderen. Aber das ist das, was hier mitunter den Reiz ausmacht. Templin glaubt, das hilft hoffentlich immer wieder den Leuten, die die SED kurz vor der reformerischen Reinigung sehen. Fischer berichtet, hier laufen jetzt so schöne Diskussionen, was soll das mit diesen Freidenkern 14, aber über dieses Thema kann man sich ja nun stundenlang unterhalten. Er denkt, da haben »sie« sich ein Kuckucksei ins Nest gesetzt, über dessen Qualität »sie« erst in vielleicht fünf Jahren befinden können, aber dann ist es wie beim Zauberlehrling. Fischer lacht. Fischer fand erstaunlich, dass seit Dienstag 15 keine Bewachung mehr zu sehen war. Davor kam er wieder einmal nicht aus dem Haus heraus. Selbst anlässlich der größeren Veranstaltung in der Elisabethgemeinde 16 war nichts davon zu sehen. Er war schon fast beleidigt. Fischer weiß nicht, was im Apparat zurzeit los ist. Das ist undurchschaubar. Da muss Etliches passieren. Er findet den Vorschlag von [Erich] Honecker heute bemerkenswert über die Truppenreduzierung. 17 Das ist der erste deutliche konkrete Schritt der DDR in Sachen Abrüstung, bisher war es ja immer nur verbal. Irgendwie müssen »die« von jemandem gedrückt werden. Hierauf entgegnet Templin, dass das Gastspiel von Wolf Biermann in Moskau perfekt sein soll. Fischer hat davon durch XXX gehört. Eva-Maria Hagen soll schon dort gewesen sein. 18 Fischer kommt wieder auf Leipzig zu sprechen. Er findet nun, dass das alles auch etwas provinziell ist. Aber er fand es gut, dass er dahingefahren ist, um sich ein eigenes Bild zu machen. Hier 19 haben sie nun ein Kontakttelefon, und es sieht so aus, als ob es, unabhängig von den Leipziger Ereignissen, längere Zeit wird bestehen können. Es ist erst zweimal in der Woche, aber es soll ein Anfang sein. In Leipzig wird ein Kontakttelefon auch weiterbestehen, aller-
14 Die Gründung eines Freidenker-Verbandes in der DDR ist im Januar 1989 bekannt gegeben worden. Er sollte ein von SED und MfS initiierter Versuch sein, der Kirche und Opposition gesellschaftliche Räume abzutrotzen. Der Versuch scheiterte. Vgl. dazu ausführlicher Kowalczuk: Endspiel, S. 304–307. 15 17.1.1989. 16 Gemeint ist eine Informationsandacht am 18.1.1989 in der Ostberliner Elisabethgemeinde. 17 Der erfolgte bei dem Treffen mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Carlsson (vgl. Neues Deutschland vom 24.1.1989). 18 Die Schauspielerin und Sängerin Eva-Maria Hagen (geb. 1934), die 1977 infolge der Biermann-Ausbürgerung die DDR verlassen hatte, trat in den letzten Dezembertagen 1988 in Moskau auf. Wolf Biermanns Auftritt in Moskau kam 1989 nicht zustande. 19 In der Ostberliner Gethsemanegemeinde.
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Dokument 121 vom 23. Januar 1989
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dings auch nur Montag und Freitag von 11.00 bis 14.00 Uhr, also über die Mittagszeit. 20 Fischer ist doch gemeinsam mit [Wolfgang] Schnur 21 hinunter nach Leipzig gefahren, und da wurde Fischer von den Leipzigern bestürmt, er solle mit Schnur reden, weil er der Einzige sei, der auf diese »Kirchenheinis« in Leipzig Einfluss hätte, und auf andere würden die nicht mehr hören. Gegenüber Schnur wurde dann auch zugesichert, dass das Kontakttelefon weiter besteht, und dass in der heutigen Kirchenveranstaltung ein Informationsteil sein wird. Als Schnur weg war, haben die Kirchenleute den Informationsteil aber wieder gestrichen. Dadurch war es nur ein Bla-Bla, schade. Fischer hat seit Freitag kaum geschlafen. Er hat fast Tag und Nacht mit den Gruppen in Leipzig gesprochen. Das sieht eben alles nicht so gut aus. Er war in der Scheiß-Situation, dass er etwas mehr weiß als die Leute dort, dass er aber nicht den Anschein von Überheblichkeit erwecken darf. Das war für ihn etwas schwierig. Auf jeden Fall war es eine wichtige Lehre für die Gruppen dort, die sind die eigentlichen Gewinner dieser Ereignisse. Sie müssten gelernt haben, dass man nicht so lax an solche Sachen herangehen kann. Die meisten Inhaftierten haben das als Gag empfunden, die wussten überhaupt nicht um die Tragweite, die das hätte annehmen können. Sie haben mit Verhaftung überhaupt nicht gerechnet und so. 22 Templin will wissen, »wie hoch man ihnen den Hammer gehängt hat«. Fischer findet erstaunlich, dass man nicht mehr als korrekt war, es gab auch keinerlei Drohgebärden. Fischer denkt, selbst die Stasi war dort unsicher, hat nur lockere Vernehmungen gemacht, und, wie man das so kennt, da kam von oben dann irgendeine Anweisung, dass die wieder freigelassen werden. Die Inhaftierten wurden kein bisschen unter Druck gesetzt. Allerdings haben die Vernehmung und die Haft bei den meisten schon ausgereicht, um locker loszuplaudern, mit Namensnennung und alles unterschrieben und so weiter. Und jetzt sitzen sie natürlich da und klopfen sich vor die Stirn. Aber da müssen die erst einmal durch, und es war sicher sehr heilsam für die Leipziger. Fischer kann als Verbündeter da erst einmal zufrieden sein über das, was gelaufen ist. 23 20 Auch in Leipzig – wie in Ost-Berlin – verhandelten Oppositionelle und Kirchenmitarbeiter seit Februar 1988 mit der Kirchenleitung über einen Raum mit Telefon. Erst Pfarrer Turek von der Markusgemeinde stellte schließlich ohne Rückendeckung am 15.9.1989 beides zur Verfügung. 21 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 22 Anmerkung von Uwe Schwabe vom 27.9.2011: »Das stimmt nicht. – Wir wussten am 12.1.1989, dass wir vom MfS beobachtet werden und haben kurzerhand das Treffen vor dem Verteilen der Flugblätter von der Zweinaundorferstr. in die Schletterstr. verlegt. Im Vorfeld hatten alle, die an der Verteilung teilgenommen hatten, eine geheime Telefonnummer erhalten, bei der sie sich nach der Verteilung zurückmelden sollten. Falls sie sich nicht zurückmelden würden, wussten wir, dass sie verhaftet sind.« 23 Anmerkung von Uwe Schwabe vom 27.9.2011: »Ich weiß nicht, wie Werner Fischer zu dieser Einschätzung kommt. Was sind lockere Vernehmungen? Die waren nicht locker. Wir wurden auch unter
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Dokument 121 vom 19. September 1988
Fischer fragt Templin, ob er schon das Sammelheft »Grenzfall« gekriegt hat. 24 Templin war darüber froh, dass das so gut geworden ist. Fischer hat es gerade vor sich liegen. Er findet, das ist eine sehr saubere Geschichte. Inzwischen ist auch ein neuer »Grenzfall« erschienen, und zwar Nr. 1–12/88. Templin hat diesen Reprint-Druck. Fischer will wissen, wie Templins Stimmung ist. Templin ist nach der Woche etwas müde, aber guter Stimmung. Fischer hofft, dass Templin viel für sich gewinnt und abschöpft, damit er ruhiger hierher zurückkommt. Fischer ist in Leipzig viel gefragt worden, ob Templin überhaupt noch zurück will und so, und Fischer hat gemerkt, dass es DDR-weit wichtig wird, jetzt nach einem Jahr, diese Geschichte so langsam wieder mit anzukurbeln. Templin kann sicher sein, dass »wir« das ohnehin tun werden. Es war nur wichtig und interessant, die Sensibilität von Leuten außerhalb Berlins kennenzulernen. Templin hat mit Leuten in Bezug auf »Solidarische Kirche« noch einmal intensiv sprechen können, vor allem in Richtung Kirche. Er sieht das Problem nach wie vor in zwei Phasen, nicht nur dort hineinzukommen, sondern wie es dann weitergeht. Das ist Fischer auch so vermittelt worden von der, die Templin besucht hat. Ob aber der zweite Punkt vorab hier so zu klären ist, dass es Templin befriedigen kann – die Gespräche mit der Kirchenleitung finden regelmäßig statt, das nächste wird am 2. Februar 25 sein. Fischer will »das«, vor allem jetzt mit seinen Detailkenntnissen, immer wieder vorbringen. Und Fischer denkt, er wird sie dahin bringen, dass »sie zumindest bei Lotte [Regina Templin] und ihren Arbeitsmöglichkeiten« vorbereitet sind. Wie es bei Templin aussieht – leider kann er nicht von einer staatlichen Stelle zur nächsten rennen, um Templin einen Arbeitsplatz zu besorgen. Dieses Problem sieht Templin gelassener. Druck gesetzt. Mir wurde zum Beispiel vorgeworfen, ich hätte mich im Herbst 1988 in Prag mit Peter Uhl getroffen und das würde mein Strafmaß noch einmal erhöhen. Die sagten irgendwas von feindlicher Verbindungsaufnahme. Ich glaube, was Druck ist und was nicht, konnte Werner Fischer bezogen auf uns damals gar nicht einschätzen.« 24 Gemeint ist der Nachdruck: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989. 25 Am 2.2.1989 sollte ein neuerliches Treffen der IFM mit Vertretern der ev. Kirche in der Generalsuperintendentur stattfinden. Ob Manfred Stolpe teilnehmen konnte, war Mitte Januar noch unklar. Im Mittelpunkt sollten Fragen des DDR-Volksbildungssystems stehen (HA XX/9, Information von »Martin«, 17.1.1989. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 28, Bl. 394–395; HA XX/9, Bericht zum Treff mit IMB »Wolf« am 14.1.1989, 17.1.1989. Ebenda, Bl. 396–398; BV Berlin, Abt. XX/2, Operative Information: Zusammenkunft der »Initiative Frieden und Menschenrechte« (Quelle: IMB »Christian«), 18.1.1989. Ebenda, Bl. 400–402). An dem Treffen, das in einer Wohnung eines kirchlichen Mitarbeiters stattfand, nahm Stolpe nicht teil. Wichtigster Vertreter der Kirche war dabei Probst Furian, von der IFM nahmen neben zwei IM (Böhme, Pawliczak) Grimm, Fischer und M. Böttger teil (HA XX/9, Berichterstattung über Pläne, Absichten, Aktivitäten und Handlungen feindlicher Kräfte, 7.2.1989. BStU, MfS, HA XX/9 1678, Bl. 110).
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Dokument 121 vom 23. Januar 1989
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Fischer muss immer wieder feststellen, dass Templin, Hirsch und Lotte eine große Lücke hier hinterlassen haben. Und er bittet Templin, immer wieder darauf zu achten, dass er und seine Familie »diesen Arschlöchern« hier keinen Vorwand bieten, ihnen die Rückkehr zu verwehren. Man hat zu Fischer deutlich gesagt, dass es natürlich nicht klar war, dass sie zurückkommen. Man habe sich durchgerungen und es sich überlegt, und man habe daran natürlich bestimmte Erwartungen geknüpft, und Fischer sei auf dem besten Wege dazu, diese nicht zu erfüllen. Auf jedem Fall soll [Regina und Wolfgang] Templins Rückkehr gut vorbereitet sein. Templin wurde mehrfach bescheinigt, gute Botschafter ihres Landes zu sein, und zwar von Seiten, die irgendetwas anderes erwartet hatten, eben unkontrollierte Emotionen und so. Fischer erwidert darauf, sie sollten sich immer an dem, was ihnen wichtig ist, festhalten und sich nicht verleugnen. Nur so können sie überleben. Fischer fragt Templin nach dessen Verhältnis zu Ralf [Hirsch]. Templin antwortet, wechselnd, in Krisenzeiten allerdings festigt es sich. Fischer denkt, was Ralf [Hirsch] macht, das macht er ordentlich, wobei er manchmal kein gutes Gefühl hat. Aber darüber will er nicht weiter am Telefon sprechen. Er schreibt einmal einen Brief. Fischer erkundigt sich nach einem Ost-West-Treffen. Templin entgegnet, das haben sie nicht mehr untergekriegt, weil Lotte in Amsterdam bei den Leuten von Amnesty International war. Damit kommen sie zur Verabschiedung. Sie freuen sich, dass sie so schön miteinander gesprochen haben, und sie bitten einander gegenseitig, auf sich acht zu geben. Mit vielen Grüßen verabschieden sie sich. 23.53 Uhr
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Dokument 122 Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch 26. Januar 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Kurt] Dohmeyer Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 4
[…] 1 Ralf Hirsch aus Westberlin nimmt Kontakt zu XXX auf, der sich in der Wohnung von Rainer Eppelmann aufhält. Rainer E[ppelmann] übernimmt dann gleich die Gesprächsführung. Ralf Hirsch blödelt herum und erklärt, dass er gerne ein Interview haben möchte. Auf die Frage von Rainer E[ppelmann], wozu, meint Ralf Hirsch, dass er etwas über die Lage in der DDR hören möchte. Rainer E[ppelmann] meint daraufhin, dass die Lage in der DDR kompliziert ist. Er hat gerade die »Nummer 13« gefunden. 2 Erstaunt meint Ralf Hirsch: »Schon wieder eine!« Rainer E[ppelmann] bestätigt das noch einmal und fügt hinzu: »Dank deines Freundes und meines Namensvetters«. 3 Wir waren auf den Gedanken gekommen, ein bisschen zu suchen. Und dann haben wir »es« auch schnell gefunden. Ralf Hirsch fordert Rainer E[ppelmann] auf, weiterzusuchen. Rainer E[ppelmann] erklärt dann, dass sie sich dachten, »ein Pilz wächst selten allein. Meistens ist es ein ganzes Geflecht«. Die Sache mache Rainer E[ppelmann] betroffen. Er bittet, dass Ralf Hirsch diese Nachricht für sich behält. Er sagte das auch nur, weil Ralf Hirsch zufällig jetzt Kontakt aufnahm, »als wir gerade dabei sind, das Ding auseinanderzubauen«. Spöttisch lachend meint Ralf Hirsch, dass er einmal kurz vorbeikommt. Ralf Hirsch versuchte jetzt lediglich die Kontaktaufnahme, weil er an den letzten beiden Tagen in den Abendstunden Rainer E[ppelmann] nicht errei1 Wolfram Hülsemann telefoniert aus der Wohnung von Rainer Eppelmann mit Marianne Birthler, die ihm sagt, dass Manfred Stolpe mit OKR Ingemar Pettelkau zu Eppelmann kommen würde. 2 Am 26.1.1989 fand Rainer Eppelmann in einer Tischlampe seiner Wohnung eine weitere Abhörwanze (siehe Dok. 111). Die erste gefundene trug eine Inventarnummer »14« (DDR. Wanze im Beichtzimmer, in: Der Spiegel Nr. 1 vom 2.1.1989, S. 16–17). Das berichtete auch Wolfgang Schnur: MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht Nr. 1 vom 14.1.1989, Tonbandbericht IMB »Dr. R. Schirmer«, 16.1.1989. BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Teil II, Bd. XIII, Bl. 201–203. Die nunmehr gefundene Wanze trug keine Zahl, sondern den Buchstaben »A« (siehe Dok. 124). 3 Gemeint ist Reiner Dietrich, der, wie sich nach 1990 herausstellte, als IM »Cindy« seit 1982 für das MfS tätig war. Vom MfS soll Dietrich für seine aktive Mithilfe beim Auffinden der Wanze gerügt worden sein.
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Dokument 122 vom 26. Januar 1989
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chen konnte. Eigentlich wollte Ralf Hirsch an Rainer E[ppelmann] einen Brief schreiben, aber »dein Freund und mein Boss halten mich im Stress«. 4 Mit den Wahlen hat Ralf Hirsch nichts zu tun. 5 Er erklärt weiter, dass gestern in der »Morgenpost« ein knappes Wahlergebnis vorausgesagt wurde. Und seitdem »spinnen die hier alle«. Rainer E[ppelmann] hatte den Eindruck, dass [Eberhard] Diepgen doch das Rennen machen wird, trotz aller Skandalgeschichten. 6 Ralf Hirsch führt weiter aus, dass die neueste Umfrage von »Springer« Neues ergeben hat, weshalb nun alle »spinnen«. Für ihn ist es lustig, das alles zu beobachten. Rainer E[ppelmann] drängt auf eine Beendigung der Unterhaltung, weil er die »graue Eminenz« jeden Moment erwartet. 7 Er fordert Ralf Hirsch auf, sich gegen 17.30 Uhr noch einmal zu melden. 8 Rainer E[ppelmann] meint spöttisch, dass sie alle mit Schweiß auf der Stirn hier sind. Bis auf »den«, der außerdem noch Wollhandschuhe an den Fingern hat. Ralf Hirsch, der auf den spöttischen Tonfall eingeht, rät, das ganze Haus abreißen zu lassen und anschließend neu aufzubauen. Abschließend bestellt Rainer E[ppelmann] Grüße von Wolfram Hülsemann. 9 15.27 Uhr
4 Gemeint ist der CDU-Politiker Ulf Fink. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 5 Am 29.1.1989 fanden in West-Berlin Wahlen zum Abgeordnetenhaus statt. 6 Vgl. z. B. zusammenfassend »Alle haben sie ihn unterschätzt«. Wahlkampf in Berlin: CDUBürgermeister Diepgen überstrahlt Filz und politische Fehlleistungen, in: Der Spiegel Nr. 3 vom 16.1.1989, S. 25–27. Die Wahlen am 29.1.1989 verlor die CDU überraschend. Zwar wurde sie stärkste Fraktion, aber SPD und AL gingen eine Koalition ein und Walter Momper wurde Regierender Bürgermeister. Die »Republikaner« errangen 7,5 % der Stimmen und erhielten 11 Mandate. 7 Damit war Manfred Stolpe gemeint (siehe auch Anm. 1). Aus einem dokumentierten Telefonat mit Stolpe wird ersichtlich, dass er aber OKR Pettelkau allein zu Eppelmann schickte: MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/61/89, 26.1.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 8. 8 Siehe Dok. 123. 9 Dieser hielt sich zum Zeitpunkt des Telefonats in Eppelmanns Wohnung auf.
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Dokument 123 Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch 26. Januar 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Kurt] Dohmeyer Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 24–25
Ralf Hirsch aus Westberlin setzt sich mit Rainer Eppelmann in Verbindung und erkundigt sich, ob dieser raus aus dem Stress ist. Rainer Eppelmann äußert, dass er noch Oberkonsistorialrat [Ingemar] Pettelkau 1 erwartet. Weiterhin erzählt Rainer Eppelmann, dass sie es ausgebaut haben. 2 Reiner Dietrich 3 hat die Lampe mitgenommen, um einen neuen Kabelbaum einzuziehen, damit Rainer Eppelmann die Lampe wieder benutzen kann. Ralf Hirsch fragt verwundert, ob es etwa in der Lampe war. Rainer Eppelmann bejaht. Es war in der Schreibtischlampe. Er betont, dass er dies aber jetzt nur zu Ralf Hirsch sagt. Rainer Eppelmann äußert, dass er sich nun völlig nackt fühlt. Ralf Hirsch rät ironisch abzuwarten, wenn es erst die Nummer 13 ist. Es könnte noch etwas zum Vorschein kommen. Rainer Eppelmann informiert, dass es morgen das Thema Nummer 1 in der Kirchenleitung sein wird. Die Kirchenleitung wird dann überlegen, wie es weitergeht. Eine Anzeige ist das Wenigste. Rainer Eppelmann meint, dies sei eine Verschärfung der Situation und sie müssen jetzt sehen, wie es weitergeht. Ralf Hirsch äußert, dass dies eine Frechheit sei. Rainer Eppelmann äußert dann, dass er den Tag eigentlich ruhig verbringen und eine Einladung für die nächste Konfirmandenrüste schreiben wollte. Dann bekam er Besuch »und da dacht’ ich, ach das ist doch schön. Nun lass doch gleich uns mal gucken. Mich lässt der Gedanke nicht los, dass da wo ein Pilz ist vielleicht auch ein Geflecht ist. Dann war es auch schon das Zweite. Rainer Eppelmann meint, man müsse eben etwas Glück haben. Ralf Hirsch fragt in diesem Zusammenhang, seit wann sein Gesprächspartner »BildInterviews« gibt. 4 Rainer Eppelmann erklärt, dass jemand von »Bild« aus Bonn 1 Ingemar Pettelkau (geb. 1939) war Kirchenjurist und im Konsistorium der Ev. BerlinBrandenburgischen Kirche tätig. 2 Es geht um die Abhörwanze. Siehe Dok. 111, 114, 122, 124, 126 und 127. 3 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 4 Vgl. Friedenspfarrer Eppelmann greift Bonn und rote Bonzen an, in: Bild-Zeitung vom 18.1.1989. U. a. hatte Eppelmann gesagt, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche sei gegenwärtig so schlecht wie seit Mitte der 1950er Jahre nicht mehr. Von der SED erwarte er, dass sie die Grenzen durchlässiger mache und von der Bonner Regierung, dass diese in dieser Frage stärker auf Ost-Berlin einwirke. Er kritisierte auch, dass der amtierende Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR mit angeblicher Rücksicht auf das Staat-Kirche-Verhältnis in der DDR ein vereinbartes
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Dokument 123 vom 26. Januar 1989
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anrief 5 und sich dann auch ausgesprochen korrekt verhielt. Er bekam dann noch einmal alles vorgelesen. 6 Ralf Hirsch will wissen, ob es [Kai] Diekmann von der »Bild-Zeitung« war. Rainer Eppelmann weiß dies nicht. 7 Er konnte jedenfalls sagen, was er korrigiert haben wollte. Nur die Überschrift kannte Rainer Eppelmann nicht und gegen die hätte er sich bestimmt gewehrt. Ralf Hirsch meint, die Überschrift würde keiner vorher kennen. Rainer Eppelmann sagt ironisch, dass es der »Bild-Zeitung« nicht schaden könne, wenn einmal ein paar sachliche Worte reinkommen. Ralf Hirsch behauptet in diesem Zusammenhang, dass man ab März oder April bei der »Bild-Zeitung« auf die Anführungszeichen verzichten will. 8 Rainer Eppelmann erwähnt dann, dass er morgen um 7.45 Uhr ein Interview für den »Deutschlandfunk« geben wird. 9 Es wird darum gehen, ob es Glasnost in der DDR gibt. Rainer Eppelmann vermutet, dass dies vor dem Hintergrund der Äußerungen von [Andrej] Sacharow in einer Zeitung zu sehen ist. 10 Treffen mit seiner Gemeinde abgesagt hat: »Ich würde mir Souveränität der Bundesregierung wünschen.« (Ebenda) Nur wenige Stunden vor diesem Interview kam die Absage der StäV telefonisch: MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/31/89, 7.2.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7191, Bl. 115. Bei dem amtierenden Leiter der StäV und der Bundesregierung kam es aufgrund von Eppelmanns Interview und seiner Kritik laut MfS-Dokumenten zu erheblicher Verärgerung und Irritation (MfS, HA XX/4, Bericht vom 19.1.1989, 20.1.1989. BStU, MfS, HA XX/4 2146, Bl. 1–5). 5 MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/32/89, 16.1.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7191, Bl. 117–121. Es handelt sich um das Abhörprotokoll zu dem geführten Interview. 6 MfS, Abt. 26/6, Information A/762/81/7/89, 17.1.1989. Ebenda, Bl. 126–127; MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/33/89, 17.1.1989. Ebenda, Bl. 128. 7 Wolfgang Partz führte mit Rainer Eppelmann das Interview. 8 Gemeint war die bei der Springer-Presse übliche Schreibung »DDR«. Ab 2.8.1989 entfielen die Anführungszeichen (DDR – wir ändern die Schreibweise, nicht unsere Überzeugung, in: BildZeitung vom 2.8.1989; Die Zweifel und die Hoffnung, in: BZ vom 2.8.1989; Springer-Zeitungen verzichten auf Anführungsstriche bei DDR, in: Der Tagesspiegel vom 2.8.1989). 9 Das führte Heribert Schwan dann mit Günter Krusche live von 7.46 bis 7.53 Uhr: MfS, Abt. 26/6, Information A/6274/88/8/89, 17.1.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7191, Bl. 134– 137 (Wortlaut des Interviews aus einer Telefonabhörmaßnahme); auch die telefonische Vorabsprache ist dokumentiert: MfS, Abt. 26/6, Information A/6274/88/7/89, 16.1.1989. Ebenda, Bl. 138. Die Absprache des Deutschlandfunks mit Rainer Eppelmann zu dem ursprünglich geplanten Interview ist ebenfalls abgehört und dokumentiert worden: MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/63/89, 26.1.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 5. 10 Es ließ sich nicht rekonstruieren, was genau gemeint gewesen war. Wahrscheinlich aber handelte es sich entweder um Sacharows Engagement im Rahmen der Bürgerrechtsorganisation »Memorial« oder um seine Aktivitäten für eine neue Verfassung und die bevorstehenden Wahlen (vgl. Andrej Sacharow: Mein Leben. München, Zürich 1991, S. 793–799, 829–846; darauf weitgehend basierend: Richard Lourie: Sacharow. Biographie. München 2003, S. 549–553; sein Verfassungsentwurf ist abgedruckt in: Andrej Sacharow: Ein Porträt aus Dokumenten, Erinnerungen und Fotos. Leipzig, Weimar 1991, S. 67–84; zur Entstehung von »Memorial« knapp Robert W. Davies: Perestroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie. München 1991, S. 192–193; in der Opposition in der DDR sind diese Entwicklungen intensiv verfolgt worden. Vgl. z. B. den Aufsatz aus dem Frühjahr 1989 von Gerd Poppe: »Wir sind dabei, uns selbst zu erkennen«. Die Zukunft der Vergangenheit der Sowjetunion, in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002, S. 527–542, spez. 532–533).
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Dokument 123 vom 19. September 1988
Ralf Hirsch teilt in der weiteren Unterhaltung mit, dass er morgen den Chef vom »Deutschlandfunk«, Herrn [Karl Wilhelm] Fricke, 11 treffen wird. Fricke ist öfter auch einmal in der DDR. 12 Rainer Eppelmann äußert, dass Fricke ja dann einmal einen »Staatsbesuch« machen könnte. Ralf Hirsch äußert, dass Fricke immer dachte, ein solcher Besuch schade »euch«. Ralf Hirsch konnte ihn aber davon überzeugen, dass dies nicht der Fall ist. Dann informiert Ralf Hirsch, dass Fricke Regie in einem Film führt, der u. a. mit Ralf Hirsch und »Kalle« (Karl-Heinz Bohley) gedreht wird. Ralf Hirsch erklärt, dass das Thema das sein wird, was heute auch bei Rainer Eppelmann aktuell war, allerdings im weitesten Sinne. Es geht um die »Staatssicherheit« und wie sie arbeitet. 13 Rainer Eppelmann äußert, sie sollen nicht vergessen, den »Spitzenspion« Rainer Wolf [zu] holen. 14 Ralf Hirsch informiert, dass dieser nicht 11 Karl Wilhelm Fricke (geb. 1929) war Redakteur und Leiter der Ost-West-Abteilung beim Deutschlandfunk. 12 Erstmals nach seiner Haftentlassung 1959 reiste Karl Wilhelm Fricke im November 1975 auf Einladung des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus, in die DDR ein. Bis zum Mauerfall fuhr er etwa zwei Dutzend Mal in die DDR. Vgl. »Ich wollte die Sprache derer sprechen, die zum Schweigen verurteilt waren.« Ein Interview von Ilko-Sascha Kowalczuk mit Karl Wilhelm Fricke, in: Karl Wilhelm Fricke: Der Wahrheit verpflichtet. Texte aus fünf Jahrzehnten zur Geschichte der DDR. Wiss. Bearb.: Ilko-Sascha Kowalczuk. Berlin 2000, S. 13–115, hier 67–73. Zur Biografie vgl. v. a. Karl Wilhelm Fricke: Akten-Einsicht. Berlin 1996. 13 Der Titel lautet: Im Dienst der Macht. Das MfS in der DDR. Dokumentation von Karl Wilhelm Fricke. Darin werden die Geschichte und Struktur des MfS, die Unterstellung unter SED und KGB ebenso angesprochen wie Zeitzeugen, darunter Ralf Hirsch, zu Wort kommen. Auch eine IM-Verpflichtungserklärung wird gezeigt und darauf hingewiesen, dass die inoffiziellen Mitarbeiter, deren Abkürzung IM in dem Beitrag genannt wurde, die wichtigste Kraft für das MfS seien. Außerdem wird ein Teil der »operativen Technik«, die das MfS zum Einsatz bringt, vorgestellt. Lediglich in einem geringfügigen Punkt war der Autor zu vorsichtig: Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter wurde mit »weit mehr als 20 000« angegeben, was zwar stimmte, aber eben doch fast 5-mal weniger war als die Anzahl tatsächlich betrug. Eine insgesamt ganz erstaunliche Produktion. Der Film entstand im Auftrag des SFB, ist aber nie ausgestrahlt worden, weil er politisch nicht opportun schien (Mitteilung von Karl Wilhelm Fricke am 23.10.2013; er stellte uns auch dankenswerterweise eine Kopie des fertig produzierten Films zur Verfügung). 14 Rainer Wolf war Anfang 1986 ausgereist und bekannte am 15.3.1988 in dem ARDPolitmagazin »Panorama«, 5 Jahre als Spitzel für das MfS gearbeitet und u. a. über Katja Havemann und Rainer Eppelmann Informationen geliefert zu haben. Er sei im Gefängnis von der Stasi angesprochen worden (was laut Stasi-Unterlagen zutraf). Schwerpunkt seiner Spitzeltätigkeit sei die Samariterkirche und deren Pfarrer Eppelmann gewesen. Er berichtete auch, wie er eine »Bluesmesse« (vgl. dazu Dirk Moldt: Zwischen Hass und Hoffnung. Die Blues-Messen 1979–1986. Berlin 2008) komplett mitschnitt und sofort der Stasi das Band überreichte oder wie er während der Bluesmessen mehrfach die »Operativgruppe« der Stasi anrief und berichtete. Er gab in dem Interview auch die Telefonnummer, die er wählte bekannt. Wolf berichtete weiter, wie er neben den Kirchen auch auf die Oppositionsszene in Jena oder auf Arbeiter, die eine freie Gewerkschaft gründen wollten, von der Stasi zielgerichtet angesetzt wurde. Und schließlich erzählte er, wie er »seinen Freund« Guntolf Herzberg ausspionierte und z. B. von dessen Wohnungsschlüssel der Stasi einen Wachsabdruck besorgt hatte. Herzberg wie Hirsch erklärten, dass sie von dem Eingeständnis von Wolf nicht überrascht seien und sich so etwas lange schon gedacht hatten. Hirsch meinte, ihre Veranstaltungen seien ohnehin öffentlich gewesen. Herzberg seien die Wohnungsdurchsuchungen aufgefallen und er hatte Wolf im Ver-
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Dokument 123 vom 26. Januar 1989
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mitmacht. 15 Er schätzt ein, dass er damals noch recht unerfahren war. Ralf Hirsch hatte aber, so meint Rainer Eppelmann, schon das richtige Gespür. Ralf Hirsch kommt dann auf sein Buch zu sprechen, was besser läuft als er dachte. 16 Es rufen ständig Leute bei ihm an zu Buchbesprechungen und in der »Frankfurter Rundschau« wurde es auch auf Seite 1 angekündigt. Es gab dort im Zusammenhang mit dem »Grenzfall« einen großen Artikel darüber. 17 Es gab auch Interviews mit dem NDR, dem Deutschlandfunk und dem RIAS. 18 Ralf Hirsch äußert, dies sei ja auch jetzt noch einmal interessant geworden, »nachdem die Stasi ihren eigenen ›Grenzfall‹« herausgebracht hat. Rainer Eppelmann fragt verwundert wieso. Ralf Hirsch meint, er vermute, dass es so war. 19 Rainer Eppelmann behauptet, keine Ahnung davon zu haben, weil er nicht so »dicht dran« ist. »Die« sind ja an ihm dichter dran als er an ihnen, meint Rainer Eppelmann. Sein Problem ist ja, dass er nicht dazu gehört. 20 Er kennt nur die Monika Haeger. 21 Die wird aber sicher misstrauisch sein, wenn er jetzt zu ihr kommt. dacht, aber wenn er diesen abgeschüttelt hätte, wäre der nächste Spitzel gekommen. Der Bericht endete damit, dass auch Kirchen und Pfarrhäuser verwanzt seien, kirchliche Telefone abgehört würden, aber Pfarrer auch ansprechbar seien, »wenn ein Stasi-Spitzel aussteigen will« (Aktionen des MfS gegen Kirchen, ARD, 15.3.1988 (Sendeprotokoll des Panoramabeitrages). BStU, MfS, ZAIG 23351, Bl. 13–22; Videomitschnitt der Sendung: ebenda, ZAIG/Vi 116). Gerd Poppe hat einem IM-Bericht zufolge diese Sendung mit den Worten kommentiert, »… so etwas müssten wir aufzeichnen. Das trifft die hart. Leider passiert so etwas zu selten.« HA XX/2, Bericht zum Treff mit IMB »Martin« am 18.3.1988, 18.3.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 26, Bl. 54. Rainer Wolf wollte schon länger ausreisen, versuchte dies im Herbst 1984 auch über die bundesdeutsche Botschaft in Bukarest zu erreichen, was nicht gelang. In dieser Zeit deskonspirierte er sich auch mehrfach und erklärte gegenüber dem MfS, nicht mehr für die Zusammenarbeit zur Verfügung zu stehen. Diese erlahmte, aber er wurde bis zu seiner Ausreise nicht entpflichtet. Die Angaben in dem Fernsehinterview lassen sich bezogen auf Eppelmann, Hirsch, Herzberg u.v. a. nachvollziehen. Die Beschaffung eines Schlüsselabdrucks hingegen nicht, was erneut auf den quellenkritisch zu betrachtenden Überlieferungszustand verweist (BStU, MfS, AIM 19276/85). 15 Hirsch erzählte aber in dem erwähnten Film (Anm. 13) dessen Geschichte als IM bezogen auf die Opposition. 16 Vgl. Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989. 17 Karl-Heinz Baum: »Ohne die vielgeschmähte Opposition geht es nicht«, in: Frankfurter Rundschau vom 24.1.1989. 18 Es kamen weitere Interviews wie für den SFB hinzu, die die Stasi alle mitschnitt und wortgetreu verschriftlichte. 19 Ralf Hirsch spielt auf die »Grenzfall«-Ausgabe 1–12/88 an, die ohne die bisherige »Grenzfall«-Redaktion herauskam. Hirsch war in West-Berlin, Peter Grimm und Peter Rölle sind nicht gefragt worden. Tatsächlich übernahmen Reinhard Weißhuhn und Bärbel Bohley die Zusammenstellung und Herausgabe. Für die technische Seite der Herstellung war Reiner Dietrich wie ehedem zuständig. Als IM »Cindy« diente er dem MfS und spielte Weißhuhn/Bohley und Grimm/Rölle gegeneinander im Stasi-Auftrag aus. 20 Im Original: »dass er nicht wer zuhört.« Wahrscheinlich ist die IFM gemeint. 21 Unklar, was er meint, weil er alle IFM-Mitglieder kannte. Haeger war IM des MfS.
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Dokument 123 vom 19. September 1988
Ralf Hirsch äußert dann, dass er sich noch umziehen muss, weil er nachher seinen Boss sieht. Nach dem Sonntag wird Ralf Hirsch ihn dann auch fragen, wann er wieder seinen Freund besuchen kommt. Diese Frage stellt Ralf Hirsch im Auftrag von Rainer Eppelmann. Ralf Hirsch und sein Gesprächspartner schätzen ein, dass der Boss von Ralf Hirsch (Ulf Fink?) neben Eberhard Diepgen die meisten Stimmen bei der Wahl bringen wird.22 Ralf Hirsch kommt dann auf einen Artikel in der »Hannoverschen Allgemeinen« zu sprechen, in dem es um eine Bilanz nach einem Jahr ging. Er schätzt ein, dass dabei nur er selbst gut wegkommt, Freya Klier und Stephan Krawczyk werden scharf angegriffen. 23 Rainer Eppelmann fand auch die Sendung der beiden schwach. 24 Er findet, Ralf Hirsch habe eine gute Kritik verdient. 22 Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 29.1.1989 verlor die CDU überraschend. Zwar wurde sie stärkste Fraktion, aber SPD und AL gingen eine Koalition ein und Walter Momper wurde Regierender Bürgermeister. Die »Republikaner« errangen 7,5 % der Stimmen und erhielten 11 Mandate. Fink galt neben Diepgen als wichtigstes »Zugpferd«. 23 Anita Röntgen: Den Schock noch nicht ganz überwunden. Die aus der DDR ausgewiesenen Bürgerrechtskämpfer hadern noch mit ihrem Schicksal, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 23.1.1989. Der Artikel schildert vor allem, wie es Freya Klier, Stephan Krawczyk und Ralf Hirsch ergangen ist. Das Zerwürfnis zwischen Hirsch und Klier/Krawczyk wird erwähnt, weil sie die Vorgänge unterschiedlich interpretierten. Die Autorin ist tatsächlich gegenüber Klier/Krawczyk kritischer eingestellt als gegenüber Hirsch. Bärbel Bohley wird noch gewürdigt und dass sie wieder in der oppositionellen Menschenrechtsarbeit in Ost-Berlin engagiert sei. Über Werner Fischer wird behauptet, er käme in der DDR nicht mehr zurecht. Vera Wollenbergers (Lengsfeld) Studium in Cambridge wird erwähnt und dass sie ihr Visum problemlos verlängern konnte. Wolfgang und Regina Templin werden gar nicht erwähnt. In einem anderen Beitrag hingegen werden die Erfahrungen der Templins sowie von Klier und Krawczyk nach einem Jahr Bundesrepublik reflektiert, hier tauchen wiederum Hirsch, Bohley, Fischer und Wollenberger nicht auf: Martin Ahrends: Immer noch auf Abruf? Stephan Krawczyk und Freya Klier haben Abstand zur DDR gewonnen, in: Die Zeit vom 20.1.1989. 24 Die ARD strahlte am Abend des 15.1.1989 ab 21.55 Uhr den Film »Ein Jahr nach der Ausbürgerung« von Uwe Heitkamp aus. In einer Filmkritik hieß es: »Stephan Krawczyk, mit dem sich der Beitrag hauptsächlich beschäftigt, scheint seine jetzige Situation eher zu entspannen. Er habe doch die Medien nicht gesucht; der Zustand als Symbolfigur im Osten ›war ein krankhafter‹. Nun könne er endlich Freiheiten nutzen, auf der Bühne stehen und mit Menschen reden. Er strahlt, als er von seinen Reisen erzählt, von Amsterdam bis Portugal mit dem Auto, von einer Segeltour auf dem Atlantik. Krawczyk sieht man in seiner karg eingerichteten Kreuzberger Wohnung, sieht ihn mit seinem Sohn an dieser Seite der Mauer spielen, hört ihn Liedtexte rezitieren und begleitet ihn auf Tournee. Sehr viel distanzierter der Versuch, sich der Theaterregisseurin Freya Klier zu nähern. Zwar wird auch sie an ihren Arbeitsplatz begleitet, auf Spaziergängen gefilmt, aber offenbar will er von ihr eher die politische als die persönliche Befindlichkeit wissen. […] Sie kritisiert die deutsche Linke ob ihrer Blauäugigkeit der DDR gegenüber, beklagt deren Einäugigkeit, wenn es um Regimes wie das rumänische geht, über das sie gerade ein Stück einstudiert. Zu glatt präsentiert der Film die ›politische‹ Freya Klier und den ›privaten‹ Stephan Krawczyk. Gefehlt hat mir die Information über und die Konfrontation mit der Kritik an dem Prominentenpaar. Dass sie sich zu schnell in den Westen abgesetzt hätten, dass sie wegen ihres Bekanntheitsgrades mehr Möglichkeiten gehabt hätten, in der DDR etwas zu verändern, ist ihnen von Teilen der Friedensbewegung oft vorgeworfen worden. Ob diese Kritik berechtigt ist oder nicht, sei dahingestellt – nur gehört hätte man sie gerne dazu. Das Paar weitgehend als sympathische Zeitgenossen, die vor einem Jahr aus dem Osten kamen, zu präsentieren, spart Widersprüche aus und tut ihnen gerade damit Unrecht« (Rita Hermanns: Widerspruch ausgespart, in: taz vom
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Dokument 123 vom 26. Januar 1989
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Lachend erzählt Ralf Hirsch weiter, dass er jetzt erst einmal gesehen hat, was ihre Transitsache bewirkte. 25 50 verschiedene Zeitungen haben sich dafür interessiert. Rainer Eppelmann hofft, dass dies ausreicht, um dieses Ding nicht unter den Teppich zu kehren. Ralf Hirsch verneint und meint, dass dies ja auch an ihnen liegt. Ralf Hirsch erkundigt sich dann, ob Rainer Eppelmann Uli Schwarz gesehen hat. Rainer Eppelmann informiert, dass er bei diesem heute zum Frühstück war. Ralf Hirsch interessiert, warum Uli Schwarz in seinem Blatt nichts gemacht hat. Rainer Eppelmann behauptet, Uli Schwarz habe dazu nichts gesagt. Außerdem würden sie nur über private Dinge reden. Ralf Hirsch bestellt dann Grüße von Jürgen (Fuchs?). Dieser brachte gestern Sachen zu Ralf Hirsch. Rainer Eppelmann will wissen, ob sich die Haltung von Jürgen [Fuchs] zu ihm neutralisiert hat. Er vermutet, dass es sicher wegen ihrer unterschiedlichen Meinungen zu Jena dazu kam. 26 Ralf Hirsch verneint. Jürgen [Fuchs] wunderte sich nur, warum sich Rainer Eppelmann bei seinen Westreisen nicht mit ihm treffen will. Er vermutete, Rainer Eppelmann hätte Angst, dass ihm dieser Kontakt schadet. Rainer Eppelmann äußert, dass Jürgen [Fuchs] sich früher oft telefonisch bei ihm meldete, dann
17.1.1989). Diese Filmkritik ist treffend, lediglich unerwähnt bleibt, dass in dem Film auch die Biografien der beiden sowie die Umstände ihrer Ausbürgerung beleuchtet werden. 25 Ralf Hirsch u. a. ehemalige DDR-Bürger durften auch die Transitwege von und nach WestBerlin nicht benutzen. Dagegen hatten Hirsch und K. Bohley erfolglos vor dem Verwaltungsgericht Köln zu klagen versucht (u. a.: Kein Transit, in: taz vom 19.9.1988; RIAS-Interview mit Ralf Hirsch am 16.5.1988 (Abschrift). BStU, MfS, HA XX/9 793, Bl. 326–327). Sie wollten erreichen, dass die Bundesregierung ihr Transitrecht auf der Grundlage deutsch-deutscher Vereinbarungen durchsetzt. In dem Transitabkommen (1971/72) war zudem vereinbart worden, dass Zurückweisungen an der Grenze von der DDR begründet werden müssten. Dies wollten sie ebenfalls durchsetzen. 26 Rainer Eppelmann kann sich nicht erinnern, worum es dabei ging (Mitteilung am 25.10.2013). Die Vorgänge in Jena 1982/83, insbesondere das Verhalten Einzelner, das zur Ausreise aus der DDR führte, aber auch Äußerungen nach der Ausreise waren umstritten (vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: »Aktion Gegenschlag«, in: Gerbergasse 18 1 (2013) 66, S. 17–23). Am 19.1.1983 hatte Roland Jahn in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt einen Ausreiseantrag gestellt (BStU, MfS, U 34/89, Bd. 2, Bl. 147). Am 23.5.1983 – nach Entlassung aus der Haft am 25.2.1983 – erklärte Jahn gegenüber Rechtsanwalt Schnur (IM des MfS) schriftlich, dass er den Antrag nicht unter Einfluss und Einwirkung von Schnur gestellt habe (ebenda, Bl. 136). Dieses Schriftstück schrieb Jahn in der Wohnung von Rainer Eppelmann in dessen und Schnurs Beisein. Schnur übergab die Erklärung Jahns der Stasi sowie dem Rat der Stadt Jena. Jahn wiederum hatte mündlich gegenüber dem Rat der Stadt Ende März zwar erklärt, er halte seinen Antrag nicht aufrecht, kam aber der dort gestellten Aufforderung, dies schriftlich zu dokumentieren, nicht nach. Dies war politischen Freunden wie Rainer Eppelmann, Jürgen Fuchs, Lutz Rathenow oder Gerd und Ulrike Poppe bekannt, die z. T. selbst auf Jahn versuchten einzuwirken, die Rücknahme schriftlich zu machen. Nach Jahns Abschiebung kam es zu Protesten, u. a. schrieb Ulrike Poppe an Stephan Hermlin einen Brief und bat vergeblich darum, dass er sich für eine Rückkehr Jahns engagiere (Ulrike Poppe an Stephan Hermlin, 15.6.1983. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 15, Bl. 76–77).
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Dokument 123 vom 19. September 1988
aber nicht mehr. 27 Er glaubte nun, dies hänge mit der Einschätzung zusammen, die Rainer Eppelmann bezüglich Jena getroffen hätte. 28 Ralf Hirsch glaubt dies nicht. Rainer Eppelmann erzählt dann weiter, dass neulich der »beste Freund« von Ralf Hirsch anrief und sagte, er würde sich mit Ralf Hirsch wieder besser verstehen. Ralf Hirsch bestätigt dies. 29 Es gibt eine klare Trennung der Aufgaben, wobei sie auch einige Sachen gemeinsam erledigen. Rainer Eppelmann vermutet, dass dieser Freund versucht, über Ralf Hirsch an ihn heranzukommen. Ralf Hirsch hält dies für möglich. Verwundert stellt Ralf Hirsch dann fest, dass sich XXX nicht mehr gemeldet hat. Rainer Eppelmann meint, XXX würde Ralf Hirsch für arrogant halten, was seine Minderwertigkeitskomplexe zum Ausdruck bringt. Ralf Hirsch erklärt, dass er nichts gegen XXX hat. Ralf Hirsch erzählt dann, dass er heute zu einer großen Party muss. Dazu sind auch Übersiedler eingeladen. Die Party ist im Kongresszentrum. Er wird dort Eberhard Diepgen und Rita Süssmuth 30 treffen. Rainer Eppelmann bittet, beide von ihm zu grüßen. Er kennt ja ein paar Leute und Ralf Hirsch kann ihnen sagen, dass sie sich einmal sehen lassen können. Rainer Eppelmann äußert in diesem Zusammenhang, dass er heute auch ausgeht. Er wird mit dem Ehepaar XXX zusammen in die Staatsoper gehen. Rainer Eppelmann stellt dann fest, dass er jetzt viel mehr Zeit an den Abenden hat. Es wird aber anders werden. Er geht davon aus, dass sich die Jelena Bonner irrt. 31 Warum soll sich Ralf Hirsch nicht auch die DDR einmal mit Wehmut im Herzen ansehen, meint Rainer Eppelmann ironisch. Ralf Hirsch äußert dann, dass er Bücher an Rainer Eppelmann schicken wird. Rainer Eppelmann erwähnt, dass er morgen um 16.00 Uhr Besuch bekommt. Reiner Dietrich wird dann bei Rainer Eppelmann sein. Ralf Hirsch will versuchen, zu diesem Zeitpunkt einmal zu telefonieren, um mit Reiner
27 In Stasi-Unterlagen über Jürgen Fuchs sind Telefonabhörprotokolle mit Rainer Eppelmann bis Mitte 1983 nachweisbar bzw. überliefert (BStU, MfS, AOP 15665/89, Beifügung Bd. 5 u. 6). Aus den nachfolgenden Jahren sind keine Telefongespräche zwischen den beiden überliefert. 28 Siehe Anm. 26. 29 Es handelt sich um Roland Jahn. 30 Rita Süssmuth (geb. 1937) ist am 25.11.1988 zur Präsidentin des Deutschen Bundestages gewählt worden. 31 Es ließ sich nicht rekonstruieren, was hier genau gemeint war. Die Kinderärztin Jelena G. Bonner (1923–2011) war seit 1972 mit Andrej Sacharow verheiratet und wurde an seiner Seite zu einer der wichtigsten sowjetischen Menschenrechtsaktivistinnen. Vgl. Jelena Bonner: In Einsamkeit vereint. München, Zürich 1986.
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Dokument 123 vom 26. Januar 1989
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Dietrich sprechen zu können. Rainer Eppelmann bittet dann, nicht die Grüße an Rita Süssmuth, Ulf Fink und [Ludwig] Rehlinger 32 zu vergessen und diese Leute auch einzuladen. Ralf Hirsch will dies alles tun. 18.00 Uhr
32 Ludwig Rehlinger (geb. 1927), Jurist, CDU, 1957–1969 Ministerialbeamter im Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, 1969–1971 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts, 1982–1988 Staatssekretär im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 1988/89 Berliner Justizsenator. Er spielte bei den Verhandlungen mit der DDR über den Häftlingsfreikauf auf bundesdeutscher Seite eine zentrale Rolle. Vgl. Ludwig A. Rehlinger: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten. Frankfurt/M., Berlin 1991; Jan Philipp Wölbern: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Göttingen 2014; »Besondere Bemühungen« der Bundesregierung. Bd. 1: 1962 bis 1969: Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch (= Dokumente zur Deutschlandpolitik). München 2012.
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Dokument 124 Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Martin-Michael Passauer 27. Januar 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Kurt] Dohmeyer Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 17–18
Pfarrer Martin-Michael Passauer (1020 Berlin […]) nimmt Kontakt auf zu Rainer Eppelmann. Wie Martin-Michael Passauer erklärt, war ihm bekannt, dass Rainer E[ppelmann] heute früh wegen eines wichtigen Auftritts zeitig aufstehen musste. 1 Er hatte nur nicht vermutet, dass Rainer E[ppelmann] gegen 8.30 Uhr schon weg ist. Um diese Zeit hat er (Martin-Michael Passauer) nämlich versucht, ihn zu erreichen, was aber nicht klappte. Weiter führte Martin-Michael Passauer aus, dass Rainer E[ppelmann] ja gemerkt haben wird, dass er (Martin-Michael Passauer) es gestern nicht mehr geschafft hat. Martin-Michael Passauer wäre deshalb daran gelegen, wenn Rainer E[ppelmann] »das« nun heute mitbringen würde. In diesem Zusammenhang erwähnt Martin-Michael Passauer, »ihn« (dritte Person) heute gefragt zu haben, wobei »dieser sagte, es wäre auch noch ausreichend«, wenn »das« heute bei »ihm« in den Kasten gesteckt wird. »Alles andere dann heute Abend«, stellt Martin-Michael Passauer zum Abschluss dieser Problematik fest. Von sich aus teilte Rainer E[ppelmann] dann mit, immer noch »beim Pilze suchen« zu sein. 2 Auf diesen Ton von Rainer E[ppelmann] eingehend erkundigt sich Martin-Michael Passauer, ob dieser denn ein so umfangreiches Beet hat. Darauf eingehend führt Rainer E[ppelmann] aus, dass »der Steinpilz« zumindest nicht an Einsamkeit gestorben ist. Als Martin-Michael Passauer darauf erwidert, dass Rainer E[ppelmann] dann eben nachsehen muss, wo »er« sich vermehrt hat, erwidert dieser, das schon zu wissen. Stolz berichtet Rainer E[ppelmann], schon den zweiten »Steinpilz« gefunden zu haben, wobei dieser im Fuß einer Schreibtischlampe »gewachsen« ist. 3 Als Rainer E[ppelmann] in diesem Zusammenhang wissen will, ob Martin-Michael Passauer denn heute nicht in der Kirchenleitung gewesen ist, erwidert dieser, dass die doch heute außerhalb von Berlin tagt. Weiter legt Rainer E[ppelmann] dann nicht ganz ernst gemeint dar, dass dieser zweite »Pilz« gestern gegen 14.00 Uhr auf einmal sagte: »Hurra, hier bin ich!« Auf die Bemerkung von Martin-Michael Passauer, 1 2 3
Das geplante Interview fand wahrscheinlich nicht statt. Siehe dazu Dok. 123. Es geht um die Suche nach weiterer Abhörtechnik. Siehe Dok. 122 und 123.
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Dokument 124 vom 27. Januar 1989
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dass da wohl ein Defekt in der Lampe gewesen ist, erwidert Rainer E[ppelmann], dass das nicht der Fall war. »Inzwischen bin ich nämlich dabei, systematisch Theologie zu studieren«, äußert Rainer E[ppelmann] ironisch. Als Martin-Michael Passauer wissen will, ob »da« auch wieder eine Nummer darauf gestanden hat, wird das von Rainer E[ppelmann] mit dem Hinweis verneint, dass dieses Mal ein großes »A« darauf stand. 4 Auf eine weitere Frage erwidert Rainer E[ppelmann], dass es sich »bei dem« um eine bessere, kleinere und neuere Technik gehandelt hat. Weiter führt Rainer E[ppelmann] aus, dass es seine Lampe gewesen ist, die er schon in der Niehofer Straße, also schon viele Jahre gehabt hat. Deshalb kann jetzt auch keiner sagen, »das« hat nicht ihnen gegolten. Ob dieses Argument schon einmal im Gespräch war, weiß Rainer E[ppelmann] nicht, räumt aber ein, dass es bei »dem ersten« ja hätte sein können, dass »es« noch bevor »die Mauer« gebaut worden ist, vom »BND« in eine alte Pfarrwohnung eingebaut worden ist; in einer Zeit also, wo an ihn noch gar nicht zu denken war. Wie Martin-Michael Passauer bemerkt, muss Rainer E[ppelmann] ja nun wie ein richtiger Großwildjäger losgehen. Lachend teilt Rainer E[ppelmann] mit, dass sein Freund Wolfram (Wolfram Hülsemann) nun allmählich Komplexe bekommt, weil dieser immer noch nichts gefunden hat, während er (Rainer E[ppelmann]) schon auf »das zweite« verweisen kann. Auf die Äußerung von Martin-Michael Passauer, dass »die« doch eine »Macke« haben müssen, erwidert Rainer E[ppelmann] wieder ernst werdend, dass er das nicht glaubt. Abschließend bemerkt er dazu, dass sie sich heute Abend ja weiter darüber unterhalten können. Auf die Frage von MartinMichael Passauer, ob sein Freund Wolfgang (Rechtsanwalt Wolfgang Schnur 5) heute Abend auch dabei ist, meint Rainer E[ppelmann], dass dieser wohl auswärts eine wichtige Verhandlung hat. Martin-Michael Passauer bemerkt zum Abschluss der Unterhaltung, dass er sich beeilen will und hofft, bis spätestens »um zehn« (22.00 Uhr) da zu sein. 18.00 Uhr
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Die erste aufgefundene Abhörwanze trug die Inventarnummer »14«. IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang.
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Dokument 125 Telefonat zwischen Katharina Harich und Marianne Birthler 29. Januar 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Kurt] Dohmeyer Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7204, Bl. 16–17
Katharina Harich nimmt Kontakt auf zu Marianne Birthler, um mitzuteilen, dass sie zu der für heute Abend anberaumten Zusammenkunft der Personen, die das Kontakttelefon besetzen werden […], nicht kommen kann, weil ihre Tochter erkrankte. 1 Daraufhin schlägt Marianne Birthler vor, dass Katharina H[arich] ihr zwei Zeiten benennt, in denen sie den Dienst übernehmen könnte. Katharina H[arich] nennt daraufhin den 6.2. und 16.2. jeweils von 20.00 bis 22.00 Uhr. Auf ihre Frage, ob sie unbedingt persönlich den Dienst wahrnehmen muss, entgegnet Marianne Birthler, dass sich das unbedingt notwendig macht, da sie der Gemeinde (Gethsemane) zehn Personen namentlich benennen müssen. Als Katharina H[arich] fragt, wer noch alles in der Gruppe ist, nennt Marianne Birthler außer sich selbst noch folgende Personen: – Fischer, Werner – Poppe, Ulrike – Weißhuhn, Reinhard – Singelnstein, Christoph 2 – Kirchner, Dankwart – »Hilli« (Gerold Hildebrand?) 3 – Hein, Andreas 4 1 Zum Kontakttelefon liegen zahlreiche Unterlagen in: RHG, Bestand Marianne Birthler, MBi 08. Hier finden sich auch Aufzeichnungen, wer wann Dienst am Telefon hatte und welche Informationen, Anfragen usw. eingingen bzw. weitergeleitet wurden. Die Bereitschaftsdienste begannen demzufolge am 26.1.1989, unklar bleibt, ob da auch schon tatsächlich das Telefon zur Verfügung stand, nachweisbar ist die Inbetriebnahme ab Februar 1989. Zunächst wurde zwei Mal pro Woche das Telefon genutzt. 2 Christoph Singelnstein (geb. 1955) war nach dem Abitur von 1974 bis 1977 Bühnenarbeiter am Deutschen Theater in Ost-Berlin, studierte von 1977 bis 1982 Theaterwissenschaften, arbeitete anschließend als Kulturredakteur und Hörspieldramaturg; engagiert in der kirchlichen Friedensbewegung der DDR und in der IFM; im Juli 1990 von der Regierung de Maizière zunächst zum stellv. Intendanten und im August zum Geschäftsführenden Intendanten des Rundfunks der DDR ernannt; seither Führungsfunktionen beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) bzw. Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). 3 Der Spitzname von Gerold Hildebrand lautet »Hilli«. 4 Andreas Hein (1950–2013), dessen Vater Pfarrer war, arbeitete als Stadtjugendwart in OstBerlin. Sein Bruder ist der Schriftsteller Christoph Hein.
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Dokument 125 vom 29. Januar 1989
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– Gernentz, Jürgen (Mitarbeiter der Gethsemanegemeinde) 5 Als Katharina H[arich] nochmals auf den Informations-Gottesdienst am 12.2. um 16.00 Uhr in den Räumen der »Kirche von unten« verweist, 6 fragt Marianne Birthler, welchen Charakter dieser Gottesdienst haben soll, da inzwischen alle Ermittlungsverfahren gegen die in Leipzig Festgenommenen eingestellt wurden. 7 Katharina H[arich] ist darüber sehr verwundert, da sie das noch nicht wusste. Auf ihre Frage, ob diese Information gesichert ist, erwidert Marianne Birthler, dass sie das von zwei Seiten erfuhr, u. a. von Werner Fischer, der es direkt aus Leipzig gehört haben soll. 8 Katharina H[arich] fragt an, welchen Sinn das Kontakttelefon denn jetzt überhaupt noch haben soll. Marianne Birthler meint dazu, dass sie mit der Gethsemanegemeinde eine Vereinbarung getroffen haben, wonach das Kontakttelefon zunächst bis Ende Februar besteht. Marianne Birthler betont, dass das längerfristige Ziel darin besteht, das Kontakttelefon zu einer ständigen Einrichtung werden zu lassen und ihm andere Inhalte zu geben. Sie denkt dabei an Informationen über Veranstaltungen von verschiedenen Gruppen u. Ä. Bisher sei zwar darüber mit niemandem offiziell gesprochen worden, Marianne Birthler sieht aber die Chancen für dieses Projekt positiv. Wenn die Frage einer weitergehenden Nutzung des Kontakttelefons seitens der Gemeinde abgelehnt wird, so Marianne Birthler, wäre sie auch dafür, dass das Kontakttelefon sofort eingestellt wird. 9 Katharina H[arich] informiert Marianne Birthler darüber, dass sie zum 28.2. ihr Telefon kündigte und sie hofft, dann bald umzuziehen. 14.26 Uhr
5 Hier stand: »Germens (ph)«. Er (geb. 1959) arbeitete in der Gemeinde als Sozialdiakon. 6 Dieser Gottesdienst entfiel, dafür fand bereits am 11.2.1989 in den Räumen der Elisabethgemeinde, wo die KvU Räume hatte, ein Solidaritätskonzert für inhaftierte Mitglieder der »Charta 77« statt (MfS, HA XX, Information über ein sogenanntes Solidaritätskonzert am 11.2.1989, 12.2.1989. BStU, MfS, HA XX/AKG 6094, Bl. 140–141. HA XX, Lagebericht zur Aktion »Störenfried«, 13.2.1989. Ebenda, Bl. 143–144). 7 MfS, BV Leipzig, Abt. IX, Schlussbericht vom 31.1.1989. BStU, MfS, BV Leipzig, AU 681/90, Bd. 12, Bl. 30–43. Zu den Ereignissen siehe Dok. 113, 115–119 und 121. 8 Das ist Werner Fischer am 27.1.1989 aus Leipzig mitgeteilt worden: MfS, Abt. 26/7, Information A/70431/88/161–164/89, 7.1.1989 (Telefonüberwachung Werner Fischer). BStU, MfS, AOP 17793/91, Beifügung Bd. 18, Bl. 119–120. 9 Da zuvor bereits zahlreiche andere Gemeinden den Antrag zur Einrichtung eines Kontakttelefons abgelehnt hatten, war die Chance gering, das Kontakttelefon bei der Gethsemanegemeinde über den zunächst vereinbarten Zeitraum fortzuführen, sollte diese keine weitere Genehmigung erteilen. Die Gruppe »Kontakttelefon« hatte insofern keine Entscheidungsspielräume mehr (Mitteilung Marianne Birthler am 7.11.2013).
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Dokument 126 Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch 30. Januar 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Kurt] Dohmeyer Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 19–23
Ralf Hirsch (Berlin/West 41, Sehlerweg 30) nimmt Kontakt auf zu Rainer Eppelmann. Dabei bemerkt Ralf Hirsch einleitend, davon gehört zu haben, dass Rainer E[ppelmann] ihn gestern erreichen wollte. Rainer E[ppelmann] bestätigt, es ein paar Mal versucht zu haben, wobei sein Telefon aber erst seit einer Stunde wieder ganz ist. Auf die Vermutung von Ralf Hirsch, dass es wohl Probleme gab, meint Rainer E[ppelmann], dass das offensichtlich der Fall gewesen ist; er weiß es aber nicht. Wie Rainer E[ppelmann] äußert, wollte man damit vielleicht einen gesunden Ausgleich dafür schaffen, dass er jetzt zum dritten Mal »fündig geworden« ist. 1 Wie Ralf Hirsch einwirft, hat er davon schon gehört. Auf seine Bemerkung, dass Rainer E[ppelmann] sich ja jetzt auf einer richtigen Erfolgssträhne befindet, eingehend, stellt dieser fest, dass es im Grunde genommen wohl ein Erfolg ist, es ihn aber ungeheuer betroffen gemacht hat. Bezüglich dieser Betroffenheit führt Rainer E[ppelmann] an, dass es allen, denen er »das« erzählt, ebenso geht. Danach gefragt, was nun die Kirchenleitung macht, meint Rainer E[ppelmann], dass die wohl heute früh zusammengesessen haben, wobei »das« für die auch etwas Neues gewesen ist. »Einige der Informiertesten hatten von der zweiten etwas erfahren; aber auch nicht mehr so viel, weil die Kirchenleitungssitzung außerhalb Berlins gewesen ist, und nun haben es heute im Laufe des Vormittags erst alle gehört«, berichtet Rainer E[ppelmann]. Er steht auf dem Standpunkt, dass man nun erst einmal abwarten muss, wobei »Kirchenleitung« erst am Freitag (3.2.1989) ist. 2
1 Er hatte eine dritte Abhörwanze gefunden – in einem alten Röhrenradio war sie als Radioröhre getarnt (Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Land. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993, S. 313). Zu den bisherigen Funden siehe Dok. 111, 114, 122, 123 und 124. 2 Am Freitag, den 10.2.1989 tagte die Kirchenleitung der Ev. Berlin-Brandenburgischen Kirche. Einstimmig ist eine Pressemitteilung sowie ein Brief an die Gemeinden verabschiedet worden, in dem die Wanzenfunde bei Rainer Eppelmann angesprochen wurden, mehr Rechtsschutz verlangt wurde sowie auf die bestehende Verunsicherung hingewiesen wurde (HA XX, Lagebericht zur Aktion »Störenfried«, 13.2.1989. BStU, MfS, HA IX 3209, Bl. 29). Auf der Synode der BerlinBrandenburgischen Kirche vom 31.3. bis 4.4.1989 sind dazu ähnlich lautende Erklärungen angenommen worden (vgl. epd-Dokumentation Nr. 17/89 vom 24.4.1989, S. 10, 17). Einen Brief an die
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Das Gesprächsthema wechselnd, erkundigt sich Rainer E[ppelmann], was denn nun bei Ralf Hirsch los ist. Wie dieser feststellt, laufen alle etwas bedrückt herum. Er selbst hat gestern Abend an der »Demo« teilgenommen. 3 Wie er feststellte ist es ja wirklich ein Schock, dass die Rechten jetzt so einen Aufwind kriegen. 4 Nach irgendwelchen Gerüchten über die Frage, wie man nun in Westberlin Politik machen will, gefragt, meint Ralf Hirsch, dass er da noch nichts gehört hat. Er schätzt ein, dass das alles noch ein bisschen offen zu sein scheint, wobei sich alle jetzt erst einmal von dem Schock erholen müssen. Und dann, so Ralf Hirsch weiter, gibt es eigentlich nur die »große Koalition« oder eben (ein Zusammengehen) »mit der AL«. 5 Da muss man aber abwarten, stellt Ralf Hirsch fest, der ansonsten diese ganze Angelegenheit als unnormal einschätzt. Er teilt dabei den Standpunkt von Rainer E[ppelmann], dass es jetzt bestimmt noch manches Gröhlen im Abgeordnetenhaus geben wird. 6 In diesem Zusammenhang führt Ralf Hirsch aus, dass (West-)Berlin 7 jetzt natürlich ein heißes Pflaster geworden ist. So hatte man gestern bei der »Demo« echt die Befürchtung, dass es ziemlich doll knallt. Seinen Darlegungen nach haben sich die »Bullen«, weil sie selbst auch irgendwie betroffen waren, dabei besonnen verhalten. Er ist aber der Meinung, dass es ganz sicher noch oft zum Knallen kommen wird. Auf eine entsprechende Frage von Rainer E[ppelmann] wirft Ralf Hirsch ein, dass die »Demo«, an der er teilgenommen hat, jene Protestdemonstration vor dem Schöneberger Rathaus gewesen ist. Ralf Hirsch betont dann noch einmal, dass dieser Aufwind, den die Rechten erfahren haben, wirklich unnormal ist, was er vor allem auf die Ausländerfeindlichkeit zurückführt, die sich »hier« gegen die Ausländer und auch die »Aus- und Übersiedler« richtet, und auch mit auf die Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit zurückzuführen ist. Als Rainer E[ppelmann] einwirft, dass die Westberliner, denen es schlecht geht, doch »zu uns rüber« kommen sollen, meint Ralf Hirsch, dass das anscheinend ein paar gebrauchen könnten. Auf entsprechende Fragen von Rainer E[ppelmann] teilt Ralf Hirsch mit, dass er gestern im Wahllokal den ganzen Tag aufpassen musste und dass alles Gemeinden über den Wanzenfund hatte das Konsistorium bereits am 3.1.1989 verschickt (vgl. epdDokumentation Nr. 6/89 vom 30.1.1989, S. 25). 3 An der spontanen Demonstration nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses am 29.1.1989 nahmen etwa 10 000 Menschen teil (Proteste gegen die »Republikaner«, in: taz vom 31.1.1989). 4 Der Einzug der »Republikaner« mit 7,5 % der Stimmen (11 Mandate) war eine große Überraschung, weil sie alle Wahlprognosen zuvor deutlich unter der 5 %-Hürde gesehen hatten. 5 Unter Führung von Walter Momper kam es zu einer rot-grünen Regierung. 6 Bei den nächsten, nunmehr Gesamtberliner Wahlen am 2.12.1990 erreichten die »Republikaner« 3,1 % der Stimmen und damit keine Parlamentsmandate mehr. 7 Das »West« fügte der Stasi-Mitarbeiter ein, weil Ralf Hirsch lediglich von »Berlin« sprach. Das gilt auch für weitere diesbezügliche Einfügungen in diesem Dokument.
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korrekt zugegangen ist; »zumindest bei uns«. Die Frage von Rainer E[ppelmann], ob er Ulf (Ulf Fink, WB-Senator für Gesundheit, Soziales und Familie) schon gesehen hat, beantwortet Ralf Hirsch dahingehend, dass gerade im Fernsehen dessen Abflug nach Bonn gezeigt worden ist. In diesem Zusammenhang bestätigt Ralf Hirsch, dass »der« (Ulf Fink) voll minus gemacht und seinen Wahlkreis losgeworden ist, womit er garantiert nicht gerechnet haben dürfte. Wie Rainer E[ppelmann] feststellt, ist er im Grunde genommen eigentlich nur von diesen 8 Prozent der »Republikaner« überrascht worden, weil die CDU ja bloß wieder auf ihre Ausgangsgröße zurückgestuft worden ist. 8 Ralf Hirsch steht auf dem Standpunkt, dass die CDU so etwas auch einmal gebrauchen könnte. »Und wenn dabei Herr Diepgen verloren geht«, so Rainer E[ppelmann], »werde ich nicht anfangen zu heulen«. Auch Ralf Hirsch stellt fest, dass das kein großer Verlust wäre. Ansonsten stimmen beide Gesprächspartner überein, dass Ulf (Ulf Fink) seinen Weg machen wird, wobei bloß unklar ist, ob dieser in (West-)Berlin bleibt oder nicht. Nach den Worten von Ralf Hirsch hängt das mit davon ab, »wer hier mit wem zusammenspielt«. Bei Zustandekommen einer »großen Koalition« kann sich Rainer E[ppelmann] vorstellen, dass »er« in (West-)Berlin bleiben wird, weil »er« einer derjenigen ist, den die SPD akzeptiert. Ralf Hirsch sieht das auch so, wobei er erklärt, dass man »ihn«, weil er zum linken Spektrum der Partei gehört, schon eher behalten kann, als jemand anderes. Nach dem vorläufigen Endergebnis gefragt, teilt Ralf Hirsch mit, dass die SPD aus der Wahl als stärkste Partei hervorgegangen ist, sodass [Walter] Momper 9 gefragt werden muss, ob er Regierender Bürgermeister werden will. 10 Ergänzend dazu stellt Ralf Hirsch fest, dass es eine Neuwahl geben wird, falls man keine Einigung erzielen kann. Nach eventuellen Auswirkungen gefragt, erklärt Ralf Hirsch, dass es zwar sein kann, dass die SPD »den ganzen Laden« übernimmt, er ansonsten aber einen festen Posten hat und nicht gekündigt werden kann. Er könnte zwar umgesetzt werden, nimmt das aber auch nicht an. Auf die nicht ganz ernst gemeinte (aber mit einem bestimmten Unterton in der Stimme gestellte) Frage, ob er wieder nüchtern ist, erwidert Ralf Hirsch, dass er Rainer E[ppelmann] ganz lieb grüßen soll von der Frau Bundestagspräsidentin (Rita Süssmuth). »Sie wird versuchen es einzurichten, dass sie einmal zu einem Privatbesuch vorbeikommt. Weil sie sowieso einmal ›Ostberlin‹ 8 Bei den Berliner Wahlen 1989 erzielte die CDU 37,7 % der Stimmen. Bei den Wahlen zuvor erreichte sie 46,4 % (1985), 48 % (1981), 44,4 % (1979), 43,9 % (1975), 38,2 % (1971), 32,9 % (1967), 28,8 % (1963), 37,7 % (1958), 30,4 % (1954) und 24,6 % (1950). 9 Walter Momper (geb. 1945) war 1989–1991 Regierender Bürgermeister von Berlin und 2001–2011 Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin. 10 Dies relativierte sich nach Bekanntgabe des endgültigen Wahlergebnisses: CDU und SPD erhielten je 55 Mandate, die CDU mit 37,7 % und die SPD mit 37,3 %, die AL errang 17 Mandate (11,8 %) und die Republikaner 11 (7,5 %).
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besuchen und einen Stadtbummel machen will, hätte sie ganz gern einen Begleiter dabei«, äußerte Ralf Hirsch. Darauf eingehend erklärt Rainer E[ppelmann]: »Ich biete mich da an!« »Das war«, so Ralf Hirsch weiter, »gar keine Frage. Sie hat nicht gefragt, was war denn das, sondern das war gleich ein Begriff und das war gleich klar.« Wie Ralf Hirsch erklärt, ist ihm von »ihr« (Rita Süssmuth) aber auch gesagt worden, dass alles durch ihre neue Situation 11 ein bisschen komplizierter geworden ist. Sie kann nämlich nicht mehr wie früher sich einfach ins Auto setzen und losfahren, weil auch bei einem Privatbesuch ohne ihre Leibgarde nichts mehr geht. Deshalb ist jetzt alles ein bisschen umständlicher. Als Rainer E[ppelmann] wissen will, ob Ralf Hirsch auch an Ulf (Ulf Fink) seine Grüße übermitteln konnte, wird das bejaht. Wieder direkt auf Ulf Fink eingehend, stellt Rainer E[ppelmann] fest, dass dessen Zeit noch kommen wird, weil seine Perspektive auf Bundesebene liegt und da Westberlin nur eine Zwischenstation ist. Auch Ralf Hirsch nimmt an, dass Ulf Fink irgendwann einmal nach Bonn »aufrutschen« wird. Er sieht da aber noch ein Problem, solange Bundeskanzler [Helmut] Kohl da ist, weil dieser ihn wohl nicht so recht mag. Auf die 1990 in der BRD anstehenden Wahlen eingehend, meint Rainer E[ppelmann], dass er seitens der SPD niemanden sieht, der von dieser Partei als Kanzler aufgebaut würde, wobei er nicht annimmt, dass die SPD überhaupt mehrheitsfähig wird. Ralf Hirsch nimmt das nicht an. Noch einmal auf Rita (Rita Süssmuth) zurückkommend, meint Ralf Hirsch, dass diese sich über die Grüße von Rainer E[ppelmann] sehr gefreut hat. Lachend berichtet er, mit ihr noch bis früh 2.00 Uhr im Hotel gesessen zu haben. Er ist mit ihr auch Essen gewesen, wobei sie sich dabei viel über Rainer E[ppelmann] unterhalten haben. Über sich führt Ralf Hirsch an, momentan noch die »Verwaltungsakademie« zu besuchen, die er voraussichtlich Ende Februar abschließt. Der Abschluss betrifft aber nur den Ersten »Gang«, weil es da noch mehrere »Gänge« gibt, die noch vor ihm stehen. Als Ralf Hirsch anführt, heute schon mit Rainer E[ppelmann]s »Namensvetter« gesprochen zu haben (gemeint ist Reiner Dietrich 12), erkundigt sich Rainer E[ppelmann] lachend, ob dieser sich wenigstens heute rasiert hat. Rainer E[ppelmann] bittet dann Ralf Hirsch, einmal ein bisschen an ihn zu denken. Er begründet es damit, sich im Augenblick nicht sehr gut zu fühlen, wenn er daran denkt, dass seine komplette Wohnung drei, vier Jahre lang –. 13 11 Im September 1985 ist sie Bundesministerin, im November 1988 Bundestagspräsidentin geworden (bis 1998). 12 IM des MfS. Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 13 Das Auffinden der 3 Abhörwanzen bedeutete für die Stasi einen herben Rückschlag in der Bearbeitung Eppelmanns. Im April 1989 hielten Offiziere fest, dass seit 1983 3 Stasi-Mitarbeiter ständig im Schichtbetrieb Eppelmann abgehört haben, außerdem war ein Mitarbeiter mit der »analyti-
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»Nachdem wir uns das hier mit der Verteilung noch einmal überlegt haben«, so Rainer E[ppelmann], »gibt es in dieser Wohnung keinen Quadratmeter, wo er nicht abgehört worden ist.« Auf die Frage von Ralf Hirsch, wie »die« sich jetzt verhalten, erwidert Rainer E[ppelmann], dass er das nicht weiß, weil der Generalstaatsanwalt erst heute aus dem Urlaub zurückgekommen ist, dabei die Anzeige Nummer zwei vorgefunden hat und von der dritten noch gar nichts weiß. Ralf Hirsch geht davon aus, dass »der« von der dritten seiner Meinung nach bestimmt schon weiß bzw. entsprechend informiert worden ist. »Aber da müsst ihr wirklich etwas tun, das ist ja wirklich ein bisschen zu viel«, stellt Ralf Hirsch fest. Rainer E[ppelmann] nimmt diese Feststellung zum Anlass, sich nach der PrivatNummer des Rechtsanwalts in der Frankfurter Allee zu erkundigen. 14 Ralf Hirsch weiß diese aber nicht. Erklärend führt Rainer E[ppelmann] an, diesen einfach »damit« zusätzlich betrauen zu wollen. »Jetzt will ich einmal ein bisschen vorgehen«, stellt Rainer E[ppelmann] fest. Ralf Hirsch bringt dann sein Unverständnis darüber zum Ausdruck, warum die Staatsanwaltschaft nicht gleich beim ersten Mal mit Fachleuten gekommen ist und die Wohnung untersucht hat. Wie Rainer E[ppelmann] anführt, ist die Staatsanwaltschaft schon mit Fachleuten gekommen, verwundert hat es sie aber, dass diese Fachleute nicht die Wohnung untersucht haben. Dabei hatten wir noch überlegt, so Rainer E[ppelmann], ob wir sie in alle Räume lassen oder nicht. Sarkastisch äußert er, dass diesen Leuten mit Erfahrung eben schon vorher klar gewesen sein wird, dass in den anderen Räumen nichts ist, weil eben nur so etwas »schlichten Pfarrern und Leuten ohne Erfahrung« einfällt. Rainer E[ppelmann] hofft, dass der Generalstaatsanwalt von sich aus selbst darauf kommen wird, weil »das« nicht nach einer privaten Bastelei aussieht. Der ironisch geäußerten Vermutung Ralf Hirschs, dass die Ermittlung aber sehr lange dauern werden, schließt sich Rainer E[ppelmann] an. Als Ralf Hirsch dann wissen will, wieso das Telefon von Rainer E[ppelmann] gestern »tot« war, meint dieser, dass er das auch nicht weiß. Auf jeden Fall war es so, dass er gestern Ralf Hirsch anrufen wollte, beim ersten schen Aufbereitung von Informationen« beschäftigt und schließlich hätten sich 4 bis 6 IM-führende Stasi-Mitarbeiter ständig mit Eppelmann beschäftigt. Durch die Entdeckung der Wanzen sei dem MfS die wichtigste Quelle abhandengekommen. Außerdem habe Eppelmann einige Personen im Verdacht, als IM für das MfS zu arbeiten. Da diese Verdächtigungen zuträfen, müssten sie wohl aus dem Umfeld Eppelmanns abgezogen werden. Ein Neueinbau von Wanzen käme überdies gegenwärtig nicht in Betracht (MfS, BV Berlin, Abt. XX, Sachstandsbericht zum OV »Blues«, Pfarrer Rainer Eppelmann. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 4, Bl. 178–188). In den Dokumenten finden sich zudem detaillierte Angaben darüber, wie das MfS die Wanzen bei Eppelmann 1983 genau eingebaut hatte (BStU, MfS, HA XX/4 207; ergänzend Andreas Schmidt: Hauptabteilung III: Funkaufklärung und Funkabwehr. Hg. BStU (MfS-Handbuch). Berlin 2010, S. 150). 14 Gemeint ist Rechtsanwalt Gregor Gysi, den Rainer Eppelmann beauftragte, ihn in dieser Angelegenheit juristisch zu vertreten.
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Mal auch durchgekommen ist, aber niemanden erreicht hat. Ehe Rainer E[ppelmann] weitere Ausführungen machen kann, ertönt kurz ein Freizeichen. Als Ralf Hirsch erstaunt wissen will, was denn jetzt los ist, meint Rainer E[ppelmann] ironisch, dass das für ihn ein Zeichen ist, dass er das Thema wechseln soll. Über das Wetter will er aber auch nicht reden, weil sich das heute nicht lohnt. Als Ralf Hirsch mitteilt, dass er versuchen will, »unseren gemeinsamen Freund, unseren Bekannten« (den »Spiegel«-Korrespondenten Ulrich Schwarz) heute zu erreichen, bringt Rainer E[ppelmann] zum Ausdruck, dass dieser heute wohl »in deinen Teil« (nach Westberlin) kommt bzw. vielleicht schon da ist, wobei er wohl morgen erst in die Hauptstadt der DDR kommen will. Wann das sein wird, weiß Rainer E[ppelmann] aber nicht konkret. Er bittet Ralf Hirsch, Grüße von ihm zu übermitteln. Auf die allgemeine Situation zu sprechen kommend, führt Rainer E[ppelmann] aus, dass es ihm ansonsten ganz gut geht, wobei es durch Rüsten und Vorbereitungen viel zu tun gibt. In diesem Zusammenhang erwähnt er, dass sie als (Samariter-)Gemeinde auch eine ganze Reihe von Besuchen erwarten. Weil Superintendentin Ingrid Laudien 15 nach ihren vier Wochen Kur jetzt wieder da ist, so Rainer E[ppelmann], kann diese auch einmal ein bisschen was tun. Die Frage, ob er für den 12. (12.2.1989, Geburtstag von Rainer E[ppelmann]) schon eingeladen worden ist, bejaht Ralf Hirsch. Ironisch äußert dieser die Hoffnung, bei der Einreise keine Probleme zu bekommen, wobei er von Rainer E[ppelmann] den Rat erhält, sich damit doch einmal an den scheidenden bzw. dann den neuen Regierenden Bürgermeister zu wenden. 16 An Neuigkeiten teilt Rainer E[ppelmann] anschließend mit, dass sich XXX vorgestern (28.1.1989) an ihn gewandt und von einem merkwürdigen Telefon-Anruf gesprochen hat […] In diesem Zusammenhang rät er Ralf Hirsch, sich doch einmal mit XXX in Verbindung zu setzen. XXX Worten nach habe dieser nämlich einen Anruf von sehr netten Leuten der SEW erhalten, worin ihm mitgeteilt worden sei, er könne wieder Transit fahren bzw. man könne in Sachen DDR Ende des Jahres auch einmal reden, aber nur, wenn er seine Kontakte oder einen Teil seiner Kontakte, die er in Richtung Osten hat, abbrechen würde. Ob da Namen oder keine Namen genannt worden sind, weiß Rainer E[ppelmann] nicht. Seinen Worten nach hat XXX aber sofort an ihn und an XXX gedacht. Weiter führt Rainer E[ppelmann] aus, dass XXX »das« 15 Ingrid Laudien (1934–2009), Theologin, war bis 1994 Superintendentin des Kirchenkreises Friedrichshain in Berlin und von 1994 bis 1996 als Nachfolgerin von Günter Krusche amtierende Generalsuperintendentin des Sprengels Berlin, ihr Nachfolger wurde Martin-Michael Passauer. 16 Gemeint sind Eberhard Diepgen einerseits und Walter Momper andererseits, was zu diesem Zeitpunkt aber noch niemand wissen konnte.
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Dokument 126 vom 19. September 1988
wohl schon irgendwie weitergemeldet hat. Sollte der Anruf aber wirklich von der SEW stammen, so Rainer E[ppelmann], fände er das ungeheuerlich, weil es doch nicht sein kann, dass Mitglieder einer in Westberlin zugelassenen Partei sich zu hilfreichen Handlangern der Volkspolizei machen oder zumindestens über anstehende Entscheidungen der Volkspolizei so gut informiert sind, dass sie Bürgern Westberlins »heiße Tips« geben können. Ralf Hirsch findet das lustig und verspricht, XXX einmal anzurufen. Rainer E[ppelmann] drängt dann auf eine Beendigung der Unterhaltung, weil er noch etwas »tippen« muss, weil er heute noch ins Konsistorium will. Die Frage von Ralf Hirsch, ob er dort auch »die graue Eminenz« (Konsistorialpräsident Manfred Stolpe) sieht, weiß Rainer E[ppelmann] nicht. [sic!] Es kommt darauf an, ob »er« da ist, erklärt Rainer E[ppelmann]. Ralf Hirsch bittet Rainer E[ppelmann], von ihm aber Grüße zu bestellen. Rainer E[ppelmann] verspricht das mit dem Hinweis, dass er »ihn« auf jeden Fall noch diese Woche sehen wird. Wenn »er« zurückgrüßt, so Rainer E., merkt er auch deutlich, dass das nicht einfach so dahingesagt ist. Als Ralf Hirsch zum Abschluss der Unterhaltung Rainer E[ppelmann] beim Finden von »Nummer vier« viel Glück wünscht, meint dieser, dass das hoffentlich jetzt nicht mehr nötig ist, weil es eigentlich für diese Wohnung reicht. 17 »Die haben die Wohnung voll im Griff gehabt«, stellt Rainer E[ppelmann] fest und führt zur Begründung an, dass man ja nicht so viel wie möglich, sondern so viel wie nötig zu machen braucht. »Hoffen wir es«, äußert Ralf Hirsch. 13.20 Uhr
17 Handschriftlich steht auf dem vorliegenden Dokument: »Weiß er etwas?« Auch wenn diese Notiz solches suggeriert: Eine 4. Wanze ist nicht gefunden worden. Aus den bisher bekannten MfSUnterlagen ist auch nicht zu interpretieren, dass es eine 4. Wanze gab noch neue eingebaut worden sind (BStU, MfS, HA XX/4 207).
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Dokument 127 Telefonat zwischen Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch 6. Februar 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Kurt] Dohmeyer Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 27–29
Ralf Hirsch, WB 41, Sehlerweg 30, nimmt Kontakt auf zu Rainer Eppelmann, um mit diesen zu reden, weil auch andere Menschen mit diesem reden. Rainer E[ppelmann] hat gehört, dass es Ralf Hirsch nicht gutgegangen ist. Ihm sind die Grüße von Ralf Hirsch übermittelt worden und Rainer E[ppelmann] bedankt sich dafür. Ralf Hirsch legt dar, dass er nicht krankgeschrieben war. Er hat trotzdem gearbeitet, weil er so viel zu tun hatte. Ralf Hirsch bezieht sich auf das Interview 1 von Rainer E[ppelmann] und erklärt, dass der Sprecher nach dem Auflegen des Hörers gesagt hat, dass man von hier aus sagen kann, dass die Staatssicherheit dahinter steckt. 2 Rainer E[ppelmann] meint, dass er [das] nicht gesagt hatte, sondern der Sprecher. Dies hat er aber nicht gesehen. Rainer E[ppelmann] erkundigt sich, ob Ralf Hirsch auch das von Hans-Jürgen Börner gesehen hat, was dieser bejaht. Rainer E[ppelmann] schätzt ein, dass es gut war. Rainer E[ppelmann] hat es in der »Tagesschau« gesehen und Ralf Hirsch in der »Berliner Abendschau«, wo dies länger war. 3 Rainer E[ppelmann] erklärt, dass Manfred Stolpe ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass heute etwas gebracht wird. So viel er weiß, war Hans-Jürgen Börner am Donnerstag oder am Freitag bei Manfred Stolpe. Stolpe konnte Börner noch ein bisschen bremsen, aber nicht auf immer und ewig. Ralf Hirsch hat gehört, dass Rainer E[ppelmann] morgen wegfährt und verweist dabei auf den Freund (Ulrich Schwarz). Diesen soll Rainer E[ppelmann] unbedingt noch anrufen, der sich gegenwärtig in der Wohnung in der Hauptstadt aufhält. Ralf Hirsch bemerkt, dass er um 20.30 Uhr mit diesem telefoniert hat. Außerdem wird sich Ralf Hirsch morgen mit Ulrich Schwarz treffen. Ralf Hirsch soll Grüße übermitteln. Danach erklärt Ralf Hirsch, dass ihm das Interview von 1 Inhaltlich ging es im Interview und den nachfolgend erwähnten TV-Beiträgen um 3 Wanzen, die in Eppelmanns Wohnung gefunden wurden – siehe Dok. 111, 114, 122, 123 und 124. 2 Am 6.2.1989 gab Rainer Eppelmann dem »heute-journal« des ZDF ein LiveTelefoninterview. Es ist dokumentiert: MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/102/89, 6.2.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 30. Das Gespräch endete um 22.04 Uhr. Das hier dokumentierte mit Ralf Hirsch fand also später statt. 3 In der »Tagesschau« und SFB-Abendschau vom 6.2.1989 (Abt. XXII, Lagezentrum, Aktuelle Medienmeldungen, Rapport-Nr. 32/89. BStU, MfS, HA XXII 962/3, Bl. 45).
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Dokument 127 vom 19. September 1988
Rainer E[ppelmann] gefallen hat und verweist dabei auf den gesellschaftlichen Prozess, auf den Rainer E[ppelmann] eingegangen ist. Ralf Hirsch bringt zum Ausdruck, dass das hier wirklich auf dem Prüfstand steht. Diesen Eindruck hat auch Rainer E[ppelmann] und er ist sehr gespannt, wie das weitergeht. Rainer E[ppelmann] hatte heute erfahren, dass Stolpe am Donnerstag oder Freitag im Staatssekretariat [für Kirchenfragen] auf ein Gespräch gedrungen hat. 4 Zu diesem Zeitpunkt war der [Kurt] Löffler noch in Jerusalem gewesen und [Stolpe] hat da mit einem Kalb geredet. 5 Und »er« hatte ziemlich kalte Füße und wollte nun sicher ohne seinen großen Meister nichts machen und deutete an, dass das bei der Generalstaatsanwaltschaft in der richtigen Hand ist und so ist es wohl eben auch geblieben. Es wurde zum Ausdruck gebracht, dass zunächst gar keine Veranlassung dafür besteht, dass sie jetzt miteinander reden. Das soll erst einmal die Generalstaatsanwaltschaft machen. Ralf Hirsch bemerkt, dass Rainer E[ppelmann] wohl noch einige Jahre auf die Antwort warten müsse. 6 Stolpe hat angestrebt, dass er, [Bischof Gottfried] Forck, [Ingemar] Pettelkau, 7 [Ingrid] Laudien 8 und Rainer E[ppelmann] einmal mit dem Staatssekre-
4 Am Donnerstag, den 2.2.1989 hatten Hermann Kalb, stellv. Staatssekretär für Kirchenfragen, und Manfred Stolpe eine zweistündige Unterredung, in der Stolpe vergeblich darauf zu drängen suchte, dass neben dem Ermittlungsverfahren der Staat ein Zeichen setze und es zu einem offiziellen Gespräch in den Amtsräumen des Staatssekretärs käme, worüber anschließend die Kirchenleitung die Gemeinden informieren und so zur Beruhigung beitragen könne (Staatssekretär für Kirchenfragen, Aktenvermerk über ein Gespräch des Stellv. des Staatssekretär, Hermann Kalb, mit Konsistorialpräsident Manfred Stolpe am 2.2.1989, 2.2.1989. BStU, MfS, HA XX/4 207, Bl. 30–32). Am 6.2.1989 schrieb Bischof Forck an Löffler mit Bezug auf das Gespräch vom 2.2.1989 und bat erneut um die von Stolpe bereits erbetene Unterredung (ebenda, Bl. 26). Löffler lehnte dies am 7.2.1989 in seinem Antwortschreiben barsch ab (ebenda, Bl. 24). Am selben Tag sprachen Löffler und Stolpe zudem ergebnislos miteinander. Laut MfS-Vermerk sicherte Stolpe zu, die Situation beruhigen zu wollen (MfS, HA XX/4, Vermerk: Gespräch des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Löffler, mit Konsistorialpräsident Stolpe am 7.2.1989, 7.2.1989. Ebenda, Bl. 23). 5 Vom 29.1. bis 2.2.1989 hielt sich Löffler, Staatssekretär für Kirchenfragen, zu einem Arbeitsbesuch in Israel auf (ND vom 3.3.1989). Es war der ranghöchste Besuchs eines DDRRegierungsvertreters in Israel, zwischen beiden Staaten bestanden keine diplomatischen Beziehungen. Hermann Kalb war der Stellv. von Löffler. 6 Sowohl die Anzeigen der Ev. Kirchen wie die privat gestellten von Rainer Eppelmann, wobei er von Gregor Gysi juristisch vertreten wurde, blieben erfolglos. Aufschlussreich für den Hintergrund: Rat des Stadtbezirks Berlin-Friedrichshain, Stellv. Inneres, Aktenvermerk zum Gespräch mit der Superintendentin und deren Stellv. am 6.2.1989. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 8, Bl. 13–21. Laut Schnur als IM dem MfS gegenüber, schätzte Eppelmann ein, dass Gysi nach einer politischen »Wachablösung« ein politisches mitbestimmendes Amt anstrebe (MfS, HA XX/4, Bericht vom 11.5.1989 über eine Information von Pfarrer Rainer Eppelmann zu den Vorgängen der Volkswahlen am 7.5.1989, 11.5.1989. BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Teil II, Bd. 14, Bl. 61 – siehe auch unten Anm. 18 die Äußerungen über Stolpe). 7 Ingemar Pettelkau (geb. 1939) war Kirchenjurist und im Konsistorium der Ev. BerlinBrandenburgischen Kirche tätig.
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tär [Löffler] reden müssten. Rainer E[ppelmann] weiß jetzt nicht, ob es Stolpe so gesagt hat, aber wenn irgendwo noch eine »Wanze« gefunden wird, egal wo, dann ist auch der Staatssekretär nicht mehr die Ebene. Denn jetzt kann man das zumindest was eine Person angeht, noch auf eine Person eingrenzen. Für Rainer E[ppelmann] ist es ganz deutlich, dass das Problem grundsätzlich von unserer Kirche aufgefasst werden muss, weil jetzt natürlich die Fragen und die Bedrängnis der anderen hochkommen. Ralf Hirsch erklärt, dass Börner berichtet hat, dass auch die Superintendentur abgehört werden konnte. 9 Er fragt, wie das möglich ist. Rainer E[ppelmann] erklärt, dass die Zimmer 3,50 Meter hoch sind. Wenn man davon ausgeht, dass ein Umkreis von 5 Metern abgehört werden kann, dann ist auch noch die Superintendentur drin. Er geht aber davon aus, dass es vermutlich mehr als 5 Meter sind. Er kann es aber nicht genau sagen, weil sie die Stärke des Empfängers nicht kennen. Aber Leute, die ein bisschen Ahnung haben, so Rainer E[ppelmann], sagen, dass es eher 7 oder 10 Meter sind. Da kann man sich dann ausrechnen, wo man ist. Rainer E[ppelmann] erwähnt das Gemeindebüro, die gute Stube, Teile von XXX, XXX und XXX auf jeden Fall. Und wenn es 10 Meter sind, ist es fast das ganze Haus und da ist auch [Wolfram] Hülsemann als Stadtjugendpfarrer mit drin. Ralf Hirsch bemerkt, dass Hülsemann auch ein paar eigene haben wird. Ralf Hirsch teilt danach mit, dass er einen ganz dringenden Brief an Rainer E[ppelmann] geschrieben hat. Dieser hofft, dass der Brief auch ankommt. 10 Lakonisch bemerkt Rainer E[ppelmann], dass er in dieser Hinsicht immer wieder vertrauensvoll ist. Ralf Hirsch führt aus, dass es etwas ganz Positives gibt, worüber sich Rainer E[ppelmann] bestimmt freuen wird. Rainer E[ppelmann] bringt zum Ausdruck, dass das fast wie ein Geburtstagsgruß aussieht. Auf eine Frage teilt Rainer E[ppelmann] mit, dass er am Sonnabendmittag wieder da ist. Ralf Hirsch weist darauf hin, dass Rainer E[ppelmann] ganz dringend auf diesen Brief antworten soll. Rainer E[ppelmann] richtet einen schönen Gruß für die Grüße von XXX aus. Er meint aber den anderen XXX mit der Parkuhr, die in dem Briefumschlag lag. Auf eine Frage teilt Ralf Hirsch mit, dass sein Auto noch ruhen muss. Mit der Bildung läuft [es] hervorragend und Ralf Hirsch hat keine Prob8 Ingrid Laudien (1934–2009), Theologin, war bis 1994 Superintendentin des Kirchenkreises Friedrichshain in Berlin und von 1994 bis 1996 als Nachfolgerin von Günter Krusche amtierende Generalsuperintendentin des Sprengels Berlin; ihr Nachfolger wurde Martin-Michael Passauer. 9 Das bezieht sich auf die erwähnten Beiträge in der »Tagesschau« und der SFB-Abendschau (siehe Anm. 3). 10 Rainer Eppelmann hat diesen nicht mehr, da er seit der Verhaftung im Februar 1982 keine potenziell »belastenden« Unterlagen mehr aufhob (Mitteilung von Rainer Eppelmann am 25.10.2013). Ralf Hirsch kann sich ebenfalls nicht an den Inhalt erinnern, einen Durchschlag besitzt er nicht (Mitteilung vom 27.11.2013).
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Dokument 127 vom 19. September 1988
leme. Rainer E[ppelmann] erkundigt sich, wie es dem Brötchengeber von Ralf Hirsch geht. Ralf Hirsch erklärt, dass es dem sehr schlecht geht. Rainer E[ppelmann] fragt, ob dieser auch persönlich Keile bekommt oder ob das mit dem Gesamtklima zu tun hat. Ralf Hirsch führt aus, dass er seinen Posten erst einmal los ist und muss nun sehen, was er jetzt macht. 11 So genau weiß aber Ralf Hirsch nicht Bescheid. Rainer E[ppelmann] fragt, ob das schon deutlich ist, dass er seinen Posten los ist, was Ralf Hirsch bejaht. Anders geht es gar nicht. Wenn, dann würde sich die SPD ihre Basis versauen. Dabei weist Ralf Hirsch darauf hin, dass innerparteilich so viel Protest vorhanden ist. Die nächsten Wahlen würde er ohnehin nicht überstehen. Rainer E[ppelmann] wollte dies nur einmal wissen, weil [Walter] Momper 12 angedeutet hatte, dass AL für ihn überhaupt nicht infrage kommt. Ralf Hirsch erwähnt, dass Momper jetzt schon wieder differenziert, was Rainer E[ppelmann] weiß. Ralf Hirsch meint, dass es gar nicht anders geht. Es gibt eine rot-grüne Koalition. 13 Rainer E[ppelmann] fragt weiter, was das für den Gegenüber von Ralf Hirsch bedeutet, der so parteipolitisch gebunden ist. 14 Ralf Hirsch meint, dass es für diesen etwas schwieriger werden wird, aber seinen Posten behält dieser, weil er Angestellter ist. Auf eine Frage teilt Ralf Hirsch mit, dass er auch Angestellter ist und somit kann ihm nichts passieren. Wenn er Beamter werden will, müsste er einen Lehrgang von zwei Jahren mitmachen. Er weiß aber nicht, ob er das machen wird. Rainer E[ppelmann] meint, dass es Ralf Hirsch ruhig machen sollte. Von sich aus kann er dann immer noch sagen, dass er nicht will. Aber trotzdem ist dies doch ein ungeheurer Schutz. Ralf Hirsch meint, dass er diesen Schutz als Angestellter auch hat. Rainer E[ppelmann] meint, dass es zwischen beiden doch Unterschiede geben muss. Das bestätigt Ralf Hirsch, aber beide sind gleichwertig. Eine Entlassung kommt nur infrage, wenn er goldene Löffel wegnimmt oder 32 Stunden von 40 Stunden in der Woche fehlt. Ansonsten passiert ihm gar nichts. Im Gegenteil, er sitzt fest im Sattel und alles läuft schon ganz gut. Für Ralf Hirsch hat dies keine Auswirkungen. Ralf Hirsch nimmt aber an, dass Rainer E[ppelmann] ein bisschen Stress hat. Rainer E[ppelmann] berichtet, dass sie seit drei Tagen das Haus voll haben. Es sind eine ganze Menge Holländer hier, mit denen sie nach Bad Saarow 11 Es geht um Ulf Fink (CDU), der seinen Senatorenposten durch die Wahl und die Bildung einer rot-grünen Regierung verlor. 12 Walter Momper (geb. 1945) war 1989–1991 Regierender Bürgermeister von Berlin und 2001–2011 Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin. 13 Noch am Wahlabend hatte Walter Momper eine Regierungsbildung der SPD mit der AL ausgeschlossen, die er als »nicht regierungsfähig« bezeichnete (taz vom 30.1.1989). Dann kam es aber dennoch zu einer rot-grünen Regierung. 14 Ralf Hirsch arbeitete gemeinsam mit einem Mann in einem Büroraum zusammen, der ebenfalls aus Ost-Berlin kam und der dort in Eppelmanns Samaritergemeinde engagiert gewesen war (Mitteilung Ralf Hirsch am 27.11.2013).
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fahren werden. Rainer E[ppelmann] erwähnt in diesem Zusammenhang eine Rüstzeit. Außerdem hat er noch Beerdigungen zu machen und seit 18.00 Uhr hat »dies« (Interview) mit RIAS-TV angefangen und seitdem sind ständig Anrufe zu verzeichnen. 15 Morgen früh gibt er schon wieder ein Interview. 16 Rainer E[ppelmann] bemerkt, dass es momentan richtig schlimm ist, was Ralf Hirsch glaubt. Deshalb ist es auch gut, wenn Rainer E[ppelmann] morgen wegfährt. Somit hat er seine Ruhe. Rainer E[ppelmann] gibt Ralf Hirsch zu verstehen, dass am Freitag ein informierendes, deutliches, betroffenes und erwartungsvolles Wort der Kirchenleitung kommen wird. 17 Dort werden ganz sicher auch noch einmal die Dinge genannt werden. Die Kirche BerlinBrandenburg wird sich auf jeden Fall dazu äußern. 18 Ralf Hirsch meint, dass 15 Das RIAS-TV-Interview war um 17.54 Uhr beendet. Das Live-Telefoninterview ist dokumentiert: MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/97/89, 6.2.1989. BStU, MfS, Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 31. Das »Vorgespräch« fand eine Stunde zuvor statt: ebenda, Bl. 32. 16 Am 7.2.1989 gab Eppelmann dem Deutschlandfunk ein Live-Telefoninterview: MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/101/89, 6.2.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 31; das eigentliche Interview: MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/107/89, 7.2.1989. Ebenda, Bl. 38– 39. Das Interview ist auch als Tonmitschnitt überliefert: BStU, MfS, ZAIG/Tb 918. Bereits um 6.00 Uhr gab er auch ein zuvor nicht vereinbartes Spontan-Interview dem Sender »Antenne Bayern«: MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/105/89, 7.2.1989. Ebenda, Bl. 34. Ebenso verhielt es sich wenig später mit einem Interview für den SWR: MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/106/89, 7.2.1989. Ebenda, Bl. 36. 17 Am Freitag, den 10.2.1989 tagte die Kirchenleitung der Ev. Berlin-Brandenburgischen Kirche. Einstimmig ist eine Pressemitteilung sowie ein Brief an die Gemeinden verabschiedet worden, in dem die Wanzenfunde bei Rainer Eppelmann angesprochen wurden, mehr Rechtsschutz verlangt wurde sowie auf die bestehende Verunsicherung hingewiesen wurde (HA XX, Lagebericht zur Aktion »Störenfried«, 13.2.1989. BStU, MfS, HA IX 3209, Bl. 29). 18 Auch die Synode der Berlin-Brandenburgischen Kirche kritisierte verhältnismäßig scharf die enttarnten Abhörmaßnahmen bei Pfarrer Eppelmann. Kirchenleitung und Synode forderten die DDR-Regierung auf, einen Straftatbestand »für das Abhören« in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Bericht der Kirchenleitung und Beschluss der Synode vom 31.3. bis 4.4.1989 sind abgedruckt in: epdDokumentation vom 24.4.1989, Nr. 17/89, S. 10, 16. Schnur berichtete als IM seinen StasiAuftraggebern, dass Rainer Eppelmann am 6.4.1989 bei einem Treffen mit Forck, Furian, Stolpe, Hülsemann, Pahnke, Passauer, Schnur und Ruth Misselwitz (geb. 1952) Manfred Stolpe scharf dafür kritisiert habe, dass er sich um den »Lauschangriff« gegen Eppelmann nicht genügend gekümmert habe. Gysi hätte ihm einen Brief der Generalstaatsanwaltschaft gezeigt, aus dem ersichtlich geworden sei, dass sich die Kirche anerkennend über deren Arbeit in dieser Sache geäußert habe. Schnur schätzte ein, dass Eppelmann nicht nachgeben wird und dass er Stolpe misstraue, nicht wisse, wessen Spiel er treibe. Eppelmann hätte gemeint, Stolpe bereite sich bereits auf eine außerkirchliche Tätigkeit vor, die eines Tages in »neuer Zeit« möglich sei (MfS, HA XX/2, Bericht Nr. 4 vom 6.4.1989 über eine Gesprächsrunde, 7.4.1989 (Tonbandabschrift). BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Teil II, Bd. 14, Bl. 28 – siehe auch oben Anm. 6 die Äußerungen über Gysi). Dabei bezog Eppelmann eine Information ein, die er zuvor bei einem Besuch in West-Berlin erhalten haben will (ebenda). Demnach gehe der BND davon aus, dass Stolpe ein »hoher« Offizier des MfS sei. Dies habe ihm ein »hoher politischer Vertreter in Westberlin so benannt« (MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht Nr. 1 vom 2.4.1989 über eine Wiedergabe eines übermittelten Gesprächs von Pfarrer Eppelmann mit dem Kirchenanwalt Schnur am 21.3.1989, 3.4.1989 (Tonbandabschrift). Ebenda, Bl. 14). Zu dieser BNDVermutung erklärt Manfred Stolpe, dass sie falsch war. Er weist außerdem ausdrücklich darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG Beschluss vom 10.11.2005 – 1 BvR 643/99) und der
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sie das auch muss. Diese Sache bringt auch bei einigen Leuten in Westberlin Entsetzen auf. Ralf Hirsch meint weiter, dass schon die erste Wanze ziemlich happig war und jetzt wird noch der I-Punkt darauf gesetzt. Dies ist besonders bei SPD-Leuten zu verzeichnen. Ralf Hirsch hatte kürzlich ein interessantes Gespräch und sein Gesprächspartner hat zum Ausdruck gebracht, dass dies weit unter die Gürtellinie gegangen ist. Diese Leute sind zurzeit auch unheimlich frustriert, weil das alles mit der DDR nicht so klappt, so wie sie es sich vorgestellt haben. Sie merken, dass sie verschaukelt und ein bisschen über den Nuckel geschoben werden. Dazu hat Ralf Hirsch etwas in dem Brief geschrieben. 19 Rainer E[ppelmann] bringt zum Ausdruck, dass sie ihnen schon seit Jahren gesagt haben, dass sie sich nicht so total auf einen Gesprächspartner schmeißen sollen. Auch ihre natürlichen Verbündeten, so Rainer E[ppelmann], sind wir. Vielleicht hilft auch das gegenwärtige Verhalten der uns Regierenden dabei, dass das die SPD ein bisschen deutlicher begreift. Ralf Hirsch bemerkt, dass es nicht nur um das Verhalten der Regierenden, sondern um ihr eigenes auch geht. Ralf Hirsch ist der Meinung, dass Rainer E[ppelmann] glänzende Augen bekommt, wenn er den Brief liest. 20 Dieser meint, dass er gern einmal glänzende Augen bekommt. Dies ist gut so, dass sie wieder einmal glänzend werden, damit sie nicht blind werden. Ralf Hirsch glaubt, dass sich eine ganze Reihe in den verschiedensten Richtungen bewegt, was sehr gut läuft. Morgen hat er wieder Arbeit, trifft mit einem amerikanischen Journalisten zusammen und ist mit Ulrich Schwarz verabredet. Rainer E[ppelmann] hofft, dass irgendwann einmal die Zeiten kommen, dass er mit Ralf Hirsch gemeinsam bei einem Italiener sitzen oder auch im Thüringer in Weißensee. […] 21 Rainer E[ppelmann] würde es schön finden, wenn er mit Ralf Hirsch wieder einmal etwas zusammen machen könnte. Ralf Hirsch erklärt, dass sich alles irgendwann entwickeln wird. Rainer E[ppelmann] bringt zum Ausdruck, dass man auch zum Beispiel nach Polen gucken muss. Wenn er sich so denkt, was dort 1982 gelaufen ist und was heute läuft, hat er den Eindruck, dass auch für osteuropäische Länder das Gleiche gilt, was Karl Marx für alle gesagt hat. Geschichte entwickelt sich weiter und nur da, wo Dynamik ist, hat etwas Recht auf Bestand. Ralf Hirsch ist noch nicht davon überzeugt, dass [Erich] Honecker 180 Jahre alt wird und aus diesem Grund hat er da Hoffnung. Rainer E[ppelmann] hält das auch für unwahrscheinlich. Mit seinen 100 Jahren ist da vielleicht ein Bundesgerichtshof (BGH-Beschluss vom 7.5.2007 – VI Z R 253/05) untersagt haben, öffentlich zu behaupten, Manfred Stolpe sei im Dienst des MfS tätig gewesen (Mitteilung von Manfred Stolpe am 7.11.2013). 19 Siehe Anm. 10. 20 Ebenda. 21 Weggelassen wurden knappe private Ausführungen.
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Testament, aber ob die Erben sein Testament in jedem Punkt so verwalten, wie er sich das vorstellt, muss man erst einmal sehen. 22 Rainer E[ppelmann] bringt zum Ausdruck, dass das »Heute-Journal« eine Zweiteilung war. Einige Minuten davor, war er auch schon dran und dann gab es eine technische Störung und das Gespräch war unterbrochen. Minuten später ging es dann. 23 Ralf Hirsch ist der Ansicht, dass man sich keine Blöße geben wollte, dass die Zuschauer sagen, dass das Telefon abgeklemmt wurde. Auf eine Frage teilt Rainer E[ppelmann] mit, dass er nur RIAS-TV ein Interview gegeben hat. 24 Eva-Maria Eppelmann hat irgendeiner Zeitung in Bonn ein Interview gegeben. 25 Morgen wird sich um 7.45 Uhr der »Deutschlandfunk« bei Rainer E[ppelmann] melden. 26 Ralf Hirsch soll den grüßen, den Rainer E[ppelmann] noch nicht kennt. 27 Über diesen führt Ralf Hirsch aus, dass er einen Film über die Staatssicherheit dreht. 28 Dieser hat die »Tages22 Im Januar 1989 begann in der DDR das Thomas-Müntzer-Gedenken aus Anlass seines 500. Geburtstages. Erich Honecker ließ es sich nicht nehmen, am 19.1.1989 selbst eine aktuelle politische Rede zum Müntzer-Gedenken zu halten. Dabei nahm er auf die gerade zu Ende gehende KSZE-Nachfolgekonferenz von Wien Bezug und behauptete, in der DDR würden alle Menschenrechte geachtet. Dass die DDR gerade wegen der Menschenrechtssituation weithin isoliert war und selbst »Bruderstaaten« wie Polen, Ungarn und die UdSSR erkennbar Distanz hielten, erwähnte Honecker in seiner Rede nicht. Stattdessen griff er die Bundesrepublik und die USA scharf an und schob ihnen die Verantwortung für die fehlende Reisefreiheit der DDR-Bürger zu. Sie wären dafür verantwortlich gewesen, dass die DDR 1961 den »antifaschistischen Schutzwall« habe bauen müssen und noch gebe es keine Gründe, daran etwas zu ändern: »die Mauer wird […] so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in 50 auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind« (ND vom 20.1.1988). Honeckers Vision vom 100-jährigen Mauerreich rief vielfach blankes Entsetzen hervor. Oppositionelle um Ludwig Mehlhorn, Stephan Bickhardt und Hans-Jürgen Fischbeck vom Initiativkreis »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« und vom Friedenskreis der Ostberliner Bartholomäusgemeinde antworteten z. B. Honecker mit einem Offenen Brief am 23.1.1989: »Jeder weiß, dass die Mauer nicht gegen irgendwelche Räuber nach außen, sondern vor allem nach innen gerichtet ist. […] Wir und unsere Kinder wollen nicht noch fünfzig Jahre warten« (Offener Brief an Erich Honecker, 23.1.1989. BStU, MfS, BV Berlin, AKG 37, Bl. 28). 23 Siehe Anm. 2. 24 Siehe Anm. 15. 25 Es handelte sich um die »Bild«-Zeitung, die Stasi schnitt das Telefoninterview mit: MfS, Abt. 26/6, Information A/6043/83/98/89, 6.2.1989. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 5719, Bl. 40–42. 26 Siehe Anm. 16. 27 Gemeint ist Karl Wilhelm Fricke (geb. 1929). Zur Biografie vgl. Karl Wilhelm Fricke: Akten-Einsicht. Berlin 1996; »Ich wollte die Sprache derer sprechen, die zum Schweigen verurteilt waren.” Ein Interview von Ilko-Sascha Kowalczuk mit Karl Wilhelm Fricke, in: Karl Wilhelm Fricke: Der Wahrheit verpflichtet. Texte aus fünf Jahrzehnten zur Geschichte der DDR. Wiss. Bearb.: IlkoSascha Kowalczuk. Berlin 2000, S. 13–115. 28 Der Titel lautet: Im Dienst der Macht. Das MfS in der DDR. Dokumentation von Karl Wilhelm Fricke. Darin werden die Geschichte und Struktur des MfS, die Unterstellung unter SED und KGB ebenso angesprochen wie Zeitzeugen, darunter Ralf Hirsch, zu Wort kommen. Auch eine IM-Verpflichtungserklärung wird gezeigt und darauf hingewiesen, dass die inoffiziellen Mitarbeiter, deren Abkürzung IM in dem Beitrag genannt wurde, die wichtigste Kraft für das MfS seien. Außer-
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schau« gesehen und gesagt, dass er gleich dazu das entsprechende Material hat. Rainer E[ppelmann] will wissen, was Ralf Hirsch momentan sehr beschäftigt. Ralf Hirsch erwähnt das Buch und schätzt ein, dass das sehr gut läuft und gute Kritiken bekommen hat. In 14 Tagen haben sie schon 100 Exemplare abgesetzt. 29 Ralf Hirsch schätzt ein, dass das für einen Privatvertrieb sehr viel ist. Ralf Hirsch erklärt, dass er mit dem Namensfreund von Rainer E[ppelmann] in den letzten Tagen sehr viel zu tun hatte. 30 Darüber hat er aber einige Dinge in seinem Brief geschrieben. 31 Ralf Hirsch bezeichnet dies als schöne Sachen. […] 32 Rainer E[ppelmann] übernimmt die Unterhaltung und erklärt, dass Ralf Hirsch wieder einreisen kann. Am Montag nach den Wahlen stand in der Zeitung, dass Tausende Antifaschisten gegen den Einzug der Republikaner demonstriert haben. 33 Ralf Hirsch bemerkt, dass er auch ein Antifaschist ist. Rainer E[ppelmann] meint, dass Ralf Hirsch doch als Antifaschist eine Einreise wagen sollte. Man muss erst einmal sehen, ob die DDR einen Antifaschisten nicht hineinlässt. Ralf Hirsch wird es probieren. Abschließend meint Rainer E[ppelmann], dass Ralf Hirsch den Karl [Bohley] grüßen soll. 22.30 Uhr
dem wird ein Teil der »operativen Technik«, die das MfS zum Einsatz bringt, vorgestellt. Lediglich in einem geringfügigen Punkt war der Autor zu vorsichtig: Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter wurde mit »weit mehr als 20 000« angegeben, was zwar stimmte, aber eben doch fast 5-mal weniger war als die Anzahl tatsächlich betrug. Eine insgesamt ganz erstaunliche Produktion. Der Film entstand im Auftrag des SFB, ist aber nie ausgestrahlt worden, weil er politisch nicht opportun schien (Mitteilung von Karl Wilhelm Fricke am 23.10.2013; er stellte uns auch dankenswerterweise eine Kopie des fertig produzierten Films zur Verfügung). 29 Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Erstes unabhängiges Periodikum. Berlin 1989. 30 Gemeint ist Reiner Dietrich (IM des MfS). Weitere Informationen unter Kurzbiografien im Anhang. 31 Siehe Anm. 10. 32 Ein Besucher Rainer Eppelmanns spricht kurz mit Ralf Hirsch. 33 Tausende Antifaschisten vor dem Schöneberger Rathaus, in: Berliner Zeitung vom 30.1.1989. Ralf Hirsch hatte an dieser spontanen Protestdemonstration am Wahlabend teilgenommen. Siehe Dok. 126.
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Dokument 128 Telefonat zwischen Marianne Birthler und Wolfram Hülsemann 6. Februar 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, [Kurt] Dohmeyer Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 7204, Bl. 14–15
Marianne Birthler, die sich in der Gethsemanegemeinde aufhält, 1 nimmt Kontakt auf zu Wolfram Hülsemann. Marianne Birthler bemerkt, dass sie gern noch einmal kurz über die Telefongeschichte 2 sprechen möchte, bevor sie mit den Antrag zum GKR geht. Auf die Bemerkung, ob denn das Problem nicht schon soweit geklärt ist, erwidert Marianne Birthler, dass sie jetzt gerade noch an einigen Formulierungen bastelt, wobei sie sich nicht immer sicher ist, ob diese letztendlich dem Konsens ihres vorangegangenen Gespräches entsprechen. 3 Wolfram Hülsemann meint, dass ihm nur wichtig ist, dass diese Sache »nicht auf ewig und immer« konzipiert ist. Marianne Birthler versichert, dass sie ganz klar formulierte, dass das Telefon-Projekt bis Ende dieses Jahres befristet ist. Des Weiteren habe sie die Empfehlung eingebracht, im November eine Auswertung der Erfahrungen durchzuführen, wobei man dann »die Frage noch einmal neu stellen sollte«. Weiterhin gibt Marianne Birthler bekannt, dass sie bei ihrem Antrag keinen Kopfbogen des Stadtjugendpfarramtes verwendete. Als Unterzeichner für die Telefongruppe soll Dankwart Kirchner fungieren, sie selbst wird als Vertreterin des Stadtjugendpfarramtes unterzeichnen. Wolfram Hülsemann macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass das Stadtjugendpfarramt allein Träger des Telefon-Projektes ist. Marianne Birthler versichert, dass sie dies schon in Betracht zog. Sie möchte mit ihrem Antrag nur den Fakt nicht unter den Tisch fallen lassen, dass das Stadtjugendpfarramt nicht der »Allein-Erfinder« dieses Projektes ist. Konkret habe sie deshalb formuliert: »Die inhaltliche Verantwortung für die Arbeit am Kontakttelefon liegt bei der Telefon-Gruppe, die
1 Das Telefon in der Ostberliner Gethsemanegemeinde ist vom MfS systematisch abgehört worden. 2 Es geht um das Kontakttelefon, das bei der Gethsemanegemeinde eingerichtet worden ist. 3 Dazu liegen zahlreiche Unterlagen in: RHG, Bestand Marianne Birthler, MBi 08. In diesen Unterlagen finden sich auch Aufzeichnungen, wer wann Dienst am Telefon hatte und welche Informationen, Anfragen usw. eingingen bzw. weitergeleitet wurden. Die Bereitschaftsdienste begannen demzufolge am 26.1.1989; unklar bleibt, ob da auch schon tatsächlich das Telefon zur Verfügung stand, nachweisbar ist die Inbetriebnahme ab Februar 1989. Zunächst wurde 2 Mal pro Woche das Telefon genutzt.
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Dokument 128 vom 19. September 1988
institutionelle Anwendung 4 erfolgt beim Stadtjugendpfarramt.« An einer anderen Stelle habe sie darauf aufmerksam gemacht, dass ein Vertreter des Stadtjugendpfarramtes mit in der Telefon-Gruppe sitzt. Wolfram Hülsemann findet das alles gut und richtig, warnt aber davor, dass man sich irgendwelchen Illusionen hingibt. Wenn in dieser Sache irgendetwas läuft, hat das Stadtjugendpfarramt letztendlich den Hut auf. Marianne Birthler entgegnet, dass ihr dies schon klar ist. Sie wollte mit ihrer Formulierung »die Leute mit ihrer Mitverantwortung behaften«, was ihrer Meinung nach im Sinne des Stadtjugendpfarramtes liegen dürfte. Wolfram Hülsemann gibt ihr in diesem Punkt recht. Er ist nun davon überzeugt, dass die Sache so in Ordnung geht. Dann teilt Wolfram Hülsemann mit, dass die Sache mit den Abhöranlagen bei Rainer Eppelmann gerade im Radio gesendet wurde. 5 Er verabschiedet sich von seiner Gesprächspartnerin. 18.42 Uhr […] 6
4 Gemeint ist die »Anbindung«. 5 Siehe Dok. 111, 114, 122, 123, 124, 126 und 127. Wegen der Vielzahl der Sendungen, Interviews und Meldungen dazu, lässt sich nicht mehr genau bestimmen, auf welche konkrete Sendung er sich bezog. 6 Es folgt ein Telefonat zwischen Marianne Birthler und Katharina Harich, in dem es auch um die Einrichtung des Kontakttelefons geht.
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Dokument 129 Information über den in der Untersuchung festgestellten Missbrauch von Telefonen in kirchlichen Einrichtungen 1 (Originaltitel) 14. Februar 1989 Von: MfS, HA IX/AKG Quelle: BStU, MfS, HA XX/4 1533, Bl. 131–134
In der Untersuchungstätigkeit wurden Erkenntnisse darüber erarbeitet, dass in der evangelischen Zionskirchgemeinde Berlin, in der Generalsuperintendentur Berlin der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg sowie durch einen Pfarrer in Leipzig ein nachweislicher Missbrauch von Telefonanschlüssen zu antisozialistischen Aktivitäten erfolgte. Die entsprechenden Feststellungen wurden gegenüber verantwortlichen Amtsträgern der evangelischen Kirche zur Unterbindung solchen Missbrauchs offiziell ausgewertet. Im Einzelnen wurde dazu festgestellt: 1. Im November 1987 erfolgte – in Reaktion auf die zur Unterbindung der Herausgabe der Schrift »Grenzfall« vorgenommene Verhaftung des Rüddenklau, Wolfgang und drei anderer 2 Kräfte des politischen Untergrundes – in der Zionskirchgemeinde die Einrichtung eines »Mahnwachenbüros«, welches rund um die Uhr besetzt war. Das »Mahnwachenbüro« hatte nach Aussagen des in einem Ermittlungsverfahren bearbeiteten XXX, der selbst über mehrere Tage Ende November/Anfang Dezember 1987 dort Dienst versah, sowie eines Befragten namens XXX die Aufgabe, als Konsultationspunkt für Anhänger der »Friedensbewegung« sowie als Koordinierungszentrale zu dienen und insbesondere Termine für »Mahnwachen« und andere öffentlichkeitswirksame Zusammenkünfte feindlich-negativer Kräfte zu verbreiten. Es befand sich überwiegend in der Kantorei der Zionskirchgemeinde in der Griebenowstraße 12–15, wobei der Telefonanschluss der Zionskirchgemeinde mit der Rufnummer 2819XXX als »Kontakttelefon« genutzt wurde. 1 Dieses Dokument übersandte der stellv. MfS-Minister Wolfgang Schwanitz am 15.2.1989 dem amtierenden Leiter der HA XX Benno Paroch mit folgendem Begleitschreiben: »Als Anlage übergebe ich Ihnen eine Information der HA IX. Ich bitte Sie kurzfristig zu überprüfen, ob der auf Seite 4 dargestellte Missbrauch des Telefons Pfarrer [Christoph] Wonnebergers inzwischen unterbunden wurde.« Handschriftlich ist darauf u. a. vermerkt worden: »mündl. Inform. über Telefon W[onneberger] erfolgte an Gen. Schwanitz am 15.2.89.« (BStU, MfS, HA XX/4 1533, Bl. 138). 2 Neben Wolfgang Rüddenklau und Bert Schlegel nahm das MfS 5 weitere Personen in der Nacht vom 24. zum 25.11.1987 fest, die bis auf die beiden Genannten bis zum Abend wieder frei kamen; Rüddenklau und Schlegel blieben noch 3 Tage länger in Haft. Zu den nachfolgend geschilderten Ereignissen siehe in diesem Band zahlreiche Dokumente.
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Dokument 129 vom 19. September 1988
Entsprechend den Aussagen des XXX lag im »Mahnwachenbüro« ständig ein Telefonverzeichnis aus, welches neben den Telefonnummern von Exponenten der politischen Untergrundtätigkeit Telefonnummern von westlichen Presseagenturen und Medien, wie z. B. DPA, ARD, ZDF, Reuters, AP, der Botschaft der USA in der DDR, den Sendern SAT 1 und Radio Hundert,6 sowie dem in Westberlin wohnhaften Roland Jahn enthielt. Der Telefondienst war beauftragt, die westlichen Medien darüber zu informieren, wenn staatliche Organe gegen die Mitglieder der vorgeblichen Friedensbewegung vorgingen, wenn Festnahmen oder »Zuführungen« erfolgten bzw. wenn neue Aktionen geplant waren. Im genannten Zeitraum rief Roland Jahn täglich im »Mahnwachenbüro« an, um sich über die aktuelle Situation in der »Umweltbibliothek« zu informieren. Einen dieser Anrufe nahm XXX am 1. oder 2. Dezember 1987 selbst entgegen. Außerdem wurden in diesem Kontaktbüro anrufende bzw. vorsprechende Übersiedlungsersuchende an die Gründungsmitglieder der »Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR« verwiesen, die Ende 1987/Anfang 1988 die Räume der »Umweltbibliothek« gleichfalls als eine Art Kontaktbüro nutzten. Die Inspiratoren dieser Arbeitsgruppe hatten ihre Privatadressen und Telefonnummern in der »Umweltbibliothek« sowie im Schaukasten der Zionskirche als Kontakttelefone bzw. -adressen der Arbeitsgruppe verbreitet, um so weitere Übersiedlungsersuchende für ihre feindlich-negativen Aktivitäten kontaktieren zu können. 2. Laut Aussagen des im Januar 1988 in Bearbeitung genommenen Fischer, Werner wurde – in Reaktion auf die Inhaftierung von Provokateuren, die die Demonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 17. Januar 1988 in Berlin zu stören versuchten – durch die Leitung der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg im Januar 1988 in den Diensträumen der Generalsuperintendentur Berlin in der Nöldnerstraße 43 ein sogenanntes Kontaktbüro eingerichtet. Dieses diente der Zusammenfassung von Informationen über die am 17. Januar 1988 inhaftierten bzw. zugeführten Personen sowie der Unterstützung [von] deren Angehörigen. Anfang Februar 1988 wurde bei sogenannten Fürbitt- und anderen Gottesdiensten in der Hauptstadt der DDR durch Pfarrer [Rainer] Eppelmann und andere Kirchenangestellte bekannt gegeben, dass auf Vorschlag des Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe in den Räumlichkeiten der Generalsuperintendentur Berlin ein kirchliches Kontaktbüro einschließlich Kontakttelefon für Übersiedlungsersuchende eingerichtet worden sei, welches auch über die private Telefonnummer des Generalsuperintendenten Günter Krusche erreichbar wäre. Dort sollte man anrufen bzw. Bescheid geben, wenn man – Probleme mit der angestrebten Ausreise hätte, – einen Rechtsbeistand benötige oder
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Dokument 129 vom 14. Februar 1989
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– im Falle der Inhaftierung von Familienmitgliedern den Schutz und die Hilfe der Kirche suche, worauf entsprechender seelsorgerischer Beistand vermittelt werden würde. Durch übereinstimmende Aussagen mehrerer Inhaftierter wird belegt, dass innerhalb des sogenannten Kontaktbüros zeitweilig Inspiratoren der »Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR« tätig waren und das Kontaktbüro bzw. Kontakttelefon dazu missbrauchten, Übersiedlungsersuchende listenmäßig zu erfassen, um sie in Gruppierungen der »Arbeitsgruppe« einzugliedern und im Weiteren für öffentlichkeitswirksame Provokationen zu formieren. Nach der daraufhin am 10. Februar 1988 erfolgten Gesprächsführung eines Beauftragten des Staatssekretariats für Kirchenfragen mit Generalsuperintendenten Krusche wurden die Seelsorger für das Kontaktbüro angewiesen, auf die Besucher beruhigend einzuwirken und sie an zuständige staatliche Organe oder Heimatkirchgemeinden zu verweisen; das Kontaktbüro wurde in der Folgezeit geschlossen. 3 3. Im Zuge der »Zuführungen« bei der Auflösung einer Provokation in Leipzig am 15. Januar 1989 4 wurde vom Beschuldigten XXX dem Zeugen XXX die Kontaktadresse: Pfarrer [Christoph] Wonneberger, Leipzig, Juliusstraße 5, benannt, wo ein Kontaktbüro mit ständigem Telefondienst eingerichtet worden sei, in welchem eine Auswertung der Ereignisse um den 15.1.1989 vorgenommen werde. Damit werden operative Erkenntnisse bestätigt, wonach am 14. Januar 1989 in der Elisabethgemeinde in Berlin (Veranstaltung der »Kirche von unten«) die Telefonnummer von Pfarrer Wonneberger für die Übermittlung von Solidaritätsbekundungen bekannt gegeben wurde und nachfol3 Bereits am 8.2.1988 gab Generalsuperintendent Krusche folgende Erklärung ab: »Bedauerlicherweise hat es Missverständnisse über die Information zu Seelsorgemöglichkeiten an Antragstellern für Ausbürgerungsanträge gegeben. Aus verkürzten Meldungen, die von elektronischen Medien übermittelt wurden, haben einige der Betroffenen den falschen Eindruck gewonnen, die Evangelische Kirche könnte konkrete Hilfe bei Ausbürgerungsvorhaben leisten. Das trifft nicht zu. Die Bearbeitung und Entscheidung von Ausbürgerungsanträgen kann ausschließlich bei den Staatsorganen erfolgen. Die Evangelische Kirche ist jedoch, wie bisher, auf Wunsch der Betroffenen zur seelsorgerlichen Begleitung bereit. Dafür ist grundsätzlich der örtlich zuständige Seelsorger anzusprechen. Da das Angebot des Generalsuperintendenten in größerem Umfang als erwartet in Anspruch genommen wurde, ist im dortigen Büro eine sinnvolle Beratung nicht möglich. Bei Rückfragen in der Generalsuperintendentur wird erforderlichenfalls die Anschrift des örtlichen Seelsorgers vermittelt. Im übrigen wird noch einmal daran erinnert, dass schon seit den 1950er Jahren die Evangelische Kirche ihre Gemeindeglieder und alle Bürger dieses Landes bittet, ihre Chancen und Möglichkeiten in der DDR zu sehen und sich den hier für sie bestehenden Aufgaben nicht zu entziehen. Die christliche Gemeinde, aber auch die Gesellschaft braucht jeden zur Mitarbeit.« (Berliner Zeitung vom 10.2.1988) Erstaunlich war bereits der Umstand, dass diese Meldung in einer SED-Tageszeitung verkündet wurde bzw. werden musste. 4 Siehe Dok. 113, 115, 116, 117, 118, 119 und 121.
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Dokument 129 vom 19. September 1988
gend in der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg ein Kontakttelefon Berlin – Leipzig sowie in der Christuskirche Zwickau ein ständiger Telefondienst zum Informationsaustausch mit dem »Kontaktbüro« in Leipzig eingerichtet wurden. Durch den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres und den Bezirksstaatsanwalt wurde in einem Gespräch am 30. Januar 1989 mit Oberkirchenrat [Dieter] Auerbach vom Landeskirchenamt und den Superintendenten [Johannes] Richter 5 und [Friedrich] Magirius 6 zur Unterbindung des weiteren Missbrauchs von Räumlichkeiten und technischen Ausrüstungen kirchlicher Einrichtungen die negative Rolle von Pfarrer Wonneberger hervorgehoben und eine nachdrückliche disziplinarische Einflussnahme seitens des Landeskirchenamtes und des Superintendenten gefordert. 7
5 Johannes Richter (1934–2004), Theologe, Pfarrer an der Thomaskirche Leipzig und von 1976 bis 1998 Superintendent im Kirchenbezirk Leipzig-West. 6 Friedrich Magirius (geb. 1930), Pfarrer, 1966–1968 vom MfS als IM »Einsiedel« erfasst, 1973–1982 Leiter der Aktion Sühnezeichen in der DDR, 1982–1995 Superintendent des Kirchenbezirks Leipzig-Ost. 7 Vgl. dazu u. a. Christian Dietrich, Uwe Schwabe (Hg.): Freunde und Feinde. Friedensgebete in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989. Leipzig 1994, passim.
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Dokument 130 Telefonat von Lutz Rathenow 8. Mai 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Günther] Heimann Quelle: BStU, MfS, HA XX/9 297, Bl. 78–79
[…] 1 XXX meldet sich bei [Lutz] Rathenow […]. 2 Auf die gestrigen Wahlen zu sprechen kommend, 3 möchte XXX wissen, was das »Neue Deutschland« dazu schreibt. Rathenow hat noch keine Zeitung gelesen. 4 Er möchte jedoch jetzt schon sagen, dass sie (»wir«) sich beide geirrt haben. Rathenow versuchte gestern noch im Radio etwas zu hören, aber es wurde fast nichts über die Wahl gebracht. Rathenow glaubt daher, »die« empfinden die Wahl – so lächerlich es klingt – als Niederlage. XXX ist darüber erstaunt, worauf Rathenow erklärt, dass doch echt darum gekämpft wurde, die Wahlbeteiligung zu steigern oder wenigstens zu halten. Außerdem ist die Zahl der Gegenstimmen um das Sechsfache gestiegen. 5 XXX erwidert, wenn man aber die absoluten Zahlen sieht, können »die« doch sehr zufrieden sein. 6 Rathenow erwidert, dass XXX das 1 Es wird ein Telefonat von Lutz Rathenow mit einer Mitarbeiterin des Ministeriums für Kultur dokumentiert. Darin geht es um die beabsichtigte Reise nach Wien, die erste, die Rathenow in den Westen genehmigt wurde. 2 Zunächst geht es um die Reise nach Wien und den Umstand, dass andere Reisen, die Rathenow durchführen wollte, ihm nicht genehmigt worden sind. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Ein Buch und seine Geschichten. Erinnerungen und Akteneinsichten, in: Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall. 6., erw. Aufl., Berlin 2014, S. 5–31. 3 Am 7.5.1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt. Zu Wahlen in der DDR prinzipiell Hans-Michael Kloth: Vom »Zettelfalten« zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die »Wahlfrage«. Berlin 2000. 4 Das »ND« titelte: »98,85 Prozent stimmten für die Kandidaten der Nationalen Front«. So ähnlich lauteten alle Schlagzeilen. Zu diesen »Wahlen« siehe Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 318–333. 5 Offiziell gab es 142 301 (1,15 %) Gegenstimmen bei einer Wahlbeteiligung von 98,77 % bei diesen Kommunalwahlen. Bei den Volkskammerwahlen 1986 veröffentlichte die SED die Zahl der Gegenstimmen mit 7 502 (0,06 %) bei einer Wahlbeteiligung von 99,73 %. Bei den Kommunalwahlen zuvor, 1984, gab die SED 14 683 (0,12 %) Gegenstimmen bei einer Wahlbeteiligung von 99,37 % an. 6 Tatsächlich hatte die SED zu Gegenstimmen und offiziellen Nichtwählern eine Größenordnung von 300 000 angegeben, so viele wie bei keiner anderen »Wahl«. Lediglich bei der Volksabstimmung über die neue Verfassung 1968 sind mit rd. insgesamt 700 000 Nichtwählern und Gegenstimmen noch mehr veröffentlicht worden. Realistisch scheint es zu sein, für die Wahlen 1989 von jeweils 10 % Nichtwählern und Gegenstimmen auszugehen, was immerhin eine Gesamtanzahl von rd. 2 Mio. Wahlberechtigten bedeutet. Egon Krenz ging im Juni 1989 intern davon aus, dass es wahr-
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Dokument 130 vom 19. September 1988
nicht aus seiner westlichen Sicht sehen soll, sondern an die hiesigen Verhältnisse denken muss. Interessant ist für Rathenow vor allem, dass es in großen Teilen der DDR offenbar wie immer normal ablief, dass es aber in einigen Städten eine größere Zahl von Gegenstimmen gibt. So etwas wie die 3 Prozent Gegenstimmen in Plauen gab es seit der Abstimmung der Verfassung nicht mehr. 7 Er glaubt nicht, dass das so einkalkuliert war. XXX möchte wissen, ob Rathenow glaubt, dass korrekt ausgezählt wurde. Für Berlin möchte Rathenow das glauben. 8 XXX fährt fort, man spricht für Berlin von 3 Prozent bis 20 Prozent Gegenstimmen. 9 Rathenow berichtet hierauf, dass er mit jemandem sprach, der [die] Auszählung in einem Sonderwahllokal beobachtete. Dort gab es 11 Prozent Gegenstimmen. Diese Zahl findet Rathenow gigantisch. Rathenow glaubt aber auch, dass es Retuschen gibt. Beispielsweise bei der Wahlbeteiligung, indem einige Leute gar nicht erst in den Wählerlisten auftauchen. 10 Rathenow betont, dass das auch bei dieser Wahl wieder so erfolgte. Auch bei der Auszählung geht Rathenow davon aus, dass Manipulationen vorgenommen werden, beispielsweise in der Art, dass in scheinlich 8 bis 15 % Gegenstimmen gegeben hatte (Kowalczuk: Endspiel, S. 330; hier wird auch an verschiedenen Beispielen aufgezeigt, warum die jeweils 10 % realistisch sind, wie die Wahlfälschungen vorgenommen wurden und wie die Opposition diese erstmals systematisch aufdeckte. Vgl. ebenda, S. 318–333). In der SED-Führung sind die Proteste, Eingaben und Anzeigen gegen die offiziell verkündeten Wahlergebnisse intensiv beobachtet und diskutiert worden (z. B. BArch DY 30, IV 2/2039/230; ebenda, DY 30/9048). In einer Auswertung im Sommer 1989 kam die SED-Spitze zu dem Schluss, dass »substantielle Veränderungen des gegenwärtigen Grundmusters unseres Wahlsystems […] im Interesse der Wahrung der Stabilität des Staates kaum möglich« seien. Die politische Macht wäre sonst infrage gestellt. »Die Grundfrage von Wahlen in den 90er Jahren mit oder ohne verbessertem Wahlgesetz wird allerdings immer mehr die Einstellungsbereitschaft werden, weitgehend real zustandegekommene aber damit auch deutlich niedrigere Ergebnisse wie bisher bei der Wahlbeteiligung und den Für-Stimmen als politisch vertretbar zu bewerten. Wahrscheinlich nur damit könnten Ansatzpunkte – aus welcher Motivation auch immer – für Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit und dem echten demokratischen Gehalt unserer Wahlen paralysiert werden.« (O. Verf., Zu den Kommunalwahlen 1989, o. D. (etwa Juni 1989; abgelegt im Büro Krenz). BArch DY 30, IV 2/2039/230, Bl. 255). 7 Offiziell gab es in Ost-Berlin die meisten Wahlverweigerer (2,8 %). Dem Stadtbezirk Prenzlauer Berg räumten die SED-Funktionäre fast 5 % Nichtwähler ein, fast ebenso viele der sächsischen Stadt Glauchau (4,93 %). Der höchste prozentuale Anteil von Gegenstimmen ist dem Kreis PotsdamLand (4,14 %), gefolgt von Leipzig-Land (3,98 %) und der vogtländischen Stadt Plauen (3,82 %) zugebilligt worden. 8 Rathenow glaubte das auch für Berlin nicht, es stimmte auch nicht. 9 Siehe Anm. 6. 10 Hier wird ein Prinzip der Wahlen benannt: Ausreiseantragsteller, Oppositionelle und Nichtwähler bei vorangegangenen Wahlen strich die Wahlkommission aus den Wählerlisten, sodass diese bei der Gesamtwählerzahl von vornherein nicht enthalten waren. Mitte April 1989 verfügte die zentrale Wahlkommission bereits über Zahlen, wonach 82 560 Männer und Frauen angekündigt hatten, nicht an den Wahlen teilzunehmen. Auch diese sind gestrichen worden. Ein Drittel der Wahlberechtigten wählte vorab in »Sonderwahllokalen«, wo man gar nicht die Kandidaten des eigenen Wahlbezirks wählen konnte. Diese »Sonderwahllokale« spielten bei der Wahlauszählung und Wahlfälschung immer eine besonders wichtige Rolle.
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Dokument 130 vom 8. Mai 1989
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den Orten, in denen es sowieso wenig Gegenstimmen gibt, auch noch einige unter den Tisch fallen. Rathenow würde die offiziellen Angaben mit dem Faktor 2 multiplizieren und glaubt, das würde dann dem tatsächlichen Ergebnis entsprechen. Allerdings, so Rathenow, mehr gibt es dann wirklich nicht an Enthaltungen oder Gegenstimmen. 11 XXX möchte sich gegen Mittag noch einmal bei Rathenow melden, da ihn die Angaben aus dem »Neuen Deutschland«, das er nicht bekommt, interessieren. Rathenow ist damit einverstanden. XXX möchte wissen, ob Rathenow etwas über Leipzig weiß. Der verneint, geht aber davon aus, dass die Meldungen stimmen. XXX vergewissert sich, ob Rathenow auch die Festnahmen und die 2 000 Demonstranten meint, was der bestätigt. 12 10.01 Uhr
11 Es ist zu berücksichtigen, dass Hunderttausende Menschen direkt und aktiv in die Wahlen (Kandidaten, Wahlvorstände usw.) involviert waren. Zu Rathenows Mutmaßung siehe Anm. 6. Damit bewegte er sich damals bei den Spekulationen über die tatsächlichen Zahlen eher am unteren Rand. 12 Am frühen Abend des 7.5.1989 hatten sich vor der Leipziger Nikolaikirche zunächst etwa 40 Personen versammelt, die einem Protestaufruf vom April 1989 folgten. Da auf dem unweit gelegenen Markt ein Volksfest stattfand, ist die tatsächliche Zahl der Demonstranten nicht sicher zu bestimmen. Es mögen sich wenige Hundert den Protesten angeschlossen haben. Es kam zu 74 Festnahmen und anschließend zu 12 Ordnungsstrafverfahren. Zu den Wahlprotesten in Leipzig und anderswo Kowalczuk: Endspiel. Speziell zu Leipzig Christian Dietrich, Uwe Schwabe (Hg.): Freunde und Feinde. Friedensgebete in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989. Leipzig 1994, S. 319– 327.
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Dokument 131 Telefonate von Lutz Rathenow 29. Mai 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Günther] Heimann Quelle: BStU, MfS, HA XX/9 297, Bl. 113–115 Anmerkung: Es handelt sich um zwei Dokumente; beide tragen den Stempelaufdruck »Erledigt«.
XXX meldet sich bei Lutz Rathenow und bittet ihn zu notieren, dass Udo Hartmann soeben vor der Nikolaikirche festgenommen wurde. 1 Auf Befragen teilt er zu diesem das Alter mit und berichtet, dass der im Januar schon mal festgenommen wurde und dass er kein Antragsteller ist. 2 Im Rahmen des »Friedensgebetes am Montag« hatten sich etwa 500 Leute vor der Nikolaikirche versammelt. 3 Sie wurden aufgefordert, sich zu zerstreuen und kamen der Aufforderung auch nach, es ging alles ganz friedlich ab. Am vergangenen Montag seien 350 Mann durch die Innenstadt gegangen, diese Demonstration wurde mit Gewalt, also mit Gummiknüppeleinsatz, aufgelöst. Da gab es auch 25 Festnahmen, alle waren aber nach spätestens 36 Stunden draußen. 4 Die Frage von Rathenow, ob das bekannt wurde, verneint XXX. Auf eine diesbezügliche Frage schätzt er ein, dass von den 500 Mann vielleicht die Hälfte Antragsteller sind. 5 XXX macht darauf aufmerksam, dass es »eine Menge Vor1 Nach dem Friedensgebet (Montagsgebet) kam es neuerlich zu einem kleineren Protest auf dem Vorhof der Nikolaikirche. Siehe zur Entwicklung von Anfang 1988 bis zum Frühsommer 1989 in Leipzig knapp Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 307–311. 2 Siehe Dok. 115 und 118. Udo Hartmann (geb. 1962) ist am 11.9.1989 erneut für 4 Wochen eingesperrt worden. 3 Das MfS »zählte« 120 Personen. Es erfolgten 14 »Zuführungen« durch die VP, darunter waren 12 Ausreiseantragsteller. Sie erhielten eine Ordnungsstrafe in einer Gesamthöhe von 5 900 Mark. Vgl. Faksimile in: Tobias Hollitzer, Sven Sachenbacher (Hg.): Die Friedliche Revolution in Leipzig. Bilder, Dokumente und Objekte. Leipzig 2012, Bd. 1, S. 157. Mindestens ein Mann ist in VPGewahrsam zusammengeschlagen worden, weshalb er Anzeige erstattete. Vgl. Ereignisbericht, in: Christian Dietrich, Uwe Schwabe (Hg.): Freunde und Feinde. Friedensgebete in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989. Leipzig 1994, S. 350–351. 4 Das MfS »zählte« etwa 150 Personen bei dieser Demonstration am 22.5.1989 und wusste von 52 »Zuführungen« durch die Polizei zu berichten. Vgl. Dietrich; Schwabe (Hg.): Freunde und Feinde, S. 331–334. 5 Von den Zugeführten waren 41 (ebenda, S. 333) bzw. 24 Ausreiseantragsteller (Hollitzer; Sachenbacher (Hg.): Die Friedliche Revolution in Leipzig, Bd. 1, S. 157). Die Leipziger Demonstrationen begannen im März 1988 während der Messe überwiegend mit dem Ruf »Wir wollen raus«, dem sich dann zunehmend andere mit dem Ruf »Wir bleiben hier« entgegenstellten.
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Dokument 131 vom 29. Mai 1989
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ladungen«, auch diese Woche, gibt. Er selbst hat zu Mittwoch und XXX hat zu morgen eine. Rathenow sagt dazu, dass sich »schon etwas machen lassen« wird. Er wünscht XXX alles Gute und beendet das Gespräch. 18.10 Uhr XXX 6 bringt gegenüber Lutz Rathenow zum Ausdruck, dass doch alles noch einen bösen Ausgang genommen hat. Vor der Nikolaikirche wurden noch weitere 15 Personen festgenommen, sodass es jetzt insgesamt 16 Personen waren. 7 Fünf davon sind bereits wieder draußen. Sie wurden mit einem Ordnungsgeld in Höhe bis zu 500 Mark bestraft. 8 Von diesen Personen wurde beobachtet, dass XXX von der Arbeitsgruppe »Gerechtigkeit« auf der Polizeiwache niedergeprügelt worden ist und anschließend abgeführt wurde. 9 Das Gespräch wird unterbrochen. 10 22.50 Uhr Lage XX informiert 11 Rathenow informiert Roland Jahn in Westberlin über die Vorkommnisse in Leipzig. 12 Er teilt mit, dass letzten Montag bereits eine Zusammenkunft mit Gummiknüppeln auseinandergeschlagen wurde. Dabei kam es zu 25 Festnahmen, welche [sic!] jedoch nach 24 Stunden alle freigelassen worden sind. 13 6 Das ist derselbe Anrufer wie oben. 7 Die Polizei nahm nach MfS-Angaben 14 Personen fest, darunter 12 mit einem Ausreiseantrag, vgl. Faksimile in: Hollitzer; Sachenbacher (Hg.): Die Friedliche Revolution in Leipzig, Bd. 1, S. 157. 8 Die 14 zugeführten Personen erhielten Ordnungsstrafen in einer Gesamthöhe von 5 900 Mark (vgl. ebenda). Eine Auflistung der Proteste, Demonstrationen und zugeführten bzw. auch bestraften Personen findet sich bei Christian Dietrich: Fallstudie Leipzig 1987–1989. Die politischalternativen Gruppen in Leipzig vor der Revolution, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. VII/1, S. 558–666, hier spez. 648. 9 Vgl. Ereignisbericht (Anm. 3). 10 Ob dem Aufschreibenden bewusst war, dass unter seiner Formulierung »Das Gespräch wird unterbrochen« eine tatsächlich aktive Einflussnahme von wem auch immer zu verstehen war, muss hier offen bleiben. 11 »Lage XX« stellt keine anonymisierte Form dar. Es handelt sich um eine verkürzte Formulierung dafür, dass das sog. Operative Lagezentrum der HA XX vom Sachverhalt informiert wurde. 12 Die westlichen Medien verbreiteten unterschiedliche Angaben über die Festnahmen: von 11 war zu lesen (taz vom 31.5.1989), von 16 (Der Tagesspiegel vom 31.5.1989) und von »mehreren« (Die Welt vom 31.5.1989). 13 Am 22.5.1989 kam es tatsächlich zu 52 »Zuführungen«, davon hatten 24 (Hollitzer; Sachenbacher (Hg.): Die Friedliche Revolution in Leipzig, Bd. 1, S. 157) bzw. 41 (Dietrich; Schwabe (Hg.):
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Dokument 131 vom 19. September 1988
Dieses Mal kam es nicht zu solch einem brutalen Einsatz. Einzelne Personen wurden herausgegriffen, als alles bereits in der Auflösung befindlich war. Jahn möchte wissen, ob es sich um einen Demonstrationszug gehandelt hat, was Rathenow verneint. Ihm wurde gesagt, dass die Hälfte davon Ausreisewillige waren und die anderen Gruppenvertreter. Jahn interessiert weiter, ob diese Sache unter einem bestimmten Motto stand, worauf Rathenow erklärt, dass es dabei um das Friedensgebet geht. Insgesamt schätzt Rathenow ein, dass es besonders um den »Wahlbetrug« geht, wie um die Genehmigung der Ausreise. Rathenow meint, dass es ein regelmäßiges Auftreten für eine legale, oppositionelle Bewegung ist. Er findet es sehr interessant, dass auf dieser Basis weitergemacht wird, öffentlich in Erscheinung zu treten. Im weiteren Verlauf teilt Rathenow mit, dass er heute im Ministerium für Kultur war, wo ihm ein dauerndes Westreiseverbot ausgesprochen worden ist. Begründet wurde dies mit der 2-Minuten-Sendung am Mittwoch im SFB. 14 Dort hat er aus dem »Berlin-Buch« über das Pfingsttreffen vorgelesen. 15 Man will nicht zulassen, dass er solch extrem bösartige Diffamierungen aus dem »Berlin-Buch« weiterverbreitet. Rathenow ist bei diesem Gespräch klargeworden, dass diese Leute, mit welchen er im Ministerium zu tun hat, selbst nichts zu sagen haben. Ihm ist wichtig, dass das »Berlin-Buch« der Anlass war. 16 Er wird sich entsprechende Dinge überlegen. […] 17 23.15 Uhr
Freunde und Feinde, S. 333) Personen einen Ausreiseantrag gestellt. Die hier von Rathenow gegenüber Jahn gemachten Angaben finden sich auch in: 16 Besucher einer Friedensandacht in Leipzig festgenommen, in: Der Tagesspiegel vom 31.5.1989. 14 Am 24.5.1989. Rathenow war zunächst in Wien, um einen Preis entgegenzunehmen. Anschließend reiste er für ein paar Tage von den DDR-Behörden »ungenehmigt« nach West-Berlin. Vgl. auch Ilko-Sascha Kowalczuk: Ein Buch und seine Geschichten. Erinnerungen und Akteneinsichten, in: Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall. 6., erw. Aufl., Berlin 2014, S. 5–31. Es ging in dem Interview um das Ost-Berlin-Buch (1987). 15 Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ostberlin – Die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern. München, Zürich 1987, S. 119–120. Zur Geschichte des Buches siehe Kowalczuk: Ein Buch und seine Geschichten. 16 Vgl. dazu ebenda. 17 Abschließend geht es knapp um bevorstehende Publikationen von Lutz Rathenow.
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Dokument 132 Telefonat von Werner Fischer 25. September 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, HA XX 23202, Bl. 36–37
XXX aus Leipzig meldet sich bei Werner Fischer und erklärt, dass er ihn gestern vermisste, es sei schade gewesen, dass Fischer nicht gekommen war. 1 Dieser macht darauf aufmerksam, dass er nicht zum Neuen Forum gehört. Sie (ihr) hätten eingeladen, dass sich die in der letzten Zeit entstandenen Initiativen dort vorstellen, herausgestellt habe sich aber im Vorfeld, dass es ein Tag sei, der dem Neuen Forum gewidmet ist. XXX bestreitet das. Er führt das darauf zurück, dass die Medien teilweise Unsinn berichten. Sie, die sie in Leipzig versammelt waren, haben vereinbart, das Neue Forum als die politische Plattform für verschiedene Organisationen zu akzeptieren. 2 Vertreten 1 Am Sonntag, den 24.9.1989, fand in Leipzig ein landesweites Treffen von 80 Oppositionellen verschiedener Gruppen statt. 2 Diese Interpretation ist auch von westlichen Medien (zuerst der Deutschlandfunk, vgl. Christian Dietrich, Uwe Schwabe (Hg.): Freunde und Feinde. Friedensgebete in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989. Leipzig 1994, S. 538) verbreitet worden (z. B. Stasi geleimt – Opposition vereint, in: taz vom 25.9.1989). Bärbel Bohley erklärte in einem Interview: »Da muss etwas klar gestellt werden. Bei dem Treffen handelte es sich um eine Zusammenkunft von verschiedenen Gruppen, die schon seit langer Zeit geplant war und genau zu diesem Termin. Wir haben keine Dachorganisation gegründet, sondern darüber gesprochen, welchen Raum jede dieser Gruppen im gesellschaftlichen Leben der DDR einnehmen will und an welchen Stellen wir etwas verändern wollen. Da gibt es Unterschiede zwischen dem Neuen Forum und den verschiedenen Gruppen. Diese Unterschiede sind nicht weggewischt worden, sie existieren weiter. Manche Gruppen haben ein Programm, während das Neue Forum keines hat. […] Eigentlich wurde nochmal klargestellt, was die einzelnen Gruppen und Initiativen wollen. Das Neue Forum will keine Dachorganisation, sondern eine Plattform sein, auf der sich die verschiedensten Menschen treffen können: Christen, Genossen, Nicht-Genossen, alle möglichen Berufsgruppen. Wir wollen miteinander sprechen. Natürlich sind im Neuen Forum dann auch Menschen aus Gruppen vertreten. Das bedeutet noch lange nicht, dass die Gruppen ihre Autonomie aufgeben. Sie bleiben selbständig und vertreten ihre eigenen Inhalte. Inhalt und Ziel des Neuen Forums bestehen darin, den gesellschaftlichen Dialog über Wirtschaft, Kultur, Umwelt und Recht in Gang zu setzen – außerhalb der Kirche, DDR-weit, offen für alle und legal.« (»Das Neue Forum ist nur eine Plattform«. Interview mit Bärbel Bohley, in: taz vom 26.9.1989). Das Telefoninterview für die »taz« schnitt die Stasi ebenso mit wie sie von August bis November 1989 noch intensiver als ohnehin schon alle herausgehobenen Oppositionellen rund um die Uhr beschattete und abhörte, was zumeist in dieser Dichte gar nicht mehr in den eigentlichen OV abgelegt werden konnte, sodass gerade Abhörprotokolle, Beobachtungsberichte, aber auch IM-Berichte u. a. in sog. dezentralen Ablagen liegen und bei persönlichen Akteneinsichten ganz überwiegend nicht vorgelegt worden sind. Der Umfang dieser Materialien allein zu den Führungspersönlichkeiten des »Neuen Forums« (z. B. Bärbel Bohley, Reinhard Schult, Jutta Seidel), von Demokratie Jetzt (z. B. Ulrike Poppe, Ludwig
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Dokument 132 vom 19. September 1988
waren in Leipzig die Gruppen Demokratischer Aufbruch (Edelbert Richter) 3, Sozialdemokratische Partei ([Martin] Gutzeit) 4 und ein kommunaler Arbeitskreis. Vorgestellt wurden Demokratie Jetzt, von denen keiner da war, und die Vereinigte Linke. Von der IFM war Till Böttcher anwesend, hat aber nichts gesagt. Fischer fügt ein, dass der nicht zur IFM gehört. 5 XXX bemerkt weiter, dass die Demokratische Initiative aufgelöst und im Neuen Forum integriert wurde. 6 Fischer denkt, dass ganz wesentliche und entscheidende Gruppen einfach nicht die Rolle eines Dachverbandes mit selbsternannten Sprechern oder mit einem Zentralkomitee akzeptieren. Seiner Meinung nach hat das Neue Forum keine Basis, und was die geschrieben haben, lässt sich in dem Satz zusammenfassen »wir müssen alle miteinander reden«. Das sei nicht nur seine eigene Meinung. Zudem wisse er, wie das Neue Forum entstanden ist. Die »Initiative« 7 sei, aus gutem Grund, gar nicht gefragt worden. Seiner Meinung nach hat das Ding zwei Seiten. Einerseits ist es gut, dass durch das Neue Forum viele Leute außerhalb der Gruppenszene angesprochen und erreicht wurden. Er fragt sich aber, was das mit der Mitgliedschaft soll, denn das Papier ist nur eine Willenserklärung. Die Leute »werden im Regen stehen gelassen«, denen werden keine Inhalte und Strukturen angeboten. XXX gibt ihm Recht, das alles hat er auch immer wieder angesprochen. In Leipzig habe sich nun spontan eine kleine Koordinierungsgruppe gebildet, die sich morgen treffen und eine Struktur aufbauen will. 8 Mehlhorn), vom Demokratischen Aufbruch (z. B. Rainer Eppelmann), der IFM (z. B. Werner Fischer), auch Personen wie Lutz Rathenow, Pfarrer Christoph Wonneberger oder Einrichtungen (Berliner Kontakttelefon, Leipziger Kontakttelefon) ist kaum überschaubar. 3 Der Theologe Edelbert Richter (geb. 1943) zählte zu den Mitbegründern des »Demokratischen Aufbruchs«, trat im Januar 1990 der SPD bei, für die er in der Volkskammer saß sowie MdEP (1991–1994) und MdB (1994–2002) war, seit 2007 Mitglied der Partei »Die Linke«. Vgl. u. a. von ihm Christentum und Demokratie in Deutschland. Beiträge zur Vorbereitung der Wende in der DDR. Leipzig, Weimar 1991. 4 Der Theologe Martin Gutzeit (geb. 1952), Mitbegründer der SDP in der DDR, stellte dem »Neuen Forum« die Frage »wer die ›Konkursmasse DDR‹ nach dem möglichen Abdanken der Herrschenden übernehmen« solle (vgl. Christian Dietrich: Fallstudie Leipzig 1987–1989. Die politischalternativen Gruppen in Leipzig vor der Revolution, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. VII/1, S. 635). Von Gutzeit siehe u. a. gemeinsam mit Markus Meckel: Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit – kommentierte Quellentexte. Köln 1994. 5 Von der IFM war niemand anwesend. 6 Die »Demokratische Initiative – Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft« (DI) hatte sich Anfang 1989 in Leipzig gebildet und ging am 24.9.1989 bei dem Treffen im »Neuen Forum« auf (vgl. Dietrich, Schwabe (Hg.): Freunde und Feinde, S. 500). 7 Gemeint ist die IFM, die oft verkürzt nur als »Initiative« benannt worden ist. 8 Die Probleme sahen auch die Gründer des »Neuen Forums«, die von dem schnellen Zustrom erheblich überrascht worden sind. Siehe z. B. zu einigen Problemen »Das Neue Forum ist nur eine Plattform«. Interview mit Bärbel Bohley, in: taz vom 26.9.1989; als ein Dokumentenbeispiel unter
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Dokument 132 vom 25. September 1989
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Fischer ist der Ansicht, dass alles ein bisschen viel Lärm um nichts ist. Alles ergehe sich in der Bildung von neuen Initiativen, aber er sehe nirgendwo Inhalte. Eine zweite Lüge sei der Passus mit der Anmeldung bzw. die Registrierung als politische Vereinigung. 9 Er unterstellt denen nicht, dass die so blauäugig sind anzunehmen, dass das klappen könnte, aber sich dann hinzustellen und sich entsetzt zu zeigen, dass sie als Staatsfeinde –, dann müssen die mal das Strafgesetzbuch zur Hand nehmen. Die können doch gar nicht anders da oben reagieren. Das ist in Fischers Augen Dummenfang. So habe [Rolf] Henrich in einem Interview gesagt, dass er entsetzt sei, 10 da kann sich Fischer nur an den Kopf fassen. vielen: MfS, HA XX/9, Information über Aktivitäten und Äußerungen von [Reinhard] Schult im Zusammenhang mit dem »Neuen Forum«, 26.9.1989. BStU, MfS, HA XX/9 1535, Bl. 29–31; generell: Irena Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung Neues Forum 1989–1990. Berlin 2009. 9 Ab 18.9.1989 begannen Vertreter des »Neuen Forums« offiziell ihre Tätigkeit in den Bezirken anzumelden. Am 21.9.1989 erklärte der Innenminister über ADN, was die »Aktuelle Kamera« (DDR-Fernsehnachrichten) in ihrer Abendsendung verkündete: »Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung widersprechen der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar. Die Unterschriftensammlung zur Unterstützung der Gründung der Vereinigung war nicht genehmigt und folglich illegal. Sie ist ein Versuch, Bürger der Deutschen. Demokratischen Republik über die wahren Absichten der Verfasser zu täuschen.« (ND vom 22.9.1989). In von SED, MfS und MdI einheitlich instruierten Gesprächen mit den Antragstellern ab 22.9.1989 wird mündlich erklärt, für ein »Neues Forum« bestehe kein »gesellschaftlicher Bedarf« (Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung, S. 225; siehe auch »Der Rechtsweg ist eine Illusion«. Interview mit Rolf Henrich, in: taz vom 27.9.1989). Wie absurd solche Gespräche konkret abliefen, ist anhand eines SED-Protokolls vom 3.10.1989 aus Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) überliefert und nachlesbar in: Karl-Heinz Baum, Roland Walter (Hg.): »… ehrlich und gewissenhaft …« Mielkes Mannen gegen das Neue Forum. Berlin 2008, S. 5–8 (Prolog). Am 26.10.1989 trafen Jens Reich und Sebastian Pflugbeil mit Günter Schabowski zusammen (ND vom 27.10.1989). Am 7.11.1989 beschloss das SED-Politbüro, dass angesichts der veränderten Situation nun doch »Anmeldungen zur Gründung von Vereinigungen«, wenn sie keine verfassungswidrigen Ziele im Statut vertreten, angenommen werden sollen. Zugleich sei »auch die gezielte Mitwirkung von Genossen in den entstehenden Vereinigungen« anzustreben. Die Minister Dickel und Mielke hätten zugestimmt (ZK der SED, Abt. Sicherheitsfragen, Wolfgang Herger, Fernschreiben an die Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED, die Abteilungsleiter des ZK und die 1. Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen, 6.11.1989. BArch DY 30/825, Bl. 52–53; das Schreiben gezeichnet von Egon Krenz wurde am 8.11.1989 verschickt: ebenda, IV 2/2039/314, Bl. 46). Am 8.11.1989 bestätigte nun das Innenministerium die Anmeldung des »Neuen Forums« (ND vom 9.11.1989). Einen Tag später fand auf dem Hof von Bärbel Bohley im Prenzlauer Berg die »erste internationale Pressekonferenz« des »Neuen Forums« statt. 10 Wahrscheinlich ist ein Telefoninterview mit SFB II am 22.9.1989 gemeint (vgl. Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung, S. 224). Ähnlich wird Rolf Henrich zitiert in: Das »Neue Forum« beugt sich nicht, in: taz vom 23.9.1989. Siehe auch »Der Rechtsweg ist eine Illusion«. Interview mit Rolf Henrich, in: taz vom 27.9.1989. Mit »Entsetzen« wird unter Berufung auf Ralf Hirsch auch Bärbel Bohley zitiert. Vgl. Wir müssen Kurs halten, in: Der Spiegel Nr. 39 vom 25.9.1989, S. 16–24, hier 18. Sie wiederum sagte in einem Interview: »Ich denke an die Zukunft, insofern bin ich nicht blauäugig sondern hellsichtig. Die DDR kommt nicht drum herum, irgendwann so etwas wie das Neue Forum zu legalisieren. Natürlich glaube ich nicht, dass das in den nächsten vier Wochen passiert. Irgendwann werden sie uns dankbar sein. Ähnliches haben wir ja mit der Diskussion um die Nachrüstung erlebt: heute ist es sozusagen Staatspolitik, was die ›Blauäugigen‹ damals vertreten haben.
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Dokument 132 vom 19. September 1988
Fischer weiß, dass Edelbert Richter und andere mit Bärbel [Bohley] lange vorher dieses Ding gemeinsam machen wollten, aber Richter ist stehengelassen worden, und wenn man sich die Liste der Erstunterzeichner ansieht, dann sind das alles Leute, von denen Bärbel keinen Widerspruch zu erwarten hatte. 11 Unter den Erstunterzeichnern gibt es drei, vier Leute, die jetzt irgendwo Fußvolk um sich versammeln und sich exponieren. Fischer will öffentlich keine Querelen hineinbringen, er findet es aber schade, dass eine solche – vielleicht auch gute – Bewegung gleich so anfängt. Er betont, dass die »Initiative« 12, und genauso haben auch die Leute von Demokratie Jetzt geredet, keine Veranlassung sieht, dem Neuen Forum beizutreten. Persönlich wirft er Bärbel [Bohley] vor, dass sie in ihren zahlreichen Interviews nicht einmal auf die Verhafteten eingegangen ist und dies, obwohl sie damals selbst sehr viel Solidarität empfangen hat. 13
Manchmal ändern sich die Zeiten schneller als man denkt« (»Das Neue Forum ist nur eine Plattform«. Interview mit Bärbel Bohley, in: taz vom 26.9.1989). 11 Nach den Ereignissen von Anfang 1988 in Ost-Berlin begannen verschiedene Gruppen und Personen, über neue Formen der Opposition nachzudenken. Auch Bärbel Bohley hatte nach ihrer Rückkehr Anfang August 1988 vor, die bisherigen Strukturen und Inhalte so zu verändern, dass eine größere Basis möglich würde, woraus letztlich seit Frühjahr 1989 in Diskussionen zunächst vor allem mit Katja Havemann und Rolf Henrich die Idee zum »Neuen Forum« entstand. Vgl. ausführlich IlkoSascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 354–386. Zum »Neuen Forum« speziell Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung. Das MfS erfuhr von den Planungen für ein Treffen in Grünheide bei Katja Havemann Mitte Juli 1989 durch einen IM (Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung, S. 211–212) sowie Anfang August über eine Abhörmaßnahme bei Erika Drees in Stendal (ebenda, S. 213; zu Erika Drees, 1935–2009, vgl. Edda Ahrberg: Erika Drees geborene von Winterfeld. Ein politischer Lebensweg 1935–2009. Halle 2011). Eine interne Information mit dem erstmaligen Hinweis, es solle ein »Demokratisches Forum« Anfang September in Grünheide gegründet werden, ist im MfS am 21.8.1989 erarbeitet worden (MfS, HA XX, Information, 21.8.1989. BStU, MfS, AOP 17396/91, Bd. 8, Bl. 194–195; Kowalczuk: Endspiel, S. 359; Auszüge aus dieser Information enthält: Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung, S. 214. Zu den Erstunterzeichnern siehe u. a. ebenda; Kowalczuk: Endspiel, S. 361–362. 12 Gemeint ist wiederum die IFM, die oft verkürzt nur als »Initiative« benannt worden ist. 13 Bärbel Bohley gab im September täglich Interviews, allein vom 11. bis 21.9.1989 zählte das MfS 34 Telefoninterviews (BStU, MfS, HA XX/9 1535, Bl. 17–18). Im gleichen Zeitraum registrierte die Stasi 12 Besuche von westlichen Korrespondenten, die sie identifizieren konnte, in der Wohnung von Bohley (ebenda, Bl. 16). Das MfS (HA XX/9) verfasste, was sehr ungewöhnlich und wohl auch einzigartig war, nach der Veröffentlichung des Aufrufs zum »Neuen Forum« über Bärbel Bohley von spätestens 16.9. bis Anfang November »Tagesberichte« über ihre Aktivitäten (BStU, MfS, HA XX/9 1535). Die »Solidarität« bezieht sich auf die Ereignisse Anfang 1988. Die zeitgenössische Kritik von Werner Fischer lässt sich bezogen auf die Interviews nicht richtig widerlegen. Vgl. auch »Wir werden immer mehr«. »Spiegel«-Interview mit der DDR-Oppositionellen Bärbel Bohley, in: Der Spiegel Nr. 40 vom 2.10.1989, S. 25–26. Dem Interview ist ein Foto beigefügt, zu dem in einer Anmerkung steht: »Beim Telefoninterview mit der »Spiegel«-Redakteurin Iris Nustede.« In der »Spiegel-Hausmitteilung« wird erklärt, dass Ulrich Schwarz gegenwärtig keine Erlaubnis erhalten hätte, mit Bohley ein Interview zu führen (ebenda, S. 3). Schwarz war mind. am 11., 13. und 21.9.1989 bei Bohley zu Besuch (BStU, MfS, HA XX/9 1535, Bl. 16). Das »Spiegel«-Telefoninterview aber fand wirklich mit einer Hamburger »Spiegel«-Redakteurin am 28.9.1989 statt, wie die Stasi abhören
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Dokument 132 vom 25. September 1989
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XXX erkundigt sich dann, ob Fischer in der nächsten Zeit mal wieder in Leipzig ist. Der sieht bis zum 7. Oktober keine Möglichkeit, denn bis zum 2. Oktober habe er – einschließlich Wochenende – eine »Mugge« 14 am Fernsehturm, 15 und am 6. Oktober »haben wir« diese große Veranstaltung in der Erlöser[-Kirche]. 16 Das geht um 18.00 Uhr los und nennt sich »DDRkonnte: MfS, HA XX/9, Information über eine Meinungsäußerung von Bohley, Bärbel zur weiteren Tätigkeit des »Neuen Forums«, 29.9.1989. Ebenda, Bl. 58–59. 14 Mugge – eigentlich umgangssprachliche Abkürzung für Musikalisches Gelegenheitsgeschäft; hier gebraucht im Sinne von pauschalem Arbeitsverhältnis ohne dauerhafte Anbindung – siehe folgende Anm. 15 Werner Fischer realisierte die technische Seite (Aufbau) einer Plakatausstellung. Dabei konnte er weiteren Oppositionellen (u. a. Peter Grimm, Frank Ebert, Gerold Hildebrand, Till Böttcher) eine lukrative Geldeinnahme verschaffen (MfS, BV Berlin, AG XXII, Bericht IMB »Klement« am 21.9.1989, 22.9.1989. BStU, MfS, HA XX/9 665, Bl. 83–85; MfS, BV Berlin, AG XXII, Bericht IMB »Klement« am 2.10.1989, 4.10.1989. BStU, MfS, BV Berlin, AIM 5531/91, Teil II, Bd. 4, Bl. 323–326). Es handelte sich dabei um den Aufbau einer SED-Propagandaausstellung zum 40. Jahrestag der DDR dargestellt anhand von Plakaten. Das war Werner Fischer und den anderen bewusst. Einige wie Hildebrand oder Grimm zogen sich zurück, wohl eher aus privaten Gründen. Die anderen diskutierten offenbar darüber, diese Ausstellung »durch langsames Arbeiten« zumindest zu verzögern, d. h. eine »termingemäße Eröffnung« zu verhindern. Das geschah nicht, wie der IMB »Klement« nicht nur berichtete, sondern auch noch seinem Einfluss zurechnete (MfS, BV Berlin, AG XXII, Bericht IMB »Klement«, 28.9.1989. BStU, MfS, HA XX/9 665, Bl. 88–89). Beim IMB »Klement« handelte es sich um Christian Borchardt (siehe auch Dok. 83, Anm. 2), der seit 1971 als IM für das MfS tätig war und in zahlreiche Aktivitäten der Stasi zur politischen Verfolgung Oppositioneller aktiv involviert war. Über eine berufliche Verbindung erlangte er Kontakt zu Werner Fischer und anderen Oppositionellen, sodass er spätestens ab 1988 ein besonders wichtiger IM für das MfS bezogen auf Fischer und die IFM wurde. Am 18.10.1989 teilte Borchardt seiner offiziellen Arbeitsstelle mit, dass er von einem genehmigten Verwandtenbesuch in der Bundesrepublik nicht zurückkehre. Noch am 1.12.1989 schrieb ihm sein Stasi-Führungsoffizier eine verschlüsselte Ansichtskarte, die in West-Berlin abgeschickt wurde, er könne jederzeit zu ihnen kommen, sie würden ihn verstehen. Als Absender schrieb die Stasi die offizielle Adresse der IMK »Holland« (eine Adresse in Ost-Berlin) auf, weil Borchardt diese kennen würde und so den wahren Absender entschlüsseln könnte (BStU, MfS, BV Berlin, AIM 5531/91, Teil I, Bd. 1). Neben Auszeichnungen erhielt Borchardt Geldzuwendungen, zuletzt am 21.9.1989 (ebenda, Teil III, Bd. 1, Bl. 122). Die umfangreichen Berichte füllen 4 Bände: ebenda, Teil II, Bd. 1–4. Die Plakatausstellung »P 40« am Berliner Fernsehturm ist vom 3. bis 28.10.1989 gezeigt worden. Offiziell hieß es: »Die Ausstellung ›P 40 – Plakate aus der DDR von 1945 bis zur Gegenwart‹ wurde gestern im Obergeschoß des Ausstellungszentrums am Fernsehturm eröffnet. Gezeigt werden aus Anlass des 40. Jahrestages der DDR-Gründung rd. 530 Plakate aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Die Ausstellung vermittelt einen repräsentativen Überblick über die Geschichte der Plakatkunst unseres Landes und spiegelt wichtige zeitgeschichtliche Ereignisse wider.« (Berliner Zeitung vom 4.10.1989). Eröffnet wurde sie von Dietmar Keller, Staatssekretär im Kulturministerium (ND vom 4.10.1989). Die Plakatkunst von 40 Jahren endete so: »Die Ausstellung findet ihren Abschluss mit den Plakaten zum 40. Jahrestag unserer Republik. Von ihnen bleibt mir eine großformatige ›Anzeige‹ in besonderer Erinnerung: ›Vierzigerin, jugendliche Erscheinung, von angenehmen Äußeren, aus guter Familie, friedlich, menschenfreundlich, sucht Partner aller Altersgruppen für ein fruchtbares Zusammenleben sowie gemeinsame Fortbildung! Bedingungen: Aktivität, Arbeitsfreude, Verantwortungsgefühl, Phantasie, Zivilcourage.« (Neue Zeit vom 6.10.1989). 16 Zu der Zukunftswerkstatt »Wie nun weiter, DDR?« lud das Stadtjugendpfarramt Berlin, namentlich Wolfram Hülsemann, Michael Frenzel und Marianne Birthler, am 6.10.1989 in die
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Zukunftswerkstatt«, wo sich auch Gruppen vorstellen. Das ist offen, also ohne Anmeldung. XXX hörte, dass in der nächsten Woche in Ungarn eine Demonstration wegen der Leipziger sein soll. Fischer hörte davon nichts, fände es aber toll. 17 Fischer hofft, dass XXX am 6.10. nach Berlin kommt. Dieser macht das davon abhängig, was bis dahin in Leipzig passiert. nach 11.50 Uhr
Berliner Erlöserkirche ein (Einladungsflugblatt; Archiv Marianne Birthler). An der Vorbereitung waren mehrere oppositionelle Gruppen beteiligt. Neben Ausstellungen, Informationsständen und Musikbeiträgen gab es 2 Podiumsdiskussionen. In der 1. diskutierten, moderiert von Hülsemann, Hans-Jürgen Fischbeck (DJ), Manfred »Ibrahim« Böhme (SDP; IM des MfS), Ulrike Poppe (DJ), Ehrhart Neubert (DA), Werner Fischer (IFM) und Salomea Genin (Jüdische Gemeinde). Es ging um die Ursachen der aktuellen Krise und Fragen, wie diese zu bewältigen sei. Die 2. Gesprächsrunde leiteten Rainer Eppelmann und Marianne Birthler. An ihr nahmen Gerd Poppe (IFM), Rolf Henrich (NF), André Herzberg (Musiker), Jürgen Eger (Musiker), Norbert Bischoff (Musiker) sowie ein Vertreter des Verbandes Bildender Künstler teil. Auch hier ging es darum, wie sich die Krise überwinden lässt und welche politischen Mittel und Ziele dabei bevorzugt würden. Zeitweilig nahmen an der mehrstündigen Veranstaltung rd. 2 000 Personen teil. Zahlreiche MfS-Dokumente sind überliefert. Siehe z. B. o. Verf. (MfS, BV Berlin) Information über die »Zukunftswerkstatt« am 6.10.1989 in der Erlöserkirche unter dem Titel »Wie nun weiter, DDR?«, o. D. BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 8, Bl. 65–68; MfS, HA XX/9, Information zur »Zukunftswerkstatt« am 6.10.1989 in der Erlöserkirche, 9.10.1989 (basiert auf der Quelle IM »Franz«, d. i. Xaver Aichinger, geb. 1935, IM des MfS 1980–1989). BStU, MfS, HA XX/9 1776, Bl. 25–26; BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 29, Bl. 238– 239; MfS, BV Berlin, Abt. XX/4, Information über das im Rahmen der »Zukunftswerkstatt« am 6.10.1989 in der evangelischen Kirchgemeinde »Erlöser« durchgeführte »Podiumsgespräch«, 11.10.1989 (basiert u. a. auf einem Mitschnitt der Veranstaltung). BStU, MfS, BV Berlin, AOP 8695/91, Bd. 8, Bl. 71–75. 17 Ob diese Demonstration zur Unterstützung stattfand, konnte nicht herausgefunden werden. Am 13.8.1989 hatten aber ungarische und Leipziger Oppositionelle im Budapester Stadtzentrum symbolisch eine Mauer eingerissen. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Revolution von 1989, in: ders., Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Robert-Havemann-Gesellschaft. Berlin 2006, S. 359 (zwei Fotos).
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Dokument 133 Telefonat zwischen Lutz Rathenow und Roland Jahn 26. September 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Günther] Heimann Quelle: BStU, MfS, HA XX/9 297, Bl. 200–202 Anmerkung: Das Dokument trägt den Stempelaufdruck »Ausgewertet«.
Roland Jahn erkundigt sich bei Bettina Rathenow, ob sie sich auch in einer Aufbruchstimmung befindet. Das verneint diese mit der Bemerkung, dass sie sich nicht durch Mentholzigaretten betäuben lässt. 1 Jahn macht dann die Bemerkung von der »fünften Kolonne«, was heute in der »BZ« stand. 2 Bettina R[athenow] hat davon in den Nachrichten gehört. Jahn spricht davon, dass es in Leipzig schon ein paar mehr sind. Bettina R[athenow] ist der Meinung, dass 1 Am 21.9.1989 veröffentlichte das »ND« auf seiner Titelseite als Reaktion auf die andauernde Flüchtlingswelle ein »Interview«, das schnell zu den bekanntesten Texten im Herbst 1989 avancierte. Der Mitropa-Koch Helmut Ferworn, SED-Mitglied und Vater von 3 Kindern aus Ost-Berlin, sei in Budapest zu einem Stadtbummel eingeladen worden. »Man« führte ihn in die Altbauwohnung einer deutschsprechenden Ungarin. Dort habe er eine Menthol-Zigarette bekommen, nach wenigen Minuten fielen ihm die Augen zu. Aufgewacht sei er benebelt in einem Reisebus, neben ihm saß sein »Fremdenführer« und erklärte, »wir« seien auf dem Weg in die Freiheit (»Ich habe erlebt, wie BRDBürger gemacht werden«, in: ND vom 21.9.1989). Wozu könne eine Regierung fähig sein, fragten sich viele Menschen, die ein ganzes Volk für so dumm halte, so etwas glauben zu sollen? Dieses Interview erschütterte vor allem die SED selbst. Den Koch Helmut Ferworn gab es wirklich. Er floh tatsächlich. Als er in Wien ankam, bereute er seine Entscheidung und meldete sich in der DDRBotschaft. Als Wiedergutmachungsleistung erfanden SED, MfS und er eine Story, die unbeabsichtigt zur Delegitimierung des Systems auch innerhalb parteitreuer Kader beitrug (BStU, MfS, HA XIX, AP 48344/92). Am 3.11.1989 entschuldigte sich das »Neue Deutschland« für diese Lüge. Am 4.1.1990 legte Ferworn im DDR-Fernsehen die Lüge offen, behauptete aber (objektiv wahrheitswidrig), das SED-Zentralorgan habe nichts von der Lüge gewusst. 2 In einem anonymen Redaktionskommentar der Ost-Berliner Zeitung hieß es u. a.: »Der Bonner Minister Seiters … hat … erklärt, er finde es gar nicht gut, dass vom DDR-Innenministerium der Antrag auf Zulassung einer staatsfeindlichen Vereinigung abgelehnt worden ist. Dabei hätte er, wenn ihm so sehr nach Demokratie ist, im eigenen Lande genug zu tun. Beispielsweise könnte er seinem Amtskollegen Schäuble, dem BRD-Innenminister, den Vorschlag unterbreiten, endlich in Sachen Aufhebung des KPD-Verbots aktiv zu werden. Dieses Verbot besteht seit 1956, also seit nunmehr 33 Jahren. Ein Jahrzehnt nach dem Untergang des faschistischen Reiches wurden damals in der BRD die Kommunisten erneut in die Illegalität getrieben, ja in Gefängnisse gesteckt. […] Trotz halbherziger Duldung der DKP … werden bis zum heutigen Tag immer noch im Geiste des KPDVerbots Kommunisten durch den Staat drangsaliert, beispielsweise durch die Berufsverbote. […] Was den eingangs erwähnten Antrag betrifft: Das Wort Sozialismus ist darin nicht enthalten. Deshalb hoffte man am Ufer des Rheins offenbar auf eine Fünfte Kolonne, von der die verfassungsmäßige Ordnung der DDR unterminiert wird. Daher nun die Enttäuschung von Herrn Seiters und anderen« (Ein Vorschlag für die Bonner Ministerrunde, in: Berliner Zeitung vom 26.9.1989).
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das »Neue Forum« in gewissen Kreisen auf Zuspruch stößt, jedoch nicht bei der Basis, bei den Arbeitern. 3 [Lutz] Rathenow, welcher dann mit Jahn spricht, möchte wissen, ob sein Brief, mit der zweiten Person drin, angekommen ist. 4 Das bejaht Jahn. Rathenow bittet darum, dass Jahn die Sachen einmal wegschickt. Im weiteren Verlauf teilt Rathenow mit, dass die Sympathien für die Gruppen und Aktionen weitaus größer sind als bisher. Dies hört er aus Quellen, die sich treffen zu Klassentreffen, wo mit Bauern und Arbeitern gesprochen wird. Selbst von denjenigen würden welche dem »Neuen Forum« beitreten, betont Rathenow. Er meint, dass dies alles von einer gewissen Tragik geprägt ist, da es offenbar viel mehr Leute gibt, welche strukturell nicht erfassbar sind. Einen weiteren Fakt sieht er darin, dass diese Leute von einem Missverständnis geprägt sind, da sie nicht genau wissen, was die wollen. Rathenow ist der Meinung, dass es zwei Gruppen gibt. Zum einen sind es die Kirchenleute, Frauen im Dienstleistungsbereich, Verwaltung usw., wo das Bestehen auf Sozialismusreformen Anklang findet. Zum anderen sind es Handwerker und Leute, die Rathenow selbst in Wismar gesprochen hat, wo das Bestehen auf dem Sozialismusmodell abschreckt. Was die Wiedervereinigung angeht, so vertritt Rathenow die Meinung, dass der Widerstand umso größer ist, je mehr man der Opposition angehört. Werftarbeiter fanden es völlig klar, während Mitglieder der Öko-Bibliothek 5 es für unmöglich hielten. Was [Manfred] Stolpe angeht, so bezeichnet er das im »Spiegel« Veröffentlichte als nicht ganz dumm. Stolpe vermeidet Formulierung absichtlich. 6 Rathenow schätzt ein, dass manche Leute diese Probleme schon sehen, aber einen Mittelweg suchen. 3 Der Zuspruch zum »Neuen Forum« erfolgte aus allen sozialen Gruppen gleichermaßen, wenn diese auch nicht alle gleichermaßen öffentlich sichtbar waren. Zur Rolle der Arbeiter 1989/90 vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Revolution ohne Arbeiter?: Die Ereignisse 1989/90, in: Peter Hübner: Arbeit, Arbeiter und Technik in der DDR 1971 bis 1989. Zwischen Fordismus und digitaler Revolution (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Gerhard A. Ritter; Bd. 15). Bonn 2014, S. 537–610. 4 Es handelt sich um eine selbstverlegte Künstlerzeitschrift, die Gert Neumann, Heidemarie Härtl und Dietrich Oltmanns von 1987 bis 1989 herausgaben. Der Titel lautete »Zweite Person – Literatur und Information« bzw. 1989 auch »2te Person«. Heraus kamen 8 Ausgaben und 2 Sonderhefte. Die Auflage betrug etwa 100 Exemplare. 5 Gemeint ist die »Umweltbibliothek Wismar«, die nach dem Vorbild der Berliner UB seit 1988 vom »Ökumenischen Zentrum für Umweltarbeit Wismar« aufgebaut wurde. Vgl. Andreas Wagner: Das Ökumenische Zentrum für Umweltarbeit Wismar. Eine kirchliche Basisgruppe in der DDR-Endphase, in: Kerstin Engelhardt, Norbert Reichling (Hg.): Eigensinn in der DDR-Provinz. Vier Lokalstudien über Nonkonformität und Opposition. Schwalbach/Ts. 2011, S. 69–138; Christian Halbrock: »Freiheit heißt, die Angst verlieren«. Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostbezirk Rostock. Göttingen 2014. 6 Der Satz ist unvollständig und daher unklar. Der erwähnte Text in: Manfred Stolpe: Ein deutsches Sommertheater, in: Der Spiegel Nr. 39 vom 25.9.1989, S. 28–29.
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Dokument 133 vom 26. September 1989
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Rathenow befürchtet, dass der erste Enthusiasmus sich auf die Anmeldung ob legal oder nicht beschränkt. Diesbezüglich betont Jahn wörtlich »Aber Du weißt ja, unter uns gesagt, dass Bärbel [Bohley] nicht fähig ist, als Politikerin zu arbeiten.« Auch darin sieht Rathenow ein Problem. Jahn meint, dass es schon darin zu sehen ist, was jetzt los ist. Hätte sich Bärbel [Bohley] als Leitfigur geschaffen, wie [Lech] Walesa, 7 welcher alles an Fäden gezogen hält und Aktivitäten auffängt, um eine Struktur zu vermitteln, würde es anders laufen. 8 Ansonsten schätzt Jahn ein, hat es keine Chance. Er gibt dem Ganzen nicht viel. In diesem Zusammenhang trifft Jahn die Feststellung, dass Bärbel [Bohley] das halbe Jahr nicht richtig genutzt hat, 9 da es ansonsten ein bisschen besser wäre. Was bis jetzt gelaufen ist, bezeichnet er als gut, nimmt jedoch an, dass eine Durststrecke folgt. Rathenow ist auch der Ansicht, dass sich die Entwicklung hier anders als in Polen oder Ungarn vollziehen wird. Er sieht jedoch die Gefahr, dass einige Leute überrollt werden, bezüglich Ausreisefragen und den Erschütterungen in der Partei. Jahn wirft ein, dass [Hans] Modrow gestern seinen Freund Mischa [Markus] Wolf 10 anführte. 11 Rathenow sieht einen Fortschritt darin, dass Leute wie die Bohley [Bohley], [Rolf] Henrich oder [Friedrich] Schorlemmer 12 normaler wirken, als diejenigen vor vier Jahren, welche auf Abneigung durch ihre äußere Erscheinung stießen.
7 Lech Wałesa (geb. 1943), ab 1980 Vorsitzender der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, erhielt 1983 den Friedensnobelpreis, 1990–1995 Staatspräsident Polens. 8 Gerade das lehnte sie dezidiert ab. Vgl. Warum soll ich Angst haben? Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley über ihre Rückkehr in die DDR (Interview), in: Der Spiegel Nr. 32 vom 8.8.1988, S. 19–22. 9 Gemeint ist der Zwangsaufenthalt von Anfang Februar bis Anfang August 1988 in der Bundesrepublik bzw. England. Vgl. dazu Bärbel Bohley: Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram, Berlin 2011. 10 Markus Wolf (1923–2006), seit dem Exil in der Sowjetunion 1934 auch »Mischa« von seinen Freunden genannt, war immer ein Mann der Sowjets, baute das MfS und dessen Auslandsdienste maßgeblich mit auf, bis 1986 war er Chef der HV A und ein Stellvertreter des MfS-Ministers. Er veröffentlichte ab 1989 mehrere Bücher und Autobiografien. 11 In einem großen Zeitungsinterview hatte Markus Wolf vorsichtig Reformen angemahnt mit den Worten, es gebe »Dinge, über die wir nachdenken müssen« (»Süddeutsche Zeitung« vom 23./24.9.1989). Vom 25. bis 29.9.1989 weilte der Dresdner SED-Chef Hans Modrow (geb. 1928) zu einem Arbeitsbesuch in der Bundesrepublik (Baden-Württemberg), wo er auf einer Pressekonferenz am 25.9.1989 erklärte, er sei sich »mit seinem Freund Micha Wolf« einig (SED-Reformer und die Kunst der Andeutung, in: taz vom 28.9.1989). Diese Äußerung ist noch am Abend des 25.9.1989 in der ZDF-Sendung »Kennzeichen D« ausgestrahlt worden. 12 Friedrich Schorlemmer (geb. 1944), 1971–1978 Pfarrer in Merseburg, anschließend in Wittenberg, engagiert in der kirchlichen Friedensbewegung; 1989 Mitbegründer des »Demokratischen Aufbruchs«, Januar 1990 Mitglied der SPD; 1992–2007 Studienleiter bei der Ev. Akademie in Wittenberg; zahlreiche Publikationen.
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Dokument 133 vom 19. September 1988
Jahn erkundigt sich, ob es mit dem Text für die »taz« klappt. Rathenow verspricht etwas zu machen. Jahn fordert ihn auf, es ordentlich zu machen. 13 Rathenow möchte wissen, ob es mit dem Band jetzt damit erledigt ist. Jahn entgegnet, dass es bei Bedarf –, doch so wie er entscheidet und niemand anderes. 14 Rathenow bemerkt noch, dass das Echo, welches der Schriftstellerbrief hervorgerufen hat, nicht sehr groß ist. Jahn erklärt, dass alles untergeht, wie auch der Brief der Rockmusiker. 15 Beide stimmen noch darin überein, dass Monika Maron 16 sich sehr gut geäußert hat in ihrem Artikel »Wer braucht die DDR noch?« 17 Rathenow findet es schade, dass die Leute um Jahn es nicht schaffen, eine Zusammenstellung von verschiedenen Übersiedlern zusammenzustellen. Jahn erfüllt es bereits mit Genugtuung, all diese Zahlen zu hören. Er findet es auch interessant, zu erfahren, was die Normalbevölkerung zu dieser Entwicklung sagt.
13 Lutz Rathenow: Die Tage dieser Tage, in: taz vom 6.10.1989. In dieser Ausgabe sind zahlreiche längere Beiträge und Interviews zur Situation in der DDR abgedruckt worden. Die Stasi erarbeitete eigens zu dieser Zeitungsausgabe eine »Analyse«: HA XXII/8 an HA XX und ZAIG, Information zu massiven antisozialistischen Angriffen der »TAZ« (Ausgabe vom 6.10.1989), 17.10.1989. BStU, MfS, HA XXII 794/32, Bl. 1–3. Die »Analyse« beginnt mit der Feststellung, seit längerer Zeit würde in der »taz« die DDR angegriffen werden und »Gruppierungen des politischen Untergrunds« kämen zu Wort, aber die Ausgabe vom 6.10.1989 »dokumentiert … unverhohlen, wie selten bisher, die zunehmende DDR-feindliche Position dieser Zeitschrift« (ebenda, Bl. 1). 14 Diese Wiedergabe bleibt unklar. 15 Im Fall des Aufrufs der Rockmusiker irrten beide, da gerade dieser Brief weit verbreitet war. Auf ungezählten Konzerten lasen ihn Musiker vor und ganz oft auch noch den Aufruf des »Neuen Forums«. Die Erklärungen der Musiker (18.9.1989) und der Literaten (14.9.1989) sind u. a. abgedruckt in: Gerhard Rein: Die Opposition in der DDR. Entwürfe für einen anderen Sozialismus. Berlin 1989, S. 150–152. 16 Monika Maron (geb. 1941), Stieftochter von Karl Maron (1903–1975, DDR-Innenminister 1955–1963), ab 1976 freischaffende Schriftstellerin in Ost-Berlin, seit 1978 vom MfS in einem OV verfolgt, ihr erster Roman »Flugasche« (1981) galt als Sensation, weil sie darin die Umweltverschmutzung in der DDR thematisierte; reiste 1988 in die Bundesrepublik aus. 17 Ein solcher Artikel von Monika Maron ließ sich nicht auffinden. Sie selbst hat auch keine Erinnerung an einen solchen Beitrag (Mitteilung am 31.10.2013). Vielleicht war gemeint: Monika Maron: Warum bin ich selbst gegangen?, in: Der Spiegel Nr. 33 vom 14.8.1989, S. 22–23.
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Dokument 134 Telefonate von Werner Fischer 30. September 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, HA XX 23202, Bl. 38–40
[…] 1 Roland Jahn erkundigt sich bei [Werner] Fischer, ob er Besuch hatte. Dieser entgegnet, dass mehrere Personen bei ihm waren, jedoch nicht speziell von Jahn. Daraufhin meint Jahn, dass sich eine junge Frau bei Fischer melden wird. Dieser verweist darauf, dass er bis Dienstag erst ab 19.00 Uhr zu Hause ist, da er eine Ausstellung »40 Jahre DDR« am Fernsehturm macht. 2 Fischer teilt mit, dass Marianne [Birthler] zurzeit in Westberlin ist. 3 Jahn ist dies bekannt. Sie werden versuchen, da noch etwas in die Reihe zu bringen. Mit Gisela [Metz] hat Jahn leider nur kurz sprechen können. Gisela [Metz] ist mit Guntolf [Herzberg] umhergefahren. 4 Jahn kommt dann auf die Erklärung in der »AK« 5 zu sprechen, welche Fischer nicht gehört hat. Jahn verweist auf den Fakt, dass da von »Abgeschobenen« gesprochen wurde, was erstmalig ist. 6 1 Telefonat von Werner Fischer mit einem Mitbegründer von Demokratie Jetzt, die sich zu einem Treffen verabreden. 2 Siehe Dok. 132, Anm. 15. 3 Im Mai 1980 konnte Marianne Birthler erstmals im Auftrag der Kirche eine Westreise (Niederlande) durchführen. Vgl. Marianne Birthler: Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben. Erinnerungen. Berlin 2014. Dieser ersten Westreise folgte 1989 die hier von Fischer erwähnte. 4 Gisela Metz hielt sich in West-Berlin wegen eines »Besuches in dringenden Familienangelegenheiten« (offizieller Terminus) auf, Guntolf Herzberg war 1985, nachdem er etwa 15 Jahre aktiv oppositionell tätig war und dafür u. a. mit Publikations- und Berufsverbot belangt worden ist, nach West-Berlin ausgereist. 5 AK = »Aktuelle Kamera«, offizielle, tägliche Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens. 6 Am 30.9.1989 erklärte die SED, dass die sich in Prag und Warschau in den bundesdeutschen Botschaften aufhaltenden DDR-Bürger »mit Zügen der Deutschen Reichsbahn über das Territorium der DDR in die BRD ausgewiesen werden« (Humanitärer Akt, in: ND vom 2.10.1989). In einer zusätzlichen Erklärung, die auch in der AK vorgelesen wurde, hieß es: »Wie der Sprecher des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten mitteilte, sind die ehemaligen Bürger der DDR, die sich rechtswidrig in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau aufhielten, über die Deutsche Demokratische Republik in Zügen der Deutschen Reichsbahn in die BRD abgeschoben [Hervorheb. v. Hg.] worden. Die DDR sah sich dazu aus humanitären Gründen veranlasst angesichts der in den BRD-Vertretungen entstandenen unhaltbaren Situation, die beim eventuellen Ausbruch von Seuchen auch Menschen der betreffenden Länder bedroht hätte. […] Zügellos wird von Politikern und Medien der BRD eine stabsmäßig vorbereitete »Heim-ins-Reich«-Psychose geführt, um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein Ungewisses Schicksal zu treiben. […] Nun werden einige Bürger
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Dokument 134 vom 19. September 1988
Fischer bringt zum Ausdruck, dass sie gestern Besuch hatten, wovon jedoch die Hälfte nicht reingelassen wurde. 7 Vor Poppoffs 8 Haus wurden sie alle kräftig kontrolliert. Jahn findet es gut, dass sich alles sehr verselbstständigt. Fischer findet diese Besuche gut, da diese Personen dann erfahren, dass es noch etwas anderes als das »Neue Forum« gibt. Dabei wollen sie fair [vor]gehen, wozu sie Vertreter aller neuen Initiativen einladen. Beide lassen sich dann über das »Neue Forum« aus. Jahn betont, dass sie [Rolf] Henrich die Frage gestellt haben: »Was ist es mehr als ein Türschild?« 9 Fischer bezeichnet es als eine
der DDR an uns mit Recht die Frage stellen, warum wir diese Leute über die DDR in die BRD ausreisen lassen, obwohl sie grob die Gesetze der DDR verletzten. Die Regierung der DDR ließ sich davon leiten, dass jene Menschen bei Rückkehr in die DDR, selbst wenn das möglich gewesen wäre, keinen Platz mehr im normalen gesellschaftlichen Prozess gefunden hätten. […] Bar jeder Verantwortung handelten Eltern auch gegenüber ihren Kindern, die im sozialistischen deutschen Staat wohlbehütet aufwuchsen und denen alle Kindereinrichtungen, alle Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten offenstanden. Jene Leute hätten auch Schwierigkeiten bekommen, neue Wohnungen zu erhalten, da diese natürlich für andere Bürger vorgesehen sind. […] Hinzu kommt, dass sich nach bisherigen Feststellungen unter diesen Leuten auch Asoziale befinden, die kein Verhältnis zur Arbeit und auch nicht zu normalen Wohnbedingungen haben. Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.« Es folgte u. a. noch eine Aussage, die ein charakteristisches Licht auf die Verhältnisse in der DDR warf: »Wie es ihnen drüben ergeht zeigen jetzt schon einige Berichte aus der BRD. Einige wurden bereits aus Arbeitsstellen entlassen, weil sie während der Arbeit Besorgungen machen wollten.« (Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt, in: ND vom 2.10.1989). Zu den Hintergründen und Einzelheiten vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009. 7 Zwei AL-Mitglieder und ein Mitglied der Grünen reisten am 29.9.1989 als Touristen nach Ost-Berlin ein. Abends fand in der Wohnung von Gerd und Ulrike Poppe ein Treffen von insgesamt 17 Oppositionellen (darunter 3 IM des MfS) mit den 3 Politikern statt. Ihnen wurden von Vertretern der Oppositionsgruppen deren Ziele vorgestellt (MfS, HA XX/2, Tonbandabschrift (Bericht von) IMB »Wolf« am 29.9.1989 (dieser Bericht von Lothar Pawliczak ist nachts gegeben worden, da das Treffen bis 23.00 Uhr andauerte), 2.10.1989. BStU, MfS, HA XX/9 665, Bl. 92–95; MfS, HA XX, Information über Kontakte von Mitgliedern der Partei »Die Grünen« der BRD und der »Alternativen Liste« (AL) Berlin (West) zu Untergrundkräften der DDR, 3.10.1989. Ebenda, Bl. 102–105). Über die 3 Westpolitiker wurde am 3.10.1989 eine Einreisesperre bis zum 31.12.1990 verhängt. 9 weitere AL-Politiker sind bereits am Grenzübergang zurückgewiesen worden, auch über sie ist eine Einreisesperre verhängt worden (MfS, Übersicht über operative Maßnahmen im grenzüberschreitenden Verkehr zu Führungskräften/Mitgliedern politischer Parteien aus der BRD/Westberlin mit Verbindungen zu feindlich-negativen Kräften in der DDR, Stand: 4.10.1989. BStU, MfS, HA XX 6313, Bl. 178–192). 8 »Poppoff« ist der Spitzname von Gerd Poppe. Das Treffen fand bei Gerd und Ulrike Poppe statt. 9 Die Frage lautete: »In Scharen strömen Menschen zum Neuen Forum. Nur was finden sie außer einem Türschild?« Rolf Henrich gab zur Antwort: »Natürlich, es gibt keine Riesenorganisation im Moment. Aber das ist auch unsere Chance. Ich bitte Sie ganz eindringlich: Geben Sie uns ein bisschen Zeit. Wenn wir von unten anfangen wollen, dann dürfen wir den Leuten nicht wieder irgendetwas überhängen. Hier stehen doch schon die Intellektuellen Schlange, die wieder ZKs bilden wollen. Wir sagen: Anfangen müssen die Hausfrau, die Gaststättenleiterin, der Arbeiter, die jetzt kommen. Wir können ja nicht den vormundschaftlichen Staat zurücknehmen wollen und uns gleich-
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Dokument 134 vom 30. September 1989
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Willenserklärung und den Text als eine Präambel. 10 Jahn ist der Ansicht, dass dies schon über zehn Jahre von vielen praktiziert worden ist. Jahn sieht im »Neuen Forum« keine Stimme, keine Struktur, [niemanden] der die 1 000te Leute auffängt, sodass es leicht ins Gegenteil verfallen kann. Fischer entgegnet, dass sie sich in einer Situation befinden, in welcher sie das öffentlich unterstützen müssen. Jahn meint, dass diese Diskussion mehr Nutzen hat, wenn sie kritisch begleitet wird. Fischer betont, dass es bereits etliche enttäuschte Unterzeichner gibt. Ihn macht am meisten wütend, dass Bärbel [Bohley], welche selbst eine große Solidarität erlebt hat, sich jetzt in den 1 000 Interviews sich nicht zu den 17 Verhafteten geäußert hat. 11 Darin sieht er mehr als eine schwache Leistung. Auch Jahn spricht von Problemen, die er hat, wenn er mit der Bohley spricht. Er geht davon aus, dass der Umgang mit der Politik gelernt sein muss, um zu entscheiden, was ist wichtig und wie präsentiert man sich nach außen. Jahn fügt an, dass sie (sagt wir) unterstützen, wo es nur möglich ist. Dabei müssen sie aber auch darauf achten, dass sich diese Leute Schwerpunkte setzen. Jahn findet es gut und wichtig, jedoch kommt es auf ein kritisches Begleiten an und kein Zerfetzen. Jahn interessiert, ob Fischer mit der Stalinismusgeschichte noch etwas gemacht hat, was dieser verneint. Jahn fand, dass der Brief, welcher damals unterschrieben worden ist, ganz gut war. 12 Fischer verweist darauf, dass die tagespolitischen Themen sie überrollen. zeitig zu neuen Vormündern aufschwingen. Man muss die ganze Kümmerlichkeit des Nullpunktes ertragen.« (»Der Rechtsweg ist eine Illusion«. Interview mit Rolf Henrich, in: taz vom 27.9.1989.) 10 Wahrscheinlich ist der Gründungsaufruf des »Neuen Forums« gemeint. Er ist u. a. abgedruckt in: Gerhard Rein: Die Opposition in der DDR. Entwürfe für einen anderen Sozialismus. Berlin 1989, S. 13–14. 11 Gemeint sind die Verhafteten in Leipzig. Bärbel Bohley gab im September täglich Interviews, allein vom 11. bis 21.9.1989 zählte das MfS 34 Telefoninterviews (BStU, MfS, HA XX/9 1535, Bl. 17–18). Im gleichen Zeitraum registrierte die Stasi 12 Besuche von westlichen Korrespondenten, die sie identifizieren konnte, in der Wohnung von Bohley (ebenda, Bl. 16). Das MfS (HA XX/9) verfasste, was sehr ungewöhnlich und wohl auch einzigartig war, nach der Veröffentlichung des Aufrufs zum »Neuen Forum« über Bärbel Bohley von spätestens 16.9. bis Anfang November »Tagesberichte« über ihre Aktivitäten (BStU, MfS, HA XX/9 1535). Die »Solidarität« bezieht sich auf die Ereignisse Anfang 1988. Die zeitgenössische Kritik von Werner Fischer lässt sich bezogen auf die Interviews nicht richtig widerlegen. Vgl. auch »Wir werden immer mehr«. »Spiegel«-Interview mit der DDR-Oppositionellen Bärbel Bohley, in: Der Spiegel Nr. 40 vom 2.10.1989, S. 25–26. 12 Vgl. Offener Brief (zur Stalinära), in: Grenzfall 6–1989, S. 17–18 (den Brief unterzeichneten über 50 Personen aus Ost-Berlin, Leipzig u. a. Orten, darunter Martin Böttger, Bärbel Bohley, Christian Dietrich, Werner Fischer, Peter Grimm, Fred Kowasch, Gesine Oltmanns, Edelbert Richter, Ulrich Stockmann, Uwe Schwabe). In der Opposition spielte die Auseinandersetzung mit der Geschichte stets eine wichtige Rolle. Davon zeugen Seminare, Diskussionsveranstaltungen, eigene Arbeitsgruppen sowie Artikel im Samisdat. Vgl. exemplarisch Gerd Poppe: »Wir sind dabei, uns selbst zu erkennen«. Die Zukunft der Vergangenheit der Sowjetunion, geplant für: Ostkreuz. Politik, Geschichte, Kultur, August 1989 (das Heft ist nicht erschienen), der Artikel aber abgedruckt in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989.
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Dokument 134 vom 19. September 1988
22.05 Uhr Marianne Birthler meldet sich bei Fischer, welcher mitteilt, dass sich Roland [Jahn] auf ihrer Spur befindet. Weiter teilt Fischer mit, dass er heute mit Guntolf [Herzberg] gesprochen hat, welcher von noch nichts wusste. 13 Guntolf [Herzberg] verwies auf eine Veranstaltung mit Lehrern, die auch für die Birthler interessant sein soll. 14 Danach befragt, wie es ansonsten ist, berichtet die Birthler von einer Stadtrundfahrt, Theater und Stadtbummel. Heute hatten sie eine Tagung. 15 Fischer setzt sie davon in Kenntnis, dass die Botschaftsbesetzer aus Warschau und Prag, insgesamt über 4 000 Personen, heute mit Zügen der Reichsbahn in die BRD gelangen. 16 Die »AK« spricht von einem humanitären Akt sowie von einer Ausweisung. 17 Fischer bedauert, dass dies vor dem 7. geschehen ist. 18
Berlin 2002, S. 527–542; Gottfried Timmel: Der Stalinismus im Spiegel der Geschichtsdarstellung von UdSSR und DDR, in: Stalinismus 1. Sonntagsgespräch-Dokumentation, hg. von der Bekenntniskirche Berlin-Treptow (1989), 23 S. (hekt., Archiv d.Verf.). 13 Während Marianne Birthler daran keine Erinnerung hat (Mitteilung am 22.10.2013), teilte Guntolf Herzberg auf der Grundlage seines Tagebuchs mit, dass ihm Werner Fischer in diesem Telefongespräch nahelegte, sich mit Marianne Birthler zu treffen. Das Treffen fand am 1.10.1989 statt, an dem neben Birthler und Herzberg auch Elisabeth Weber und Marie-Luise Lindemann teilnahmen (Mitteilung Guntolf Herzberg am 30.10.2013). 14 Es ist nicht mehr eindeutig zu ermitteln, um was für eine Veranstaltung es sich handelte. Am 3.10.1989 fand auf Einladung der Grünen/AL im Schöneberger Rathaus eine Veranstaltung mit der russischen Gesellschaft »Memorial« statt (»Antistalinismus von unten« gefordert, in: taz vom 4.10.1989). Vielleicht war diese gemeint. Bei dem Treffen am 1.10.1989 (siehe Anm. 13), erinnert sich Guntolf Herzberg, sei es auch um die von ihm mitvorbereitete Veranstaltung am 6.10.1989 im Schöneberger Rathaus zur Situation in der DDR gegangen (Mitteilung Guntolf Herzberg am 30.10.2013; zu dieser Veranstaltung siehe Rezept für die DDR: Soziale Marktwirtschaft, in: taz vom 9.10.1989). Marianne Birthler war da bereits wieder in Ost-Berlin, erinnert sich aber auch nicht, auf was für eine Veranstaltung mit Lehrern sie aufmerksam gemacht worden sein könnte (Mitteilung am 22.10.2013 und 7.11.2013). 15 Es handelte sich um eine Tagung der Stadtjugendpfarrämter Ost- und West-Berlins zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der evangelischen Jugendarbeit, wozu auch Fahrten zu Gedenkorten für NS-Opfer gehörten (Mitteilung von Marianne Birthler am 22.10.2013). 16 Aus Prag kamen etwa 4 700 und aus Warschau 809 Botschaftsflüchtlinge (Kowalczuk: Endspiel, S. 378). 17 Auch, und in der AK eigentlich: »Abschiebung« – siehe Anm. 6. 18 Am 7.10.1989 beging die DDR den 40. Gründungstag. Am 3.10.1989, die Prager Botschaft hatte sich wieder mit tausenden Flüchtlingen gefüllt, sind diese abermals mit Reichsbahnzügen über die DDR in die Bundesrepublik gebracht worden. Zugleich ist die Grenze zur ČSSR geschlossen, der visafreie Verkehr in die ČSSR eingestellt worden. Die Feiern zum 40. Jahrestag hatte die SED monatelang vorbereitet. Vgl. neben Kowalczuk: Endspiel auch Nicole Völtz: Staatsjubiläum und Friedliche Revolution. Planung und Scheitern des 40. Jahrestages der DDR 1989. Leipzig 2009.
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Dokument 134 vom 30. September 1989
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Weiter äußert Fischer, dass die Zustände dort katastrophal sein müssen. 19 Keine Toiletten und Durchfälle bei Kindern stehen auf der Tagesordnung. Dass dies sich nicht wiederholt, sollen die Zäune dicht gemacht werden. 20 Die Birthler erkundigt sich noch nach Leipzig und den Fürbittandachten. Fischer berichtet, dass diese immer dünner werden. 21 Jedoch hatten sie gestern eine Zusammenkunft mit der AL, woran auch das Neue Forum teilgenommen hatte. 22 Diese haben Feuer bekommen, auch was Leipzig angeht. Fischer verweist noch darauf, dass einige AL-Leute nicht reingelassen wurden. 23 Was die »Bundis« angeht, so sollten diese abgewiesen werden. Sie haben aber solange diskutiert, bis es möglich war. Die Birthler bemerkt, dass sie morgen spät kommen wird. 22.46 Uhr
19 In der Prager Botschaft herrschten tatsächlich teilweise chaotische und dramatische Zustände. Sehr dicht und plastisch hat dies in einem Roman geschildert Grit Poppe: Abgehauen. Hamburg 2012 (die Autorin befragte bei ihren Recherchen auch zahlreiche Zeitzeugen). 20 Das war nicht der eigentliche Grund. Die SED-Führung wollte das Flüchtlingsproblem vor den Feierlichkeiten am 6./7.10.1989 buchstäblich aus der Welt der Nachrichten und Bilder gebracht haben. Außerdem wollte sie die Sogwirkung eindämmen, was alles nicht glückte. 21 Das entsprach nicht den Tatsachen. Am 25.9.1989 sind erstmals mehrere tausend Menschen protestierend um den Ring gezogen. 22 Siehe Anm. 7. 23 Ebenda.
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Dokument 135 Telefonat von Werner Fischer und Wolfgang Templin 3./4. Oktober 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, HA XX 23202, Bl. 50–53
Wolfgang Templin bescheinigt dem Werner Fischer, dass er ein gutes Interview gegeben hat. 1 Werner [Fischer] freut sich und fügt hinzu, dass die Marianne [Birthler] ihn auch gelobt hat. Werner [Fischer] führt aus, dass Marianne [Birthler] und er der Meinung sind, dass sie jetzt ruhig zum Ausdruck bringen sollten, dass [es] unterschiedliche Meinungen und Auffassungen in den einzelnen Gruppen gibt. Wolfgang [Templin] stimmt dem zu. Er möchte sagen, dass er wirklich traurig und betroffen ist, dass Werner [Fischer] nicht mehr nach Prag reisen kann, wo er das doch immer gern getan hat. Werner [Fischer] schildert dann, was sich am Sonntag abgespielt hat, als sich der »Demokratische Aufbruch« konstituieren wollte. 2 Einen solchen Poli1 Am Abend des 3.10.1989 gab Werner Fischer dem Deutschlandfunk ein Telefoninterview. Er verglich die gegenwärtige Situation mit der von 1961. Die Ausreisen der Botschaftsflüchtlinge stellen eine »Bankrotterklärung des Regimes« dar. Die gegenwärtige Regierung sei nicht mehr handlungsfähig und müsse abtreten. Eine neue Regierung solle alle gesellschaftlichen Kräfte repräsentieren. Außerdem müsse eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung initiiert werden, auf deren Grundlage ein neues Wahlgesetz erlassen werden müsse. Es drohe gegenwärtig eine Zuspitzung der Situation, die an die Verhältnisse in China Anfang Juni 1989 erinnere (MfS, Abt. 26/7, Information A/70431/88/582–585/89, 3.10.1989. BStU, MfS, HA XX 23202, Bl. 47–48). 2 Am 1.10.1989 kamen etwa 80 Männer und Frauen zur Berliner Samaritergemeinde, um den »Demokratischen Aufbruch« zu gründen. Ein Polizeiaufgebot verhinderte den Zugang zu den Räumen. Tatsächlich sollte die Gründung in der Wohnung von Ehrhart Neubert in der Wilhelm-PieckStr. stattfinden, was den Teilnehmern erst an der Samaritergemeinde mitgeteilt wurde. 17 von ihnen erreichten Neuberts Wohnung, ehe auch dieses Haus von der Polizei umstellt wurde. Spontan wichen die anderen in Räume der Altpankower Gemeinde aus, die ebenfalls schnell von der Polizei abgeriegelt worden ist. Noch in der Nacht ist in der Wohnung von Rainer Eppelmann die offizielle Gründung des DA gegenüber westlichen Journalisten bekannt gegeben worden. Tatsächlich konnte diese erst am 29./30.10.1989 erfolgen (Ehrhart Neubert: Der »Demokratische Aufbruch«, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. (= Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren, Bd. 3). Opladen 1999, S. 537–571, hier 540–541). Neben Bischof Forck konnte die Absperrungen nur Wolfgang Schnur, der als IM des MfS deren Aufträge zu erfüllen suchte (vgl. ebenda), überwinden. Forck erklärte sich solidarisch, sagte aber auch, er bleibe neutral, weil er sich zu allen Gruppen gleichermaßen solidarisch zeigen wolle (MfS, HA XX/9, Information über die beabsichtigte Gründung des »Demokratischen Aufbruchs« am 1.10.1989, 2.10.1989. BStU, MfS, HA XX/9 1535, Bl. 96–97). Siehe auch die Stasi-Information an die SED-Führung darüber in: Armin Mitter, Stefan Wolle (Hg.): Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar– November 1989. Berlin 1990, S. 180–183 (Dok. vom 2.10.1989).
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Dokument 135 vom 3./4. Oktober 1989
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zeieinsatz hat er noch nicht erlebt. Das System kann auch nicht anders. Entweder sie lenken jetzt ein, was sie aber nicht können, oder sie öffnen die Internierungslager. 3 Man muss den 7. Oktober abwarten und dann wird man weitersehen. 4 Seit gestern gibt es in Berlin Mahnwachen. 5 Das lief zäh an, aber seit heute ist ein großer Zuspruch zu verzeichnen. Die Leute bringen Kerzen und Essen und Trinken. Das geschieht alles unter den Augen der Polizei und der Stasi. Wolfgang [Templin] muss sagen, dass die Leute vom Fernsehen richtige Ochsen sind. Von solchen Sachen bringen sie nicht ein Bild, aber immer längere Beiträge aus Prag und Warschau. 6 Werner [Fischer] fügt hinzu, dass es ihn gar nicht interessiert, welche Affen da über den Zaun steigen. 7 Im Weiteren führt Werner [Fischer] aus, dass heute im Verband Bildender Künstler [der DDR] eine Resolution ausgehängt wurde, die sich an die der Unterhaltungskünstler anlehnt und wo man unterschreiben kann. 8 Die Sache hat nichts mit dem Neuen Forum zu tun, sondern die Resolution wendet sich an alle und das Wort alle ist unterstrichen. Nun fehlt nur noch, dass sich der Verband der Journalisten [der DDR], die Hauptverbrecher, zu Wort melden. 9 Werner [Fischer] schlägt vor, dass sie neue Verbindungsdrähte finden müssen, denn Ralf [Hirsch] wird so zum Laufburschen für die Bärbel [Bohley]. 3 Tatsächlich gab es im MfS seit vielen Jahren ausgefeilte Planungen (»Vorbeugekomplex«) im »Spannungsfall«, über 80 000 konkret vorgesehene Personen (auch Ausländer, die sich in der DDR aufhalten) zu verhaften, zu internieren oder zu isolieren. Vgl. dazu Thomas Auerbach: Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS. Berlin 1996. 4 Allgemein herrschte die Meinung, dass die SED-Führung ihre Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR über die Bühne ziehen und vor der Weltöffentlichkeit zelebrieren wolle, um anschließend härter durchzugreifen, was bekanntlich nicht geschah. Zu den Einzelheiten umfassend IlkoSascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009. Zur Rolle des 40. DDR-Jahrtestages für die SED-Herrscher vgl. Nicole Völtz: Staatsjubiläum und Friedliche Revolution. Planung und Scheitern des 40. Jahrestages der DDR 1989. Leipzig 2009. 5 Am 2.10.1989 begann in der Berliner Gethsemanegemeinde eine Mahnwache und Fastenaktion für die Festgenommenen in Leipzig und anderswo. Da in der Gemeinde auch das Berliner Kontakttelefon stand und in der Kirche Fürbittandachten und andere Veranstaltungen stattfanden, kristallisierte sich die Gethsemanekirche Prenzlauer Berg als Berliner Zentrum der Ereignisse heraus. Vgl. zu den Einzelheiten Kowalczuk: Endspiel. Sehr informativ ist zudem Cornelia Kästner (Hg.): Wachet und Betet – Herbst ’89 in der Gethsemanekirche. 20 Jahre danach. Berlin 2009. Die Fürbittandachten vom 12.10. bis 13.11.1989 hat Udo Grzemba mitgeschnitten. Die Originalkassetten liegen im Archiv der Gethsemanegemeinde. Die Mitschnitte sind digitalisiert worden. Eine Kopie (CD) stellte uns Pfarrer i. R. Bernd Albani (1989–1998 Gethsemanekirche) 2009 zur Verfügung. 6 Gemeint sind Aufnahmen von den Besetzungen der bundesdeutschen Botschaften dort. 7 Immer wieder wurden Bilder gezeigt, wie Menschen über die Zäune der Botschaft in Prag kletterten. 8 Abgedruckt in: Wir sind das Volk – Aufbruch ’89. Teil 1: Die Bewegung. September/Oktober 1989 (= mdv–transparent). Halle, Leipzig 1989, S. 44 (es gab 337 Unterzeichner). 9 In der Flut von Aufrufen, Offenen Briefen, Resolutionen blieb der berüchtigte Journalistenverband abgetaucht. Erst am 19.10.1989 – nach Honeckers Rücktritt – gab er eine erste vorsichtige und zugleich unglaubwürdige Erklärung zur Erneuerung ab: VDJ zur Arbeit der Medien in der DDR, in: ND vom 20.10.1989.
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Dokument 135 vom 19. September 1988
Wolfgang [Templin] soll einmal mit der Marie-Luise [Lindemann] sprechen. Die Marianne [Birthler] hat ihr auch schon einen dicken Brief geschrieben. 10 Wolfgang [Templin] wird sich dort melden. Er hat mit [Gerd] Poppe schon mehrfach zum Problem Ralf [Hirsch] gesprochen, aber den jetzigen Stand hatte er nicht erwartet. Werner wusste einiges um Ralf [Hirsch], aber jetzt geht es richtig los. 11 Wolfgang [Templin] sagt, dass die XXX am Freitag in WB ist und da wird sie auch noch einiges versuchen. Wolfgang [Templin] hat in der Nacht mit jemand gesprochen, der in Leipzig war. Die »taz« wird darüber ausführlich berichten, denn die Sache in Leipzig war toll, denn 20 000 Menschen waren noch nie auf den Beinen. Werner [Fischer] sieht das auch so. 12 In der weiteren Unterhaltung möchte Werner [Fischer] wissen, wie es mit der Wiedereinreise von Templins aussieht. 13 Wolfgang [Templin] kann sagen, dass er jede Gelegenheit nutzt, die über das Private hinausgeht, um dieses Problem anzusprechen. Bis jetzt kann er nichts feststellen, was an die Vorstufe einer Information heranreicht. Die Kirche sagt, dass sie um das Problem weiß, aber sonst nur Ausdruckslosigkeit. Die Ständige Vertretung [der Bundesrepublik in Ost-Berlin] sagt immer wieder, dass sie von zwei Jahren ausgehen. Ob Wolfgang [Templin] jetzt wieder einmal mit der Bärbel [Bohley] gesprochen hat, möchte Werner [Fischer] wissen. Wolfgang [Templin] sagt, dass er vielleicht vor vier bis fünf Wochen mit ihr gesprochen hat. 14 Er muss sagen, dass er auch kein Verlangen danach hat. Seiner Meinung nach stellt sie sich zu sehr in den Vordergrund. Was den letzten Fernsehauftritt anbelangt, so hat sie da sehr viel verschenkt. 15 Wenn man weiß, dass man die Chance hat, etwas »rüberzureichen«, dann hat man auch konkrete Sachen parat. Somit war es 10 An diesen Brief kann sich niemand erinnern (Mitteilung Werner Fischer am 7.11.2013; Mitteilung Marianne Birthler am 7.11.2013; Mitteilung Marie-Luise Lindemann am 26.11.2013). In den einschlägigen Archiven ließen sich ebenfalls keine Spuren dazu finden. 11 An den Hintergrund oder einen ernsthaften Konflikt mit Ralf Hirsch kann sich Werner Fischer nicht erinnern (Mitteilung am 7.11.2013). Gerd Poppe erinnert sich an einen solchen ernsthaften Konflikt auch nicht (Mitteilung am 8.11.2013), Ralf Hirsch ebenso nicht (Mitteilung am 27.11.2013). 12 Über die Montagsdemonstration am 2.10.1989 in Leipzig: »Ihr könnt abdanken, jetzt sind wir dran«, in: taz vom 4.10.1989; »Leipzig – Demokratie jetzt oder nie!«, in: taz vom 4.10.1989; Wolfgang Templin: Die Stunde der Opposition, in: taz vom 4.10.1989. 13 Die Templins hofften, dass sie im Februar 1990 – dann wäre die Zweijahresfrist abgelaufen gewesen – zurückkehren könnten. Dies stand auch so unter dem Kommentar: Wolfgang Templin: Die Stunde der Opposition, in: taz vom 4.10.1989. 14 Ein Stasi-Dokument dazu ließ sich in den MfS-Unterlagen bislang nicht auffinden. 15 Nach dem Bekanntwerden des Aufrufs für das »Neue Forum« war Bärbel Bohley die gefragteste Interviewpartnerin für Journalisten aus der ganzen Welt. Die Stasi versuchte, einen Überblick zu behalten und protokollierte bis Anfang November Bohleys Kontakte zu Medienvertretern. Wahrscheinlich bezieht sich Wolfgang Templin auf ein Interview in den ARD-Tagesthemen oder dem ZDF-heute journal am 2./3.10.1989 (die Stasi-Übersichten über die Kontakte zu Journalisten finden sich u. a. in: BStU, MfS, AU 140/90, Bd. 7, Bl. 25–40).
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Dokument 135 vom 3./4. Oktober 1989
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aber nur »heiße Luft«, fügt Werner [Fischer] hinzu. Ihn macht es auch richtig wütend, dass Bärbel [Bohley] nichts zu Leipzig tut. 16 Dafür rennt sie aber laufend zu den Behörden und bittet um Aufnahme oder Asyl für ihre Vereinigung. 17 Der Unmut gegenüber der Bärbel [Bohley] nimmt immer mehr zu. Werner [Fischer] fragt dann nach den Plänen von Wolfgang [Templin]. Dieser führt aus, dass die Lotte [Regina Templin] jetzt nach Flotow gefahren ist, wo sie ein paar Sachen fertigschreiben wird. Er wird das im November dort machen. Trotzdem sind aber die anderen Sachen dran, denn sie reagieren auf die aktuellen Sachen. Damit meint er die AL-Veranstaltungen. Zum anderen ist weiterhin Osteuropa sein Schwerpunkt und dort macht er alles, was möglich und machbar ist. Jetzt konnte er mit Leuten aus der SU reden, die dort eine Sozialdemokratische Partei aufbauen. Er hat die Vorbereitungsdokumente für diese Partei auf Russisch und Englisch und wird sie mit rüberschicken. Leute wie Ibrahim [Böhme] 18 wird das sehr interessieren. Es geht ja auch darum, wie man an eine solche Problematik herangeht. Zum anderen wollen die Sowjets bessere Kontakte zur DDR haben. Werner [Fischer] muss zu Ibrahim [Böhme] sagen, dass der sich in alle Richtungen zerfetzt und ihnen kaum noch zur Verfügung steht. 19 Wolfgang [Templin] hat dieses Hin und Her jetzt in einem Artikel für die »taz« beschrieben. Unter »Stunde der Opposition« wird es demnächst erscheinen. 20 Wolfgang [Templin] nimmt an, dass der Auseinandersetzungsprozess zwischen den Gruppen und Vereinigungen weitergeht. Werner [Fischer] bejaht und der darf auch nicht aufhören. Er ist der Meinung, dass man jetzt Geschlossenheit zeigen könnte, oder man kehrt bestimmte Dinge unter den Teppich. Beides ist schädlich, denn es sieht dann so aus, als wollen sie alle nur das Gleiche. Das wollen sie aber auch nicht. Wolfgang [Templin] hält es für möglich, dass man sich zu einigen Sachen abstimmen kann.
16 Werner Fischer kritisiert, dass Bärbel Bohley nichts zu den verhafteten Personen in Leipzig gesagt hätte. Siehe auch Dok. 132 und 134. 17 Es handelt sich um eine Anspielung auf die Bemühungen, das Neue Forum zu legalisieren. Siehe auch Dok. 132. 18 Der IM des MfS gehörte zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufs für eine SDP in der DDR. 19 Vom MfS war Böhme als IM auf die Zersetzung der IFM angesetzt worden, von der man die größte Gefahr ausgehen sah. Auf die Vielzahl der Neugründungen war auch das MfS nicht vorbereitet. Und Böhme (IMB »Maximilian«) schrieb noch am 15.9.1989 seinem Führungsoffizier: »Rechnung geht nicht auf, dass Initiative sich auflöst oder auseinandergeht.« (IM »Maximilian«, Zusammenkunft »Initiative Frieden und Menschenrechte« am 14.9.1989, 15.9.1989. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 29, Bl. 206). 20 Wolfgang Templin: Die Stunde der Opposition, in: taz vom 4.10.1989.
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Dokument 135 vom 19. September 1988
Werner [Fischer] hat gestern gehört, dass der Brief für »Ostkreuz« von Wolfgang [Templin] immer noch nicht angekommen ist. 21 Wolfgang [Templin] versteht das nicht und er muss rausbekommen, wo das festsitzt. Der Brief ist schon fast einen Monat unterwegs und darin waren auch ein paar Sachen von ihnen drinnen, darunter ein Extrabrief. Werner [Fischer] informiert den Wolfgang [Templin], dass sie am 6. Oktober in der Erlöserkirche eine DDR-Zukunftswerkstatt haben. 22 Die Sache beginnt gegen 17.00/18.00 23 Uhr und es wird alles vertreten sein, was jetzt so im Entstehen ist und was schon existiert. Vom Neuen Forum wird der [Rolf] Henrich im Podium Platz nehmen und von ihnen wird [Gerd oder Ulrike] 24 Poppe teilnehmen. Es werden auch Vertreter der Unterhaltungskünstler teilnehmen. 25 Es zeichnet sich ab, dass die Sache einen großen Zulauf haben wird und sie hoffen, dass es auch stattfinden kann. 26 Diese Veranstaltung wird gleichzeitig wie der Fackelzug der FDJ stattfinden. 27 Werner [Fischer] hat da erfahren, dass die FDJ große Schwierigkeiten hatte, die Fackelträger zu bekommen, bzw. die Ordnungskräfte aufzustellen. Es sollen sich geschlossen ganze Sektionen der Universitäten geweigert haben, daran teilzunehmen. 28 Es soll auch einen Boykott von rund 2 000 Personen geben, die als Laienkünstler, Musikgruppen und Ähnliches an den Volksfesten teilnehmen sollten. 29 Er berichtet weiter, dass zurzeit in der [Werner-]Seelenbinder-Halle der Zentralrat [der FDJ] ein Rockspektakel macht. Am Sonnabend ist dort die Gruppe »Firma«, die Wolfgang ja auch kennt, nur durch Protest der anderen Gruppen aufgetreten. 30 Mitten im Konzert haben sie ihre Jacken ausgezogen und stan21 »Ostkreuz« war eine Samisdatzeitschrift, deren erste Ausgabe im Januar 1989 erschienen war. Weitere Ausgaben folgten nicht. Eine zweite war praktisch druckfertig (überliefert in: Archiv Reinhard Weißhuhn). 22 Zu der Zukunftswerkstatt »Wie nun weiter, DDR?« siehe Dok. 132, Anm. 16. 23 Der Einlass begann um 16.00 Uhr (in manchen Stasi-Dokumenten ist von 15.00 Uhr die Rede), die Veranstaltungen kurz nach 18.00 Uhr und dauerten bis kurz vor Mitternacht. 24 Beide nahmen teil, siehe auch Dok. 132, Anm. 16. 25 Siehe ebenda. 26 Daran nahmen zeitweilig etwa 2 000 Personen teil. 27 Abends fand »Unter den Linden« im Zentrum Ost-Berlins wie am 11.10.1949 ein Fackelumzug der FDJ statt, an dem sich 75 000 FDJler beteiligten, die an der SED-Führung und deren ausländischen Freunden aus der UdSSR und dem gesamten Ostblock sowie PLO-Führer Jassir Arafat und weiteren engen Freunden aus der Mongolei, Vietnam, Nicaragua, Kambodscha, Laos, Nordjemen, Afghanistan, Libyen, Syrien, Nordkorea oder Kuba (ND vom 9.10.1989) vorbeimarschierten. Im Vorfeld gab es allerdings Probleme, genügend bereitwillige FDJler zusammenzubekommen, die Zielmarke von 100 000 wurde verfehlt und selbst die 75 000 konnten nur durch »Zwangsrekrutierungen« in Apparaten von SED, FDJ, MfS, MdI oder Armee erreicht werden. 28 Das ist für das FDJ-Pfingsttreffen im Mai 1989 nachweisbar (vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 320), für den »FDJ-Oktoberumzug« bislang nicht. 29 Dies ist bisher nicht belegbar. Zu FDJ und Ordnungskräften siehe Anm. 27. 30 Vom 29.9. bis 6.10.1989 fand eine Konzertreihe mit überwiegend jungen in- und ausländischen Gruppen von Punk über Blues, Rock, HipHop bis hin zu Lied statt. Die Band »Die Firma«
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den im T-Shirt mit der Aufschrift »Neues Forum« auf der Bühne. Die Truppe sollte am Ende der Veranstaltung noch einmal auftreten, aber dazu kam es nicht mehr, denn sie hatten zu dem Zeitpunkt schon Berufsverbot. 31 Beide lachen und stimmen überein, dass sich das jeden Tag wiederholen kann und nicht nur bei den Musikern. Im Weiteren sagt Werner [Fischer], dass er bei seinem Standpunkt bleibt, dass er nicht in den Westen will, egal wie sich alles hier entwickelt. Wolfgang [Templin] sagt, dass er aber in den Osten zurück will und bis dahin sollen Werner [Fischer] und die anderen eine schöne demokratische DDR vorbereiten. Das verspricht ihm Werner [Fischer] und er wird ihm dann auch eine Liste geben von den Leuten, die ins Heim kommen. Beide lachen. 23.05 Uhr […] 32
(1983–1993) genoss als staatlich nicht geförderte Band bei nichtangepassten Jugendlichen Kultstatus. Zu ihr und dem Umfeld vgl. Ronald Galenza, Heinz Havemeister (Hg.): Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop, Independent-Szene in der DDR 1980–1990. 2. Aufl., Berlin 1999. Zwei Mitglieder der »Firma« gehörten auch tatsächlich zur »Firma« MfS, ein anderer war später Mitbegründer von »Rammstein«, dem später ein weiteres ehemaliges Mitglied der »Firma« folgte. 31 »Bei einem der letzten Rock-Konzerte in dieser Sporthalle mit ›Feeling B‹ und den ›Skeptikern‹ hatte ›Die Firma‹ provokanterweise ein T-Shirt mit der Aufschrift ›Neues Forum‹ auf der Bühne an, was aber überraschend keine Folgen mehr hatte. Dies aus Gründen, die sich erst nach der Wende und dem Studium der Akten erschlossen.« (Ronald Galenza: Wimpelgrab & Gegentanz: Berlin, in: ders.; Havemeister (Hg.): Wir wollen immer artig sein. Überarb. u. erw. Neuausgabe, Berlin 2005, S. 551). Der Autor, einer der besten Kenner dieser DDR-Musikszene, hebt mit seinem letzten Satz darauf ab, dass 2 Mitglieder der Band als IM der Stasi zuarbeiteten. Ob, wie Werner Fischer berichtete, »Die Firma« an einem weiteren Auftritt an diesem Abend gehindert wurde, ließ sich nicht herausfinden. Die beiden Bandmitglieder, die als IM tätig waren, arbeiteten beide über viele Jahre für die Stasi, erhielten dafür Geld und andere Zuwendungen, berichteten über Freunde und Kollegen, verrieten sensible Details und Intimwissen und waren beide bereits vor ihrem 18. Geburtstag angeworben worden. Aus den Berichten und anderen Dokumenten ist herauszulesen, dass beide in den letzten Jahren vor 1989 zunehmend unwilliger wurden, mit der Stasi zu kooperieren (Tatjana Besson: BStU, MfS, BV Berlin, AIM 4310/89; Frank Tröger: BStU, MfS, AIM 9242/91). Tröger erhielt monatliche Geldzuwendungen, zuletzt im Oktober 1989, ist zum 7.10.1989 mit der »Medaille für treue Dienste« in Silber ausgezeichnet worden und noch am 20.10.1989 ist in der HA XX vorgeschlagen worden, Tröger einen Dauerreisepass für Reisen ins westliche Ausland »aus operativen Gründen« zu besorgen (BStU, MfS, AIM 9242/91, Beifügung Bd. 2, Bl. 103). 32 Nach 1.00 Uhr rief Roland Jahn bei Werner Fischer an. In dem Gespräch ging es um tagesaktuelle Ereignisse. Beide zeigen sich von einem Interview von Bärbel Bohley in den »Tagesthemen« sehr enttäuscht und gehen auf ausländische Medien ein, in denen die DDR zunehmend ins Zentrum rückt. Schließlich geht es um die Mahnwache in der Gethsemanekirche und die bevorstehende Veranstaltung in der Erlöserkirche am 6.10.1989.
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Dokument 136 Kontakttelefon Gethsemanekirche 4. Oktober 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, HA XX/4, Leiter [Joachim Wiegand] 1 Quelle: BStU, MfS, HA XX/4 3502, Bl. 5–8
[…] 2 Eine Dame nimmt Kontakt zu Gerold Hildebrand auf, erklärt, dass sie 54 Jahre alt, in unserem Staat großgeworden und in einem Volksbildungsbetrieb beschäftigt ist. Ihr Vater wurde im KZ ermordet, während ihre Mutter 1953 Selbstmord beging. Nun ging sie vorhin an der Gethsemanekirche vorbei und hörte auch schon von den Leipziger Ereignissen. Aufgrund der Entwicklung der letzten Zeit befürchtet die Dame, dass es wieder einen 17. Juni geben könnte. 3 Sie erlebte diese Ereignisse damals in Halle mit und sah die Brutalitäten gegenüber jungen Volkspolizisten, Funktionären usw. 4 Gerold 1 Joachim Wiegand (geb. 1932), Landwirtschaftsgehilfe, Traktorist; SED 1955; seit 1952 Mitarbeiter im MfS, u. a. 1954 KD Rostock, 1958 stellv. Leiter der KD Ribnitz-Damgarten, 1959 Referatsleiter in der Abt. II der BV Rostock; 1966 stellv. Referatsleiter in der HA XX/4; 1970–1976 Fernstudium an der JHS zum Diplom-Jurist; 1971 Referatsleiter in der HA XX/4; 1975 stellv. Abteilungsleiter und ab 1979 Abteilungsleiter der HA XX/4; 1985 Beförderung zum Oberst; Entlassung zum 31.3.1990. 2 Das Dokument beinhaltet zunächst 2 Telefonate von Gerold Hildebrand am Berliner Kontakttelefon. Im ersten geht es um eine Erklärung zur jährlichen Militärparade aus Anlass des Jubiläums des Gründungstages der DDR am 7.10. In einem zweiten kritisiert ein Anrufer die Fürbittandacht am selben Tag, weil es ihm zu wenig um die Inhaftierten gegangen sei und weil er den Liedermacher, der auftrat, als unpassend empfand. 3 Am 17.6.1953 fand in der DDR ein flächendeckender Volksaufstand statt, der die Herrschenden bis 1989 traumatisierte. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: 17. Juni 1953. München 2013; Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk, Ehrhart Neubert: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni in der deutschen Geschichte. Bremen 2004. Noch am 31.8.1989 auf einer turnusmäßigen Dienstbesprechung der Stasi-Generalität fragte Minister Armeegeneral Erich Mielke: »Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?« Oberst Dieter Dangrieß (geb. 1940, seit 1958 beim MfS; noch 1989 zum Generalmajor befördert) Leiter der BV Gera (seit 1988/89), beruhigte mit den Worten: »Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da« (zitiert nach Dok. 21, in: Armin Mitter, Stefan Wolle (Hg.): »Ich liebe euch doch alle«. Befehle und Lageberichte des MfS Januar– November 1989. Berlin 1990, S. 125). 4 Das ist ein Beispiel dafür, wie die SED-Propaganda in den Köpfen nachwirkte. Es gab auch tätliche Angriffe am 17.6.1953 auf SED-Funktionäre, etwa in Magdeburg, Görlitz, Rathenow oder Niesky, aber in Halle eher nicht. Vgl. allg. Ilko-Sascha Kowalczuk: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen. Bremen 2003; speziell zu Halle v. a. Hans-Peter Löhn: Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht des Volkes Wille! Der Volksaufstand am 17. Juni in Halle an der Saale. Bremen 2003; wie SED-Interpretationen postkommunistische Milieus bis heute prägen zeigt folgender Band: Unabhängige Autorengemeinschaft »So habe ich das erlebt«: Spurensicherung.
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Dokument 136 vom 4. Oktober 1989
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H[ildebrand] unterbricht seine Gesprächspartnerin mit der Frage, ob sie auch die »staatliche Brutalität« an den anderen gesehen hat. Wenn sie die jetzige Entwicklung verfolgt, so geht es um die Bildung von Vereinigungen, auch mit »linken Inhalten«. Es geht um Reformen für einen »demokratischen Sozialismus« und sollte die Dame mitmachen wollen, so kann sie sich gerne einbringen. Dazu ist die Dame bereit, denn sie hat »eure Dinger« schon gelesen. Auch sie ist mit der Versorgung unzufrieden und fordert mehr Offenheit. Zwar hat sie bisher immer ihre Meinung sagen können, ohne dass ihr etwas passierte, aber leider änderte sich nichts. Trotzdem befürchtet sie, die Menschen könnten hysterisch werden und die Sache geht in die verkehrte Richtung. Deshalb interessiert sie, wie »ihr« über Reformen denkt. Den Angaben von Gerold H[ildebrand] zufolge gibt es verschiedene Ansätze für den Zusammenschluss der Leute. Jetzt ist ein Diskussionsprozess in Gang gekommen, der weitergeführt werden soll. Die Dame ist dafür, zumal sie mit vielen Dingen in der DDR nicht einverstanden ist. Gewalt lehnt sie jedoch ab. In der nächsten Woche will sie sich bezüglich ihrer Mitarbeit sehen lassen. 19.42 Uhr […] 5
Zeitzeugen zum 17. Juni 1953. Schkeuditz 1999; dazu die Bemerkungen von Ilko-Sascha Kowalczuk: Rezension, in: IWK 36 (2000) 1, S. 147–149. In weiten Teilen auch der DDR-Opposition herrschten bis 1989 und zum Teil jahrelang darüber hinaus auch unklare Vorstellungen, was 1953 tatsächlich geschah. Zu den Gründen und Ursachen siehe u. a.: Eisenfeld; Kowalczuk; Neubert: Die verdrängte Revolution, passim. 5 Das Dokument enthält 2 weitere Telefonate am Kontakttelefon. Im ersten geht es um die Leipziger Inhaftierten, um weitere Verhaftungen sowie um die Solidaritätsfastenaktion in der Gethsemanekirche, die am 4.10.1989 Angela Kunze (geb. 1964) initiierte. Hildebrand liest ihre Erklärung vom selben Tage vor (Dieser Text ist enthalten in ihren Tagebuchaufzeichnungen, die die Theologin 20 Jahre später auszugsweise publizierte. Vgl. Angela Kunze: Zehn Tage im Oktober, in: Wachet und Betet. Herbst 89 in der Gethsemanekirche. Begleitbuch zur Ausstellung. Berlin 2009, S. 57–69). Im zweiten Telefonat interessiert sich eine Studentin für den Aufruf des »Neuen Forums« und erkundigt sich, wie sie die Mahnwache unterstützen könne.
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Dokument 137 Rechtliche Stellungnahme zu einem Telefoninterview des Lutz Rathenow vom 11. September 1989 (Originaltitel) 4. Oktober 1989 Von: MfS, HA IX/2, Oberstleutnant [Jürgen] Rößler, 1 Leiter der Abt. Oberst [Gunter] Liebewirth 2 An: MfS, HA XX/9 Quelle: BStU, MfS, AOP 1076/91, Beifügung Bd. 3, Bl. 103–105
Durch die Hauptabteilung XX wurde ein sechs Seiten A 4 umfassender Text mit der Bezeichnung »Wortlaut des Telefoninterviews zwischen Herrn XXX und Rathenow, Lutz zur aktuellen Situation in der DDR«, datiert vom 11. September 1989 vorgelegt. 3 Angaben zur Identifizierung der als XXX bezeichneten Person, zu den Umständen der Erlangung des Wortlautes sowie dessen erfolgter oder beabsichtigter Verwendung liegen nicht vor. Aus dem als Interview gestalteten und ausschließlich aus Fragen von XXX und Antworten von Rathenow bestehenden Text ergeben sich dazu keine Rückschlüsse. Der Inhalt bezieht sich auf die von der BRD aus gesteuerte massenhafte Abwerbung von Bürgern der DDR über die UVR. 4 Die an Rathenow gerichteten Fragen sind darauf angelegt, persönliche Einschätzungen sowie die Wie1 Jürgen Rößler (geb. 1939), SED 1956, Eintritt ins MfS 1957, BV Karl-Marx-Stadt, seit 1966 HA IX; Studium der Kriminalistik an der HUB, Diplom 1971 mit der Kollektivarbeit: »Zum Inhalt und den Erscheinungsformen der vom modernen rechten Revisionismus geprägten staatsfeindlichen Hetze und sich daraus ergebende Anforderungen an die Beweisführung«; 1979 Referatsleiter in der HA IX/2, ab Mai 1984 Offizier für Sonderaufgaben in der HA IX, 1987 Beförderung zum Oberstleutnant; Entlassung zum 31.3.1990. 2 Gunter Liebewirth (geb. 1934), Kaufmann, bis 1954 Funktionär der FDJ-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, SED 1952; 1954 Eintritt ins SfS und operativer Mitarbeiter der KD Stollberg, 1955 Versetzung zur HA IX des MfS, dort seit 1967 Abteilungsleiter der HA IX/2 (»politische Untergrundtätigkeit«), seit 1981 im Range eines Oberst; Entlassung zum 28.2.1990. Mit 9 (!) weiteren MfSOffizieren promovierte er 1979 mit einer Arbeit an der JHS. Sie trug den Titel: »Die Qualifizierung der politisch-operativen Arbeit des MfS zur vorbeugenden Verhinderung und Bekämpfung der gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR gerichteten politischen Untergrundtätigkeit«. 3 Das Interview lief im Rahmen der Sendereihe »Echo der Zeit«, eines der ältesten, am meisten verbreiteten und erfolgreichsten Sendeformate im Schweizer Rundfunk. Eine Abschrift des Telefoninterviews, angefertigt von der MfS-Abt. 26/7, findet sich in: BStU, MfS, AOP 1076/91, Beifügung Bd. 3, Bl. 99–101 (ohne Kopf) sowie unter: BStU, MfS, HA X/9 444, Bl. 88–93 (mit Kopfbogen der Abt. 26/7). Rathenows Medienaktivitäten via Telefon sind auch dokumentiert in: MfS, HA XX/9, Information über Aktivitäten von Rathenow, Lutz im Zusammenwirken mit westlichen Massenmedien und in der DDR akkreditierten ständigen Korrespondenten, 15.9.1989. BStU, MfS, HA XX/9 1486, Bl. 7–9. 4 Zu der Fluchtwelle 1989 vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 186–192, 346–354.
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Dokument 137 vom 4. Oktober 1989
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dergabe von Feststellungen, Stimmungen und Situationen in der DDR zu erhalten. Von Rathenow wird nach vorliegendem Text vorbehaltlos auf die gestellten Fragen eingegangen. Nach seinen Darstellungen wird über das angeführte Problem in der DDR »außerhalb der Subkultur geredet, gespottet und seine Meinung geäußert, wobei […] die Haltung überwiegend von Sympathie für die Ausreisenden geprägt (ist)«. 5 Rathenow wendet sich gegen die in einer ADN-Meldung gebrauchte Bezeichnung »Menschenhandel« 6 und behauptet, dass die DDR »jährlich 1 000 politische Häftlinge an die Bundesrepublik eindeutig verkauft« 7 und dass »die Diskrepanz zwischen dem, was veröffentlicht wird und dem, was die Leute denken, hier noch nie so groß geworden ist, wie jetzt«. 8 Er unterstellt, dass der sozialistische Staat an Autoritätsverlust leide, was darin seinen Aus-
5 Rathenow äußerte zu der ersten Frage nach der Massenflucht: »Das ist ein Problem, über welches alle sprechen, außer vielleicht die ganz offiziellen Führungsschichten und worüber vor allem außerhalb der Subkultur geredet, gespottet, seine Meinung geäußert wird. Die Haltung ist überwiegend von Sympathie für die Ausreisenden geprägt, mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die eigene Person.« (BStU, MfS, AOP 1076/91, Beifügung Bd. 3, Bl. 99) 6 Die »Mitteilung des ADN« hatte folgenden Wortlaut: »Wie aus Budapest verlautet, wurde sich in der UVR aufhaltenden DDR-Bürgern illegal und unter Verletzung völkerrechtlicher Verträge und Vereinbarungen in einer Nacht-Nebel-Aktion über die Grenze zu Österreich die Ausreise in die BRD ermöglicht. Dabei handelt es sich um eine direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik. Unter dem Vorwand humanitärer Erwägungen wird organisierter Menschenhandel betrieben. Mit Bedauern muss festgestellt werden, dass sich Vertreter der Ungarischen Volksrepublik dazu verleiten ließen, unter Verletzung von Abkommen und Vereinbarungen diese von der BRD von langer Hand vorbereitete Aktion zu unterstützen.« (ND vom 11.9.1989, S. 1) 7 Zwischen 1963 und 1989 kaufte die Bundesregierung 33 775 Menschen aus der DDR frei, darunter etwa 2 000 Kinder. Die SED-Führung erhielt »pro Kopf« anfangs im Durchschnitt 42 000 DM, 1988 »pro Kopf« durchschnittlich 221 500 DM. Die Werte schwankten teilweise erheblich, 1989 betrug der Durchschnitt »nur« noch 145 600 DM. Im Jahr 1985 lag der Freikauf mit 2 669 erwachsenen Personen am höchsten. 1986 sind 1 450 Erwachsene freigekauft worden, 1987 1 209, 1988 1 048 und 1989 1 840 (vgl. Matthias Judt: Häftlinge für Bananen? Der Freikauf politischer Gefangener aus der DDR und das »Honecker-Konto«, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94 (2007) 4, S. 417–439, spez. 434). Vgl. zudem Jan Philipp Wölbern: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Göttingen 2014; »Besondere Bemühungen« der Bundesregierung. Bd. 1: 1962 bis 1969: Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch (= Dokumente zur Deutschlandpolitik). München 2012. 8 Rathenow äußerte zu der Frage nach den Ostmedien: »Bei Ihnen ist die ADN-Meldung von gestern bekannt geworden mit dem Vorwurf des Menschenhandels an die ungarische Regierung. Dieser ist natürlich lächerlich, wenn ein Staat, der alljährlich 1 000 politische Häftlinge an die Bundesrepublik wirklich eindeutig verkauft, nun versucht, dieses vorzuwerfen. Solche Meldungen und die ganze Art und Weise der Berichterstattung unserer Presse trägt eher dazu bei, Leute weiter aus dem Land hinauszuekeln. Ich glaube, dass die Diskrepanz zwischen dem, was veröffentlicht wird, und dem, was die Leute denken, hier noch nie so groß geworden ist wie jetzt.« (BStU, MfS, AOP 1076/91, Beifügung Bd. 3, Bl. 99).
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Dokument 137 vom 19. September 1988
druck findet, dass bei jungen Leuten »Unlust« darin bestehe, überhaupt noch mit dem Staat über seine Ausreise zu verhandeln. 9 Die Reiseregelungen bezeichnet er als »politisches Disziplinierungsmittel« und erklärte in diesem Zusammenhang weiter: »Was wirklich ein klarer Beleg wäre, die Leute aus der Unmündigkeit zu entlassen, sind bestimmte Demokratisierung der Gesellschaft, die Wahl und Oppositionsbildung betreffen, ein Reiserecht für jeden im Jahr für eine bestimmte Zeit […]. 10 Nun gibt es eben auch noch Reiseprivilegierte, Verwandtenprivilegierte neben allen anderen Parteihierarchien, die sich hier gebildet haben.« Rathenow zeichnet ferner ein Bild des Bestehens einer »generellen Umbruchstimmung« in intellektuellen Kreisen, einer Abwendung der Mehrheit der Bevölkerung vom Sozialismus und einer großen politischen Unzufriedenheit. 11 Er führt u. a. weiter aus, gehört zu haben, dass in »sehr vielen Bezirken (der DDR) die Selbstmordrate unter den Lehrern gestiegen ist« 12 und dass dem Schriftsteller Detlef Opitz und »einem anderen Bekannten« staatlicherseits nahegelegt wurde, die DDR zu verlassen. 13 Aus rechtlicher Sicht ist einzuschätzen, dass die dargelegten, im Interview enthaltenen Informationen geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden und somit objektiv Nachrichten im Sinne des § 219 Abs. 2 Ziff. 1 StGB 14 darstellen, die im Fall der Verbreitung im Ausland oder der Herstellung von Aufzeichnungen zu diesem Zweck in objektiver Hinsicht strafrechtliche Verantwortlichkeit auf genannter Rechtsgrundlage begründen. Die von Rathenow gleichzeitig gebrauchten Unterstellungen und dargelegten abfälligen Bewertungen zu Teilbereichen der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR sind ferner objektiv geeignet, die staatliche Ordnung in der DDR herabzuwürdigen. Unter der Voraussetzung, dass es sich bei XXX um einen ausländischen Journalisten handelt, ist ferner das Tatbestandsmerkmal 9 Ebenda. 10 Hier schloss sich an: »so wie es in Ungarn vor ein paar Jahren eingeführt worden ist. Davon sind wir genauso weit entfernt wie vor drei Jahren. Die ganzen Erklärungen, auch bestimmter Politiker, dass diese Reiseerleichterungen den richtigen Weg gehen, sind meines Erachtens falsch, weil sie die Hierarchie in der Gesellschaft nur verfestigt haben.« Ebenda. 11 »Die Umbruchstimmung kann man in den intellektuellen Kreisen generell festmachen. In einer sehr frechen, bösartigen Abrechnung und selbstverständlich offenen Sprache, auch in größeren Kreisen. Das Problem in der DDR ist, dass es eine tragfähige Opposition für große gesellschaftliche Schichten bisher nicht gibt. (…) Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich, bei aller Vorsicht glaube ich das sagen zu können, momentan vom Sozialismus abgewendet. Sie hält ihn eigentlich innerlich nicht mehr für reformfähig. Die absolute Mehrheit der oppositionellen künstlerischen Kräfte möchte sozialistische Reformen. Es gibt ein gewisses Aneinandervorbeireden.« Ebenda, Bl. 100. 12 Ebenda. 13 Ebenda. 14 § 219 Abs. 1 StGB: »Ungesetzliche Verbindungsaufnahme«, eine Höchststrafe von 5 Jahren war möglich.
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Dokument 137 vom 4. Oktober 1989
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der Öffentlichkeit erfüllt und somit objektiv der Verdacht einer Straftat gemäß § 220 Abs. 1 StGB begründet. 15 Gegenwärtig bestehen jedoch keine Voraussetzungen, um deswegen mit rechtlichen Mitteln gegen Rathenow vorgehen zu können, da das den Straftatverdacht begründende Telefongespräch nur inoffiziell vorliegt und weiterhin nicht bewiesen werden kann, dass es sich bei den Gesprächsteilnehmern tatsächlich um Rathenow und einen ausländischen Journalisten handelt.
15 § 220 Abs. 1 StGB: »Öffentliche Herabwürdigung«, eine Höchststrafe von 3 Jahren war möglich.
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Dokument 138 Telefonat zwischen Werner Fischer und einer Journalistin aus WestBerlin 6. Oktober 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, HA XX 23202, Bl. 56
Eine Dame von »Radio 100« erkundigt sich bei Werner Fischer ob er Lust hat, für sie einen Kommentar zum 40. Jahrestag zu machen. Der Termin ist für heute vorgesehen, zwischen 17.00 Uhr und 18.00 Uhr. Fischer betont, dass dies nicht möglich ist, da er zu diesem Zeitpunkt in der Erlöserkirche ist, wo eine Veranstaltung »Zukunftswerkstatt DDR« stattfindet. Dort werden Vertreter aller neuen Gruppen und Initiativen anwesend sein. Insgesamt erwarten sie ca. 4 000 Leute. Der Beginn ist 18.00 Uhr. Die Dame erkundigt sich nach der Meldung, dass es in Dresden einen Toten gegeben haben soll. 1 Fischer weiß nur, dass alle Meldungen, die sie dazu erhalten, dies dementieren. Auch stimmt es nicht, dass im Stadion 10 000 Leute eingesperrt sein sollen. Nach der sowjetischen Armee befragt, kann er keine Auskunft geben. 2 Ihm ist nur bekannt, dass nach dem 7. Oktober das Ruder rumgerissen werden soll. 3 So wird in Marzahn ein Internierungslager durch Kampfgruppen aufgebaut. Dabei handelt es sich um ein Riesengelände mit Stacheldraht. 4 Er weiß jedoch nicht, ob dies einen demonstrativen Charakter haben soll oder eine Drohgebärde oder ob es wirklich genutzt werden soll. Fest steht, dass etwas nach dem 7. Oktober passieren wird. Sie rechnen mit dem 9. [Oktober.] 5 Wenn ein harter Kurs eingeschlagen wird,
1 Das traf nicht zu, aber dieses wie weitere Gerüchte und Spekulationen zeigen, wie dünn die Nachrichtenlage war und was man den Herrschenden alles zutraute. 2 Es wurde darüber gerätselt, ob sie eingreifen würde. Die meisten glaubten, Gorbatschow würde dies verhindern, andere wiederum hofften, die sowjetische Armee würde diesmal zugunsten der Demonstranten einschreiten. Tatsächlich erfolgte kein Befehl, aber wie nach 1990 Soldaten und Offiziere bestätigten, hätten sie jeden Befehl umgesetzt. 3 Das war eine allgemeine Vermutung. 4 Das war ein unbestätigtes Gerücht. In Berlin plante die Stasi in den 1980er Jahren nach bisherigem Kenntnisstand Isolierungslager u. a. in Grünau (Jugendherberge), Pankow (Untersuchungsgefängnis), Rummelsburg (Turnhalle einer Schule) und Prenzlauer Berg (Turnhalle einer Schule). Prinzipiell zu den geplanten Internierungslagern vgl. Thomas Auerbach: Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS. Berlin 1996. 5 An diesem Tag fand die nächste Montagsdemonstration in Leipzig statt. Das Land schaute gebannt nach Leipzig und hoffte, dass die befürchtete chinesische Lösung ausbleibe.
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Dokument 138 vom 6. Oktober 1989
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so trifft es dieses Mal nicht nur sogenannte »Prominente«, sondern es wird ein »Rundumschlag«. Die Dame wird sich vermutlich nochmals in einer Stunde melden, um ein Interview mit Fischer zu führen. 6 11.28 Uhr
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Ob es geführt worden ist, konnte bislang nicht eruiert werden.
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Dokument 139 Telefonat von Werner Fischer mit Gert Bastian und Petra Kelly 7. Oktober 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, HA XX 23202, Bl. 57–59 Anmerkung: Das Dokument enthält auf Seite 1 die handschriftliche Notiz: »Einzelinfo?«. 1
Werner Fischer erkundigt sich bei Gert Bastian, welchen Informationsstand er hat, worauf Bastian mitteilt, es hieß, sie haben einen Brief an [Michael] Gorbatschow geschrieben. Fischer weiß davon nichts. 2 Bastian erklärt, das ging vom Neuen Forum aus. Fischer gehört nicht zum Neuen Forum. Fischer geht es darum, ob sie Informationen über die Verhaftungen in Leipzig und anderen Städten besitzen. Bastian dachte, die sind schon wieder frei. Fischer verneint, deswegen gibt es seit Sonntag in Berlin eine Mahnwache rund um die Uhr mit einer unheimlichen Solidarität aus der Bevölkerung. Fischer möchte sich morgen bei ihnen melden und darüber informieren, damit sie etwas machen können. Bastian fliegt morgen mit Petra Kelly vier Tage nach Hiroshima zu einem Kongress der IPPNW. Fischer teilt mit, das, was über die Medien kommt, ist große Scheiße, das hat mit dem, was im Land passiert, nichts zu tun. 3 Bastian stimmt ihm zu. Ferner fliegen sie am Mittwoch wieder zurück. Fischer kann sich vorstellen, bis dahin kann viel passiert sein. Zurzeit haben sie ziemliche Angst. Die warten offensichtlich den 7. Oktober ab. 4 Zurzeit hängt etwas anderes in der Luft, diesmal kann es nicht reichen, dass namhafte Leute abkassiert werden, es wird fast flächendeckend. In der Veranstaltung heute in der Kirche waren fast 4 000 Leute da, nebst [Rolf] Henrich und [Gerd und Ulri-
1 Bislang ist nicht bekannt, ob aus diesem zusammengefassten Telefonmitschnitt eine Einzelinformation an die MfS-Leitung oder die SED-Führung erarbeitet worden oder ob dieses Gespräch in einen Informationsbericht an diese eingeflossen ist. 2 In dem Brief vom 4.10.1989 an Gorbatschow beschrieb Jens Reich namens des Neuen Forums anlässlich des bevorstehenden Besuchs von Gorbatschow die Ziele des Neuen Forums (RHG, NFo 345). Der Brief wurde am 6.10.1989 wie auch ein Brief an »alle Mitglieder der SED« in der Gethsemanekirche vorgelesen (»Gewalt ist kein Mittel«, in: taz vom 7.10.1989). Der Brief an die SED-Mitglieder ist abgedruckt in: Die ersten Texte des Neuen Forums. Erschienen in der Zeit vom 9.9. bis 18.12.1989. Berlin, Januar 1990, S. 8. 3 Wahrscheinlich kritisiert er, dass in den westlichen Medien weitaus stärker über die Flüchtlingswelle berichtet wurde als über die oppositionellen Aktionen im Land. 4 Siehe Dok. 138.
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Dokument 139 vom 7. Oktober 1989
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ke] Poppe. An Publikum war nicht nur die Insider-Szene da, sondern richtig Bevölkerung. 5 Fischer will wissen, wie sie verbleiben und kommt mit Bastian überein, dass sie sich melden, wenn sie aus Japan zurück sind. Abschließend freut sich Fischer und schätzt ein, das ist nicht zuletzt ihr Verdienst, dass der [Dalai] Lama den Friedensnobelpreis bekommen hat. 6 In der anschließenden Unterhaltung mit Petra Kelly bemerkt diese, sie haben vergeblich seit letzter Woche, seit sie aus Australien zurückgekommen sind, versucht, mit ihnen zu telefonieren. Fischer findet, zurzeit herrscht die spannendste Zeit vor, die sie je erlebt haben. Die Kelly kann sich das vorstellen. […] 7 Fischers Grund des Anrufs ist, sie haben über 20 Leute in Haft. Die Mahnwache im Prenzlauer Berg wird von der Bevölkerung unheimlich gut angenommen. Die Leute suchen einfach einen Ort, wo die Leute ihren Unmut loswerden können, sie haben einen Zulauf, mit dem sie bald nicht mehr umgehen können. Die Kelly hat die Nachrichten über die DDR verfolgt und auch alles über die [Bärbel] Bohley gesehen, ihrer Meinung nach ist es wie eine neue Welt. Fischer muss ihr sagen, das Neue Forum schweigt zu den Inhaftierten in Leipzig. Die haben nur damit zu tun, im Innenministerium ihre Legali5 Gemeint ist die Zukunftswerkstatt in der Erlöserkirche am Abend des 6.10.1989 in OstBerlin. So viele Menschen passen nicht in die Kirche. Es wird geschätzt, dass in der völlig überfüllten Kirche zeitweilig etwa 2 000 Menschen waren und einige Hundert nicht hineinkamen. Zu der Zukunftswerkstatt »Wie nun weiter, DDR?« siehe Dok. 132, Anm.16. 6 Das war am 5.10.1989 bekannt gegeben worden. Am 5./6.12.1989 weilte der Dalai Lama in Berlin. Die Bundesregierung und der Regierende Bürgermeister von West-Berlin hatten es abgelehnt, den Tibeter auf seinem Weg nach Oslo zu empfangen. Petra Kelly und Gert Bastian organisierten einen Besuch des Dalai Lama in Ost-Berlin (das war dem MfS/HA III auch seit Oktober 1989 aufgrund abgehörter Telefongespräche in der Bundesrepublik bekannt: BStU, MfS, Sekr. Neiber 609, Bl. 59) und hatten sich deshalb am 28.11.1989 mit einem Fernschreiben an die StäV der DDR in Bonn gewandt, das an Krenz weitergeleitet werden sollte und auch bei der MfS-Leitung landete (BStU, MfS, SdM 2249, Bl. 389–391). Die Einladung an den Dalai Lama ist gemeinsam von Petra Kelly, Ulrike und Gerd Poppe ausgesprochen worden. Gerd Poppe schrieb zudem einen Brief an Ministerpräsident Hans Modrow, um ebenfalls eine problemlose Einreise zu erreichen (Information von Gerd Poppe am 16.10.2013). Petra Kelly, Gert Bastian, die Poppes sowie einige weitere Oppositionelle empfingen den Dalai Lama am Check Point Charly. »Auch die Stasi war da, betont zuvorkommend und sich diesmal nicht als Überwacher sondern als ›Personenschützer‹ betätigend« (Information von Gerd Poppe am 16.10.2013). Das gut besuchte Treffen fand dann im Bonhoeffer-Haus statt, in dem Saal, in dem am nächsten Tag die erste Sitzung des Zentralen Runden Tisches stattfand. Der Dalai Lama war nicht, wie meist angenommen wird, zum ersten Mal in der DDR. 1982 weilte er im September in Moskau (vgl. Dalai Lama: Das Buch der Freiheit. Die Autobiographie. München 1992, S. 394; ND vom 15.9.1982) und Ulan Bator. Auf seiner Weiterreise nach Madrid hielt er sich am 24.9.1982 zwar inoffiziell in Ost-Berlin auf, wurde aber dennoch vom Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi betreut (MfS, HA XX, Aufenthalt des Dalai Lama in der DDR, 8.9.1982. BStU, MfS, HA XX/4 – 321, Bl. 54–56). Kontakte blieben aber selbstredend strikt reglementiert. 7 In der kurzen Passage geht es um den IPPNW-Kongress sowie personifizierte Arbeitsrechtsprobleme.
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Dokument 139 vom 19. September 1988
tät einzuklagen. Die Kelly hat übrigens Angst um sie. Fischer teilt ihre Angst. Er sieht die chinesischen Verhältnisse ganz deutlich. 8 Die begreifen hier nichts. Die Kelly sah heute die Rede, das war wie von einer Mumie. 9 Die Kelly muss ihm noch sagen, gestern hat der Fraktionsvorstand 300 DM Spende an die DDR beschlossen. Das steht im Protokoll der Fraktion der Grünen. 10 Nach Meinung der Kelly ist das sehr peinlich. Die beste Presse, die die Kelly zu den Ereignissen in der DDR gelesen hat, war die von Australien. Sie wird das alles einmal mitbringen. Ansonsten schwirren hier die Fotos von der Bohley und seins durch den Blätterwald. Fischer kann sich vorstellen, er ist auf dem Foto der Lebensgefährte der Bohley, was die Kelly bestätigt. Die Kelly hat am 25. Oktober eine Ausschusssitzung in Berlin, vielleicht kann sie da rüberkommen. Sie glaubt aber nicht, dass sie reingelassen wird. 11 8 Anspielung auf die blutige Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung Anfang Juni 1989. 9 Gemeint ist eine der Ansprachen zum 40. DDR-Gründungstag von Erich Honecker, den Petra Kelly mehrfach getroffen hatte. 10 Die 90. Fraktionssitzung der Grünen fand am 3.10.1989 statt. Im Protokoll der Fraktionsvorstandssitzung vom 2.10.1989 findet sich unter TOP 4 »Finanzangelegenheiten«: »Der Fraktionsvorstand stellt aus dem Verfügungsfonds DM 300 als Unterstützung des ›Neuen Forums‹ bereit.« Im Protokoll der 90. Fraktionssitzung vom 3.10.1989 findet sich unter TOP 1: »Bericht des Fraktionsvorstandes« der Hinweis, dass sich die Fraktion und der Vorstand in einem Offenen Brief ablehnend zur Parteidiktatur der SED äußern wollen, aber die Eigenstaatlichkeit der DDR anerkennen sollen. Außerdem soll Karitas Hensel, in der Fraktion Sprecherin für Deutschlandpolitik, am 5.10.1989 nach Ost-Berlin fahren, »um sich mit VertreterInnen des ›Neuen Forums‹, des ›Demokratischen Aufbruchs‹ und der ›Bürgerbewegung – Demokratie Jetzt‹ zu treffen und ihnen unsere volle Unterstützung für ihre Anliegen zu versichern und Möglichkeiten gegenseitiger Hilfe zu beraten.« Diese Informationen basieren auf Auskünften von Paul Kraatz (vom 18.10.2013), zusammen mit Wolfgang Hölscher Bearbeiter der Edition »Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1987–1990« (erscheint 2015). Eine Aktuelle Stunde zur Situation in der DDR, die die Grünen für den 6.10.1989 beantragt hatten, wurde abgelehnt (Selbstentmachtung des Parlaments. Interview mit Karitas Hensel, in: taz vom 7.10.1989). Eine geplante Reise nach Ost-Berlin von Karitas Hensel und Helmut Lippelt (geb. 1932, MdB 1987–1990 und 1994–2002) am 5./6.10.1989 ist mit einer Einreisesperre unterbunden worden (BStU, MfS, HA XX 6313, Bl. 14, 24). 11 Petra Kelly und Gert Bastian als MdB (1983–1990 bzw. –1987) genossen diplomatischen Schutz und konnten daher häufig zu ihren politischen Freunden nach Ost-Berlin einreisen. Ihre allgemeine Prominenz schützte sie zudem, zumal über abgelehnte Einreisen sofort westliche Medien berichteten bzw. die Bundesregierung in Ost-Berlin Protest einlegte. Nach der Durchsuchung der »Umweltbibliothek« und den vorgenommenen Festnahmen am 24./25.11.1987 ist über beide eine Einreisesperre verhängt worden, die nur von der SED-Führung befristet aufgehoben werden konnte (BStU, MfS, HA XX 6313, Bl. 1–2, 17). Das geschah immer wieder, war aber mit umfassenden Beobachtungsmaßnahmen seitens der Stasi verbunden. Die Zurückweisung von Kelly und Bastian an der Grenze war dagegen die Ausnahme. Das aber passierte auch, so z. B. am 27.1. und 15.2.1988 (HA XX/AKG – VSH-Kartei; HA III, Versuchte Einreise von führenden Vertretern der Grünen in die Hauptstadt der DDR, 28.1.1988. BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 25, Bl. 389–391; Was fehlt, in: taz vom 28.1.1988; Nervosität in der DDR-Führung, in: taz vom 1.2.1988). Wohl zuletzt vor dem Mauerfall reisten Bastian und Kelly am 25.10.1989 nach Ost-Berlin, um sich mit politischen Freunden zu treffen. (BStU, MfS, Sekr. Neiber 609, Bl. 59–60 – Es handelt sich um von der HA III mitgeschnittene Telefongespräche Kellys in Bonn.) Petra Kelly hielt an diesem Tag in der Marienkirche in
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Dokument 139 vom 7. Oktober 1989
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Fischer würde es für sehr wichtig halten, wenn sie hier auftritt. Sie brauchen hier ihre klaren Worte. Die Kelly schätzt ein, sämtliches Engagement in der Fraktion ist dahin, alle denken nur noch an ihren Ministerposten. 12 Fischer gibt ihr abschließend die Tel[efonnummer] von Marianne Birthler, falls er hier nicht zu erreichen ist. Fischer verspricht ihr eines, ihr nächstes Treffen wird nicht in Paris oder London stattfinden, sondern in Ostberlin. »Dann ist Fischer Minister«. Die Kelly grüßt alle. 3.45 Uhr
Berlin-Mitte eine Ansprache und sagte u. a.: »Diese Gewaltfreiheit wird in die Geschichte eingehen. Ich verbeuge mich vor euch. Ihr habt uns viel Kraft gegeben.« (zit. in: Der Tagesspiegel vom 25.10.1989). Den Anlass der Reise nach Berlin bildete eine Sitzung des Auswärtigen Ausschusses in West-Berlin. Am späten Nachmittag des 25.10.1989 reisten sie nach Ost-Berlin ein. Ob es auch am 26.10. zu Treffen in Ost-Berlin kam (in Petra Kellys Terminkalender steht unter diesem Tage: »DDR (?)«, »Besuch bei Bärbel Bohley wenn möglich« – auch diese Information ist Paul Kraatz zu verdanken; Archiv Grünes Gedächtnis; A Kelly Petra 4146) ist ungewiss. Am frühen Nachmittag traf sich Kelly vor ihrem Rückflug nach Bonn mit Ralf Hirsch in West-Berlin (ebenda). 12 Zu den turnusmäßigen Bundestagswahlen 1991 war ein Sieg von SPD und Grünen bereits – etwas frühzeitig – prognostiziert worden.
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Dokument 140 Telefonate von Werner Fischer und Marianne Birthler mit Westberliner Freunden 8. Oktober 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, HA XX 23202, Bl. 60–61
XXX aus WB will von Werner Fischer hören, ob sie die Feiertage gut überstanden haben. Der erzählt, dass er und die [Marianne] Birthler gerade zur Tür hereingekommen sind, da sie die ganze Nacht am Kontakttelefon verbrachten. 1 Fischer sagt auf Fragen der XXX, was die anderen Städte angeht, so sind sie da nicht so sehr auf dem Laufenden. Was Berlin betrifft, so sind ca. 700 Leute festgenommen worden von insgesamt ca. 10 000. 2 In Dresden waren es 30 000. 3 Es waren willkürliche Festnahmen und teilweise regelrechte Hetzjagden nach denen, die sich freiwillig von der Demonstration gelöst haben. Es war eine unheimliche Aktivität und Brutalität auf der anderen Seite vorhanden und auf der anderen Seite erstmalig eine demonstrative gewaltfreie (Fischer kann das Wort nicht aussprechen) aufseiten der Demonstranten. Fischer betont, es gab kaum mal Provokationen. Er hat es hautnah erlebt, als er in der Gethsemanekirche am Kontakttelefon saß. In der Kirche waren ca. 2 000 Leute. Nachdem [Bischof Gottfried] Forck mit dem Einsatzleiter verhandelt hat, konnten die die Kirche verlassen, was diszipliniert geschah. Es handelte sich um Teilnehmer an der täglich stattfindenden Informationsveranstaltung. Fischer sagt, von der Logistik war die Polizei gut ausgerüstet, wie mit Wasserwerfern. In Karl-Marx-Stadt seien sogar Hubschrauber über die Straßen geflogen. 4 Es werden von Fischer Städte (Karl-Marx-Stadt, Jena, Plauen, Potsdam, Dresden, Leipzig) genannt, wo etwas passierte. 5 Auf Fragen der XXX sagt Fischer, das Alter war ein Querschnitt durch die Bevölkerung. Begonnen hat es am Alex, wonach es drei Demonstrationszüge waren. Die XXX bekam heute schon einen Anruf mit der Frage, ob man nicht eine 1 Das stand in der Gemeinde der Gethsemanekirche. 2 Am 7./8.10.1989 sind in Ost-Berlin rd. 1 200 Menschen festgenommen worden. 3 Die genaue Anzahl lässt sich nicht ermitteln, aber es waren wohl deutlich weniger (vgl. Michael Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90. Göttingen 2009, Bd. 1, S. 255–292). In Dresden kam es zu rd. 1 300 Festnahmen (vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 384). 4 Das ist in Plauen geschehen. 5 Es waren noch weitaus mehr. Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 394–395; Richter: Die Friedliche Revolution.
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Dokument 140 vom 8. Oktober 1989
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Mahnwache einrichten sollte. 6 Fischer findet das nicht schlecht und nennt das jetzt eine ganz besondere Situation. Die XXX kann nur »sehr schön« sagen, es ist ausgezeichnet. Fischer und die XXX lachen. Fischer muss sagen, dass sie im Vorfeld auch nicht ganz frei von Angst waren, da »die« dermaßen unberechenbar sind. 10.20 Uhr Roland Jahn fragt die sich bei Fischer aufhaltende Marianne Birthler, ob sie ausgeschlafen hat. Die verneint das mit dem Hinweis, dass sie nicht kann, während Fischer selbst schläft. Jahn wollte nur hören, wie es ihnen geht. Wie die Birthler sagt, geht es im Moment ganz gut. Rausgekommen sind sie und die Straßen sind jetzt alle ganz ruhig. Ab 16.00 Uhr sitzen die Birthler und Fischer wieder am Kontakttelefon, wo sie wieder mehr wissen wird. Die Birthler hat eine Bitte, da Freunde von ihr in WB nach diesen Meldungen bestimmt ein bisschen Angst haben. Jahn versichert, dass er die verständigen wird. Die Birthler nennt die [Telefonnummer], wo er die XXX verständigen soll, sie sei okay. Jahn kommt auf den Freund zu sprechen, von dem die Birthler beim letzten Mal dem Jahn Grüße ausgerichtet hatte und von dem Jahn die aktuellen Reaktionen haben will, die ziemlich wichtig sind. Die Birthler wird es ausrichten. Jahn will die so schnell wie möglich haben. 12.02 Uhr
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Gemeint ist in West-Berlin.
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Dokument 141 Telefonate von Lutz Rathenow 8. Oktober 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Günther] Heimann Quelle: BStU, MfS, HA XX/9 297, Bl. 225–229
Ekkehard Maaß 1 meldet sich bei Lutz Rathenow. Maaß trat gestern Abend in der Kirche auf. 2 Er war erschüttert über die Kopflosigkeit der Leute! Vom [Neuen] Forum war niemand da, der dort sprechen konnte. Es fehlt einfach an Kadern, die reden können. Rathenow verweist auf Leipzig und Plauen, wo es anders zuging, die Auseinandersetzungen erbitterter zugingen. In Plauen waren 15 000 Leute auf der Straße und das bei einer Einwohnerzahl von 80 000. 3 Das Vogtland steht nach Meinung Rathenows kurz vor dem Explodieren. Weiter berichtet Rathenow, was ihm von den Ausschreitungen in Leipzig und Dresden 4 bekannt ist und er resümiert, dass dies zeigt, wie unfähig die Opposition ist, diese Kräfte aufzufangen und zielgerichtet zu lenken. Er hat darüber auch schon mit vielen Leuten geredet und deshalb das Neue Forum noch nicht unterzeichnet. Beide erörtern dann, wer als fähige Redner infrage kommen könnten und wer keine rhetorische Begabung besitzt. Maaß berichtet, dass es in der Gethsemanekirche wie im Theater war. 5 Gingen draußen die Sprechchöre, rannten alle aus der Kirche raus. Hatten sie das Gefühl, sie bekommen »eins auf die Mütze«, waren sie alle wieder in der Kirche auf den Bänken und saßen dort. Es gab auch viele »Zuführungen«. 6 [Jan]
1 Ekkehard Maaß (geb. 1951), 1979 Exmatrikulation vom Philosophiestudium wegen Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung und seiner Kontakte zu sowjetischen Dissidenten, seitdem freischaffender Übersetzer, Liedermacher und Sänger; organisierte in seiner Wohnung Lesungen und Konzerte. Das MfS verfolgte und bearbeitete ihn im OV »Keller« (BStU, MfS, AOP 1335/89). Vgl. Utz Rachowski: Ekkehard Maaß, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 178– 180. 2 Unter dem Eindruck der Gewalt auf der Schönhauser Allee holte Ekkehard Maaß die Gitarre und sang in der überfüllten Gethsemanekirche etwa 1 Stunde Antikriegslieder von Bulat Okudshawa (Mitteilung von Ekkehard Maaß am 28.10.2011). 3 Zu den Vorgängen in Plauen am 7.10.1989 vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 395–399. 4 Vgl. dazu ebenda, S. 377–386. 5 Zu den Vorgängen an der Gethsemanekirche am 7./8.10.1989 vgl. ebenda, S. 391–393. 6 An beiden Tagen gab es allein in Ost-Berlin etwa 1 200 »Zuführungen«.
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Dokument 141 vom 8. Oktober 1989
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Faktor 7 und seine Frau [Annette Simon] 8 wurden auch zugeführt und sind noch nicht wieder raus. Lothar Trolle 9 war Augenzeuge dieser »Zuführung«. Christa Wolf fuhr jetzt zur Keibelstraße, um etwas zu unternehmen. 10 Rathenow möchte wissen, wie viel Leute gestern dort zugeführt wurden. Maaß nimmt an, dass es so an 100 Leute waren, die so auf Lastkraftwagen abtransportiert wurden. Die Demonstration zum Helmholtzplatz 11 umfasste von der Teilnehmerzahl auf jeden Fall weniger als 3 000 Leute, behauptet Maaß. Er sah sie ja selbst. 12 Rathenow und Maaß beklagen dann wieder lang und breit, wie sehr dem Neuen Forum Leute fehlen, die jetzt vor den Leuten auftreten und die Forderungen formulieren können. Rathenow stellt fest, dass sich das in Leipzig auch schon bemerkbar machte, als sich die Leute dort vor dem Gewandhaus versammelten. Maaß fragt sich, warum gestern zum Beispiel Christa Wolf nicht in die Kirche kam und zu den Leuten sprach. Heiner Müller 13 war auch kurz dort, verdrückte sich aber bald wieder, ohne sich öffentlich zu äußern. Ekkehard Maaß wollte sich selbst nicht auch zum Redner aufschwingen. Sein Beruf ist es auch nicht. Sie hätten mehrere dort sein müssen, sich abwechseln müssen, um mit den Leuten zu reden. Aber alle halten sich irgendwo im Hintergrund auf und beobachten nur, anstatt die Situation zu nutzen und sich an die Seite der Leute zu stellen, um deren Forderungen zu artikulieren. 11.13 Uhr
7 Jan Faktor (geb. 1951), 1978 Übersiedlung von Prag nach Ost-Berlin zu seiner Ehefrau Annette Simon, war als Schlosser, Kindergärtner und Übersetzer tätig und seither auch in der subkulturellen Ostberliner Literaturszene aktiv, veröffentlichte im Samisdat, seit 1988 auch zahlreiche Verlagspublikationen, darunter seit 2006 auch vielbeachtete Romane. 8 Annette Simon (geb. 1952), von 1975 bis 1991 als Psychotherapeutin an einer Ostberliner Nervenklinik; 1989 im Neuen Forum aktiv; 10/89 in Polizeigewahrsam; seit 1992 in freier Praxis tätig, seit 1996 als Psychoanalytikerin; daneben freischaffende Autorin. 9 Lothar Trolle (geb. 1944), 1966–1970 Studium der Philosophie an der HUB, seit 1970 freischaffender Schriftsteller (Dramatik, Übersetzer, Hörspiele, Lyrik, Prosa), 1983–1987 Mitherausgeber der Samisdatzeitschrift »Mikado«; nach 1990 sind seine Stücke u. a. am Deutschen Theater und am Berliner Ensemble in Berlin aufgeführt worden. 10 In der Keibelstraße am Berliner Alexanderplatz befand sich das Ostberliner Polizeipräsidium mit einem integrierten Untersuchungsgefängnis sowie einem zentralen »Zuführungs«punkt. Christa Wolf ist die Mutter von Annette Simon. 11 Der Helmholtzplatz liegt wie die Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg, die Entfernung beträgt etwa 700 m. 12 Zuvor gab es eine Demonstration vom Alexanderplatz/Palast der Republik zur Gethsemanekirche mit etwa 6 000–7 000 Menschen, die Entfernung beträgt etwa 4 km. 13 Heiner Müller (1929–1995) war einer der wichtigsten deutschen Dramatiker im 20. Jahrhundert. Vgl. seine Autobiografie: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992); Werke Bd. 1–12 (1998–2008).
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Dokument 141 vom 19. September 1988
Lutz Rathenow informiert den DPA-Korrespondenten [Heinz Joachim] Schöttes, 14 dass bei den gestern inhaftierten Bürgern im Zusammenhang mit den Ereignissen um die Gethsemanekirche auch Jan Faktor darunter war. Er weist darauf hin, dass Faktor gemeinsam mit seiner Ehefrau [Annette Simon] zugeführt wurde, sowie dass Faktor der Schwiegersohn der Christa Wolf ist. Christa Wolf sucht zurzeit das Polizeirevier Keibelstraße auf, um sich für die Freilassung ihrer Angehörigen und der anderen Inhaftierten zu verwenden. Weiter teilt Rathenow mit, dass die Zahl der gestrigen »Zuführungen« mehrere Hundert betragen muss. Er selbst hörte von sieben oder acht Transportwagen der VP, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gesehen wurden. Ein solcher Wagen fasst bis zu 50 Personen, wenn er vollgestopft ist. Rathenow weist dann auf die Situation in Plauen hin, die er als sehr ernst bezeichnet. Er versucht schon seit Längerem, dorthin telefonisch durchzukommen, kommt aber nicht durch. Bei der Einwohnerzahl von 80 000 kommt die Bedeutung einer Demonstration von 8 000 15 Leuten gleich der, würden hier eine Million Leute auf die Straße gehen. 16 Schöttes bedankt sich sehr herzlich bei Rathenow für die Informationen. Anschließend setzt sich Rathenow sofort mit Dr. Werner Kern (Arbeitskreis akkreditierter Journalisten) in Verbindung und teilt diesem die gleichen Informationen mit, wie er sie dem [Heinz Joachim] Schöttes gab. 11.30 Uhr Lutz Rathenow setzt sich mit Gabriele Muschter 17 in Verbindung. Diese entschuldigt sich, dass sie gestern die Verabredung nicht einhielten. Sie vereinbaren neu, dass Muschters heute Nachmittag so zwischen 15.00 und 16.00 Uhr zu Rathenow kommen werden. Sie bleiben nicht lange, da sie um 17.00 Uhr bereits die nächste Verabredung haben. Lutz Rathenow meldet sich im Büro von AFP. Er teilt mit, dass unter den gestern zugeführten Personen sich der Schriftsteller Jan Faktor befindet. Er gibt im Weiteren die gleichen Informationen, die er schon vorher an Schöttes und Kern gab. 14 Heinz Joachim Schöttes (geb. 1958), seit 1987 Korrespondent der Deutschen Presseagentur in Ost-Berlin. 15 In Plauen wohnten etwa 75 000 Menschen, an der Demonstration beteiligten sich 10 000 bis 20 000 Personen. 16 In der rechnerischen Logik müsste es wohl heißen, wenn hier 130 000 Menschen (Einwohnerzahl Ost-Berlin 1988: rd. 1,3 Mio.) demonstrieren würden. 17 Gabriele Muschter (geb. 1946), Kunsthistorikerin, leitete Galerien und war 1990 in der Regierung nach dem 18.3.1990 Staatssekretärin im Kulturministerium.
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Dokument 141 vom 8. Oktober 1989
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XXX (ph) meldet sich bei Lutz Rathenow. XXX befindet sich in WB und wurde an der Grenze zurückgewiesen. Er erkundigt sich nach Rathenows Befinden und möchte wissen, ob der Gorbatschow-Besuch die Demonstrationen bewirkte, die gestern stattfanden. 18 Rathenow verwies darauf, dass sich hier die Situation seit Wochen zuspitzt. Auch ohne diesen Besuch wäre es zu dem gekommen, was gestern in Berlin und anderen Städten schon seit einiger Zeit vor sich geht. Die Gegendemonstrationen zum Jahrestag der Republik sind die Antwort auf die ununterbrochenen positiven Selbstdarstellungen der Regierung und Partei. [Michail S.] Gorbatschow wird natürlich positiv angesehen und man erwartet sicherlich auch, dass er Einfluss nimmt, hat hierzu jedoch gedämpfte Erwartungen. Es besteht keine Euphorie ihm gegenüber. Zu den Hoffnungen und Wünschen der DDR-Bürger befragt, erklärt Rathenow, dass sich Oppositionsgruppen in einer gewissen Weise formiert haben. Sie wünschen vor allem den gesellschaftlichen Dialog, eine große öffentliche Aussprache über alle Probleme. Die naheliegenden Ziele sind Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Reiseregelungen für jedermann und danach wünscht man dann sicher grundlegendere Reformen, ökonomischer und anderer Art. Das wird dann schon schwieriger. Gegenwärtig ist (nach Rathenow) zu verzeichnen, dass alle Gruppen von gewaltsamen Aktionen abraten, diese auch nicht organisieren, bei ihren Veranstaltungen viel Zulauf finden, meist in Kirchen, vor allem außerhalb von Berlin. Nach dem größeren Zulauf außerhalb Berlins befragt, erklärt Rathenow, dass dies mit der Bevölkerungsstruktur zusammenhänge. Dies müsse erst einmal als Fakt genügen. Eine genauere Erklärung würde zu längeren Analysen führen. Weiter behauptet Rathenow, dass es eine große Unzufriedenheit gibt unter den Leuten und eine Vielzahl von Leuten, die nichts mehr mit dem Sozialismus zu tun haben wollen. Das droht, sich jetzt auch schon auf der Straße zu entladen. Ereignisse wie in Dresden oder in Plauen wurden nicht vom Neuen Forum organisiert. Es handelt sich zum großen Teil nicht mehr um Leute, die nur noch ausreisen wollen. Es besteht die Gefahr, dass die Wünsche der Menschen, die unzufrieden sind, sehr verschieden sind und von der Opposition gar nicht erfasst, gelenkt und gesteuert werden können. Dies wird gerade im Süden der DDR deutlich, insbesondere im Vogtland und den Bezirken Karl-Marx-Stadt und Dresden. Also auch in solchen Gegenden, wo zum Teil gar kein Westfernsehen empfangen wird, was klar zeigt, dass es sich hier um keine vom Westen gesteuerte Unzufriedenheit handelt.
18 Aus Anlass des 40. Jahrestages der DDR weilte Michail S. Gorbatschow am 6. und 7.10.1989 in Ost-Berlin, um an den offiziellen Feierlichkeiten teilzunehmen.
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Dokument 141 vom 19. September 1988
Danach befragt, erklärt Rathenow, dass er das Neue Forum nicht unterzeichnet hat. Er unterstützt es aber. Er sympathisiert mehr mit der Bewegung Demokratie Jetzt, die er für substanzieller hält. Seine Entscheidung hierfür jetzt zu erklären, würde aber zu lange dauern. Auf die entsprechende Frage erklärt Rathenow, dass Demokratie Jetzt anspruchsvoller an seine Mitglieder herangeht, anspruchsvoller. Im Gegensatz zum Neuen Forum, was ein Sammelbecken für jedermann darstellt, ein großer Diskussionsklub zu allen Problemen werden soll, während die anderen, die deutlich kleiner sind, versuchen, programmatische Ziele zu entwerfen. Das geht ganz nach links, wie bei der Vereinigten Linken oder wie Demokratie Jetzt, die pluralistisch ausgerichtet ist, mit spezifischen Ansatz für soziale Gerechtigkeit und auf ökologische Ausrichtung. Demokratie Jetzt hat ein vierseitiges Programm. Die Zusammensetzung besteht vor allem aus Intellektuellen, Wissenschaftlern und ähnlichen Schichten. 19 Nach Veranstaltungen befragt erklärt Rathenow, dass jetzt eine »Polenwoche« stattfinden wird. Polnische Intellektuelle, Künstler und Publizisten stellen sich hier vor und es wird eine intensive Diskussion über Polen geführt. XXX erkundigt sich nach der Haltung der Kirche zu diesen neuen politischen Kräften. Rathenow verweist auf eine schwierige Situation. Zum Beispiel gelang es dem Neuen Forum bisher nicht, von der Kirche öffentliche Räume anzumieten. Die Kirche ist nicht nur nützlich. Sie hält auch noch einige Leute von einer aktiven politischen Betätigung ab. Rathenow berichtet weiter, dass es Bemühungen gab, öffentliche Räume bei den sowjetischen Streitkräften zu finden. Das wurde aber von denen abgelehnt, weil es eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR darstellen würde. Aber die Opposition versucht im Moment, aus den kirchlichen Räumen herauszukommen. Allerdings arbeiten die Vertreter der Kirche in den neuen Organisationen intensiv mit, sodass man von einer Verflechtung dieser mit der Kirche sprechen kann. XXX will wissen, welcher Gruppierung [Rainer] Eppelmann angehört, worauf Rathenow erklärt, dass der bei Demokratischer Aufbruch ist. Hier handelt es sich vor allem um eine Gruppe, die sehr viele kirchliche Mitarbeiter in sich 19 Authentische und zeitgenössische Einblicke in die Vorstellungen der neuen Vereinigungen bieten u. a. Volker Gransow, Konrad H. Jarausch (Hg.): Die deutsche Vereinigung. Dokumente zur Bürgerbewegung. Annäherung und Beitritt. Köln 1991; Hubertus Knabe (Hg.): Aufbruch in eine andere DDR. Reformer und Oppositionelle zur Zukunft ihres Landes. Reinbek b. Hamburg 1989; Helmut Müller-Enbergs, Marianne Schulz, Jan Wielgohs (Hg.): Von der Illegalität ins Parlament. Werdegang und Konzepte der neuen Bürgerbewegungen. 2. Aufl., Berlin 1992; Berndt Musiolek, Carola Wuttke (Hg.): Parteien und politische Bewegungen im letzten Jahr der DDR (Oktober 1989 bis April 1990). Berlin 1991; Politische Parteien und Bewegungen der DDR über sich selbst. Handbuch. Berlin 1990; Gerhard Rein (Hg.): Die Opposition in der DDR. Entwürfe für einen anderen Sozialismus. Berlin 1989; ders.: Die protestantische Revolution 1987–1990. Ein deutsches Lesebuch. Berlin 1990.
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Dokument 141 vom 8. Oktober 1989
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vereinigt. Allerdings haben sich alle Gruppen auf eine Plattform geeinigt, um bei der Wahl zu kandidieren. 20 Unter den derzeitigen Bedingungen wird das aber nicht möglich sein. XXX möchte dann wissen, ob R[athenow] die Befürchtungen teilt, dass es nach dem 40. Jahrestag neue Schwierigkeiten geben wird für alle diese Gruppen. Rathenow weiß, dass das angedroht wird. Aber es gibt auch Kräfte in der Partei, die spüren lassen, dass sie nun auch Reformen für nötig halten. Sicherlich wird es einen internen Machtkampf um den Richtungswechsel geben. Der Ausgang ist momentan noch offen. Der Druck auf die Partei wird immer größer. Der Druck kommt nicht nur aus den Gruppen. Auch aus anderen gesellschaftlichen Bereichen werden Stimmen laut. Z. B. hängen in der »Volksbühne« Aufrufe aus und seit Mittwoch werden sie vor jeder Vorstellung verlesen. Der Verband Bildender Künstler gab ein Protestschreiben heraus, dem sich fast alle angeschlossen haben, im Schriftstellerverband protestierten eine Menge Leute, Unterhaltungskünstler protestierten usw. Es bildete sich also unter den Intellektuellen eine sehr breite Bewegung, die von der Öffentlichkeit mit zunehmendem Interesse verfolgt wird. 21 Außerdem gibt es viele Leute, die etwas machen wollen, aber nicht wissen, was sie machen sollen. Rathenow bestätigt, dass es die Meinung der Mehrheit ist, dass es so nicht mehr weitergehen kann, dass es politische Veränderungen geben muss. XXX interessiert sich vor allem für die Rolle der Kirche in diesem Prozess. Rathenow verweist darauf, dass das sehr differenziert ausgeprägt ist. In einigen Städten steht die Kirche abseits, spielt kaum eine Rolle wie in Schwerin oder Magdeburg. Hier [in] Berlin sind kirchliche Vertreter aber immer noch dominierend. Insgesamt ist die Kirche zwar etwas mutiger geworden, aber nach wie vor wirkt sie auch noch so wie vor zwei oder drei Jahren, zur Vorsicht mahnend, zur Ruhe auffordernd, bremsend, von jeder Demonstration auf der Straße abratend usw. Sie rufen die Leute auf, nach Hause zu gehen oder in die Kirche zu kommen. Im gesellschaftlichen Dialog wirkt die Kirche entspannend. Rathenow möchte dann das Gespräch beenden. Er hat gerade Besuch bekommen. Rathenow will wissen, ob XXX sein Buch bekommen hat (»Floh Dickbauch«). Der Verlag wollte es schicken und etwas in Frankreich machen. 22 12.39 Uhr 20 Am 4.10.1989 traf sich erstmals die Kontaktgruppe der Opposition in Ost-Berlin. Sie koordinierte in den nächsten Wochen die Arbeit der Opposition. Die erste »Gemeinsame Erklärung« vom 4.10.1989 betonte den Anspruch, »Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten«. Sie forderte, dass die »nächsten Wahlen […] unter UNO-Kontrolle stattfinden.« Außerdem kündigte sie an, ein gemeinsames Wahlbündnis zu verabreden und eigene Kandidaten aufzustellen. 21 Vgl. ausführlich Kowalczuk: Endspiel, S. 365–368, 443–446. 22 Das Buch erschien 1988 im Marburger Verlag Hitzeroth zweisprachig (deutsch und französisch).
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Dokument 142 Telefonate von Lutz Rathenow 8. Oktober 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Günther] Heimann Quelle: BStU, MfS, HA XX/9 297, Bl. 230–234
Franz Hohler 1 aus der Schweiz meldet sich bei Lutz Rathenow. Er versichert, dass sie jetzt oft an sie alle in der DDR denken, wenn sie die Meldungen der Medien hören und sehen. Nach den Ereignissen befragt, schildert Rathenow wieder die Situation und analysiert in der gleichen Weise, wie er es gegenüber XXX formulierte. 2 Rathenow äußerte sich lobend über die »umfangreiche« Berichterstattung zur DDR. Er merkte in vielen Gesprächen, dass sich die Leute hier dadurch aufgehoben und angenommen fühlen, dass so viel über »ihre Probleme« berichtet wird. Am liebsten würden die Leute noch mehr von den Demonstrationen und ähnlichen sehen. Es ist ihr Sender, den die Leute verfolgen, solange die eigenen Sender nicht berichten. Die Berichterstattung wirkt im Großen und Ganzen eher stabilisierend, denn dominierend wird zur Ruhe und Besonnenheit aufgerufen, immer wieder zum Dialog aufgefordert usw. Hohler will wissen, ob Rathenow persönlich von den staatlichen Behörden in Ruhe gelassen wird. Rathenow bestätigt dies. Allerdings wohl aus dem Grund, weil die mit vielen anderen Sachen beschäftigt sind. Die Sicherheitsleute sind Tag und Nacht im Einsatz und haben mit den vielen Bekundungen in der Stadt so viel zu tun, dass ihm keiner mehr hinterherläuft. Momentan sind die wirklich mit anderen beschäftigt. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, weil er nicht mehr so aktiv organisatorisch tätig ist. Rathenow wartet jetzt auf die Herausgabe seines nächsten Gedichtbandes im »EremitenVerlag«. Bedauerlicherweise darf er noch nicht zur Buchmesse fahren. 3 13.35 Uhr Detlef Opitz meldet sich bei Lutz Rathenow. Er ruft jetzt einmal so rundherum, wer noch alles am Leben ist. Opitz selbst, so behauptet er, ist ziemlich
1 2 3
Franz Hohler (geb. 1943), bekannter Schweizer Schriftsteller, Kabarettist und Liedermacher. Siehe Dok. 141. Von Lutz Rathenow erschienen 1989 zwei Lyrik-Bände, aber keiner in der Eremiten-Presse.
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Dokument 142 vom 8. Oktober 1989
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rüde zusammengeschlagen worden. Auch seine Freundin wurde körperlich misshandelt. Das war gestern Nachmittag vor dem ADN-Gebäude. 4 Rathenow erkundigt sich nach den Zahlen der Demonstranten, die dort teilnahmen. Opitz hat stellenweise bis zu 15 000 und 20 000 Menschen gezählt. 5 Er weiß aber, dass er damit weit über den offiziellen Schätzungen liegt. Allerdings waren so ca. zehn bis 15 Prozent untergemischte Stasi-Leute. Die sangen mit ihnen die Chöre, standen neben ihnen und plötzlich zerrten die welche raus. Die haben da jemanden so etwas von rüde zusammengeschlagen, so etwas hat er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Es war einfach Instinkt, dass sie versuchten, denen zu helfen. »Dann waren wir selbst dran. Es war unglaublich. Ich habe noch nie so viel Brutalität gesehen, wie am gestrigen Abend.« 6 Auf Rathenows Frage nach einer »Zuführung« erklärt Opitz, dass sie sich der durch Flucht entzogen haben. Dabei haben sie noch einiges Zeugs verloren. Darunter auch das Geld und solche Sachen. Aber sie waren so in Panik, dass sie nur noch rannten. Sie wollten so gegen 22.00 Uhr, als die Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften immer härter wurden, aussteigen, aber sie kamen da gar nicht mehr raus. Er berichtet dann, wo er sich am Abend überall bewegte und wo sich die Leute mit ihm entlang bewegten vom Prenzlauer Berg, der Gethsemanekirche über die Straßen bis hin zur Mollstraße, wo sie dann so gegen 22.30 Uhr aufgelöst wurden. Vorher passierten sie ständig irgendwelche Sperren, ständig wurden Gruppen aufgelöst, aber es gelang ihnen immer wieder, sich zu formieren, zumal auch immer wieder Leute neu hinzukamen, die aus den Wohnungen heraus bemerkten, was auf den Straßen vor sich ging. Opitz lässt sich dann wiederholt über Ausschreitungen und brutal vorgehende Sicherheitskräfte aus. Er sah wie vier, fünf Leute eine Person verfolgten und zusammenschlugen, minutenlang in die Hoden traten. Er hat so etwas Brutales noch nie gesehen. Es muss viele Schwerverletzte gegeben haben. Er 4 Die Demonstration mit etwa 6 000–7 000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen in Ost-Berlin am 7.10.1989 bewegte sich zunächst vom Alexanderplatz zum Palast der Republik und von dort in Richtung Prenzlauer Berg zur Gethsemanekirche. Das ADN-Gebäude stand an der Ecke KarlLiebknecht-Str./Mollstr. unweit des Alexanderplatzes. 5 Die Zahlenangaben wurden 1989 meistens übertrieben, zu den Gründen dazu vgl. IlkoSascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 371–372, 451–452. 6 Vgl. dazu Schnauze! Gedächtnisprotokolle 7. und 8. Oktober 1989. Berlin, Leipzig, Dresden. Berlin 1990. In Ost-Berlin waren am 23.10.1989 auf einer Pressekonferenz (der ersten überhaupt!) der Opposition, vertreten u. a. durch Werner Fischer, Marianne Birthler, Walter Schilling, Reinhard Schult, Christoph Singelnstein, Reinhard Weißhuhn, Gedächtnisprotokolle über die Erlebnisse bei den »Zuführungen« und Festnahmen vorgestellt worden. Manfred Stolpe hatte bis zuletzt versucht, dies zu verhindern (vgl. Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. 2., durchges., erw. u. korrig. Aufl., Berlin 2000, S. 866).
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sprach dann abends mit einem, der einen Kopfverband trug, vor der Kirche. Der stand bei dieser Situation direkt vor ihm. Rathenow interessiert, wie viel »Zuführungen« es bei dieser Gelegenheit so gab. Opitz schätzt, dass es so an die 150 waren. 7 Welche davon wurden aber nach kurzer Zeit sofort wieder freigelassen. Peter Brasch 8 z. B. war mit seiner Freundin auch zugeführt und sofort wieder freigelassen worden. Opitz stellt fest, dass er sehr ergriffen ist und entsetzt, er daher vielleicht auch etwas übertreibt, aber die Brutalitäten, wie er sie gestern Abend erlebte, waren ihm sonst noch nie zu Gesicht gekommen. Er berichtet dann immer wieder einzelne Erlebnisse des gestrigen Abends, wo er sehen konnte, wie Personen geschlagen wurden. Rathenow interessieren immer wieder Zahlen. Er lässt sich von Opitz bestätigen, dass es bestimmt so um die 100 waren, die misshandelt wurden. Opitz selbst konnte es bei Dutzenden sehen. Er war den Abend über mit Schappi 9 [Peter Wawerzinek] 10 zusammen. Gegen 17.00 Uhr ging es so langsam in Richtung Palast [der Republik]. 11 Von dort ging es dann weg, bei ADN vorbei, wo es die ersten Vorfälle gab. Dort wurden die Leute herausgegriffen und in Höfe gebracht. Er konnte sehen, dass dort »Stasileute« in Karatestellung standen. Die sperrten diesen Eingang ab. Dann kam plötzlich Polizei und überrannte sie. Die schlugen mit merkwürdigen Knüppeln auf sie ein. Es handelte sich nicht um Gummiknüppel, sondern um irgendwelche Plastikruten. Rathenow erfragt dann, wer alles gegen die »Demonstranten« eingesetzt wurde. Sie kommen dann auf Polizei, »Stasi«, FDJ-Ordnungskräfte, wo auch Mädchen mit auf die Demonstranten einschlugen, und auch Kampfgruppen konnte Opitz feststellen. 12 Rathenow resümiert, dass wohl die Taktik darin bestand, die Demonstranten zu durchsetzen, einzelne herauszugreifen, auszudünnen und dann den Zug durch Sperren zu zerteilen. Opitz versichert, dass es ganz genau so ablief. Das gelang aber zig Mal nicht. Weiter berichtet er, dass Leute in Hausflure liefen, verfolgt und dort zusammengeschlagen wurden. Rathenow möchte dann wissen, wie Zuschauer sich zu der Sache verhielten. Opitz berichtet, dass viele aus den Häusern, die den Zug sahen, sich spontan 7 Am 7./8.10.1989 wurden in Ost-Berlin etwa 1 200 Personen zugeführt. 8 Peter Brasch (1955–2001) ist nach seinem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 vom Studium exmatrikuliert worden. Er war Schriftsteller, Übersetzer, Dramaturg und Regisseur. 9 Richtig: »ScHappy«. 10 Peter Wawerzinek (geb. 1954), nach einer schwierigen Kindheit und Jugend, über die er u. a. in seinem preisgekrönten und viel diskutierten Roman »Rabenliebe« (2010) schrieb, 1978 nach OstBerlin gezogen, wo er sich mit Gelegenheitsjobs durchschlug und in den 1980er Jahren in der unabhängigen Literaturszene bekannt wurde; seit 1990 zahlreiche Verlagsveröffentlichungen, die ihm bald auch die gebührende öffentliche Anerkennung einbrachten. 11 Vom Alexanderplatz aus. 12 Kampfgruppeneinheiten waren in Ost-Berlin offenbar zur Absicherung sowie für Absperrmaßnahmen, aber nicht zur direkten Konfrontation mit den Demonstranten eingesetzt worden.
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anschlossen, ihre Wohnungen verließen und auch auf die Straße kamen. Aus den Fenstern jubelten Leute ihnen zu, winkten, zündeten Kerzen an. Richtige direkte Ablehnung sah Opitz nicht. Er konnte lediglich Leute sehen, die unbeteiligt taten und sie belächelten. Rathenow will dann wissen, ob es nicht möglich war, mit Polizisten oder Leuten von der Kampfgruppe zu diskutieren. Opitz hatte das versucht. Aber das war absolut nicht möglich. Rathenow bedankt sich für den Bericht bei Opitz. Er weist darauf hin, dass Opitz einen Anruf bekommen könnte von jemand, der das bestätigt haben möchte, was er Rathenow soeben alles schilderte. Opitz berichtet dann, dass er gerade bei [Jan] Faktor 13 anrief. Die kamen gerade aus dem Polizeigewahrsam. Annette [Simon] 14, seine Frau, war am Telefon. Sie war nicht geschlagen worden. Sie gab auch keinen langen Bericht, weil sie noch mitgenommen war. Sie sagte nur, dass es grausam war. Rathenow möchte wissen, wer noch alles von den Künstlern zu den Betroffenen zählte. Dazu kann Opitz nicht viel sagen. Rathenow bittet Opitz, den Korrespondenten [Werner] Kern anzurufen und über die gestrigen Erlebnisse zu berichten. Opitz versichert, dass er den gestern schon traf. Rathenow geht davon aus, dass die Korrespondenten ja auch nicht immer alles mitbekommen. Opitz hat ja nun gerade im Westen veröffentlicht. 15 Wenn da jemand geschlagen wird, kann man das ja auch einmal an einigen Namen festmachen. Rathenow selbst wird das auch weitererzählen. Opitz möchte lieber noch abwarten, was sich nun weiter tut. 14.18 Uhr XXX 16 meldet sich bei Lutz Rathenow. Er hätte gern die Meinung von Rathenow zu den Ereignissen. Der erklärt, dass er überrascht ist. Was es in Leipzig oder Plauen erheblich stärker zu geben scheint, ist hier auch im Wachsen. Von der Straße kommen Leute dazu. Es gibt fast nur Sympathien und es gibt eine ungeheure Brutalität bei der Staatssicherheit. Gerade hörte er von Detlef Opitz einen Erlebnisbericht. Opitz, ein Schriftsteller, wurde zusammengeschlagen. Opitz erlebte schon mehrfach Polizeieinsätze. Aber er war von 13 Jan Faktor (geb. 1951), siedelte 1978 von Prag nach Ost-Berlin zu seiner Ehefrau Annette Simon über, war als Schlosser, Kindergärtner und Übersetzer tätig. War seither auch in der subkulturellen Ostberliner Literaturszene aktiv, veröffentlichte im Samisdat, seit 1988 auch zahlreiche Verlagspublikationen, darunter seit 2006 auch vielbeachtete Romane. 14 Annette Simon (geb. 1952), von 1975 bis 1991 als Psychotherapeutin an einer Ostberliner Nervenklinik; 1989 im »Neuen Forum« aktiv; 10/89 in Polizeigewahrsam; seit 1992 in freier Praxis tätig, seit 1996 als Psychoanalytikerin; daneben freischaffende Autorin. 15 Was damit gemeint war, ließ sich nicht klären. 16 Ein westlicher Journalist.
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Dokument 142 vom 19. September 1988
nichts in seinem Leben so erschrocken wie von dem, was gestern Abend geschah. Rathenow ergeht sich dann in detaillierten Schilderungen (wie sie Opitz gar nicht gab), in denen er die Erlebnisse von Opitz am gestrigen Abend wiedergab. Rathenow selbst sah nur, wie eine männliche Person auf einen Lkw gezerrt wurde. Weiter behauptet er, dass er selbst sah, dass es eine völlig gewaltlose Demonstration war, die ja nicht geplant war und erst durch die Polizei eskaliert wurde. Dabei war es nicht einmal anfangs die Polizei, sondern einzelne »Stasi-Leute«, die sich in den Demonstrationszug eingeschlichen hatten, plötzlich sich auf einzelne Personen stürzten, diese zusammenschlugen, herauszerrten und festnahmen. Es muss mehrere hundert Festnahmen gegeben haben. In den Gefängnissen müssen viele geblutet haben. Das wurde von der Frau des Schriftstellers Jan Faktor, [Annette Simon], bestätigt, die mit ihrem Mann auch über acht Stunden inhaftiert war. Es handelt sich um die »Schwiegertochter« von Christa Wolf, erklärt Rathenow, (wobei er das irrtümlich verwechselt!). 17 Rathenow behauptet weiter, dass sie sah, dass viele in den Gefängnissen bluteten und unzureichend medizinisch betreut wurden. (!) Detlef Opitz sagte wörtlich zu Rathenow, dass er sich wunderte, dass es gestern Abend keinen Toten gab, so brutal ging man auf der Straße gegen die Leute vor. Rathenow ergeht sich weiter in Schilderungen des gestrigen Abends und endet damit, dass, wie er sagt, von mehreren »intelligenten Leuten« bedauert wird, dass sich die Chefs des Neuen Forums aus Berlin allesamt zu theoretischen Tagungen außerhalb der Stadt zusammengezogen haben. Niemand war gestern dort, der dort hätte sprechen können. Lediglich einige Kirchenleute traten auf, die versuchten, dämpfend auf die Leute einzuwirken. 18 Das reicht aber nicht mehr. (!) – Diese Aussage entspringt der Phantasie Rathenows. Es ist zwar mutig, wenn ein Bischof dort abends hingeht, aber die Leute warten dort auf solche Vertreter wie Bärbel Bohley oder andere, damit sie zu ihnen sprechen. Rathenow vergleicht dann mit den Auswirkungen in Plauen und Leipzig. 14.36 Uhr
17 Jan Faktor ist der Schwiegersohn von Christa Wolf. 18 Anwesend waren neben Pfarrer Bernd Albani u. a. Bischof Gottfried Forck, Generalsuperintendent Günter Krusche und Stadtjugendpfarrer Wolfram Hülsemann.
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Dokument 142 vom 8. Oktober 1989
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Gabriele Muschter 19 meldet sich bei Lutz Rathenow. Sie war soeben mit XXX bei der Andacht. Es war dort sehr informativ. 20 U. a. wurde eine Resolution vom Schauspielhaus Dresden verlesen, die sehr gut war. 21 Rathenow soll sich die unbedingt besorgen. Rathenow erklärt, dass in der Zwischenzeit die Umgebung der Gethsemanekirche und die Kirche selbst zum Sperrgebiet für westliche Kameras erklärt wurde. Auch der Alexanderplatz wurde für die westlichen Journalisten gesperrt. Die Muschter berichtet dann, dass in der Kirche ganz detaillierte Informationen gegeben wurden, wann wo welche Demonstrationen gestern stattfanden, wie viel Leute daran teilnahmen, wie viel Leute verhaftet wurden. Dann gab es sehr viele Berichte von Leuten, die dabei waren, aufgeschrieben haben, was sie sahen. Es gab keinen einzigen Bericht, in dem davon die Rede war, dass die 19 Gabriele Muschter (geb. 1946), Kunsthistorikerin, leitete Galerien und war 1990 in der Regierung nach dem 18.3.1990 Staatssekretärin im Kulturministerium. 20 Sie kam aus der Gethsemanekirche. 21 Die Resolution von Mitarbeitern des Staatsschauspiels Dresden vom 6.10.1989 ist dort allabendlich vorgelesen worden. Wie an anderen Bühnen auch, fanden anschließend Diskussionen statt. Neben den Kirchen waren die Theater im Oktober 1989 die zweite Institution, die im ganzen Land Räume zur Verfügung stellte. Die Resolution hatte folgenden Wortlaut: »Wir treten aus unseren Rollen heraus. Die Situation in unserem Land zwingt uns dazu. Ein Land, das seine Jugend nicht halten kann, gefährdet seine Zukunft. Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig. Eine Parteiführung, die ihre Prinzipien nicht mehr auf Brauchbarkeit untersucht, ist zum Untergang verurteilt. Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden. Die Wahrheit muss an den Tag. Unsere Arbeit steckt in diesem Land. Wir lassen uns das Land nicht kaputtmachen. Wir nutzen unsere Tribüne, um zu fordern: Wir haben ein Recht auf Information. Wir haben ein Recht auf Dialog. Wir haben ein Recht auf selbständiges Denken und auf Kreativität. Wir haben ein Recht auf Pluralismus im Denken. Wir haben ein Recht auf Widerspruch. Wir haben ein Recht auf Reisefreiheit. Wir haben ein Recht, unsere staatliche Leitung zu überprüfen. Wir haben ein Recht, neu zu denken. Wir haben ein Recht, uns einzumischen. Wir nutzen unsere Tribüne, um unsere Pflichten zu benennen: Wir haben die Pflicht, zu verlangen, dass Lüge und Schönfärberei aus unseren Medien verschwinden. Wir haben die Pflicht, den Dialog zwischen Volk und Partei- und Staatsführung zu erzwingen. Wir haben die Pflicht, von unserem Staatsapparat und von uns zu verlangen, den Dialog gewaltlos zu führen. Wir haben die Pflicht, das Wort Sozialismus so zu definieren, dass dieser Begriff wieder ein annehmbares Lebensideal für unser Volk wird. Wir haben die Pflicht, von unserer Staats- und Parteiführung zu verlangen, das Vertrauen zur Bevölkerung wiederherzustellen.«
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Dokument 142 vom 19. September 1988
Demonstranten gewalttätig waren. Die Gewalttätigkeit kam immer von den anderen, von den staatlichen Kräften. 19.46 Uhr
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Dokument 143 Telefonate von Lutz Rathenow 8. Oktober 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Günther] Heimann Quelle: BStU, MfS, HA XX/9 297, Bl. 235–237
Christoph Wonneberger meldet sich bei Lutz Rathenow. Er möchte wissen, was mit der Lesung am 15. [Oktober] ist. Rathenow ist an diesem Termin leider schon anderweitig gebunden. Er weiß aber, dass Ekkehard Maaß 1 Interesse hätte. Er gibt die Telefon-Nummer von Maaß an W[onneberger] weiter. Rathenow möchte dann wissen, was es in Leipzig an Neuigkeiten gibt. Wonneberger erklärt, dass im Großen und Ganzen schon zutreffend ist, was die Medien so bringen. Rathenow interessieren vor allem die Zahlen der Teilnehmer an Demonstrationen, die der Zugeführten u. Ä. Wonneberger erklärt, dass die Situation noch unübersichtlich ist. Nach Schätzungen ihrerseits waren es zeitweilig 10 000 Teilnehmer. 2 20.54 Uhr Detlef Opitz meldet sich bei Lutz Rathenow. Er möchte einen Lagebericht durchgeben. Opitz befindet sich Ecke Stargarder [Strasse], Nähe Gethsemanekirche. 3 Im Umkreis der Kirche stehen etwa 5 000 bis 7 000 Polizisten mit gepanzerten Fahrzeugen, Wasserwerfern und Ähnlichem. Die Leute werden jetzt einer nach dem anderen aus der Kirche herausgeholt. 4 Zu dem riesigen Polizeiaufgebot kommen noch Tausende Zivilpolizisten dazu, die aus Bussen herauskommen. Die ganzen Straßen stehen voll. Dagegen war gestern das Ganze nur harmlos. Die Leute stehen in einem Kessel und niemand kann raus. 1 Ekkehard Maaß (geb. 1951), 1979 Exmatrikulation vom Philosophiestudium wegen Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung und seiner Kontakte zu sowjetischen Dissidenten, seitdem freischaffender Übersetzer, Liedermacher und Sänger; organisierte in seiner Wohnung Lesungen und Konzerte. Das MfS verfolgte und bearbeitete ihn im OV »Keller« (BStU, MfS, AOP 1335/89). Vgl. Utz Rachowski: Ekkehard Maaß, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 178– 180. 2 Wahrscheinlich waren es zeitweilig maximal 5 000 Demonstranten am 7.10.1989 in Leipzig. 3 Erinnert sei daran, dass mobile Telefone nicht zur Verfügung standen. Ob er von einem öffentlichen »Münzfernsprecher« oder von einer privaten Wohnung aus telefonierte, ließ sich trotz Nachfragen nicht aufklären. 4 Das war nicht zutreffend.
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Dokument 143 vom 19. September 1988
Von seinem Standpunkt aus kann Opitz nicht alles übersehen und weiß daher nicht, wer sich noch in der Kirche befindet. Dort hat man begonnen, die Glocken zu läuten. Opitz ist total fertig. Rathenow will wissen, wo jetzt geknüppelt wird. Opitz erklärt, dass er das nicht so richtig sehen kann. Am U-Bahnhof 5 stehen Tausende von Leuten (er korrigiert sich, dass er das eigentlich nicht richtig von seinem Standpunkt aus einschätzen kann) isoliert von der Polizei. Er hat richtig Angst, dass die jetzt kaputtgeschlagen werden. Opitz weiß auch nicht, wie alles kam. Ihm ist nur bekannt, dass dort diese Andacht für die Gefangenen stattfand. Jetzt kommt offenbar das Nachspiel. »Offenbar wollen die alle haben!« Er versuchte, privat dort durchzukommen und Freunde von ihm aufzusuchen, die dort in der Nähe wohnen, aber es ist kein Durchkommen. Rathenow bedankt sich bei Opitz für den Bericht. 21.38 Uhr Lutz Rathenow wählt den Anschluss von XXX in WB an. Dort ist der Anrufbeantworter eingeschaltet. Rathenow gibt folgende Meldung durch: »Ich rufe Sonntagabend 21.30 Uhr an. Wenn Du nicht in Ostberlin bist, musst Du unbedingt rüberkommen. Die Schönhauser Allee ist besetzt. Tausende von Polizisten verhaften Hunderte von Leuten. Offenbar wird die [Gethsemane-] Kirche umzingelt und man will alle Leute aus der Kirche herausholen. Also es handelt sich offenbar um eine Sache, die es so noch nicht gegeben hat. Ich kann die Wohnung nicht verlassen und höre so nur Augenzeugenberichte.« Anschließend setzt sich Lutz Rathenow mit dem Korrespondentenbüro von AP in Verbindung und gibt den gleichen Text bzw. Bericht durch. Die das Gespräch entgegennehmende Dame erklärt, dass Ingomar Schwelz bereits im Bereich der Gethsemanekirche ist. Rathenow wählt dann den Anschluss von Albrecht Hinze an, der ebenfalls seinen Anrufbeantworter in Betrieb hat. Rathenow gibt wiederum seinen Bericht über »einen bisher noch nie dagewesenen Polizeieinsatz im Raum Gethsemanekirche, Prenzlauer Berg« durch. Wenn Hinze Genaueres wissen will, kann er bei Detlef Opitz anrufen, der Augenzeuge ist. »Die Leute sind auf dem Bahnhof Dimitroffstraße und Bahnhof Schönhauser Allee 6 eingekesselt. Überall finden Festnahmen statt. Es ist offenbar mit Tausenden von Verletzten zu rechnen.«
5 Der ist nur etwa 200 m entfernt auf der Schönhauser Allee gelegen. 6 U-Bahnhof Dimitroffstr. – heute: U-Bahnhof Eberswalder Str.; U- und S-Bahnhof Schönhauser Allee. Die Bahnhöfe befinden sich unweit der Gethsemanekirche, der zweitgenannte liegt deutlich näher an der Kirche.
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Dokument 143 vom 8. Oktober 1989
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Lutz Rathenow wendet sich dann an Hartwig Heber im ARD-Büro und gibt wiederum seinen Bericht über einen riesigen Polizeieinsatz im Umfeld der Gethsemanekirche. »Die ganze Schönhauser Allee ist blockiert – überall stehen Wasserwerfer, Zivilisten, die Gethsemanekirche hat begonnen zu läuten, offenbar würden dort die Leute herausgeholt, Hunderte von Verhaftungen finden statt und der gesamte Prenzlauer Berg sei ein einziges Polizeilager.« Heber bedankt sich für den Bericht. Er hörte schon davon, dass in der Plesser Straße Ähnliches stattfindet. 7 Rathenow gibt dann die Adresse von Opitz durch und erklärt dazu, dass es sich bei ihm um einen Schriftsteller handelt, der gestern zusammengeschlagen wurde. Lutz Rathenow setzt sich dann mit Jürgen Fuchs in WB in Verbindung. Erst einmal kündigt er für diese Woche einen Brief von sich an, in dem alles steht, was sie letztens beraten haben. Dann berichtet er von einem riesigen Polizeieinsatz im Prenzlauer Berg. Er fordert Fuchs auf, jeden darüber zu informieren, den er nur irgendwie erreichen kann. Leute, die nach Ostberlin rüberkommen können, Diplomaten oder ähnliche Personen, sollen versuchen, herzukommen. Dann berichtet er weiter: »Momentan ist offenbar eine heiße Situation entstanden. Der Prenzlauer Berg ist offenbar von 10 000 bis 20 000 bewaffneten Organen besetzt. Die Leute sind auf dem Bahnhof Dimitroffstraße eingekesselt. Die Gethsemanekirche ist militärisch umstellt. Offenbar scheint es massenhaft Festnahmen und »Zuführungen« und auch Prügeleien zu geben. Ähnliches findet vor der Plesserkirche 8 statt. Alle Straßen sind gesperrt, überall befindet sich Bereitschaftspolizei, Sicherheit, Kampfgruppe, ein nichtabsehbarer militärischer Einsatz, der auf ein absolutes Durchdrehen deutet.« Rathenow schätzt ein, dass man es hier mit der Angst zu tun bekommt und nun denkt, die Sache im Keim ersticken zu müssen. Die Situation ist so, dass nirgendwo mehr als 50 Leute zusammenkommen können, ohne dass sie eingekesselt werden. Es ist deprimierend, wie viele es von diesen Sicherheitskräften gibt, die in verschiedenen Orten der DDR gleichzeitig tätig sein können. Die außenpolitischen Abrüstungsvorschläge der DDR bekommen unter diesem Aspekt einen ganz anderen Blickwinkel. 9 Rathenow lässt sich dann von Fuchs berichten, was für ihn an Post angekommen ist, die sich auf seine berufliche Tätigkeit bezieht. 22.03 Uhr 7 Dort befindet sich die Bekenntniskirche; die Information von Heber war nicht zutreffend. 8 Seltene und ungewöhnliche Bezeichnung für die Bekenntniskirche in der Plesser Str. 9 Lutz Rathenow räumt ein, dass er »wahrscheinlich ohne Rücksicht oder wegen der StasiMithörer einen Hauch dramatisiert habe [ … ], um mehr Berichterstattung zu erwirken« (Mitteilung von Lutz Rathenow am 12.12.2011). Diese Praxis, Nachrichten zu dramatisieren bzw. zu überhöhen, gehörte durchaus zu dem politischen Ansinnen von Lutz Rathenow seit Beginn der 1980er Jahre, um so Aufmerksamkeit im Westen für die Geschehnisse zu erzielen.
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Dokument 144 Telefonate von Werner Fischer 12. Oktober 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, HA XX 23202, Bl. 67–68 Anmerkung: Auf den beiden Dokumentenseiten befindet sich jeweils ein Stempelaufdruck »Ausgewertet«. Außerdem enthält die erste Seite die handschriftliche Information »Einzelinformation gefertigt, 14.10.1989«.
[…] Roland Jahn meldet sich bei Werner Fischer und erkundigt sich, ob er etwas davon gehört hat, dass Siggi 1 festgenommen wurde. Fischer hat davon nichts gehört, aber das ist jetzt auch unwichtig. Fischer fügt an, dass zurzeit 200 Personen inhaftiert sind und was dort alles passiert, da ist ihm das ganz egal, ob ein Siggi mal einige Stunden verschwunden ist. […] Fischer macht deutlich, dass sich hier nichts bewegen wird, bevor die Leute nicht entlassen sind. »Es gab sehr viele Verbrechen in den Bunkern, wo sich der uniformierte Mob ausgetobt hat. Sie haben über 100 Berichte, die sie am Wochenende herausgeben werden.« 2 Jahn wirft ein, dass in der »Süddeutschen [Zeitung]« heute steht, dass [Kurt] Hager sich für Reformen einsetzt 3 und diesen Äußerungen muss etwas 1 Es handelt sich um Siegbert Schefke. 2 In Ost-Berlin wurden am 23.10.1989 auf einer Pressekonferenz (der ersten überhaupt!) der Opposition, vertreten u. a. durch Werner Fischer, Marianne Birthler, Walter Schilling (1930–2013), Reinhard Schult, Christoph Singelnstein, Reinhard Weißhuhn, Gedächtnisprotokolle über die Erlebnisse bei den »Zuführungen« und Festnahmen vorgestellt. Manfred Stolpe hatte bis zuletzt versucht, dies zu verhindern (vgl. Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. 2., durchges., erw. u. korrig. Aufl., Berlin 2000, S. 866). Vorgestellt wurde: Ich zeige an. Berichte von Betroffenen zu den Ereignissen am 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin. Berlin 1989 (Samisdat). Vgl. auch Gedächtnisprotokolle 7. und 9. Oktober 1989. Berlin, Leipzig, Dresden. Berlin 1990; Und diese verdammte Ohnmacht. Report der unabhängigen Untersuchungskommission zu den Ereignissen vom 7./8. Oktober in Berlin. Berlin 1991. 3 Am 11.10.1989 wurde ein in Moskau geführtes Interview mit Kurt Hager bekannt, in dem er sich vorsichtig für »Erneuerungen« aussprach. Er sagte u. a., dass eine »aktivere Einbeziehung der Bevölkerung in die Lösung gesellschaftlich bedeutsamer Probleme und eine Verbesserung der Informationspolitik in der DDR« notwendig seien. Das haben am 12.10.1989 viele bundesdeutsche Medien aufgegriffen (z. B. Es brodelt in der DDR: Tritt Honecker ab?, in: taz vom 12.10.1989; in der Dokumentation des Presseamtes der Bundesregierung: Deutschland 1989. Bonn 1990, Teil 3, findet sich ein längerer Auszug des Interviews, wie es Radio Moskau ausstrahlte). Am 12.10.1989 relativierte Hager dies in Interviews mit dem DDR-Fernsehen und dem ZDF gleich wieder. Im DDR-Fernsehen erklärte er, die SED bleibe auf ihrem Kurs und für ein gesellschaftliches Gespräch gebe es genügend vorhandene Organisationen (Sozialismus in der DDR wird weiter erstarken, in: ND vom 13.10.1989). Im ZDF sagte er, es könne nur mit Leuten ein »Dialog« geführt werden, die die beste-
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Dokument 144 vom 12. Oktober 1989
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entgegengesetzt werden. Fischer meint, dass er die Ratschläge von Jahn nicht benötigt und auch gar keine Zeit hat. Er ist heute am Telefon zu erreichen. Jahn schätzt ein, dass sich Bärbel Bohley mit ihren Interviews auf »Nebenschauplätzen« bewegt. 12.55 Uhr Eine Dame von den »Tagesthemen« von Hamburg meldet sich bei Werner Fischer und erkundigt sich, ob er etwas zu der Erklärung der SED 4 sagen könnte, sie wollen heute Abend eine Sendung gestalten. Fischer erklärt, dass sie angekündigt haben, dass sie sich an die Weltöffentlichkeit wenden, wenn bis zum Wochenende nicht alle Inhaftierten entlassen sind. Sie werden heute Abend in der Gethsemanekirche dazu auffordern, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen öffentlich benannt und bestraft werden. »Das ist beispielsweise das Politbüro und es geht einfach, schlicht und ergreifend darum, nicht hier zu reformeln und sich nicht auf die Aussagen eines Hagers einzulassen, sondern es geht darum, die angemaßte Führungsrolle der Partei zu beseitigen.« Seine Gesprächspartnerin fragt, ob man die Erklärung ernst nehmen müsse. Fischer sagt wieder wörtlich »man sollte sie nicht beiseite schieben, man sollte sie schon ernst nehmen. Wir sind ja nicht auf Konfrontation aus, aber ich kann mir beileibe einen Kurt Hager als Gesprächspartner nicht vorstellen. Wir reden mit Leuten, die kein Blut an den Händen haben«. Seine Gesprächspartnerin möchte die Zielstellung von Fischer erfahren. Dieser erklärt wieder wörtlich, »das wären natürlich Gespräche, schon mit Leuten aus dem Zentralkomitee, aber nicht in der Form, dass wir uns bitten lassen oder man uns gnädiger Weise das Ohr neigt, nun könne man mit ihnen sprechen, sondern die haben gefälligst zu uns zu kommen.« Seine Gesprächspartnerin fragt, ob er es sich vorbehalten würde, nur mit bestimmten Leuten zu sprechen. Fischer entgegnet: »ja, natürlich, also nicht mit den Leuten die tatsächlich Leichen im Keller haben«. Er könnte sich vorstellen, mit [Günter] Schabowski 5 zu reden. Seine Gesprächspartnerin schlägt vor, dass sie hende Gesellschaftsordnung in der DDR anerkennen. Hager sagte zudem, was in diesen Tagen weiter zur Lähmung der SED beitrug, seine Partei, die SED, habe den »Dialog« erfunden (In der DDR beginnt’s Gezerre um den Dialog, in: taz vom 14.10.1989). 4 Am Dienstag und Mittwoch (10./11.10.1989) tagte das SED-Politbüro. Am Abend des 11.10.1989 verbreiteten die DDR-Nachrichten eine offizielle Erklärung. Eine Passage ließ aufhorchen: »Der Sozialismus braucht jeden. Er hat Platz und Perspektive für alle. Er ist die Zukunft der heranwachsenden Generationen. Gerade deshalb lässt es uns nicht gleichgültig, wenn sich Menschen, die hier arbeiteten und lebten, von unserer Deutschen Demokratischen Republik losgesagt haben.« Dies war die implizite Zurücknahme des »Tränen-Satzes« vom 2.10.1989 (siehe Dok. 134, Anm. 6). Die SED-Führung erklärte weiter, sie würde auch weiterhin gegen konterrevolutionäre Bestrebungen vorgehen und sich nicht erpressen lassen (ND vom 12.10.1989). 5 Der war seit 1985 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin.
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Dokument 144 vom 19. September 1988
sich ab 21.00 Uhr im Kontakttelefon melden wird. Fischer stellt richtig, dass er ab 21.00 Uhr wieder zu Hause ist und er möchte, dass sein Gespräch aufgezeichnet wird, er möchte nicht um 22.30 Uhr zur Live-Sendung sprechen. Die Fragestellungen werden so sein, wie eben. 6 13.26 Uhr
6 Das Interview wurde von Hanns Joachim Friedrichs geführt und abends in den »Tagesthemen« ausgestrahlt.
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Dokument 145 Telefongespräch zwischen Bärbel Bohley und Wolf Biermann 1 24. Oktober 1989 Deutschlandfunk Quelle: BStU, MfS, ZAIG/Ka 509 2
Wolf Biermann: Mein Herz schlägt mir bis zum Hals hoch, bei alldem, was jetzt bei Euch passiert. Es ist ja alles meine eigene Sache, die dort verhandelt wird. Und ich bin voll großer Freude und Bewunderung über das, was jetzt passiert und, da ich aber nicht eine Eintagsfliege bin, bin ich auch voll großer Skepsis, die ja leider auch begründet ist. Es ist im Grunde wie immer: Große Skepsis und große Hoffnung; beides in einer kleinen Menschenbrust. Und diesen Widerspruch muss man eben aushalten. Und ich glaube, Euch geht es im Grunde nicht so ganz anders. Bärbel Bohley: Du, eigentlich geht’s mir wirklich ganz schön viel anders, weil ... Wolf Biermann: Ja? Bärbel Bohley: Ja! Ich habe natürlich genau in dieselben Leute, in die Du das Misstrauen hast – die kann ich Dir eindeutig äußern –, habe ich das auch. Aber weißt Du, wenn 300 Leute auf die Straße gehen, in die habe ich ein ganz großes Vertrauen, dass die sich nicht – ja – totreden lassen, dass die eigentlich ganz genau wissen, was Dialog ist. Und dass der nicht auf Knopfdruck herzustellen ist, dass sich so was entwickeln muss und dass dazu Selbstkritik gehört und dass dazu gehört, dass Du auf unserer Demo am 4. [November] singen kannst ... 3 Wolf Biermann: Na Du hast ja tolle Pläne! Bärbel Bohley: Ja, haben wir. Wolf Biermann: Meinst Du, das ist möglich? Bärbel Bohley: Wenn ... Wolf Biermann: Meinst Du wirklich? Bärbel Bohley: … das hinhauen sollte und wenn Selbstkritik da sein sollte, dann muss das möglich sein, dass Du hier für uns singst. Dann singst Du für 1 Das Gespräch wurde morgens kurz nach 6.00 Uhr live ausgestrahlt. Zahlreiche bundesdeutsche Radiosender übernahmen es und strahlten es im Laufe des Tages ebenfalls aus, so etwa der SFB. 2 Die Abschrift erfolgte nach diesem Mitschnitt. Das Gespräch ist auch enthalten auf: »Biermann sagte im Deutschlandfunk«. Interviews aus 25 Jahren. Deutschlandfunk, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, Köln 2001 (CD, Track 6). 3 Gemeint ist die Demonstration am 4.11.1989 auf dem Ostberliner Alexanderplatz. Vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 446–453; Hans Rübesame (Hg.): Antrag auf Demonstration. Die Protestversammlung im Deutschen Theater am 15. Oktober 1989. Berlin 2010.
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Dokument 145 vom 19. September 1988
uns alle. Und ansonsten wissen die ganz genau, dass Du nicht für sie singst. Wolf Biermann: Ach Mensch, Bärbel, mach’ mir nicht den Mund wässrig. Bärbel Bohley: Doch wir möchten ... Wolf Biermann: Ich möchte so, so gerne bei Euch sein und und und singen oder Handstand machen, das ist mir egal. Auf jeden Fall bei Euch sein. Bärbel Bohley: Na, das weiß ich ... Wolf Biermann: Klar Mensch. Dann bring ich meine, meine schöne alte Weißgerbergitarre aus Markneukirchen mit, auf der ich ja immer noch spiele ... Bärbel Bohley: Ja. Wolf Biermann: Na ja. Bärbel Bohley: Am 4., Wolf! Wolf Biermann: Am 4. Was, jetzt am 4.? Bärbel Bohley: Um zehn. Lade ich dich jetzt hier ... Wolf Biermann: Oh, Ihr Verrückten, Ihr wunderbar Verrückten. Ich, ich will das gerne, natürlich! Bärbel Bohley: Also, Du musst kommen! Wolf Biermann: (lacht) Bärbel Bohley: Es ist auch Zeit zum Leben, vielleicht langsam. Wolf Biermann: Ach Mensch, Du. Man kann’s überhaupt nicht glauben, dass man darüber überhaupt nachdenken darf ... Bärbel Bohley: Doch, darf ... Wolf Biermann: ... aber es ist ja wahr. Bärbel Bohley: Weißt Du, darüber muss man nämlich nachdenken, ansonsten ist alles wirklich nur Geschwätz. Es gibt ’n paar Punkte, glaube ich, die sehr, sehr wichtig sind. Und das sind die weißen Flecken. Und Du bist auch so’n weißer Fleck. Und dazu gehört dann eben nicht, dass es nur heißt: »Ja, wir haben Fehler gemacht, in guter Absicht.« Dazu gehört, dass man diesen Fehler in voller Absicht wieder so gut es möglich ist revidiert. Und dazu gehört einfach, dass Du hier singst, das ist doch völlig klar. Wolf Biermann: Au, man, man. Weißt Du, das ist wirklich verrückt. Wir, wir alle hoffen darauf, dass Menschen sich ändern, und dass wir selber uns auch noch ändern und das in der Eile nicht vergessen. Also, ich, ich sehe das mit, mit großer Skepsis, mit welcher Wendigkeit zum Beispiel so einer wie Kurt Hager plötzlich sich als Reformer spreizt. Und im, im, im Herzen wünsch’ ich ja: wäre es nur wahr, wäre es nur! Und, und dann denke ich wieder, das kann der doch gar nicht, der. Oder der [Egon] Krenz da, Euer, der jetzt da Euer neuer Oberathlet ist. Bärbel Bohley: Weißt Du, ich denke, dass die nicht mehr das Kriterium sind und das ist eigentlich das, was, ja, na ja, was eigentlich irgendwie das Wichtige ist. Wolf Biermann: Ja, aber sie haben doch die …
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Dokument 145 vom 24. Oktober 1989
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Bärbel Bohley: Die andern haben sich geändert, die auf die Straße gehen, versteh’ das doch mal! Wolf Biermann: Ja. Bärbel Bohley: 300 000 Leute auf der Straße, 4 die haben sich geändert, die immer geschwiegen haben und – Du kennst das alles: An Biertischen hat jeder seine Meinung gesagt. Wolf Biermann: Ja. Bärbel Bohley: Aber die sagen es auf der Straße und das ist die Änderung. Wolf Biermann: Bärbel, das ist wie ein Wunder. Bärbel Bohley: Ja, das is’n Wunder und wir erleben das jetzt hier, dieses Wunder, und deshalb gibt’s vielleicht noch mehr Wunder. Wolf Biermann: Na hoffentlich wundern wir uns nicht, wenn, wenn die Panzer Hackfleisch machen auf dem Friedensplatz. Bärbel Bohley: Ja. Wolf Biermann: Davor habe ich auch Angst, Bärbel. Bärbel Bohley: Ja, wir auch. Wolf Biermann: Und diese Angst ist ja leider begründet. Bärbel Bohley: Die ist sehr begründet. Wolf Biermann: Weißt Du, denn dann wird sich zeigen, dass diese alten Verbrecher sagen: »Wir haben nur einen kleinen Anlauf genommen in die Liberalität ... Bärbel Bohley: Ja, ja. Wolf Biermann: ... damit wir Euch besser platt machen können.« Aber ob sie das können, das hängt natürlich zum Glück nicht nur von ihnen ab, sondern von den Menschen, die jetzt auf der Straße sind. Bärbel Bohley: Ja. Wolf Biermann: Und aber auch von der Sowjetunion. Also das ist doch klar wie Kloßbrühe: Ohne die Änderung in der Sowjetunion, ohne dass die sowjetischen Panzer nicht mehr im Hintergrund stehen – [Michail S.] Gorbatschow hat’s, glaube ich, doch selber gesagt, ne? Bärbel Bohley: Ja. Wolf Biermann: Im Falle einer Konfliktsituation werden wir nicht wieder den Schweinehund, den Blut-, den Mörder machen. Wie heißt das Ding: Bluthund machen, hat [Gustav] Noske 5 gesagt. 4 In Leipzig sollen am 23.10.1989 bis zu 300 000 Menschen demonstriert haben. 5 SPD-Politiker (1868–1946), SPD 1884, 1918 Volksbeauftragter für Heer und Marine, 1919–1920 erster sozialdemokratischer Reichswehrminister, u. a. verantwortlich für die Niederschlagung des »Spartakusaufstandes« (Januar 1919), der »Berliner Märzkämpfe« (1919) und anderer lokaler Aufstände. In seinen Memoiren schreibt er, wie die Niederschlagung der »Berliner Märzkämpfe« beschlossen wurde und er schließlich selbst die Verantwortung mit den Worten übernahm: »Meinetwegen! Einer muss den Bluthund machen! Ich scheue die Verantwortung nicht!« (Gustav Noske: Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution. Berlin 1920, S. 68). Sein Beiname »Blut-
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Bärbel Bohley: Aber weißt Du, Wolf, was auch [ein] ganz tolles Gefühl ist? Dass man jetzt hier sitzt und denkt: Und wenn alles schief geht und die schmeißen Dich raus – mein Gott, dann gehste vielleicht mal nach Warschau oder nach Budapest. Wolf Biermann: Ja. Bärbel Bohley: Du musst nicht nach Hamburg gehen, verstehst Du? Wolf Biermann: Ach das, daran, – das habe ich auch gedacht, vor 13 Jahren; hab’ ich gedacht: wenn ich doch wenigstens in den Osten ausgebürgert werde. Dann komm’ ich zwar in ein Land, dessen Sprache ich noch nicht kann – und das ist für’n Schriftsteller schwer ... Bärbel Bohley: Aber das ... Wolf Biermann: ... aber in eine Gesellschaft, die ich kenne. Bärbel Bohley: Ja. (Beide lachen) Bärbel Bohley: Also das [ist] alles wirklich ganz hoffnungsvoll. Nachsatz der Herausgeber Am Abend des 24. Oktober war Bärbel Bohley erstmals im DDR-Fernsehen zu sehen. Nach einem Konzert »Hierbleiber für Hierbleiber« im Ostberliner »Haus der Jungen Talente« vor etwa 400 geladenen Gästen kam es zu einer vom DDRFernsehen (elf99) live übertragenen Diskussionsrunde u. a. mit Bärbel Bohley, MfS-General a. D. Markus Wolf, Stefan Heym, Jens Reich, Christoph Hein, Michael Brie 6 und Kulturstaatssekretär Dietmar Keller 7. Am 26. Oktober 1989 hund« oder »Blutnoske« ist seither von seinen Gegnern für ihn benutzt worden. Nach dem rechten Kapp-Lüttwitz-Putsch wurde er zum Rücktritt gezwungen. Nach dem 20.7.1944 ist er als Mitverschwörer verhaftet und bis 25.4.1945 in Lagern, KZ und Gefängnissen eingesperrt worden. Zur Biografie vgl. Wolfram Wette: Gustav Noske. Eine politische Biographie. Düsseldorf 1987. 6 Michael Brie (geb. 1954), SED, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sektion MarxismusLeninismus der HUB und des Hochschulministeriums; war seit 1977 als IM des MfS erfasst, legte diese Zusammenarbeit 1990 selbst offen; arbeitete seit Mitte der 1980er Jahre in der Forschungsgruppe »Konzeption eines modernen Sozialismus« mit, die im Herbst 1989 mit ihren Papieren kurzzeitig im öffentlichen Fokus stand. Von deren Mitarbeitern sind später eine ganze Reihe von Erklärungsund Verteidigungsschriften publiziert worden. Vgl. exemplarisch Rainer Land: Waren die Reformsozialisten verhinderte Sozialdemokraten?, in: Die real-existierende postsozialistische Gesellschaft. Chancen und Hindernisse für eine demokratische politische Kultur. Berlin 1994, S. 233–248; ders.: Reformbewegungen in der SED in den 80er Jahren. Möglichkeiten und Grenzen, in: Detlef Pollack, Dieter Rink (Hg.): Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970– 1989. Frankfurt/M., New York 1997, S. 129–144; ders., Ralf Possekel: Fremde Welten. Die gegensätzliche Deutung der DDR durch SED-Reformer und Bürgerbewegung in den 80er Jahren. Berlin 1998; Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin 1999, S. 305–340; Dieter Segert: Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR. Wien, Köln, Weimar 2008. Zu den »SED-Reformern« siehe in einer anderen Perspektive hingegen Kowalczuk: Endspiel, S. 311–317. 7 Zu Dietmar Keller (geb. 1942), der im November 1989 noch DDR-Kulturminister wurde, siehe die sehr lesenswerte Autobiografie: In den Mühlen der Ebene. Unzeitgemäße Erinnerungen.
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Dokument 145 vom 24. Oktober 1989
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erschien dann im SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« ein Kommentar von Werner Micke, stellvertretender Chefredakteur, unter der Überschrift »Schmutz am Telefon« zu dem Gespräch zwischen Biermann und Bohley. Darin hieß es: »Da dieser private Dialog aber über den Äther in die Öffentlichkeit transportiert wurde, ist ein entschiedener Einspruch gegen das hetzerische Moment in den Äußerungen Biermanns notwendig, da seine Gesprächspartnerin einen solchen nicht erhoben hat. ›Alte Schweinehunde‹ war noch die mildeste Bezeichnung für jene Menschen, die sich der komplizierten Aufgabe stellen, eine Wende zum Positiven in unserem Lande herbeizuführen. Und das noch an dem Tage, an dem in Berlin ein neuer Vorsitzender des Staatsrates gewählt wurde. Festzustellen bleibt, dass dies auf keinen Fall die Art des Dialogs ist, wie ihn unser Land und seine Bürger jetzt brauchen. Bestenfalls eignet sich solches Vokabular für die Aufheizung von Leuten, die Pflastersteine werfen und Scheiben zertrümmern. Von einem, der darauf aus ist, sollte man Abstand halten. Für eine Einladung zum Dialog sollte ein Minimum von Toleranz und Achtung für den Partner Voraussetzung sein.« Einen Tag später folgte ein weiterer Kommentar, der die Überschrift trug: »Auskunft über Biermann«. Wie im ersten Kommentar enthielt auch dieser wieder ein angebliches Wortzitat von Biermann, das dieser gar nicht so gesagt hatte. Und weiter hieß es: »Wenn einer ständig von Kultur des ›Dialogs‹ redet wider Sitte und Anstand darunter das Schmeißen mit solchem Dreck versteht, ist er bei uns völlig fehl am Platze. Mit welchem Recht, so fragen wir deshalb noch einmal, lädt Frau Bohley so etwas in die DDR ein.« Bärbel Bohley schrieb an das »Neue Deutschland« einen Leserbrief, der nicht veröffentlicht wurde. Sie und andere Mitglieder des »Neuen Forums« verteilten diesen Brief als Flugblatt auf der Demonstration vom 4.11.1989. 8 Es trug die Überschrift: »Eine Auskunft über Biermann!«: »Ich wurde gefragt: ›Welches Recht hat Frau Bohley, so etwas in die DDR einzuladen?‹ (ND 27.10. 1989, S. 2) Ich habe Wolf Biermann eingeladen, weil er das Recht hat, dass das Unrecht von 1976 wiedergutgemacht wird. Der damalige Beschluss des Politbüros wird heute, wie ich hörte, als Fehler angesehen. Und Fehler müssen zugegeben werden, wenn die ›Wende’ glaubwürdig sein soll. Biermann ist ein Dichter und kein Politiker, und seine Sprache ist entstanden aus seinen Erfahrungen. Ich verstehe wahrscheinlich seine Sprache deshalb so gut, weil ich auch schlechte Erfahrungen in unserem Land gemacht habe. Wenn Biermann Veränderungen bei uns miterleben könnte, würde sich vielleicht auch seine Sprache ändern. Er hat 1980 ein Gedicht geschrieben, aus dem ich eine Strophe zitiere: Wenn die neue Zeit mal nicht mehr/ Bloß auf roten Pappen steht/ Wenn es eines wirklich schönen/ Tages drüben besser geht/ – du, dann wirds mir hier im Westen/ Sehr gemischt und elend gehen/ Wie so viele, die Berlin 2012. Außerdem aufschlussreich Rainer Eppelmann, Dietmar Keller: Zwei deutsche Sichten. Ein Dialog auf gleicher Augenhöhe. Bad Honnef 2000. 8 Freundliche Information von Tina Krone am 9.9.2011.
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von drüben/ Kamen, werd ich alt aussehn/ – alt und froh./ Ich werde stammeln:/ Das, wofür ich dort gestritten,/ Jetzt wirds Wahrheit?/ Ja, ich habe/ All das nicht umsonst gelitten/ Meine Leute sind das, die da/ Jetzt in Leipzig und in Dresden/ Ungeniert die Wahrheit sagen/ Und das sind auch meine alten/ Treuen Feinde, die jetzt zittern/ – denen gehts jetzt an den Kragen! 9 Wären nicht die ›alten treuen Feinde’ verpflichtet, Biermann einzuladen, um ihn zu überzeugen, dass sie seine ›neuen Freunde’ sind? Bärbel Bohley.« 10 Wolf Biermann schickte seinen richtigen Freunden am 27. Oktober ein Lied, das umgehend verbreitet wurde. Darin hieß es: »Das Schlimmste war nicht an unsren Tyrannen/ die rotgetünchte Tyrannei/ Das Schlimmste waren dabei wir selber/ all unsre Feigheit und Kriecherei. (…) Wir wolln Gerechtigkeit und keine Rache/ (…) Ihr müsst Euch nicht, ihr verdorbenen Greise/ nun plötzlich Asche streuen auf das Haupt/ Bloß lernt es ertragen, wenn wir noch leise/ An Eurer Wende zweifeln. Es glaubt/ kein Aas, wenn ihr schöne Worte drechselt/ Wir geben Euch einen alten Rat:/ Der Worte sind nun genug gewechselt/ Was zählt, ist nur die gute Tat.« 11 Am 4. November 1989 vormittags versuchte Biermann in Begleitung von Ralf Hirsch über die Grenzübergangsstelle Friedrichstraße nach Ost-Berlin einzureisen, wo beide abgewiesen wurden. Biermann meinte gegenüber anwesenden Fernsehjournalisten, und damit stellvertretend auch für andere ausgebürgerte Bürgerrechtler wie Jahn oder Fuchs sprechend, die Umgestaltung in der DDR könne erst glaubhaft werden, wenn seine Freunde und er zurück könnten, um sich in den Reformprozess einzubringen. Noch am 17. November bestätigte die MfSFührung die gegen Biermann, Jahn, Fuchs und Hirsch bestehende Einreisesperre in die DDR. Hirsch und Jahn waren aber bereits in der Nacht des Mauerfalls nach Ost-Berlin gegangen. Jahn blieb bis 13. November in Ost-Berlin, Jena und Leipzig. Am 1. Dezember gab dann Biermann erstmals wieder in der DDR ein – von Bürgerrechtlern privat organisiertes – Konzert in einer Leipziger Messehalle vor mehreren Tausenden begeisterten Zuhörern. Ihn begleiteten seine hochschwangere Ehefrau Pamela sowie Roland Jahn, Lilo und Jürgen Fuchs.
9 Aus dem Gedicht »À Paris«, abgedruckt in: Wolf Biermann: Alle Gedichte. Köln 1995, S. 84 (hier mit dem Entstehungsjahr 1981 vermerkt). 10 Erstmals abgedruckt in: Die ersten Texte des Neuen Forum. 9.9.–18.12.1989. Berlin, Januar 1990, S. 16. 11 Aus dem Lied »Ich hatte es auch schon halb vergessen«, abgedruckt in: Wolf Biermann: Alle Lieder. 2. Aufl., Köln 1991, S. 426–427, enthalten auf der 1990 erschienenen LP »Gut Kirschenessen«. Erstmals abgedruckt wurde es in: taz vom 4.11.1989.
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Dokument 146 Aktivitäten einer Mitbegründerin des »Neuen Forums« 28. Oktober 1989 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/9 Quelle: BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 17, Bl. 70–72
Durch den Einsatz inoffizieller Quellen 1 gelangten zuverlässige Hinweise zu Aktivitäten der Mitbegründerin des »Neuen Forums« Bohley, Bärbel zur Kenntnis. Die Bohley setzte in den Abendstunden des 27. Oktober 1989 den aus der DDR ausgebürgerten Biermann, Wolf von einem Vorhaben in Kenntnis, das eine Reaktion auf die Meldungen der DDR-Medien über die Einladung Biermanns durch die Bohley zu der für den 4. November 1989 in der DDR-Hauptstadt geplanten Manifestation der Kulturschaffenden darstellt. 2 Nach eigenen Angaben will sich die Bohley mit einem Brief an das »Neue Deutschland« wenden, dem sie ein Gedicht von Biermann beilegen und in dem sie dessen offizielle Einladung als Beweis für den allgemein beteuerten Willen zur Veränderung fordert. Für dieses Vorhaben holte sie das Einverständnis Biermanns ein. 3 Biermann äußerte in diesem Zusammenhang, dass er – auch wenn er keine offizielle Einladung erhalte – versuchen wolle, am 4. November 1989 in die DDR einzureisen. Möglicherweise sei bis dahin eine Entwicklung zu seinen Gunsten eingetreten, ansonsten nehme er die Wahrscheinlichkeit einer Zurückweisung in Kauf. Die Bohley bestärkte Biermann in dieser Haltung. Man müsse den Versuch ja nicht vorher an die große Glocke hängen. Bei dieser Gelegenheit stellte Biermann der Bohley auch sein neuestes Lied vor, das seine Reaktion auf die Entwicklung widerspiegelt (wird als Anlage im Wortlaut wiedergegeben). Die Bohley begrüßte dieses Lied und forderte Biermann auf, es über die westlichen Medien auch der DDR-Bevölkerung zugänglich zu machen. Darüber hinaus sollte er den Text auch an einen Ralf, vermutlich Hirsch, Ralf, weiterleiten. Auf Anfrage Biermanns bestätigte die Bohley, dass ein Brief Biermanns bei einer Katja, vermutlich Havemann, Katja, angekommen sei. Sie bat Biermann darum, diesen Brief im Sinne des Neuen Forums verwenden zu dürfen. 4 Bezug 1 2 3 4 in dem
Es handelte sich um eine Telefonabhörmaßnahme. Siehe Dok. 145. Ebenda. Wolf Biermann schrieb mit Datum vom 14.10.1989 an Katja Havemann einen langen Brief, er über die politischen Ereignisse in der DDR und Europa reflektierte. Dieser äußerst lesens-
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Dokument 146 vom 19. September 1988
nehmend auf ihre Teilnahme an der Podiumsdiskussion im Haus der Jungen Talente in Berlin 5 erklärte die Bohley, die Tatsache, dass überall mehr als ausführlich über notwendige Veränderungen geredet werde, verstärkte in ihr den Verdacht, dass es mit diesen Veränderungen gar nicht so ernst gemeint sei. Man müsse dafür sorgen, dass aus dem Spiel langsam Ernst werde. Die Bohley vereinbarte mit Biermann, sich in der Woche vom 30. Oktober bis 4. November 1989 erneut mit ihm in Verbindung zu setzen und ihn über den Stand bezüglich seiner Einreise in die DDR zu unterrichten. 6 Bemerkung: Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz erforderlich. Anlage 1 Liedtext 7 1. Wir hatten es wohl schon halb vergessen, dass sich unsere kleine Erde dreht, wir hatten die Lüge schon gefressen, dass nie mehr im Osten die Sonne aufgeht. Wir hatten uns schon abgefunden und ganz vergessen was Zukunft war, wir haben uns mit unseren Bonzen geschunden, wie ein altes verbiestertes Ehepaar. Refrain: Nun atmen wir wieder, wir weinen und lachen, die faule Traurigkeit ist raus aus der Brust, Mensch, wir sind stärker als Ratten und Drachen, werte Brief endete mit dem Satz: »Wie wäre es, wenn ich am 16. November 89 in der GethsemaneKirche singe. Ich finde 13 Jahre sind genug.« Der Brief ist abgedruckt in: Wolf Biermann: Sehr geehrter Genosse Honecker, sehr geehrter Dr. Kohl, liebe Katja … Fünf Briefe aus gegebenen Anlässen. Frankfurt/M. 2006, S. 32–40, hier 40. 5 Am Abend des 24.10.1989 war Bärbel Bohley erstmals im DDR-Fernsehen zu sehen. Nach einem Konzert »Hierbleiber für Hierbleiber« im Ostberliner »Haus der Jungen Talente« vor etwa 400 geladenen Gästen kam es zu einer vom DDR-Fernsehen (elf99) live übertragenen Diskussionsrunde u. a. mit Bärbel Bohley, MfS-General a. D. Markus Wolf, Stefan Heym, Jens Reich, Christoph Hein, Michael Brie und Kulturstaatssekretär Dietmar Keller. 6 Siehe Dok. 145. 7 »Ich hatte es auch schon halb vergessen«, abgedruckt in: Wolf Biermann: Alle Lieder. 2. Aufl., Köln 1991, S. 426–427, enthalten auf der 1990 erschienenen LP »Gut Kirschenessen«. Der dort wiedergegebene Text weicht leicht von dem hier abgedruckten ab.
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Dokument 146 vom 28. Oktober 1989
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und hatten es vergessen und immer gewusst. 2. Das Schlimmste war nicht an unseren Tyrannen die rotgetünchte Tyrannei, das Schlimmste dabei waren wir selber, all unsere Feigheit und Kriecherei und dass wir auch selber das Übel waren, gerade das ist die Chance und unser Glück, ihr seht, es geht, wir holen uns auch nun selber die ewigen Menschenrechte zurück. Refrain: Nun atmen wir wieder … 3. Habt keine Angst, ihr Herren da oben, auch ihr dürft wieder Menschen sein, wir drehen den Spieß nicht um und schlagen euch nicht die falschen Fressen ein. Lasst uns gemeinsam Wege finden, es geht nur so und anders nicht, wir wollen Gerechtigkeit und nicht Rache, wir zerren euch vor kein Weltgericht. Refrain: Nun atmen wir wieder … 4. Ihr müsst euch nicht, ihr verdorbenen Greise, nicht plötzlich Asche streuen aufs Haupt, bloß lernt es ertragen, wenn wir noch leise an eurer Wende zweifeln, es glaubt kein Aas, wenn ihr schöne Worte drechselt, wir geben euch einen alten Rat, der Worte sind nun genug gewechselt, was zählt ist nur eure gute Tat. Refrain: Nun atmen wir wieder …
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Dokument 147 Telefonat zwischen Marianne Birthler und Wolfram Hülsemann 3. November 1989 Von: MfS, Abt. 26/6 An: MfS, HA XX/4, Leiter [Joachim Wiegand] 1 Quelle: BStU, MfS, HA XX/4 3502, Bl. 14–16
Marianne Birthler, die sich am Kontakttelefon aufhält, nimmt Verbindung auf zu Wolfram Hülsemann, Samariterstr. 27, Berlin 1035. Marianne B[irthler] berichtet, dass »jede Menge« Personen, die wegen versuchter Republikflucht in Haft waren, entlassen werden und jetzt in das Kontaktbüro kommen würden. (Ihren Angaben zufolge waren es gestern eine und heute bis jetzt vier Personen, die in das Kontaktbüro kamen.) Marianne B[irthler] teilt mit, dass sich diese Personen teilweise in einer sehr desolaten Situation befinden. Einer Person, die sich im Nebenraum aufhält, haben sie die ganze Wohnung ausgeräumt. Bei einer anderen Person wurde ganz viel gestohlen, deren Arbeitsstelle 2 ist nicht mehr da und bei der Kriminalpolizei dachten sie, dass sie schon längst im Westen seien und nun tauchen sie hier plötzlich wieder auf, ohne dass man ihnen irgendetwas gesagt hätte. 3 1 Joachim Wiegand (geb. 1932), Landwirtschaftsgehilfe, Traktorist; SED 1955; seit 1952 Mitarbeiter im MfS, u. a. 1954 KD Rostock, 1958 stellv. Leiter der KD Ribnitz-Damgarten, 1959 Referatsleiter in der Abt. II der BV Rostock; 1966 stellv. Referatsleiter in der HA XX/4; 1970–1976 Fernstudium an der JHS zum Diplom-Jurist; 1971 Referatsleiter in der HA XX/4; 1975 stellv. Abteilungsleiter und ab 1979 Abteilungsleiter der HA XX/4; 1985 Beförderung zum Oberst; Entlassung zum 31.3.1990. 2 Gemeint ist hier der individuelle Arbeitsplatz; nicht die Institution. 3 Am 5.10.1989 veröffentlichten DDR-Tageszeitungen den ADN-Beitrag: »Wohnungen ehemaliger DDR-Bürger werden umgehend neu vergeben« (z. B. ND, Berliner Zeitung, Neue Zeit). Es wurde vermeldet, dass den »örtlichen Organen anheim gestellt« werde, »frei gewordene Wohnungen umgehend an neue Mieter, die daran Interesse haben, zu übergeben«. Innerhalb des MfS ist vermerkt worden, dass diese Information »mit keinem leitenden Mitarbeiter des Magistrats von Berlin abgestimmt« worden sei (es galt bislang die Regel, dass erst nach vorläufiger Einstellung eines EV nach § 213 StGB die Wohnung den zuständigen Stellen übergeben wird: BStU, MfS, Sekr. Mittig 42, Bl. 22–24). »Mit Arbeitsbeginn des heutigen Tages verlangen Bürger diese Wohnungen. Bei Abweisungen werden Mitarbeiter beleidigt und beschimpft.« Es wurden zusätzliche »Kräfte des MdI« in die Abt. Wohnungspolitik abgeordnet, »um Ausschreitungen von Bürgern zu verhindern«. Diese Wohnraumvergabe entspreche nicht den Vergaberegeln solcher Wohnungen. In den Berliner Stadtbezirken sind Sonderstäbe »zur Prüfung und Feststellung freigewordener Wohnungen gebildet« worden. Diese sollten nicht nur prüfen, ob der bisherige Mieter tatsächlich nicht mehr in der DDR weile, sondern auch das Mobiliar zum Verkauf anbieten (MfS, VRD, Information zum Artikel »Wohnungen ehemaliger DDR-Bürger werden umgehend neu vergeben«, 5.10.1989. BStU, MfS, VRD 11865, Bl. 76– 77). Am 9.10.1989 vermeldeten die DDR-Tageszeitungen dann mit einer ADN-Mitteilung, dass diese Wohnungen an jene vergeben werden, die 1989 oder 1990 für eine Wohnraumzuweisung
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Dokument 147 vom 3. November 1989
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Nach Ansicht von Marianne B[irthler] besteht das Problem darin, dass es noch mehr Personen werden. Ihrer Meinung nach brauchen diese eine Kontaktperson, die eine Gruppe aufbaut oder so etwas Ähnliches, wo man die Leute hinschicken kann. Diese Angelegenheit können sie ihrer Meinung nach nicht auch noch im Kontaktbüro lösen. Zum einen benötigen diese Personen seelsorgerische Begleitung, aber auch und noch viel wichtiger brauchen sie juristische und klare materielle Hilfe. Sie wendet sich deshalb an Wolfram H[ülsemann], weil sie der Ansicht ist, dass die einzige Chance in der heutigen Kirchenleitungssitzung zu suchen ist, dass dort zum Beispiel eine Person benannt wird, an die sich die Leute wenden können. Wolfram H[ülsemann] erkundigt sich, ob es sich bei diesen Personen um solche handelt, die in der DDR bleiben wollen. Marianne B[irthler] erwidert, dass das nicht der Fall sei, sondern dass diese Personen nach wie vor die DDR verlassen wollen. Daraufhin erkundigt sich Wolfram H[ülsemann] erstaunt, ob diese dann nicht in den Westen entlassen worden sind, was von ihr verneint wird. Wolfram H[ülsemann] erklärt sich bereit, dieses Problem an Herrn [Manfred] Stolpe heranzutragen, der nach dem Beschluss der Kirchenleitungssitzung heute noch einmal bei ihm anrufen wollte. Glaubt aber auch, dass sie den staatlichen Stellen diesbezüglich nicht die Verantwortung abnehmen können. Er ist auch der Ansicht, dass sie sich das nicht an sich heranziehen können, weil sie dafür einfach nicht die Struktur haben. Er ist der Meinung, dass da das DRK oder eine ähnliche Organisation herangezogen werden muss bzw. eigentlich die Abteilung Inneres dafür zuständig ist. Zum anderen muss man den Leuten auch sagen, dass das Kontakttelefon eine andere Zielstellung hat. Als einen weiteren Vorschlag unterbreitet Wolfram H[ülsemann], die betreffenden Personen danach zu fragen, wo sie wohnen und sie an die zuständivorgesehen seien. Darüber entscheiden örtliche Wohnungskommissionen (ND, Berliner Zeitung vom 9.10.1989). Diese Meldungen führten zu chaotischen Zuständen. Viele Wohnungen wurden einfach neu vergeben, um so zu versuchen, Unmut abzubauen. Zugleich war es für diese Kommissionen kaum möglich, schnell herauszufinden, ob jemand tatsächlich geflüchtet sei, zumal darüber auch das MfS, das MdI oder die SED keinen vollständigen und verlässlichen Überblick besaßen. Als die SEDFührung am 1.11.1989 die Grenze zur ČSSR wieder öffnete, beschloss sie am 3.11.1989 auf Druck Prags hin, dass ab sofort DDR-Bürger direkt von der ČSSR in die Bundesrepublik ausreisen dürften. Allein vom 4. bis 8.11.1989 flüchteten auf diesem Wege fast 50 000 Menschen in die Bundesrepublik (vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 1989, S. 453–454). Am 6.11.1989 veröffentlichte die SED den Entwurf eines Reisegesetzes (ND vom 6.11.1989), der fast durchgängig auf Ablehnung stieß, weil er immer noch »Versagungsgründe« enthielt, die Reisen zeitlich befristet wurden und die Frage, woher die Menschen die notwendigen Devisen beziehen könnten, nicht beantwortete. Kaum noch beachtet wurde wegen des wenig später erfolgten Mauerdurchbruchs eine ADN-Notiz, wonach die über die ČSSR seit 4.11.1989 ausgereisten DDR-Bürger weiterhin DDR-Staatsbürger seien und »vorerst weiteren Anspruch auf ihre Wohnungen« hätten (Wohnungsfrage bis 1990 nicht durchgängig lösbar, in: Neue Zeit vom 7.11.1989, auch in: Berliner Zeitung).
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Dokument 147 vom 19. September 1988
gen Pfarrer und Kirchengemeinden zu verweisen. Wolfram H[ülsemann] erkundigt sich noch einmal danach, ob die Wohnungen der betreffenden Personen von der Kriminalpolizei ausgeräumt wurden. Wie Marianne B[irthler] diesbezüglich bemerkt, ist das scheinbar unterschiedlich. In einem Fall ist es offensichtlich so gewesen, in einem anderen wurde offensichtlich eingestiegen und gestohlen. 4 15.30 Uhr […] 5
4 Das war kein Einzelfall und ist aus vielen Regionen der DDR, vor allem aus Städten, gemeldet worden. Durch die Maueröffnung am 9./10.11.1989 und die dadurch völlig veränderte Situation stellte sich das »Wohnungsproblem« ganz neu. Bis weit über die Wiedervereinigung am 3.10.1990 hinaus bildete die »Wohnraumvergabe« nun einen Schwerpunkt schwer durchschaubarer Praktiken, die schnell durch komplizierte und oftmals lange Zeit ungelöste Eigentumsverhältnisse regelrecht chaotische Zustände beförderten. Hinzu kam eine aus DDR-Zeiten seit den 1970er Jahren in den Städten verbreitete Praxis von »Wohnungsbesetzungen« (vgl. grundsätzlich dazu Udo Grashoff: Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR. Göttingen 2011), die sich von vereinzelten Hausbesetzungen bis zum Herbst 1989 nun in eine regelrechte Hausbesetzerbewegung ausweitete, die anfangs wenig mit der aus dem Westen bekannten Szene zu tun hatte, dann aber ab Frühjahr/Sommer 1990 immer stärker von westlichen »Hausbesetzerprofis« dominiert wurde (zum bekanntesten Beispiel aufgrund des massiven Polizeieinsatzes und der ebenso massiven Gegenwehr siehe Berlin – Mainzer Straße. »Wohnen ist wichtiger als das Gesetz.« Berlin 1992, darin die Berliner Entwicklungen seit dem beginnenden 19. Jahrhundert bis 1990 beleuchtend: Ilko-Sascha Kowalczuk: »Wohnen ist wichtiger als das Gesetz.« Historische Streiflichter zu Wohnungsnot und Mieterwiderstand in Berlin, in: ebenda, S. 231–259). 5 Das Dokument enthält noch ein weiteres Telefonat. Ein Anrufer erkundigt sich nach Veranstaltungsterminen, die ihm für den Zeitraum bis Ende November mitgeteilt werden.
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Dokument 148 Information über ein Gespräch zwischen Wolfgang Templin und Gerd Poppe zur gegenwärtigen Situation in der DDR (Originaltitel) 4. November 1989 Von: MfS, HA XX/9, Hauptmann [Detlef] Jäger 1 An: Leiter der HA XX, HA XX/AKG, HA XX/5, HA XX/9 Quelle: BStU, MfS, AOP 1010/91, Bd. 29, Bl. 282–283
Inoffiziell wurde bekannt, dass [Wolfgang] Templin am 3.11.1989 mit [Gerd] Poppe ein Telefoninterview führte, das für eine Veröffentlichung in den »Gewerkschaftlichen Monatsheften« vorgesehen ist. 2 Die neue von der SED betriebene Politik bezieht sich nach Auffassung Poppes auf ein größeres Maß an Öffentlichkeit, die auffällige Zurückhaltung der Sicherheitskräfte und unzureichende personelle Veränderungen. Radikale politische und ökonomische Reformen würden noch ausstehen, müssten aber sofort eingeleitet werden. Angesichts der verkrusteten gesellschaftlichen Situation hält Poppe die schnelle Entwicklung einer offenen demokratischen Gesellschaft für kaum vorstellbar. Derartige Reformen könnten geeignet sein, auch die Ausreisewelle aufzuhalten, die sich trotz der angekündigten Reisefreiheit noch fortsetzen werde. Poppe spricht sich weiter dafür aus, dass die SED ihren Führungsanspruch aufgibt und im gleichen Zuge die Nationale Front aufgelöst wird, damit die Blockparteien ihr eigenes Profil gewinnen. Die SED habe an Glaubwürdigkeit verloren und würde trotz ihrer gegenwärtigen Aktivitäten ihre Macht schwächen. Zahlreiche SED-Mitglieder würden diesen Machtverlust als politische Notwendigkeit akzeptieren, Forderungen nach mehr innerparteilicher Demokratie und nach einer Trennung von Staat und Partei artikulieren, wodurch sie Poppe zufolge als potenzielle Bündnispartner betrachtet werden. Auf der Grundlage eines neuen Wahlgesetzes und einer Verfassungsänderung sowie von Vereinigungs-, Versammlungs- und Medienfreiheit sei die Zulassung neuer Parteien und Initiativen für die Durchführung freier Wahlen erforderlich. Die Oppositionsgruppen wären sich nach Meinung Poppes einig in der 1 Detlef Jäger (geb. 1952), Schlosser, 1970 Eintritt ins MfS-Wachregiment, 1973 SED, ab 1973 Mitarbeiter der HA XX/2; 1989 stellv. Referatsleiter in der HA XX/9, Entlassung zum 31.1.1990. 2 Vgl. das Interview in: Gewerkschaftliche Monatshefte 12/1989, S. 769–774 (dort steht als Interviewtermin 8.11. und 15.12.1989). Templin führte für diese Ausgabe auch Interviews mit Vertretern anderer Oppositionsgruppen (SDP, Demokratischer Aufbruch, Neues Forum, Vereinigte Linke).
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Dokument 148 vom 19. September 1988
Durchsetzung der Menschenrechte, der Demokratisierung, der Herausbildung eines Rechtsstaates und Reformen. Im Hinblick auf die nächsten Volkskammerwahlen muss ein Wahlbündnis dieser Gruppen geschaffen werden, das die Aufstellung eigener Kandidaten ermöglicht. Die Struktur und Arbeitsweise der oppositionellen Gruppen werde sich insofern entwickeln, dass sich ein hoher Grad an Organisiertheit und verbindlicher Programmatik herausbilde. Klare Alternativen würden an die Stelle der Beschreibung gesellschaftlicher Defizite treten. Durch die inhaltliche Differenzierung der Opposition würde eine Polarisierung der Gruppen entstehen, die das Spektrum von konservativ-liberal bis demokratisch-sozialistisch umfasst, sich aber darin einig ist, Rechtsradikalismus nicht zuzulassen. Bündnisse mit bisherigen Blockparteien erachte Poppe als möglich. In diesem Sinne könne keine Antwort auf die Frage gegeben werden, ob sich die »Initiative Frieden und Menschenrechte« als Partei, Forum oder Bürgerbewegung etablieren werde. Die SED erhoffe sich eine Spaltung der Opposition, da eine Anerkennung des »Neuen Forums« bevorstehe, 3 die nur im Rahmen der Verfassung erfolgen könne und somit die Anerkennung der führenden Rolle der SED seitens des »Neuen Forums« einschließe. Ferner charakterisierte Poppe die Entwicklung, Ziele und Aufgabenstellung der »Initiative Frieden und Menschenrechte« entsprechend den bereits operativ erarbeiteten Erkenntnissen. Ergänzend bemerkte er dazu, dass man als »Initiative Frieden und Menschenrechte« mit dem Begriff »Sozialismus« zurückhaltend umgehe und stattdessen einen nichtkapitalistischen Weg mit parlamenta3 Ab 18.9.1989 begannen Vertreter des »Neuen Forums« offiziell ihre Tätigkeit in den Bezirken anzumelden. Am 21.9.1989 erklärte der Innenminister über ADN, was die »Aktuelle Kamera« (DDR-Fernsehnachrichten) in ihrer Abendsendung verkündete: »Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung widersprechen der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar. Die Unterschriftensammlung zur Unterstützung der Gründung der Vereinigung war nicht genehmigt und folglich illegal. Sie ist ein Versuch, Bürger der Deutschen. Demokratischen Republik über die wahren Absichten der Verfasser zu täuschen.« (ND vom 22.9.1989). In von SED, MfS und MdI einheitlich instruierten Gesprächen mit den Antragstellern ab 22.9.1989 wird mündlich erklärt, für ein »Neues Forum« bestehe kein »gesellschaftlicher Bedarf« (Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung, S. 225; siehe auch »Der Rechtsweg ist eine Illusion«. Interview mit Rolf Henrich, in: taz vom 27.9.1989). Am 26.10.1989 trafen Jens Reich und Sebastian Pflugbeil mit Günter Schabowski zusammen (ND vom 27.10.1989). Am 7.11.1989 beschloss das SED-Politbüro, dass angesichts der veränderten Situation nun doch »Anmeldungen zur Gründung von Vereinigungen«, wenn sie keine verfassungswidrigen Ziele im Statut vertreten, angenommen werden sollen. Zugleich sei »auch die gezielte Mitwirkung von Genossen in den entstehenden Vereinigungen« anzustreben. Die Minister Dickel und Mielke hätten zugestimmt (ZK der SED, Abt. Sicherheitsfragen, Wolfgang Herger, Fernschreiben an die Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED, die Abteilungsleiter des ZK und die 1. Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen, 6.11.1989. BArch DY 30/825, Bl. 52–53; das Schreiben gezeichnet von Egon Krenz wurde am 8.11.1989 verschickt: ebenda, IV 2/2039/314, Bl. 46). Am 8.11.1989 bestätigte nun das Innenministerium die Anmeldung des »Neuen Forums« (ND vom 9.11.1989). Einen Tag später fand auf dem Hof von Bärbel Bohley im Prenzlauer Berg die »erste internationale Pressekonferenz« des »Neuen Forums« statt.
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Dokument 148 vom 4. November 1989
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rischer Demokratie und öffentlicher Entscheidungsfindung und Kontrolle für möglich halte. Zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten bezog Poppe die Position, dass sie zurzeit kein Thema sei, das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen gelte, diese aber letztlich zu überwinden seien. Von den Gewerkschaften und Bürgern der BRD erwarte Poppe keine »guten Ratschläge«, dafür aber Dialogbereitschaft mit allen Reformkräften in der DDR, einschließlich der oppositionellen Gruppen. Als gutes Beispiel führte Poppe die Kontakte der GEW mit unabhängigen Gruppen an. Templin nahm Poppes Äußerungen unkommentiert zur Kenntnis.
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Dokument 149 Information über Reaktionen und Meinungsäußerungen feindlichnegativer Kräfte im Zusammenhang mit der Demonstration am 4.11.1989 in Berlin (Originaltitel) 7. November 1989 Von: MfS, HA XX/9 1 Quelle: BStU, MfS, AU 140/90, Bd. 7, Bl. 66–67
Streng vertraulich wurde bekannt, dass sich Bohley, Bärbel und Havemann, Annedore am 4. November 1989 nach Abschluss der Demonstration 2 telefonisch mit dem in Berlin (West) aufhältigen Biermann, Karl-Wolf über ihre Eindrücke austauschten. Dabei wurde teilweise eine differenzierte Betrachtungsweise der Ereignisse vom 4. November 1989 deutlich. Biermann zeigte sich über seine Zurückweisung an der Staatsgrenze beim Versuch der Einreise in die DDR nicht sehr enttäuscht, da er damit gerechnet hatte. 3 Er brachte zum Ausdruck, dass er sich die Demonstration im Fernsehen angesehen hat und einerseits sehr glücklich über diese Entwicklung in der DDR, andererseits zugleich auch unsicher gewesen sei. Beim Verfolgen der Demonstration sei bei ihm der Eindruck entstanden, dass er von den oppositionellen Kräften in der DDR nicht mehr gebraucht werde.Die Kundgebung auf dem Alexanderplatz habe bei ihm einen guten Eindruck hinterlassen. 4 Am besten haben ihm die Reden von Birthler, Marianne (zu den Ereignissen am
1 Bei dem hier vorliegenden Dokument handelt es sich um ein nicht unterzeichnetes und nicht adressiertes Durchschlagexemplar. 2 Vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009, S. 446–453. 3 Am 4.11.1989 vormittags versuchte Biermann in Begleitung von Ralf Hirsch über die Grenzübergangsstelle Friedrichstraße nach Ost-Berlin einzureisen, wo beide abgewiesen wurden. Biermann meinte gegenüber anwesenden Fernsehjournalisten, und damit stellvertretend auch für andere ausgebürgerte Bürgerrechtler wie Jahn oder Fuchs sprechend, die Umgestaltung in der DDR könne erst glaubhaft werden, wenn seine Freunde und er zurück könnten, um sich in den Reformprozess einzubringen. 4 Die Demonstration ist dokumentiert auf der 2-CD-Ausgabe von 1999: Berlin Alexanderplatz, 4.11.1989. Die Kundgebung am Vorabend des Mauerfalls. Biermann sah die Kundgebung am Fernseher bei seinem Freund Jürgen Fuchs in West-Berlin. Er schrieb darüber: Und als ich an die Grenze kam … oder: was wird aus den Hunden, in: Die Zeit vom 17.11.1989, nachgedruckt in: Wolf Biermann: Klartexte im Getümmel. 13 Jahre im Westen. Von der Ausbürgerung bis zur NovemberRevolution. Köln 1990, S. 100–111. Am 5.11.1989 gab es im ZDF ein längeres Interview (»Sonntagsgespräch«), in dem er sich auch sehr beeindruckt über die Demonstration äußerte. Als Abschrift dokumentiert: Staatl. Komitee für Rundfunk, Red. Monitor, »Sonntagsgespräch« mit Wolf Biermann, ZDF, 5.11.1989, 12.45 Uhr. BStU, MfS, HA XX 10858, Bl. 154–161.
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Dokument 149 vom 7. November 1989
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7./8.10.1989)5 und von Müller, Heiner6 (Forderung nach freien Gewerkschaften) 7 gefallen, dagegen hätte Prof. [Jens] Reich 8 gewirkt wie eine Schlaftablette. 9 Bohley, Bärbel brachte zum Ausdruck, dass sie bei der Demonstration das Gefühl hatte, dass sie und das »Neue Forum« nur in irgendeiner Weise ausgenutzt werden. Sie fände es schrecklich, wenn das »Neue Forum« jetzt anerkannt werde, da sie dann inhaltlich arbeiten müssten. 10 Im Gegensatz zu Bohley, Bärbel zeigte sich Havemann, Annedore nach der Demonstration sehr euphorisch. Sie brachte gegenüber Biermann zum Ausdruck, dass an diesem Tag eine Revolution stattgefunden habe. Das »Neue Forum« habe das Volk gewonnen und die Regierung habe es verloren. Weiter betonte sie, dass sie und andere feindlich-negative Kräfte weiter für eine Einreise von Biermann kämpfen werden. […] 11 Inoffiziellen Hinweisen zufolge zeigte sich Rathenow, Lutz in Gesprächen mit Verwandten von der Demonstration beeindruckt, insbesondere von den vielen »witzigen« Plakaten. Er erkannte aber auch die Courage des Genossen [Günter] Schabowski an, der als einer der wenigen Mitglieder des Politbüros vor dem Volk auftritt.12 […] 13 Die Information ist wegen Quellengefährdung nicht offiziell auswertbar. 5 Sie las u. a. aus Gedächtnisprotokollen vor. 6 Heiner Müller (1929–1995) war einer der wichtigsten deutschen Dramatiker im 20. Jahrhundert. Vgl. seine Autobiografie: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992); Werke Bd. 1–12 (1998–2008). 7 Er las den Gründungsaufruf vor, der ihm kurz vor seinem Auftritt zugesteckt worden war. Außerdem forderte er den Rücktritt der Regierung. 8 Jens Reich (geb. 1939), Arzt und Molekularbiologe, Mitarbeiter der AdW, seit Mitte der 1980er Jahre in oppositionellen Gruppen aktiv; September 1989 Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs für das »Neue Forum«; 1990 Abgeordneter der Volkskammer, ab 1995 Professor an der HUB; 1994 Kandidat für die Wahl zum Bundespräsidenten. Vgl. von seinen Schriften u. a. Rückkehr nach Europa. München, Wien 1991; Abschied von den Lebenslügen. Berlin 1992. 9 Er forderte u. a. freie und eigene Zeitungen, damit sich die Opposition authentisch in der DDR darstellen könne, und dass Wolf Biermann in der DDR auftreten könne. Die Einschätzung von Biermann bezog sich nicht auf den Inhalt, sondern auf die akademisch-trockene Vortragsform. Jens Reich hat in den letzten Jahren selbst immer wieder darüber berichtet – und nicht nur er –, was für eine völlig neuartige Situation diese Massenkundgebung für ihn darstellte. 10 Diese von der Stasi zusammengefasste Äußerung ergibt so keinen Sinn. Ein ausführlicherer Text zum hier nur verknappt wiedergegebenen Telefonat ist bisher nicht aufgefunden worden. Am 7.11.1989 – dem Tag der Erstellung des hier abgedruckten Dokumentes – lag das erste Programm des »Neuen Forums« im Entwurf vor (BStU, MfS, HA XX/9 1535, Bl. 263–266). Zur tatsächlichen Haltung von Bärbel Bohley siehe ihre vielen Interviews in dieser Zeit, z. B.: »Sie haben nicht mehr viel Zeit«. Ein Gespräch mit …. Bärbel Bohley, in: Frankfurter Rundschau vom 9.11.1989 (sie äußerte sich zur Demonstration vom 4.11.1989 und zu den politischen Zielen des Neuen Forums). Zur Geschichte dieser Kundgebung gehört auch, worauf Bärbel Bohley vielleicht anspielte, dass es sehr kompliziert war, überhaupt Vertreterinnen und Vertretern der Opposition Redemöglichkeiten einzuräumen. 11 Es folgt eine knappe Wiedergabe eines Gesprächs von Wolf Biermann mit einer weiteren Person. 12 Er wurde seine gesamte Redezeit über lautstark ausgebuht. 13 Es folgen MfS-Erkenntnisse zu angeblichen Einschätzungen des »Neuen Forums« durch weitere Personen.
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Dokument 150 Hinweise zu Entwicklungstendenzen innerhalb des »Neuen Forums« (Originaltitel) 17. November 1989 Von: MfS, HA III An: MfS, HA XX/9, HA XX/4 Quelle: BStU, MfS, AOP 1055/91, Beifügung Bd. 17, Bl. 80
Im Rahmen der operativen Arbeit wurden zuverlässig Hinweise zu unterschiedlichen Entwicklungstendenzen innerhalb des »Neuen Forums« erarbeitet. Diese unterschiedlichen Tendenzen betreffen territorial unterschiedliche Vorstellungen zur Arbeit dieser Bürgerinitiative und deren weiteren Entwicklung. Die erarbeiteten Hinweise basieren auf einem Meinungsaustausch der führenden Vertreterin des »Neuen Forums« Bohley, Bärbel, mit einer namentlich nicht bekannt gewordenen Vertreterin dieser Initiative aus Leipzig. Nach Angaben der Leipziger Vertreterin arbeite ihre Gruppe offenbar ganz bewusst auf eine Autonomie hin. Rücksprachen in den Bezirken hätten ergeben, dass circa 80 Prozent der Basis für eine Konstituierung des »Neuen Forums« als Partei seien. 1 Sie selbst sei aber der Ansicht, dass es schon zwei Par-
1 Diese Frage blieb innerhalb des »Neuen Forums« heftig umstritten. Am 16.12.1989 gab der Ausschuss des Landessprecherrates (u. a. Bärbel Bohley, Rolf Henrich, Reinhard Schult, Andreas Schönfelder) ein »Grundsatzpapier« heraus, in dem das »Politikverständnis des Neuen Forums« erläutert wurde. Sie wollen keine Partei werden und streben als Vereinigung an, zu den Wahlen zugelassen zu werden. Es hieß auch: »Die Bildung von sogenannten Neuen-Forum-Parteien in Thüringen, Karl-Marx-Stadt und Hellersdorf sind eigenmächtige Anmaßungen einzelner. […] Alle, die eine Partei gründen wollen, müssen dies außerhalb des Neuen Forum tun…« (abgedruckt in: Die ersten Texte des Neuen Forum. 9.9.–18.12.1989. Berlin, Januar 1990, S. 28–29). Am 30.12.1989 sprachen sich auf der Beratung des Landessprecherrates des NF die Bezirke Frankfurt/O., Dresden, Karl-Marx-Stadt und Suhl für eine Parteigründung aus, bereits zuvor war es zur Bildung eines Gründungsausschusses gekommen (vgl. Heinz Petrick, Peter Ulrich Weiß: Das Neue Forum und die Deutsche Forumspartei im Bezirk Cottbus 1989/90. Potsdam 2001, S. 18). Mehrheitlich erklärte der Landessprecherrat, wer eine Parteigründung anstrebe, spalte »unsere Bewegung und stärkt die SED« (zit. in: Irena Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung Neues Forum 1989–1990. Berlin 2009, S. 278). Am 6.1.1990 begann in Leipzig ein viertägiges Landesdelegiertentreffen. Noch am Abend des ersten Tages reisten Vertreter verschiedener Basisgruppen ab, vor allem aus den Bezirken Frankfurt/O., Dresden, Karl-Marx-Stadt und Suhl. Ein Antrag, der kategorisch jede Zusammenarbeit mit der SED/PDS ablehnen wollte, wurde entgegen vorheriger Absprachen nicht behandelt. Dies und Anderes führten zur Abreise. Diese Delegierten fuhren nach Karl-Marx-Stadt, um die Parteigründung weiter vorzubereiten (vgl. Petrick; Weiß: Das Neue Forum und die Deutsche Forumspartei, S. 18). Am 7.1.1990 beschloss das Leipziger Landesdelegiertentreffen mehrheitlich, eine Umwandlung in eine Partei abzulehnen (vgl. Tina Krone (Hg.): »Sie haben so lange das Sagen, wie wir das dulden«. Briefe an das neue Forum September 1989 bis März 1990. Berlin 1999, S. 279).
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Dokument 150 vom 17. November 1989
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teien gebe, 2 die mit festen Programmen auftreten und die Konstituierung des »Neuen Forums« nur eine weitere Spaltung und Verzettelung der Kräfte bedeuten würde. Dann sei es schon besser, ein Abschlusskommuniqué herauszugeben und sich selbst aufzulösen. In dieser Situation wären die Dresdner Gruppierungen auf die eigentlich ganz gute Idee gekommen, den Demokratischen Aufbruch als Partei in das »Neue Forum« aufzunehmen. Eine solche an sich positive Idee sei jedoch in Leipzig nicht zu verwirklichen, da Neues Forum und Demokratischer Aufbruch ein Verhältnis wie »Hund und Katze« hätten. Die Undurchführbarkeit einer solchen Idee für Berlin wurde gleichfalls von der Bohley bestätigt. Dort wären einfach zu viele Pfarrer aktiv. Allein die Forderung des Eppelmann, Rainer, dass sich der Biermann, Karl-Wolf, bei dem Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzenden, Genossen Egon Krenz, entschuldigen sollte, wäre unzumutbar. 3 Kennzeichnend für die labile Situation in Leipzig ist nach deren dortigen Vertreterin auch ihre eigene Wahl in den Sprecherrat. Diese Wahl sei am 2 Zu diesem Zeitpunkt gab es als Partei aus der Opposition heraus nur die SDP. Eine Woche später erfolgte die Gründung der »Grünen Partei in der DDR«. Der »Demokratische Aufbruch« erklärte am 29.10.1989, er wolle sich bis Mai 1990 als Partei konstituieren, was dann am 16./17.12.1989 auf dem Gründungsparteitag geschah. 3 Rainer Eppelmann und Lutz Rathenow schlugen vor, dass am 14.11.1989 Wolf Biermann in der Samariterkirche, wo Eppelmann Pfarrer war, ein Konzert geben solle (Bald Biermann back?, in: taz vom 10.11.1989). Abermals wurde ihm eine Einreisegenehmigung verweigert, die das MdI gegenüber Eppelmann mit Biermanns »Beleidigung des Staatsratsvorsitzenden« begründete (Krenz beleidigt, in: taz vom 15.11.1989). Biermann hatte neben einem Text über Krenz (taz vom 19.10.1989) die »Ballade von den verdorbenen Greisen« veröffentlicht, in der neben Kurt Hager, Erich Mielke, Karl Eduard von Schnitzler und Erich Honecker auch Egon Krenz gleich in der ersten Strophe verewigt wurde. Es hieß wörtlich: »Hey Krenz, du fröhlicher kalter Krieger/Ich glaube dir nichts, kein einziges Wort/Du hast ja die Panzer in Peking bejubelt/Ich sah dein Gebiss beim Massenmord/Dein falsches Lachen, aus dir macht Fritz Cremer/Ein Monument der Heuchelei/Du bist unsere Stasi-Metastase/Am kranken Körper der Staatspartei«. Der Refrain lautete: »Wir wollen dich nicht ins Verderben stürzen/du bist schon verdorben genug/Nicht Rache, nein, Rente!/Im Wandlitzer Ghetto/und Friede deinem letzten Atemzug« (Wolf Biermann: Alle Lieder. Köln 1991, S. 412). Es war zugleich das Auftaktlied auf seiner LP »Gut Kirschenessen« (1990). Dieses Lied erboste die SED-Führung und auch viele SEDParteigänger heftig. Aber auch eher kritisch eingestellte Personen, gerade aus den Kirchen, empfanden das Lied als geschmacklos. Die meisten Menschen allerdings hatten mit diesem Biermann-Lied viel Spaß und Freude, sang er doch, was die Mehrheit dachte, Rainer Eppelmann ganz gewiss auch, wie unzählige Stasi-Dokumente aus über einem Jahrzehnt belegen, in dem er immer und immer wieder genau eine solche Haltung gegenüber der SED-Führungsriege offen zeigte und artikulierte. Wahrscheinlich sind seine Worte aus taktischen Gründen im Zusammenhang mit dem geplanten Konzert in der Samariterkirche gefallen. Biermann veröffentlichte wenige Tage später den Text: Wer war Krenz, in: taz vom 18.11.1989; zuvor bereits über Krenz: Das ewig lachende Gebiss, in: taz vom 19.10.1989; beide Texte sind nachgedruckt, in: Wolf Biermann: Klartexte im Getümmel. 13 Jahre im Westen. Von der Ausbürgerung bis zur November-Revolution. Köln 1990, S. 112–123, 98–99. Die »Ballade von den verdorbenen Greisen« sang er erstmals öffentlich am 5.11.1989 mittags im Rahmen eines längeren Interviews. Als Abschrift dokumentiert: Staatl. Komitee für Rundfunk, Red. Monitor, »Sonntagsgespräch« mit Wolf Biermann, ZDF, 5.11.1989, 12.45 Uhr. BStU, MfS, HA XX 10858, Bl. 154–161, spez. 155–157.
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Dokument 150 vom 17. November 1989
10. November 1989 erfolgt, wobei sie damit rechnete, am 17. November 1989 wieder abgewählt zu werden. Der Grund dafür bestehe darin, dass ihre Wahl zu einem Zeitpunkt stattfand, als ein großer Teil der Wahlberechtigten zufälligerweise abwesend war. Bemerkung: Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz erforderlich.
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Dokument 151 Telefonat Werner Fischer mit seinen Eltern 1 19. November 1989 Von: MfS, Abt. 26/7 An: MfS, HA XX/9, [Manfred] Pesch Quelle: BStU, MfS, HA XX/9 665, Bl. 194–196
Werner F[ischer] erkundigt sich bei seinem Vater nach dem Befinden und möchte gleichzeitig erfahren, wie die Meinung zur gegenwärtigen Situation in der DDR ist. Der Vater ist der Auffassung, die Entwicklung zurzeit hat schon viel Positives an sich. Man kann jedoch nicht alles auf einmal erfüllen. F[ischer] ist der Meinung, zunächst muss einmal diese ganze Schweinebande und Verbrecher-Clique abtreten. Der Vater denkt, die sind doch schon abgetreten. F[ischer] betont, der größte Verbrecher, Herr [Egon] Krenz, ist noch an der Macht. 2 Der Vater denkt, dass Krenz vielleicht etwas hat, aber bis jetzt hat er Gutes gezeigt. F[ischer] verweist darauf, nach dem 8. Oktober hat Krenz vielleicht Gutes getan, aber davor unterzeichnete er den Schießbefehl. Der Vater ist der Ansicht, [Erich] Honecker unterzeichnete diesen Befehl. 3 1 Die Eltern Erna (geb. 1926) und Martin Fischer (geb. 1920) waren seit 1949 bzw. 1947 SED-Mitglieder. Er arbeitete als Arbeitsökonom, sie als Leiterin einer Wochenkrippe in Potsdam. Von 1976 bis 1987 war sie GMS des MfS. Sie berichtete sehr umfangreich über ihren Sohn Werner Fischer und dessen Umfeld (BStU, MfS, AGMS 6266/87). 2 Egon Krenz (geb. 1937) war 1973–1983 Vors. der FDJ, ab 1983 als Politbüromitglied verantwortlich für Sicherheitsfragen, Jugend, Sport, Staats- und Rechtsfragen, also für zentrale Bereiche der SED-Diktatur und u. a. in den Bereichen MfS, MdI, MfNV, MfV, MdJ der nach Honecker wichtigste Zuständige und Befehlsgeber. Am 18.10.1989 ist er SED-Generalsekretär und am 24.10.1989 Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des NVR geworden. Als SED-Chef ist er am 3.12. und von den anderen Ämtern am 6.12.1989 abgelöst worden. Er war außerdem 1989 Vorsitzender der »Wahlkommission« und somit hauptverantwortlich für die Wahlfälschungen. Und niemand anderes aus der SED-Führungsriege hat sich nach der blutigen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung so oft und zustimmend mit chinesischen Spitzenpolitikern in China und der DDR getroffen. Vgl. auch Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009. 3 Am 8.10.1989 (Sonntag) vormittags verschickte Egon Krenz im Auftrag von Erich Honecker an alle SED-Bezirksleitungen ein eiliges Rundschreiben, mit dem summarisch auf die »rowdyhaften Zusammenrottungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen« hingewiesen wurde. »Es ist damit zu rechnen, dass es zu weiteren Krawallen kommt. Sie sind von vornherein zu unterbinden.« Die Bezirkseinsatzleitungen seien sofort einzuberufen, alle wichtigen Partei-, Gewerkschafts- und FDJFunktionäre sowie die Mitarbeiter staatlicher Organe seien unverzüglich zu informieren. Es seien ab sofort morgens bis 6.00 Uhr tägliche Berichte über die Lage an die zuständige ZK-Abteilung zu schicken (BArch DY 30, IV 2/2/2039, Bl. 2–3). Stasi-Minister Mielke befahl »volle Dienstbereitschaft«, alle MfS-Angehörigen verblieben entweder in den Dienstobjekten oder durften ihre Wohnung nicht verlassen. Die ständigen Waffenträger gingen von nun an nicht mehr ohne Waffen außer Haus.
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Dokument 151 vom 19. November 1989
F[ischer] möchte nur sagen, es hat sich gelohnt, wofür er in den letzten 15 Jahren eingetreten ist. Der Vater sieht ein, dass Fehler gemacht wurden, aber man kann jetzt nicht gleich verlangen, dass alles geändert wird, außerdem ist ja schon vieles geschehen. F[ischer] denkt, an der Grundstruktur hat sich aber nichts verändert. Die SED hat jetzt abzutreten. Dies ist eine der zentralen Forderungen überall in der Bevölkerung. Der Vater macht aufmerksam, dass F[ischer] da ein bisschen kürzer treten soll. Er hat etwas gegen solche Großmäuler wie die [Bärbel] Bohley, die eine Absage erteilt, wenn sie Rede und Antwort stehen soll. Überhaupt sind die Leute vom Neuen Forum eine Clique. Sie kommen ihm vor, wie Leute von Solidarność – haben große Fressen, reden überall rein, aber übernehmen selbst keine Verantwortung. Nun versuchen sie im Dreck herumzuwühlen und jeder denkt, etwas hochbringen zu müssen. Vor allem sollen alle erst mal arbeiten, damit es besser wird. F[ischer] erwidert, wir haben seit zig Jahren gearbeitet. Der Vater meint, darüber können wir geteilter Meinung sein. F[ischer] betont, in diesem Land hat es ja niemand gelernt, Demokratie zu üben. Der Vater fragt, ob F[ischer] es geübt hat. F[ischer] entgegnet, dazu hat ja eure Partei 4 beigetragen, dass es niemand lernen konnte. Der Vater stellt die Frage, was F[ischer] dazu arbeitsmäßig tat und fügt hinzu, ihr redet bloß groß, aber getan bzw. für die Wirtschaft direkt gearbeitet, habt ihr alle noch nicht. F[ischer] meint, er hat nicht in der Wirtschaft gearbeitet, hatte aber ein Arbeitsverhältnis. Der Vater erwidert höhnisch, dass sein Sohn F[ischer] sicher ein Arbeitsverhältnis oder einen Arbeitsvertrag hatte. F[ischer] meint, es geht nicht darum die Parteibasis zu diskreditieren, sondern es geht um diese Verbrecherclique in der Führung. Der Vater erwidert, sicher wird er gehört haben, dass die zur Verantwortung gezogen werden; aus diesem Grunde brauchen sie beide nicht weiter in diesem Sumpf herumwühlen. F[ischer] betont, Krenz hat abzutreten. Der Vater denkt, F[ischer] soll es Krenz doch dann sagen. F[ischer] wird es sagen und rät, der Vater soll sich am Dienstag die FS-Sendung »Kontraste« ansehen. In dieser Sendung wird es F[ischer] Krenz sagen. 5 Die Führungsoffiziere sollten ihre IM mobilisieren und zum Einsatz bringen, um neue Aktionen zu verhindern. Die Dienstgebäude von MfS, Staat und Partei seien besonders zu schützen, mögliche Angriffe auf Waffenlager abzuwehren sowie »Terror- und andere Gewalthandlungen, insbesondere gegen Mitglieder der SED und andere progressiv auftretende Bürger […] konsequent zu verhindern.« (BStU, MfS, Abt. BCD 3272, Bl. 266). Das war kein Befehl zum Einsatz von Schusswaffen, er schloss diesen aber auch nicht aus. 4 Gemeint ist die SED. 5 Am 21.11.1989 strahlte die ARD das Politmagazin »Kontraste« aus. Darin ging es in mehreren Beiträgen um aktuelle Entwicklungen in der DDR. In einem Beitrag wurde ein heimlicher Tonbandmitschnitt vom 24.10.1989 auszugsweise vorgespielt. Als sich am 24.10.1989 in Vorbereitung der Wahl Egon Krenz’ zum Staatsratsvorsitzenden die SED-Parteigruppe der Volkskammerabgeordneten traf und eine emotionale Debatte führte, nahm ein Techniker der Volkskammer die Sitzung
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Dokument 151 vom 19. November 1989
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Die Mutter setzt das Gespräch mit F[ischer] fort. Die Mutter bringt zum Ausdruck, dass sie traurig und enttäuscht über ihr ganzes Wirken sind. Nun sind sie froh, dass es sich ändern wird. Einige Dinge haben sich zum Guten hin entwickelt. Jetzt braucht man für die weitere Entwicklung ein bisschen Zeit, um Luft zu holen. F[ischer] wiederholt, es geht nicht darum, die gesamte SED zu verdammen. Er macht eine klare Trennung zwischen der Basis, also zwischen den arbeitenden SED-Mitgliedern, die in tiefster politischer Überzeugung ihre Arbeit machten, und der Führungsclique. F[ischer] hatte es bereits vor Jahren gesagt, dass hier Verbrechen begangen wurden. Er erinnert, dass die DDR mit 150 Millionen Dollar verschuldet ist. 6 heimlich auf und spielte sie anschließend der Opposition zu. In der SED-Parteigruppe trafen sich alle SED-Mitglieder, die als Abgeordnete wirkten. Von den 500 Abgeordneten gehörten »nur« 127 der SED-Fraktion an, aber 276 waren SED-Mitglieder (die ihr Abgeordnetenmandat über FDGB, FDJ u. a. erhielten). Auch Günter Schabowski ergriff das Wort und erklärte, es käme darauf an, politisch zu reagieren. Darunter verstand er, in der Öffentlichkeit so zu tun, als würde man die Kritik ernst nehmen, tatsächlich aber den bisherigen Kurs weiterverfolgen und vor allem alles zu verhindern, was darauf hinausliefe, Krenz zu demontieren. Mit der Versammlung war er sich einig, dass jetzt nicht nachgegeben werden und man sich dem Druck der Straße nicht beugen dürfe. Dazu gehöre, dass man jetzt keine »Gewaltenteilung« einführe. Er berichtete auch, wie er auf Manfred Stolpe eingewirkt habe, eine Pressekonferenz der Opposition am 23.10.1989, auf der Marianne Birthler, Werner Fischer u. a. die Gedächtnisprotokolle von den polizeilichen Übergriffen am 7./8.10.1989 der Presse vorstellten, zu verhindern. Werner Fischer erklärte in dem »Kontraste«-Beitrag, dass sie 3 Stunden vor Beginn der Pressekonferenz von Stolpe aufgefordert wurden, diese um 36 Stunden zu verschieben. Schabowski erklärte dazu am 24.10.1989, dass ihm Stolpe gesagt habe, seine Arme seien zu kurz gewesen, um das zu verhindern. In der »Kontraste«-Sendung am 21.11.1989 darauf angesprochen, bestätigte Schabowski, dass er Stolpe darum gebeten hatte. Dieser wiederum war zu einer Stellungnahme gegenüber dem Fernsehmagazin nicht bereit. Marianne Birthler erklärte, die Versuche Stolpes zur Unterbindung der Pressekonferenz müssen innerhalb der Kirche genau aufgeklärt werden (ein Mitschnitt der Sendung in: RHG, VHS 201). Die Forderung nach einem Rücktritt von Krenz ist nicht gesendet worden. 6 Solche Angaben kursierten, waren aber nicht belegbar. Intern sorgte bei der SED ein Papier u. a. von Gerhard Schürer (1921–2010; 1965–1989 Vors. der Staatlichen Plankommission, 1973– 1989 Kandidat des Politbüros des ZK der SED) zunächst für große Verunsicherung, weil es sich bei diesem Offenbarungseid tatsächlich um eine Bankrotterklärung handelte (vgl. Gerhard Schürer u. a.: Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen, Vorlage für das Politbüro des ZK der SED, 30.10.1989, in: Hans-Hermann Hertle: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates. Opladen 1996, S. 448–462). Am 13.11.1989 sind davon in einer Volkskammersitzung einige Details durch Schürer und den Finanzminister Ernst Höfner (1929–2009; SED) bekannt geworden (vgl. Volkskammer der DDR, 9. Wahlperiode, 11. Tagung, 13.11.1989, S. 256–261). Tatsächlich waren alle Angaben, auch von Schürer, deutlich zu hoch, wie sich später herausstellte. Heute wird davon ausgegangen, dass die Nettoverschuldung nur zwischen 7,5 und 10,8 Mrd. $ betrug, je nachdem welche Berechnungsgrundlage und Verhältnisrechnung herangezogen wird (vgl. Armin Volze: Zur Devisenverschuldung der DDR – Entstehung, Bewältigung und Folgen, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Die Endzeit der DDR-Wirtschaft. Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik. Opladen 1999, S. 151–183, bes. 162, 170). Zur Wirtschafts- und Finanzpolitik der DDR als Überblick und Einstieg am besten: André Steiner: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. München 2004; zur Situation in der Endphase auch Kowalczuk: Endspiel, sowie mit Blick auf Arbeiter und Betriebe speziell ders.: Revolution ohne Arbeiter?: Die Ereignisse 1989/90, in: Peter Hübner: Arbeit, Arbeiter und Technik in der DDR 1971 bis 1989. Zwischen Fordismus und
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In F[ischer]s Augen ist Krenz der größte Verbrecher. Und nun wollen die in eine neue Richtung weitermachen. Die haben jetzt erst einmal abzutreten. Die SED hat sich jetzt nicht einzumischen, sondern muss sich in aller Demut zurückziehen und kann sich dann erneuern. Sie versuchen aber gegenwärtig dem Druck nachzugeben, um sich in aller Ruhe wieder zu stabilisieren. Es geht um die Macht. F[ischer] verspricht in aller Öffentlichkeit, wir werden der SED die Macht nehmen. Das ist die Meinung des ganzen Volkes. Die Mutter bringt zum Ausdruck, dass sie immer ihren Mund aufmacht, sie war kein Ja-Sager. F[ischer] erinnert, dass er aber auch in ihren Augen ein Staatsfeind war. Die Mutter gibt zu bedenken, dass er die Altersunterschiede in Betracht ziehen soll und erinnert, sie sind damals 1945 angetreten mit der besten Absicht, die Karre aus dem Dreck zu ziehen. Und nicht alles, was sie in den 40 Jahren erreicht haben, war Mist. Jetzt sind sie natürlich bitter enttäuscht, was sich da oben abspielte. Weiter betont F[ischer], dass er ein Gegner der Öffnung der Grenzen ist. 7 F[ischer] meint, die neue Regierung unter [Hans] Modrow hat schon Vorverträge gefasst mit den BRD-Firmen Thyssen, Siemens und irgendwelchen Banken, die hier in der DDR ihr Bein haben. Wir müssen jetzt verhindern, dass wir das 13. Bundesland werden. Es wird ein totaler Ausverkauf dieses Landes werden. F[ischer] betont, wir haben 15 Jahre dafür gearbeitet, und haben jetzt die Chance hier in der DDR etwas Einmaliges zu machen. Aber nicht auf Blick in Richtung Bundesrepublik. Jetzt haben wir fast eine Situation wie vor dem 13. August 1961. In allen Interviews wird F[ischer] erklären, dass die Mauer bleiben soll.8 F[ischer] betont weiter, dass er nicht aufhören wird, am Führungsanspruch der SED zu kratzen. Wo er immer die Möglichkeit hat, wird er es tun. Die SED hat sich zu erneuern, hierzu ist sie fähig. Die SED arbeitet nicht an einer neuen Verfassung, meint F[ischer], sondern daran arbeiten wir. Und wir werden der SED diktieren, wie sie sich zu verhalten hat. Wir werden dafür Sorge tragen, dass ein Herr [Günter] Schabowski und ein Herr [Egon] Krenz nicht über den außerordentlichen Parteitag im Dezember kommen werden. 9 Wir digitaler Revolution. (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Gerhard A. Ritter; Bd. 15), Bonn 2014, S. 537–610. 7 Er wie andere waren dagegen, wie die Mauer geöffnet wurde. Vgl. Kowalczuk: Endspiel. 8 Es ging ihm darum, die DDR von innen zu demokratisieren. 9 Die beiden Genannten sind am 3.12.1989 zurückgetreten. Von den vorherigen Ereignissen erzwungen fand am 8./9. und 16./17.12.1989 ein außerordentlicher Parteitag statt, in dessen Ergebnis die SED sich in SED/PDS umbenannte und Gregor Gysi zum Vorsitzenden gewählt wurde. Vgl. Lothar Hornbogen, Detlef Nakath, Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.): Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin. Berlin 1999. Am 4.2.1990 entledigte sich die PDS ihres Beinamens SED. Verwaltungsjuristisch existiert die SED unter dem Namen »Die Linke« noch heute, weil sie sich nie auflöste und auch die »Fusion« mit der
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alle, auch die SED-Genossen, die ehrlich gearbeitet haben über die Jahre, müssen uns zusammensetzen und diskutieren, was zuerst getan werden muss. Niemand von der Opposition und auch große Teile der Bevölkerung denkt nicht im Traum daran, hier etwas zu installieren, was kapitalistischen Verhältnissen gleich kommen würde. Trotz vieler Anfeindungen hat sich F[ischer] niemals verbogen und er bildet sich ein, er kann einen aufrechten Gang gehen. Er hat sich immer zu dem bekannt, was er noch heute sagt. Darüber ist er sehr stolz. Die Mutter gibt ihm Recht. Neulich sagte sie dem Vater, dass F[ischer] wirklich Recht hatte. F[ischer] empfiehlt, sie sollen sich am Dienstag die Sendung »Kontraste« ansehen. Gestern war er in Westberlin beim SFB, wo sie ein Interview gaben. 10 19.55 Uhr
WASG 2007 juristisch keine Fusion darstellte, sondern ein Beitritt dieser Gruppierung zur PDS mit anschließendem Namenswechsel war. Den Hintergrund dafür bilden vermögensrechtliche Fragen. 10 Siehe Anm. 5.
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Glossar
In diesem Glossar werden solche Begriffe, Ereignisse, Organisationen etc. knapp erläutert, die in der Dokumentation häufiger vorkommen und die in der Geschichte der Opposition einerseits und des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) andererseits eine Rolle spielen. Die Ausführungen beziehen sich dabei auf den Kontext der in dieser Dokumentation dargestellten Zusammenhänge und beanspruchen keine vollständige Darlegung. Ein Hinweis → verweist auf eine Erklärung in diesem Glossar. Die angegebene Literatur soll einen ersten vertiefenden Einstieg ermöglichen. Auf die Aufnahme allgemeiner zeitgeschichtlicher Begriffe und Vorgänge ist verzichtet worden. Die aufgeführten Personen sind in dem Anhang Kurzbiografien enthalten. Die Angaben zu einzelnen MfS-Diensteinheiten beschränken sich hier auf die Zuständigkeit des in diesem Band schwerpunktmäßig behandelten Zeitraums der Jahre 1986 bis 1989 und sind sehr knapp gehalten. 1 Abt. X Abteilung des MfS für internationale Verbindungen Abt. XII Abteilung des MfS zur Speicherung und Verwaltung von Informationen zu Personen und formgerecht geführten Vorgängen (Registratur und Archivaufgaben) Abt. XXII Vorläuferstruktur der → HA XXII (bis Feb. 1989)
1 Zur strukturellen Gesamtentwicklung siehe insbes. Roland Wiedmann: Die Diensteinheiten des MfS 1950–1989. Eine organisatorische Übersicht. Hg. BStU (MfS-Handbuch). Berlin 2012. Andere MfS-Begriffe sind in der Regel ausführlicher erläutert in: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. 2., erw. Aufl., Berlin 2012. Außerdem sei auf das »MfS-Handbuch« verwiesen: Es kam ab 1995 in 27 Teillieferungen mit über 3 800 Seiten heraus, zeigt die organisatorisch-strukturelle Entwicklung der Diensteinheiten auf (HA II, HA XVIII, HA XX, ZAIG usw.) und stellt ein unverzichtbares Grundlagenwerk dar. Allerdings ist bei der Benutzung des jeweiligen Beitrages das Erscheinungsdatum zu beachten, weil einige ältere Lieferungen nicht immer den aktuellen Erkenntnissen entsprechen. Es liegt gedruckt vor, kann aber auch online eingesehen werden: http://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Publikationen/Reihen/Handbuch/handbuch_node.html.
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Glossar
Abt. 26 Abteilung des MfS für Telefonkontrollen, Abhörmaßnahmen und Videoüberwachung Abt. 26/4 (Unter-)Abteilung des MfS zur Beobachtung von Wohnungen, Institutionen, Fahrzeugen, Haftanstalten und Hotels mit Videokameras bzw. Mikrofonen (→ Maßnahme B + D) Abt. 26/6 Auswertungs(unter)abteilung des MfS mit Spezialisierung auf die Absicherung der DDR-Volkswirtschaft (→ HA XVIII) sowie auf Anzeichen von Ausreiseund Fluchtbewegungen Abt. 26/7 Auswertungs(unter)abteilung des MfS mit Spezialisierung auf die Spionageabwehr und die Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit(→ HA II und → HA XX), inkl. Fernsprechanschlüsse von führenden SED-Funktionären Abt. 26/9 (Unter-)Abteilung des MfS zur Führung von Datenspeichern zu Personen und Sachverhalten und einer Stimmendatenbank Abt. M Abteilung des MfS zur Postkontrolle; ab 1984 auch Postzollfahndung Abt. N Abteilung Nachrichten des MfS zur Organisation und Sicherstellung des Nachrichtenwesens des MfS, der Regierungsnachrichtenverbindungen und des Informationsaustausches mit den Partei- und Staatsführungen der Mitgliedsländer des Warschauer Vertrages und anderer »befreundeter« Länder sowie Sicherung der Nachrichtenübermittlung vom MfS zum Partei- und Staatsapparat AIM Signaturkürzel des MfS für archivierte IM-Vorgänge bzw. archivierte IMVorläufe AKG Auswertungs- und Kontrollgruppe des MfS; Funktionalorgan der Leiter der → BV und der meisten selbstständigen Abteilungen und Hauptabteilungen der MfS-Zentrale mit den Aufgaben Auswertung und Information, Planung,
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Überprüfung und Kontrolle, Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen und Weisungen sowie EDV, auch Öffentlichkeitsarbeit; fachlich von der → ZAIG angeleitet AKK Signaturkürzel des MfS für archiviertes Material aus Kerblochkarteierfassungen Aktion »Falle« Im MfS abteilungsübergreifend verwandtes Codewort für die Durchsuchung der Räume der → »Umweltbibliothek« in der Zionsgemeinde in der Nacht vom 24. zum 25.11.1987 Aktion »Störenfried« Ab Dezember 1987 zunächst interner Codename der → BV Berlin, → Abt. VIII für die Beobachtung, Belehrung und teilweise »Zuführung« von → Mitgliedern der → »Initiative für Frieden und Menschenrechte« (IFM), ab Januar 1988 bis Herbst 1989 abteilungsübergreifend verwandt für die generelle Bearbeitung der Opposition und die tägliche Berichterstattung über deren Aktivitäten an die Leitung des MfS AKSK Arbeitskreis Solidarische Kirche AOP Signaturkürzel des MfS für archivierte → Operative Vorgänge Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR (AGSt) Diese Gruppe konstituierte sich als »Selbsthilfegruppe« am 22.9.1987, um das Recht auf Freizügigkeit zu erwirken. Solche Gruppen gab es seit den 1970er Jahren in der DDR immer wieder (bekanntere z. B. in Riesa oder Jena). Ihre Mitglieder hatten einen Ausreiseantrag gestellt und wollten die DDR verlassen. Viele von ihnen waren auch schon vor dem Ausreiseantrag in Konflikte mit der SED-Diktatur geraten und sind deshalb bereits länger vom MfS beobachtet und verfolgt worden. Die Treffen der AGSt fanden in den Räumen der → »Umweltbibliothek« statt, mehr als 200 Personen zählten als Mitglieder. Am internationalen Tag der Menschenrechte, am 10.12.1987, stellte die Gruppe sich im Rahmen einer Veranstaltung in der Gethsemanekirche in Ost-Berlin vor. Die AGSt bereitete die Teilnahme an der offiziellen LuxemburgLiebknecht-Demonstration am 17.1.1988 mit unabhängigen Transparenten vor. Obwohl die Gruppe nach dieser Aktion zerschlagen schien, nicht zuletzt, weil die meisten Mitglieder aus der Untersuchungshaft heraus in den Westen abgeschoben wurden, bildeten sich in der gesamten DDR nach ihrem Vorbild
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neue Gruppen. Die meisten anderen Oppositionsgruppen blieben auf Distanz zur AGSt, weil sie befürchteten, lediglich zur Ausreise benutzt zu werden. Diese Haltung blieb heftig umstritten. Wolfgang Templin und Regina Weis (Templin) von der → IFM hatten mit der AGSt zusammengearbeitet und deren Ziele unterstützt, was beiden heftige Kritik von einigen Oppositionellen einbrachte. Literatur: Günter Jeschonnek: Ausreise – das Dilemma des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates?, in: Ferdinand Kroh (Hg.): »Freiheit ist immer Freiheit …« Die Andersdenkenden in der DDR. Frankfurt/M., Berlin 1988, S. 234–270 Arbeitskreis Solidarische Kirche (AKSK) Am 7. Oktober 1986, dem 37. DDR-Gründungstag, veröffentlichte der AKSK in Ost-Berlin eine »Basiserklärung«, die als Gründungsdokument gilt. Der AKSK war in allen Regionen präsent, von vielen Regionalgruppen getragen und hatte zwischen 300 bis 400 Mitglieder. Von der Kirchenleitung ist er offiziell nicht anerkannt worden. Der AKSK zählte wie die → »Kirche von Unten« zu den kirchlichen, aber auch politischen Oppositionsvereinigungen. Der Arbeitskreis verband nicht nur kritische Kirchenmitarbeiter miteinander. Da fast alle auch in anderen Basisgruppen mitarbeiteten, fungierte die »Solidarische Kirche« selbst als ein Netzwerk, das zum allgemeinen Informationspool geriet. Zweimal jährlich fanden Vollversammlungen statt, jeweils am 1. Mai und am 7. Oktober – staatliche Feiertage, an denen kirchliche Mitarbeiter, soweit sie nicht in der Diakonie tätig waren, frei hatten. Ein Teil der Energie politischen Handelns verblieb in innerkirchlichen Auseinandersetzungen, weil es dem AKSK auch um die Durchsetzung demokratischer Prinzipien innerhalb der evangelischen Kirchen ging. Die Organisation des AKSK war mit einem genuin politischen Anspruch verbunden: die Entscheidungsstrukturen und Sprecher/Sprecherinnen sind demokratisch legitimiert worden, was innerhalb der Opposition keinen Regelfall darstellte, aber vor allem im scharfen Kontrast zur gesellschaftlichen und staatlichen Realität in der DDR stand. Diese bewusste Entscheidung für demokratische Strukturen und Verfahrensweisen gehörte zu den Vorbedingungen demokratischen Handelns 1989, wie sie auch einige Synoden der evangelischen Kirchen 1987/89 symbolisierten. Insgesamt gehörte der AKSK zu jenem Teil der politischen Opposition, der die Durchsetzung der Menschenrechte in Staat und Gesellschaft zum wichtigsten Ziel erklärt hatte. Dazu zählte auch, sich für diejenigen einzusetzen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Der AKSK trat öffentlich im Umfeld der Kommunalwahlen im Mai 1989 und bei Protesten gegen die Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung im Juni 1989 in Erscheinung. Im Herbst 1989 spielte der AKSK keine herausgehobene Rolle, weil die meisten Mitglie-
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der sich politischen Gruppen der Bürgerbewegung anschlossen bzw. diese mit initiierten. Literatur: Joachim Goertz (Hg.): Die Solidarische Kirche in der DDR. Erfahrungen, Erinnerungen, Erkenntnisse. Berlin 1999 Arche, Grün-ökologisches Netzwerk Dessen Gründung erfolgte im Januar 1988 von Oppositionellen aus dem Umfeld der → »Umweltbibliothek« in Ost-Berlin. Das Ziel bestand in einer landesweiten Vernetzung unabhängiger Umweltgruppen. Außerdem ist die enge Zusammenarbeit mit Umweltgruppen in West- und Osteuropa angestrebt worden. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit einigen Mitarbeitern der »Umweltbibliothek«, weil diese eine Spaltung befürchteten und daher einen »Unvereinbarkeitsbeschluss« herbeiführten. Eine Doppelmitgliedschaft in Arche und UB war demnach nicht möglich. In der Praxis aber gab es zahlreiche Ausnahmen. Die Arche entwickelte sich 1988/89 zu einer der wichtigsten, landesweit arbeitenden Oppositionsgruppen. Sie gab eine → Samisdatzeitschrift (Arche Nova) heraus. Einige Köpfe der Arche betrieben die am 24.11.1989 erfolgte Gründung der »Grünen Partei der DDR«. Literatur: Carlo Jordan, Hans Michael Kloth (Hg.): Arche Nova. Opposition in der DDR. Das »Grün-ökologische Netzwerk Arche« 1988–90. Mit den Texten der Arche Nova. Berlin 1995; http://www.ddr-samisdat.de/ AZI Signaturkürzel des MfS für archivierte Vorgänge von Zelleninformatoren BCD Abteilung Bewaffnung und Chemischer Dienst mit der Aufgabe, die namensgebenden Dinge für alle MfS-Diensteinheiten bereitzustellen BdL Büro der Leitung des MfS; im Archiv u. a. relevant als Ablage für Befehle, Richtlinien, Dienstanweisungen u. Ä. und daher Bestandteil von Archivsignaturen Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK, oft auch als »Bund« bezeichnet) Die »Evangelische Kirche der Union« (EKU), die Mitglied der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war, vereinigte seit 1954 sieben Gliedkirchen, davon fünf auf DDR-Gebiet gelegen. Eine normale Mitarbeit war für die ostdeutschen Protestanten in der EKD wegen des Mauerbaus 1961 jedoch nicht mehr zu bewerkstelligen. Deshalb bedeutete die Gründung des Bundes 1969, die evangelischen Kirchen in der DDR als Gesamtkörperschaft wieder
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handlungsfähig zu machen. Der »Bund« verfügte offiziell über den Zusatz »in der DDR«. Allerdings bekannte er sich stets zur Christenheit in ganz Deutschland. Die Formel »Kirche im Sozialismus« wurde zum Markenzeichen, auch wenn sie stets unscharf und umstritten blieb. Durch die beibehaltene Benennung der Landeskirchen (Ev. Kirche Berlin-Brandenburg, der Kirchenprovinz Sachsen, Greifswalds, Landeskirche Anhalts, des Görlitzer Kirchengebiets sowie die Lutherischen Landeskirchen Sachsens, Thüringens und Mecklenburgs) blieb eine Gegenstruktur zur DDR-Bezirkseinteilung, die 1952 zur Auflösung der Länder geführt hatte. Zu den 8 Gründungsmitgliedern trat 1970 die Herrnhuter Brüdergemeine hinzu. Über die Arbeit der Synoden bzw. die (Versuche der) Zusammenarbeit mit → AKSK und → »Kirche von Unten« wurden an den »Bund« auch immer wieder politische Basisthemen herangetragen. Der »Bund« löste sich 1991 auf und die ostdeutschen Landeskirchen erneuerten ihre ruhende Mitgliedschaft in der EKD. Literatur: Peter Maser: Die Kirchen in der DDR. Bonn 2000 BV Bezirksverwaltung des MfS. Neben der Zentrale des MfS mit ihren zahlreichen Hauptabteilungen und selbstständigen Abteilungen gab es in jeder Bezirkshauptstadt der DDR eine eigene Bezirksverwaltung des MfS (also 15 in der gesamten DDR). BV Berlin Bezirksverwaltung des MfS in Berlin. BV Berlin, Abt. VIII Berliner Bezirksstruktur des MfS mit den Aufgaben der → HA VIII; war u. a. eingebunden in die Beobachtung, Belehrung und »Zuführung« von Oppositionellen BV Berlin, Abt. XX Berliner Bezirksstruktur des MfS mit den Aufgaben der → HA XX BV Berlin, Abt. XX/2 Berliner Bezirksstruktur des MfS mit den Aufgaben der → HA XX/2 BV Berlin, AG XXII Berliner Bezirksstruktur des MfS mit den Aufgaben der → HA XXII BV Dresden, Abt. XVIII Dresdner Bezirksstruktur des MfS mit den Aufgaben der → HA XVIII
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BV Dresden, KD Dresden-Stadt Territoriale Unterstruktur des MfS: Bezirksverwaltung → Kreisdienststelle BV Gera, Abt. XX Geraer Bezirksstruktur des MfS mit den Aufgaben der → HA XX BV Gera, Abt. XX/2 Geraer Bezirksstruktur des MfS mit den Aufgaben der → HA XX/2 BV Gera, Abt. XX/AI Geraer Bezirksstruktur des MfS mit den Aufgaben der → HA XX/AKG, hier insbesondere Auswertung und Information BV Gera, KD Jena Territoriale Unterstruktur des MfS: Bezirksverwaltung → Kreisdienststelle CEKO Centrales Kontrollsystem; einheitliches Abhörsystem der → Abt. 26 des MfS »Charta 77« Diese Oppositionsbewegung in der ČSSR entstand in Reaktion auf die Verfolgung der avantgardistischen Rockband »Plastic People oft the Universe«. Die Band hatte sich im September 1968 gegründet und ihren Bandnamen vom ersten Titel der LP »Absolutely Free« (1967) von Frank Zappa abgeleitet. Die Band war seit 1970 Verfolgungen ausgesetzt und ist 1976 verboten worden, deren Mitglieder sind verhaftet, inhaftiert und verurteilt worden. Das war der Auslöser dafür, dass sich Oppositionelle zusammenschlossen und zum 1.1.1977 die »Charta 77« veröffentlichten. Den Aufruf für die Wahrung der Menschenrechte in der ČSSR unterzeichneten zum 1.1.1977 knapp 250 Personen, am Ende des Jahres gab es etwa 800 Signatare. Bis 1989 kamen über 1 200 hinzu. Aber nicht die Masse allein war entscheidend, sondern der Umstand, dass zur »Charta 77« ein Großteil der intellektuellen Gegenelite, wie sie sich nach 1968 herausgebildet hatte, zählte. Die »Charta 77« gab im → Samisdat Informationsblätter und Druckerzeugnisse heraus, veröffentlichte ständig Protesterklärungen, stellte Öffentlichkeit her und verfügte im westlichen Ausland über Unterstützer unter ehemaligen Landsleuten, die nach 1968 emigrieren mussten. Sie war ein wesentlicher Motor der Revolution 1989 und aus ihr heraus rekrutierten sich viele wichtige Persönlichkeiten in der postkommunistischen Ära. Zu den bekanntesten Vertretern der »Charta 77« zählten u. a. Rudolf Battěk, Jiří Dienstbier, Jiří Gruša, Jiří Hájek, Václav Havel, Ladislav Hejdánek, Pavel Kohout, Zdeněk Mlynář, Jan Patočka, Anna Šabatová, Petr Uhl oder Ludvík Vaculík. Die → IFM orientierte sich ebenso an der
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»Charta 77« wie viele andere Bürgerrechtsbewegungen in der gesamten Welt, so u. a. die »Charta 97« von belorussischen Oppositionellen oder die »Charta 08« von etwa 5 000 chinesischen Systemkritikern. Demokratie Jetzt (DJ) Die Bürgerbewegung DJ trat im September 1989 an die Öffentlichkeit und forderte demokratische Reformen ein. Der Gründerkreis bestand aus Intellektuellen, die diese Konstituierung seit Jahresbeginn vorbereitet hatten. Der engere Kreis hatte bereits seit Mitte der 1980er Jahre zusammengearbeitet und verschiedene oppositionelle Aktivitäten initiiert. DJ gehörte im Herbst 1989 zu den wichtigsten und einflussreichsten Oppositionsgruppen. Zu den Repräsentanten von DJ zählten u. a. Stephan Bickhardt, Hans-Jürgen Fischbeck, Ludwig Mehlhorn, Ulrike Poppe, Wolfgang Ullmann oder Konrad Weiß. DJ war am zentralen Runden Tisch vertreten. 1991 ging DJ durch Zusammenschluss mit der → IFM und Teilen des → Neuen Forums im Bündnis 90 auf. Literatur: Ludwig Mehlhorn: »Demokratie jetzt«, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 573–597; Martin Gutzeit, Helge Heidemeyer, Bettina Tüffers (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen Gruppen 1989/90. Düsseldorf 2011 Demokratischer Aufbruch (DA) Die Gründung des DA ist seit Juni 1989 betrieben worden, der Gründungsaufruf kam am 2.10.1989 heraus, die formale Gründung erfolgte im Dezember. Der DA war eine Sammlungsbewegung, die vor allem ev. Pfarrer initiiert hatten. Dazu gehörten u. a. Rainer Eppelmann, Ehrhart Neubert, Rudi Pahnke, Edelbert Richter und Friedrich Schorlemmer. Der erste Vorsitzende war Wolfgang Schnur. Als dessen IM-Tätigkeit kurz vor den Wahlen am 18.3.1990 bekannt wurde, übernahm Rainer Eppelmann den Vorsitz. Im Februar 1990 war der DA Teil der »Allianz für Deutschland« geworden, ein Wahlbündnis der CDU, in dem der DA die Bürgerbewegung repräsentierte. Im August 1990 trat der DA der CDU bei. Literatur: Ehrhart Neubert: Der »Demokratische Aufbruch«, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 537–571; Martin Gutzeit, Helge Heidemeyer, Bettina Tüffers (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen Gruppen 1989/90. Düsseldorf 2011
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»dialog«-Hefte Von 1985 bis 1989 stellten Jürgen Fuchs und Roland Jahn in West-Berlin unter dem Titel »dialog« unregelmäßig für die Opposition in Ost-Berlin eine Pressesammlung zusammen. Darin waren aber auch Kopien aus Büchern, Zeitschriften u. a. enthalten. Die Themen reichten von der westlichen Berichterstattung über die Aktivitäten der Opposition in der DDR und Osteuropa über weltweite Fragen der Menschenrechte bis hin zu literarischen Texten und Essays. Immer wieder sind auch Briefe und andere nicht veröffentlichte Dokumente aufgenommen worden. Insgesamt gibt es 65 Ausgaben, die von Politikern und Journalisten nach Ost-Berlin gebracht worden sind. In der → »Umweltbibliothek« z. B. konnten sie gelesen werden. Eine Gesamtausgabe liegt im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft. Europäisches Netzwerk für den Ost-West-Dialog Eine blockübergreifende Bürgerbewegung, die 1984 gebildet worden war. Sie ging u. a. aus der Westberliner »Initiative für den Ost-West-Dialog« hervor. Das 1986 verabschiedete Memorandum »Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen« zeigt bereits im Titel worum es dem Netzwerk ging: um Entspannung von unten, Kontakte zwischen Gruppen und Einzelpersonen und gegen die Instrumentalisierung der Friedensbewegung durch Moskau. Es verstand sich als Gruppe, die den → KSZE-Prozess von »unten« begleitete. Das MfS stufte das Netzwerk als »feindlich« ein. Neben Dissidenten aus Polen, Ungarn oder der ČSSR unterhielt das Netzwerk auch intensive Kontakte zur Opposition in der DDR, etwa zur → IFM und zur → »Umweltbibliothek«. »Frauen für den Frieden« (FfF) Seit Anfang 1980 bildeten sich in mehreren Ländern Westeuropas solche Gruppen, die sich als Teil der Friedensbewegung verstanden. Als im März 1982 in der DDR ein neues Wehrdienstgesetz herauskam und dieses vorsah, dass im Fall der Mobilmachung auch Frauen der Wehrpflicht unterlägen, protestierten dagegen im Oktober 1982 etwa 150 Frauen aus der DDR. Dies war der Ausgangspunkt, der zur Bildung der FfF in der DDR führte. Die FfF waren kirchenunabhängig, verfügten über Gruppen in der ganzen DDR und zählten zu den wichtigsten und größten Oppositionsgruppen. Ihre Themengebiete umfassten eine breite Palette gesellschaftlicher Probleme und blieben nicht auf Friedensfragen beschränkt. Das MfS verfolgte die FfF in dem → ZOV »Wespen«. Zu den bekanntesten Mitgliedern gehörten Bärbel Bohley, Antje Böttger, Katrin Eigenfeld, Katja Havemann, Irena Kukutz, Ulrike Poppe, Bettina Rathenow oder Jutta Seidel. Die FfF lösten sich Mitte 1989 auf. Viele Mitglieder, die auch in den Jahren zuvor in anderen Oppositionsgruppen aktiv waren, bildeten nun die neuen Bürgerbewegungen mit oder traten diesen bei.
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Literatur: Irena Kukutz: Die Bewegung »Frauen für den Frieden« als Teil der unabhängigen Friedensbewegung der DDR, in: Materialien der EnqueteKommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. VII/2, S. 1285–1408 »Friedenskreis Berlin-Friedrichsfelde« (FkF) Diese Oppositionsgruppe konstituierte sich 1984 in der Berliner Kirchgemeinde Friedrichsfelde und wurde meist »Friedrichsfelder Friedenskreis« genannt. Sie ging aus einer 1977 gebildeten Friedensgruppe (»Anstiftung zum Frieden«) bei der ESG Ost-Berlins hervor, die 1982/83 nach heftigen Konflikten mit der Kirchenleitung der ESG verwiesen wurde. Der FkF hatte ein linkes und antikapitalistisches Selbstverständnis und stand später der → »Umweltbibliothek« und der → »Kirche von Unten« nahe. Es gab zum Teil personelle Überschneidungen, auch mit der in Gegensatz zur → IFM gebildeten Gruppe → »Gegenstimmen«. Der FkF organisierte Seminare, Veranstaltungen, initiierte Proteste und gab die → Samisdatzeitschrift → »Friedrichsfelder Feuermelder« heraus. Der FkF ist intensiv vom MfS verfolgt worden. Mehrere einflussreiche Mitglieder arbeiteten als IM für das MfS und versuchten, den FkF zu zersetzen. Zu den bekanntesten Köpfen des FkF zählte u. a. Reinhard Schult, der, wie andere Mitglieder, an der Gründung des → Neuen Forums beteiligt war. Literatur: Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007 »Friedenskreis Pankow« (FkP) Dieser kirchliche Friedenskreis bildete sich im November 1981 und beschäftigte sich zunächst mit Friedensfragen, später mit einem breiteren Spektrum gesellschaftlicher Probleme. Er gliederte sich in thematische Untergruppen. Zu seinen Aufgaben gehörte auch das Sammeln und Verbreiten offiziell unterdrückter Informationen. Zeitweilig war der FkP eine der zahlenmäßig größten Oppositionsgruppen. 1988/89 verlor er an Bedeutung, zumal MfS und SED ihn mit Erfolg seit 1983 mit Zersetzungsmaßnahmen überzogen hatten. Einige seiner aktivsten Mitglieder beteiligten sich im Herbst 1989 an der Gründung des → Neuen Forums oder der → SDP. Literatur: Marianne Subklew-Jeutner: Der Pankower Friedenskreis. Geschichte einer Ost-Berliner Gruppe innerhalb der Evangelischen Kirchen in der DDR 1981–1989. Osnabrück 2004; dies. (Hg.): Ich wurde mutiger. Der Pankower Friedenskreis – politische Selbstbehauptung und öffentlicher Widerspruch. Berlin 2009
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»Friedenskreis Weißensee« (FkW) Diese bei einer Kirchgemeinde 1983 gebildete Oppositionsgruppe protestierte zunächst gegen die Aufrüstung in Ost und West und weitete dann ihre Themen kontinuierlich aus. Im Vorfeld der Kommunalwahlen 1989 wurde der FkW bekannter, weil von ihm die Initiative ausging, die öffentliche Auszählung der Wahlen zu verfolgen, um so den systematischen Wahlbetrug zu dokumentieren. Nach den Wahlen initiierte er die an jedem 7. eines Monats auf dem Berliner Alexanderplatz durchgeführten Proteste gegen die Wahlfälschungen. »Friedrichsfelder Feuermelder« Dieses von 1987 bis 1989 vom → »Friedenskreis Berlin-Friedrichsfelde« herausgegebene Periodikum erschien im → Samisdat. Es sind 19 Ausgaben in einer Auflage zwischen 200 und 2 000 Exemplaren verteilt worden. Daneben gab es 14 Hefte des »Friedrichsfelder Extrablatts«. Sie sind mit Wachsmatrizen vervielfältigt worden. Zur Redaktion gehörten u. a. Tina Krone und Reinhard Schult. Noch vor der ersten Ausgabe brachte das MfS eine gefälschte Ausgabe als 1/87 in Umlauf. Diese ist daran zu erkennen, dass die auf dem Titelblatt abgebildete Glocke nach links statt wie in den Originalausgaben nach rechts zeigt. Der »Friedrichsfelder Feuermelder« und das »Extrablatt« liegen komplett im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft vor. Literatur: Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007; http://www.ddr-samisdat.de/ »Gegenstimmen« Diese Ostberliner Oppositionsgruppe bildete sich nach Auseinandersetzungen um ein in Kirchenräumen im November 1985 geplantes, aber von der Kirche verbotenes und vom MfS verhindertes Menschenrechtsseminar. Sie verstand sich als marxistische Gegengruppe zur → IFM. Zu den Gründern zählten neben mehreren IM des MfS u. a. Reinhard Schult, Thomas Klein, Vera Lengsfeld (Wollenberger). »Gegenstimmen« initiierten u. a. Proteste gegen Atomkraftwerke (1986) oder gegen den IWF (1988). Mitglieder der Gruppe waren maßgeblich an der Gründung der → »Kirche von Unten« (KvU) beteiligt. Einige Gründer verließen 1988/89 diese Gruppe, andere gründeten im Herbst 1989 die Gruppe → Vereinigte Linke mit. Literatur: Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007
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GMS Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit des MfS; in dieser Kategorie wurden Personen erfasst, die als systemtreu galten, fast ausschließlich SEDMitglieder waren, beruflich nahezu durchweg systemtragende Positionen einnahmen und die sich meist neben ihren offiziellen Kontakten auch zu einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS bereit erklärt hatten. Anders als → IM wurden sie meist »berufen«, auch die Aktenführung unterlag anderen Regeln und war nicht so strikt geregelt wie bei IM-Vorgängen. Die Kategorie GMS ist vom MfS eingeführt worden, um die hohe Anzahl der SEDMitglieder bei IM-Vorgängen gesondert zu handhaben. In der Forschung ist umstritten, inwiefern GMS generell als IM zu gelten haben. »Grenzfall« Am 29.6.1986, zur Berliner Friedenswerkstatt, erschien der erste »Grenzfall«. Es war eine fotochemisch vervielfältigte und im 18-x-24-cm-Format gehaltene Ausgabe, die Berichte, Erklärungen und einen Liedtext der tschechischen Band »Plastic People of the Universe« enthielt. Im Editorial ist das Selbstverständnis umschrieben worden: »Die Gruppe ›Grenzfall‹ versteht sich als ein unabhängiger, selbständiger Arbeitskreis innerhalb der Friedensbewegung. Sie will versuchen, ein DDR-weites Informationsnetz auf- und auszubauen, um den einzelnen Friedens-, Ökologie-, Menschenrechts-, 2./3.-Welt- und sonstigen Gruppen, die über staatliche Medien keine Möglichkeit zur Informationsweitergabe bzw. -verbreitung besitzen, den Weg zur Verständigung untereinander zu ebnen.« Die Redaktionsgruppe bestand zunächst aus Peter Grimm, Peter Rölle und Reiner Dietrich (IM »Cindy«). Für die Herausgabe engagierte sich zudem Ralf Hirsch. Dass sie der → IFM angehörten, ist erst ab dem sechsten Heft deutlich gemacht worden. Dass der »Grenzfall« der IFM nahestand, war an den Inhalten ersichtlich, weshalb er immer als Samisdatpublikation dieser galt. Der »Grenzfall« kam bis Anfang 1988 insgesamt in 15 Ausgaben heraus: 1986 drei Mal unregelmäßig (die zweite Ausgabe etwa im DIN-A6-Format, ab der dritten im A4-Format), 1987 monatlich, ehe dann die letzte Ausgabe als Doppelnummer 11–12/1987 wegen der Durchsuchung der → »Umweltbibliothek« im November 1987 durch die Staatssicherheit erst im Januar 1988 erscheinen konnte. Danach folgten noch zwei Ausgaben. Die Auflagenhöhe schwankte – nachdem das erste Heft 50 Exemplare aufwies – zwischen 800 und 1 000 Exemplaren; die Zeitschrift wurde mit Wachsmatrizen vervielfältigt. Der »Grenzfall« war »die erste originäre politische Untergrundzeitschrift seit Gründung der DDR 1949«, ist 1988 in der Bundesrepublik im »Deutschland Archiv« festgehalten worden. Der Name war Programm, wie schon die Titelgrafik auf der ersten Ausgabe verdeutlichte: Grenzen müssen fallen. Der ab der zweiten Ausgabe typische Grenzschlagbaum, der morsch und bröckelnd von einer zerschlissenen Straße und wild wuchernden Pflanzen umrankt ver-
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kündet, Grenzen sind dicht und durchlässig zugleich, symbolisierte, der »Grenzfall« ist ein Periodikum, das die Menschenrechte in den Blick nimmt, ihre Einhaltung einfordert und dafür selbst hohe Risiken eingeht. Im »Grenzfall« wurden Beiträge zur Menschen- und Bürgerrechtsproblematik in der DDR publiziert, aufbereitet durch Meldungen, Hintergrund- oder Augenzeugenberichte. Staatliche Repressionen in der DDR sind ebenso thematisiert worden wie die Lage der Menschenrechte und die Situation oppositioneller Gruppierungen in den anderen kommunistischen Staaten Europas. Um sich vor staatlichen Übergriffen zu schützen, wussten nur die Mitglieder, die direkt an der Herstellung beteiligt waren, wo und wann gedruckt wurde. 1986 war der »Grenzfall« auch Vorbild für die Herausgabe der → »Umweltblätter«. Beide Blätter arbeiteten eng zusammen. Nach dem Januar 1988 erschienen noch zwei Hefte des »Grenzfalls« (1–12/88 und 6/89). Die ungewöhnliche Zählung hing damit zusammen, dass zwischen beiden Heften noch eine Ausgabe 1–5/89 herausgegeben wurde, allerdings von namentlich nicht bekannten Mitgliedern einer »IFM Suhl«, die keinen Kontakt zur IFM in Berlin hatte. Die beiden »offiziellen« Hefte waren von Reinhard Weißhuhn und Bärbel Bohley sowie bei 6/89 zusätzlich von Peter Grimm und Peter Rölle zusammengestellt worden. Reiner Dietrich (IM »Cindy«) konnte nicht nur wie auch bei anderen Samisdatprodukten der IFM die technische Seite der Herstellung immer wieder verzögern, er erzeugte auch erfolgreich Zwietracht, sodass Rölle und Grimm bei Heft 1–12/88 nicht beteiligt waren. Ein im Auftrag des MfS erstelltes Gutachten von drei Professoren der HUB kam am 15.1.1988 zu dem Schluss, der »Grenzfall« erfülle den Tatbestand der »staatsfeindlichen Hetze«. Die ersten 15 Hefte sind als Nachdruck 1989 in West-Berlin erschienen. Im Oktober 1989 kam noch eine Ausgabe 7–10/89 heraus, deren Herausgeberschaft zwar mit IFM angegeben wurde, die tatsächliche Verantwortung ist aber bislang unbekannt. Literatur: Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.): Initiative Frieden und Menschenrechte – Grenzfall. Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87). Berlin 1989; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; http://www.ddr-samisdat.de/ HA II Hauptabteilung des MfS für Aufgaben der Spionageabwehr HA II/13 Abteilung des MfS für die geheimdienstliche Überwachung von ausländischen Journalisten und Korrespondenten, inkl. Versuche des Eindringens in die Redaktionen westlicher Publikationsorgane
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HA II/AGA Arbeitsgruppe Ausländer des MfS für die Sicherung, Kontrolle und Bearbeitung von in der DDR ansässigen Ausländern HA III Hauptabteilung des MfS für Funkaufklärung und Funkabwehr seit 1983 durch Zusammenlegung von Abteilungen HA III/1 Abteilung des MfS zur Auswertung, Analyse und Speicherung der einlaufenden Informationen, inkl. Koordinierung des Informationsflusses an die übrigen Linien des MfS HA III/1/3 Innerhalb der → HA III/1 als Referat des MfS u. a. für Sicherung der Staatsgrenze und »Republikflucht« zuständig HA III/1/6 Innerhalb der → HA III/1 als Referat des MfS für Geheimdienste zuständig HA V Hauptabteilung des MfS zur Bearbeitung von Kultur, Kirchen und Opposition sowie zur Absicherung des Staatsapparates, des Bildungswesens, Blockparteien, Massenorganisationen und Sport (bis 1964); → HA XX HA VIII Hauptabteilung des MfS für Beobachtungs- und Ermittlungsaufgaben HA VIII/6 Abteilung des MfS speziell für Beobachtungen im westlichen Ausland HA IX Untersuchungsorgan des MfS für strafrechtliche Ermittlungen auch mit den Befugnissen einer offiziellen staatlichen Behörde HA IX/1 Abteilung des MfS für Ermittlungsverfahren bei Spionageverdacht HA IX/2 Abteilung des MfS für Ermittlungsverfahren und die Bekämpfung der »politischen Untergrundtätigkeit« sowie Schmuggel- und Eigentumsdelikte
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HA XVIII Hauptabteilung des MfS für die Absicherung der Volkswirtschaft (einschließlich außeruniversitärer Forschung) HA XVIII/5 Abteilung des MfS für die Absicherung von Wissenschaft, Technik und der Akademie der Wissenschaften HA XX Hauptabteilung des MfS zur Bearbeitung von Kultur, Kirchen und Opposition sowie zur Absicherung des Staatsapparates, des Bildungswesens, Blockparteien, Massenorganisationen und Sport (ab 1964) HA XX/AKG Auswertungs- und Kontrollgruppe, → AKG der → HA XX des MfS HA XX/2 Abteilung des MfS mit Spezialisierung auf staatsfeindliche Hetze, FDJ und Jugendpolitik, aber auch Nazi- und Kriegsverbrechen (hier jedoch insbesondere: Aufklärung und Bearbeitung staatsfeindlicher Erscheinungen) HA XX/2/I Referat des MfS zur Bearbeitung der politischen Untergrundtätigkeit; nach einer Umstrukturierung ab 1988 spezialisiert auf die Verfolgung staatsfeindlicher Hetze HA XX/2/A Referatsähnliche Struktureinheit für Auswertungsaufgaben in der → HA XX/2 des MfS HA XX/4 Abteilung des MfS zur Bearbeitung der Kirchen und Religionsgemeinschaften HA XX/5 Abteilung des MfS zur vorgangs- und personenbezogenen Arbeit in das westliche Ausland (→ Operationsgebiet); insbesondere bezogen auf die blockübergreifenden Initiativen der Friedensbewegung, die Grünen bzw. AL, aber auch ehemalige DDR-Bürger mit aktiven Rückverbindungen in die DDR HA XX/5/II Referat des MfS, das diejenigen ehemaligen DDR-Bürger in West-Berlin und der Bundesrepublik bearbeitete, die das MfS als »aktive Feinde« ansah
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HA XX/6 Abteilung des MfS zur Bearbeitung von Kultur und Massenkommunikationsmitteln HA XX/8 Abteilung des MfS zur Sicherung der Volksbildung sowie des Hoch- und Fachschulwesens HA XX/9 Abteilung des MfS zur Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung »politischer Untergrundtätigkeit« HA XXII Hauptabteilung des MfS zur Aufdeckung, Verhinderung und Bekämpfung von Terror- und anderen bedeutsamen Gewaltakten HA S Vorläufer der → Abt. 26 des MfS HA IX Hauptabteilung Untersuchung HV A Hauptverwaltung A; Spionageabteilung des MfS. Der Ordnungsbuchstabe A wird oftmals, aber unzutreffend mit »Aufklärung« aufgelöst. HV A/IX/B Abteilung u. a. zur Bearbeitung feindlicher Zentren im → Operationsgebiet, Bereich B zur Absicherung legal abgedeckter Residenturen HV A/X Abteilung des MfS für sogenannte »aktive Maßnahmen«, auch der Desinformation IFM »Initiative für Frieden und Menschenrechte« IMB Kategorie für Inoffizielle Mitarbeiter des MfS »mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen«. Am 31.12.1988 zählte die MfS-interne Statistik genau 3 894 IMB, was im Verhältnis zu den vom MfS erfassten 109 000 IM-Vorgängen (ohne →
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GMS und → IMK) zeigt, dass diese IM-Kategorie im MfS als besonders wertvoll und »hochkarätig« eingestuft worden ist. IMB sind u. a. in der Opposition und in den Kirchen eingesetzt worden bzw. dort, wo es regelmäßige Westkontakte gab. IMK (Ober-)Kategorie für Inoffizielle Mitarbeiter des MfS zur Sicherung der Konspiration. Es existierten fünf Unterkategorien, 1989 sind mehr als 30 000 IMK-Vorgänge vom MfS erfasst worden, ein beträchtlicher Anteil davon waren legendierte hauptamtliche oder inoffizielle MfS-Mitarbeiter, bei vielen anderen IMK-Vorgängen lassen sich keine Personenerfassungen nachweisen, bei noch anderen wiederum sind zwei Personen (Ehepaare) erfasst worden; in der Forschung ist die Frage umstritten, inwiefern diese IMK überhaupt in die IM-Statistik, wie es nach 1990 bis heute oftmals geschieht – das MfS selbst tat das nicht –, einbezogen werden können. IMK/KW IMK zur Betreuung einer Konspirativen Wohnung IMK/KO IMK zur Betreuung eines Konspirativen Objekts IMS Kategorie für Inoffizielle Mitarbeiter des MfS »zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches«. Das ist der »gewöhnliche« IM. Am 31.12.1988 stufte das MfS rund 93 500 von den als IM erfassten 109 000 Vorgängen (ohne → GMS und → IMK) in die Kategorie IMS ein. »Initiative Frieden und Menschenrechte« (IFM) Die Bildung der »Initiative Frieden und Menschenrechte« erfolgte von Herbst 1985 bis Januar 1986. Vorbild war dabei die → »Charta 77«. Die IFM war inhaltlich ähnlich ausgerichtet, organisierte Protestaktionen und Informationsveranstaltungen, gab im → Samisdat Veröffentlichungen und die Zeitschrift → »Grenzfall« heraus, verbreitete »unterdrückte Informationen« und gab öffentliche Erklärungen ab. Sie nutzte westliche Medien für die Verbreitung ihrer Erklärungen und Aktivitäten und unterhielt Kontakte zu Oppositionsgruppen in Polen, der ČSSR, Ungarn und der Sowjetunion ebenso wie zu politischen Gruppen und Parteien in der Bundesrepublik und Westeuropa. Anders als die »Charta 77« verfügte sie über keine feste Arbeitsstruktur und keine gewählten Sprecher. Das änderte sich erst im Laufe des Jahres 1989, als sie ab März 1989 ihre landesweite Ausdehnung mit entsprechenden Struktu-
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ren anstrebte, was im Oktober umgesetzt worden ist. Die IFM war von Anfang an kirchenunabhängig und blockübergreifend orientiert. Ihr Ziel bestand darin, die Jalta-Nachkriegsordnung zu überwinden. Inneren und äußeren Frieden sah sie als aufeinander bezogen an. Politisch war sie heterogen zusammengesetzt. Anders als die meisten anderen Oppositionsgruppen vertrat sie kein dezidiert linkes Selbstverständnis. Im Zentrum stand das Engagement für die Durchsetzung der politischen Grund- und Freiheitsrechte, die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Sie versuchte, »nicht zugestandene Rechte so wahrzunehmen, als seien sie bereits zugestanden«. Aufgrund einer fehlenden Struktur lässt sich nicht genau bestimmen, wie viele Personen zur IFM zählten. Zum Kern gehörten etwa 15 Personen, die alle vom MfS viele Jahre verfolgt und in eigenständigen → OV und → OPK bearbeitet wurden. Einen Gruppenvorgang der Stasi gab es nicht, obwohl die IFM wie kaum eine andere Oppositionsgruppe in den 1980er Jahren vom MfS verfolgt worden ist. Das MfS hatte mehrere IM an den Führungskern der IFM eingeschleust, die aber die Tätigkeit der IFM kaum beeinflussen konnten. Die Durchsuchung der → »Umweltbibliothek« im November 1987 war ebenso von SED und MfS hauptsächlich als Schlag gegen die IFM gedacht wie die Ereignisse und Folgen der → LuxemburgLiebknecht-Demonstration. Mit Bärbel Bohley, Werner Fischer (bis 3.8.1988), Ralf Hirsch, Regina und Wolfgang Templin sind einige der wichtigsten Protagonisten der IFM faktisch ausgebürgert worden. Gerd und Ulrike Poppe, Reinhard Weißhuhn, Martin Böttger und Peter Grimm z. B. konnten in Ost-Berlin bleiben. Im Sommer/Herbst 1989 waren einzelne IFMMitglieder an einigen Neugründungen wie dem → Neuen Forum, → Demokratie Jetzt oder der → Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) beteiligt. Die IFM blieb daneben selbstständig aktiv und war an allen Aktionen der Opposition beteiligt. IFM-Vertreter saßen auch am zentralen Runden Tisch und in der Volkskammer. Die IFM ging im September 1991 in der Partei Bündnis 90 auf, in der sich neben ihr und Demokratie Jetzt auch Teile des Neuen Forums zusammenschlossen. Literatur: Wolfgang Templin, Reinhard Weißhuhn: Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 171–211; Gerd Poppe: Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, in: ebenda, S. 349–377; Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009 »Kirche von Unten« (KvU) 1987 fand erstmals wieder ein evangelischer Kirchentag in Ost-Berlin statt. Dieses Zugeständnis dem SED-Staat abgetrotzt zu haben, forderte der Kirchenleitung zugleich einige Kompromisse ab. So durfte sie 1987 keine Frie-
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denswerkstatt abhalten lassen. Als diese Entscheidung im Herbst 1986 bekannt wurde, gab es erhebliche Kritik daran. Hinzu kam, dass die Kirchenleitung die → Offene Arbeit in Berlin zunehmend behinderte und zum Beispiel die Einrichtung eines demokratisch selbstverwalteten Zentrums zu verhindern wusste und die Basisgruppen vom Kirchentag weitgehend ausgeschlossen bleiben sollten. Es entstand im Umfeld des → »Friedenskreises Berlin-Friedrichsfelde«, der → »Umweltbibliothek«, des → »Arbeitskreises Solidarische Kirche«, der → »Gegenstimmen« und anderer Gruppen die Idee, einen unabhängigen »Kirchentag von Unten« (KtvU) zu organisieren. Da die Kirchenleitung auch dies verhindern wollte, ist mit einer Kirchenbesetzung während des Kirchentages gedroht worden. Einen Tag vor Beginn des Kirchentages veranlasste Manfred Stolpe, dass den Basisgruppen Gemeinderaum und Hof der Pfingstgemeinde in Berlin-Friedrichshain zur Verfügung gestellt würde. Dieser KtvU übertraf mit 6 000 Besuchern alle Erwartungen. In einer Abschlusserklärung ist betont worden, dass die Arbeit weitergeführt werden solle. Im September 1987 ist die KvU dann gegründet worden und entwickelte sich zu einem Teil der Opposition. Sie trat sowohl für innerkirchliche Demokratisierung als auch für die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ein. Die KvU war basisdemokratisch orientiert und politisch links, einige Vertreter linksradikal oder anarchistisch eingestellt. Im April 1988 erkannte die Berlin-Brandenburgische Kirchenleitung die KvU als Personalgemeinde mit einem Sonderstatus an. Anfang 1989 sind der KvU Räume in der Elisabethkirche in Berlin-Mitte zur Verfügung gestellt worden. Einer der Väter der Offenen Arbeit, Walter Schilling, ist von seiner Thüringischen Landeskirche freigestellt und von der BerlinBrandenburgischen Kirche als theologischer Berater der KvU eingesetzt worden. Sie dehnte sich auf die gesamte DDR aus, zu ihren Vollversammlungen kamen Hunderte Teilnehmer. 1988/89 war sie bei allen wichtigen Aktivitäten der Opposition vertreten. Aus ihren Reihen kamen zahlreiche Protagonisten der Bürgerbewegung 1989/90. In Berlin gibt es die KvU bis heute. Literatur: Wunder gibt es immer wieder. Fragmente zur Geschichte der Offenen Arbeit Berlin und der Kirche von Unten. Berlin 1997 (Selbstdarstellung); Andreas Schmidt: Kirche von Unten, in: Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Berlin, München 2000, S. 210–212 Konkret für den Frieden/Frieden konkret Dieses 1983 unter dem Dach der evangelischen Kirche gegründete Netzwerk vorwiegend kirchlicher Basisgruppen versuchte neben den insgesamt sieben Jahrestreffen (1983–1989) die Arbeit der Gruppen zu koordinieren und war das erste wichtige Netzwerk der Opposition für etwa 200 Gruppen in den 1980er Jahren. Gewählte Sprecher vertraten Konkret für den Frieden. Aber vor allem nach den Ereignissen um die → »Umweltbibliothek«, → IFM und → Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 1987/88 erwies sich Konkret für
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den Frieden als nicht flexibel genug, um eine gemeinsame Arbeit zu koordinieren. Andere Netzwerke wie der → Arbeitskreis Solidarische Kirche oder die → Arche zeigten sich schneller in der Lage zu reagieren. Da ohnehin ab 1988 in der Opposition nach neuen Organisationsformen und Netzwerken außerhalb der Kirchen gesucht und diese ab 1989 aufgebaut wurden, bedeutete die Jahresversammlung im Februar 1989 in Greifswald auch die faktisch letzte Aktivität dieses für einige Jahre wichtigen Netzwerkes. Literatur: Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949– 1989. 2., durchges., erw. u. korrig. Aufl., Berlin 2000 Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) Die UdSSR hatte sich seit den 1950er Jahren bemüht, eine Konferenz der europäischen Staaten einzuberufen, um ein System kollektiver Sicherheit zu schaffen. Taktisch ging es ihr dabei jedoch darum, die NATO zu schwächen. Gegen Ende der 1960er Jahre, als sich der Ost-West-Konflikt entspannte, gingen die NATO-Staaten auf diese Initiative ein, forderten aber zugleich, dann auch die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte in den einzelnen Staaten zu behandeln. Auf diesen Kompromiss ließ Moskau sich ein. Die »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« ist nach monatelangen Vorgesprächen am 3.7.1973 in Helsinki eröffnet, vom 18.9.1973 bis 21.7.1975 in Genf fortgesetzt und schließlich am 1.8.1975 in Helsinki mit der Verabschiedung der »Schlussakte von Helsinki« beendet worden. An der Konferenz nahmen außer Albanien alle europäischen Staaten sowie Kanada und die USA teil. Bis 1989 fanden drei KSZE-Folgetreffen statt, um die Anwendung der KSZE-Beschlüsse zu überprüfen, den Entspannungsprozess weiterzuentwickeln und neue Vereinbarungen zu verabschieden. Die jeweils mehrmonatigen Nachfolgekonferenzen fanden von Oktober 1977 bis März 1978 in Belgrad, von November 1980 bis September 1983 in Madrid und von November 1986 bis Januar1989 in Wien statt. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen drei Themenbereiche (»Körbe«): Korb I: Fragen zur Sicherheit Europas; Korb II: Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt; Korb III: menschliche Kontakte, Kultur- und Informationsaustausch. Insbesondere bei den Diskussionen um Korb I und Korb III gab es kontroverse Auseinandersetzungen, wobei nichtpaktgebundene Staaten wie Österreich, Schweden, Jugoslawien und die Schweiz zwischen den Warschauer Pakt- und den NATO-Staaten vermittelten. Mit der Verabschiedung der Schlussakte war die Verpflichtung der Signatarstaaten verbunden, diese in ihren Ländern vollständig zu veröffentlichen. Insbesondere die Verpflichtung, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu wahren und zu achten, grenzüberschreitenden Reiseverkehr nicht zu behindern, Informationsmaterialien pluralistisch der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen und hinreichende Arbeitsbedingungen für ausländische Journalisten zu schaffen, diente fortan
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oppositionellen und ausreisewilligen Personen und Gruppen in den sozialistischen Staaten als eine Argumentationshilfe, die zugleich oppositionelle Aktivitäten und Ausreiseersuchen völkerrechtlich absicherte. Der seit 1972 einsetzende KSZE-Prozess sowie die Aufnahme der DDR 1973 in die UNO, wobei sie u. a. die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« vom 10.12.1948 anerkannte, bewirkten innerhalb der DDR, dass die Menschenrechte wieder stärker in oppositionellen und kirchlichen Kreisen thematisiert worden sind. Allerdings kam es nicht wie in der UdSSR und in anderen sozialistischen Staaten zur Gründung von »Committees for Human Rights« (ab 1969) bzw. »Helsinki Watch Groups« (ab 1976). Mit dem KSZE-Prozess einsetzend begannen etwa ab 1972/73 in der DDR insbesondere Ausreisewillige ihre Begehren mit dem Hinweis auf die internationalen Abkommen zu begründen. Neben Einzelaktionen kam es auch zur Bildung von Bürgerrechtsinitiativen, z. B. die → Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR. Solche oder andere Protestformen (Botschaftsbesetzungen, Schweigemeetings, Anketten an öffentliche Gebäude, politische Eingaben u.v.m.) zählten bis zum Ende der DDR zu jenen Mitteln, die Ausreisewillige benutzten, um ihre Übersiedlung zu erwirken. Fast immer wurde dies mit der KSZE-Schlussakte begründet. Die SED verschärfte deshalb 1979 mit dem 3. Strafrechtsänderungsgesetz das politische Strafrecht. So ist beispielsweise § 219 StGB »Ungesetzliche Verbindungsaufnahme« derart verändert worden, dass jeder Versuch kriminalisiert werden konnte, internationale (auch bundesdeutsche) Organisationen und Institutionen um Hilfe oder Beistand zu bitten. Ebenfalls ist § 99 verschärft worden, womit nun bereits die Sammlung nicht geheimer Nachrichten und Materialien unter Strafe gestellt werden konnte. Neben der drakonischen Verschärfung des politischen Strafrechts ist zugleich im Januar 1976 die MfS-Richtlinie Nr. 1/76 in Kraft gesetzt worden, die unterhalb strafrechtlicher Konsequenzen konkrete → Zersetzungsmaßnahmen festschrieb. Dennoch schlug sich der KSZE-Prozess auch im stärkeren Ausbau der Beziehungen zu oppositionellen Gruppen in Osteuropa nieder. Ostdeutsche Oppositionelle vertieften insbesondere Kontakte nach Polen, Ungarn und in die ČSSR sowie UdSSR. Als Ende 1985/Anfang 1986 die → IFM gegründet wurde, geschah dies in ausdrücklicher Anlehnung an die → »Charta 77«. Ihrem Selbstverständnis nach ging es vor allem darum, die Ideen des KSZE-Prozesses mit Leben zu erfüllen und umzusetzen. Der KSZE-Prozess war eine der außenpolitischen Voraussetzungen für die Revolution von 1989. Literatur: Matthias Peter, Hermann Wentker (Hg.): Die KSZE im Ost-WestKonflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975– 1990. München 2012; Walter Süß: Der KSZE-Prozess der 1970er Jahre aus der Perspektive der DDR-Staatssicherheit, in: ders., Torsten Diedrich (Hg.): Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-PaktStaaten. Berlin 2010, S. 319–340; Gerd Poppe: Begründung und Entwicklung
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internationaler Verbindungen, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 349–377 Kreisdienststelle (KD) Unterhalb der Ebene der Bezirksverwaltung (→ BV) gab es in jeder Kreisstadt der DDR eine eigene Kreisdienststelle des MfS (über 200 in der DDR) KSZE Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Luxemburg-Liebknecht-Demonstration (LLD) Am 10.12.1987 (dem Internationalen Tag der Menschenrechte) übergab die → AG Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR staatlichen Institutionen eine Erklärung, mit der sie eine rechtlich abgesicherte und einklagbare Freizügigkeit forderte. Am 9.1.1988 fasste die AG Staatsbürgerschaftsrecht den Beschluss, mit eigenen Transparenten an dem alljährlich von der SED-Führung inszenierten Massenaufmarsch aus Anlass der 1919 erfolgten Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht teilzunehmen, der 1988 auf den 17.1. fiel. Es war geplant, Transparente mit Luxemburg-Zitaten zu beschreiben. Regina (Weis) und Wolfgang Templin von der → IFM unterstützten das Vorhaben. Doch die meisten Oppositionellen hielten sich zurück und distanzierten sich von dem Plan. Die Gruppen stellten es ihren Mitgliedern frei, daran individuell teilzunehmen, als Gruppe aber sollte keine präsent sein. Seit dem 13.1. beschäftigten sich mit dem angekündigten Protest Honecker, Krenz und Schabowski persönlich. Am 15.1. erstellte das MfS eine Namensliste mit Personen, die vorbeugend zugeführt oder dann festgenommen werden sollten, wenn sie am 17.1. ihre Wohnung verlassen. Die ersten Festnahmen erfolgten am 16.1. Außerdem sind vom 13. bis 16.1. 118 Personen, darunter 93 aus Ost-Berlin, belehrt worden, nicht an der Demonstration teilzunehmen. 19 weitere Personen durften kurzfristig ausreisen. Am 17.1. nahm das MfS insgesamt 105 Personen fest, davon 70 am Rande der Demonstration am Frankfurter Tor. ARD- und ZDF-Kamerateams filmten das staatliche Vorgehen. Die meisten Zugeführten wollten tatsächlich ausreisen. Der prominenteste Verhaftete war der Liedermacher Stephan Krawczyk, der ein Transparent »Gegen Berufsverbote in der DDR« mit sich führte. Am 18.1. fand eine erste Informationsveranstaltung zu den Ereignissen in der Zionsgemeinde satt. Es bildete sich am 18./19.1. eine Koordinierungsgruppe mit Vertretern verschiedener Oppositionsgruppen. Eine Aufgabe bestand darin, Solidaritätsaktionen zu koordinieren und Informations- und Fürbittandachten in Ost-Berlin vorzubereiten. Was genau in den Tagen nach dem 17.1. in den Amtsstuben der MfS-Strategen vor sich ging, liegt nicht offen. Aber am 25.1. verhafteten MfS-
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Kommandos zusätzlich Freya Klier, Bärbel Bohley, Werner Fischer, Ralf Hirsch sowie Regina und Wolfgang Templin. Nach dem die Verhaftung dieser sechs wegen »landesverräterischer Beziehungen« – es drohten Gefängnisstrafen bis zu 12 Jahren (§§ 99, 100, 219 StGB) – bekannt wurde, erhob sich ein wahrer Proteststurm im In- und Ausland. Ab dem nächsten Tag kam es im gesamten Land in und außerhalb der Kirchen zu Protesten. In fast allen großen und vielen kleineren Städten bis hin zu Dörfern veranstalteten Bürgerrechtler und Pfarrer Informations- und Fürbittandachten. Der Protest kam aus den Kirchen heraus. Zwischen 1.2. und 20.3. wurden 380 Ermittlungsverfahren wegen solcher Proteste eröffnet. In diesem Zeitraum sind auch bereits 120 Verfahren abgeschlossen worden, die Hälfte endete mit Haftstrafen bis zwei Jahren. Wöchentlich kamen jeweils 60 neue Verfahren und 60 neue Urteile hinzu – monatelang. Hunderte Personen erhielten überstürzt ihre Ausreiseerlaubnis. Am 28.1. verurteilte ein Ostberliner Gericht Vera Wollenberger zu sechs Monaten Gefängnis, am 1.2. erhielten drei Mitarbeiter der → »Umweltbibliothek« (UB) die gleiche Strafe. Alle vier waren am 17.1. verhaftet worden. Einen Tag später kam die Nachricht, Klier und Krawczyk seien in die Bundesrepublik ausgereist, auch Bert Schlegel von der UB. Am 3.2. erklärten Klier und Krawczyk, sie seien weder freiwillig ins Gefängnis gegangen noch freiwillig in die Bundesrepublik und forderten ihre Rückkehr in die DDR. Am 5.2. folgten ihnen Hirsch, die Templins sowie Bohley und Fischer. Am 8.2. ging Wollenberger (Lengsfeld) zwangsweise in den Westen. Die Protestbewegung in Ost-Berlin erstarb augenblicklich. (Wie breit der Protest zuvor war, zeigte sich nach der Öffnung der Archive.) Die IFM beschloss, bis zur Rückkehr von Bohley und Fischer als Gruppe weniger in Erscheinung zu treten, um deren Rückkehr nicht zu gefährden. Auch die anderen Gruppen mussten sich erst einmal sammeln. Im Gegensatz dazu weitete sich in den folgenden Wochen und Monaten die oppositionelle Bewegung in allen anderen Regionen der DDR aus. Die vielschichtigen Folgen dieser Demonstration wurden zu einer der unmittelbaren Vorbedingungen für die Entwicklungen seit Mitte/Ende 1988 und die Konstituierung der neuen Bürgerbewegungen, die zu den Trägern der Revolution 1989 zählten. Literatur: Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009 Maßnahme A Aktivitäten der Telefonüberwachung des MfS Maßnahme B Aktivitäten der akustischen Raumüberwachung des MfS (Abhören durch »Wanzen«)
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Neues Forum (NF) Diese am 9./10.9.1989 gegründete Sammlungsbewegung erhielt im Herbst 1989 die größte Zustimmung und wurde zum Symbol für die Revolution 1989. Als Symbolfigur für das NF und die Revolution 1989 gilt Bärbel Bohley. Literatur: Irena Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung Neues Forum 1989– 1990. Berlin 2009; Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009; Martin Gutzeit, Helge Heidemeyer, Bettina Tüffers (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen Gruppen 1989/90. Düsseldorf 2011 Offene Arbeit (OA) Seit 1971 ist für eine nonkonforme Jugendarbeit in evangelischen Kirchgemeinden, wie sie sich seit Ende der 1960er Jahre herausgebildet hatte, diese Bezeichnung verwendet worden. Die OA war charakterisiert vom Verzicht auf Missionstätigkeit, von Teamarbeit, basisdemokratischen Entscheidungsprozessen, Werkstattarbeit, Kulturangeboten, die unangepasste und verbotene Künstler präsentierten, sowie Beratungs- und Trainingsangeboten wie sich junge Leute bei Festnahmen, in Haft oder bei Anwerbungsversuchen durch das MfS verhalten sollten. In Thüringen, Sachsen und Ost-Berlin bildeten sich Zentren der OA. Ende der 1970er Jahre existierten in allen Regionen Gruppen der OA. Immer wieder kam es zu Verhaftungen und Verurteilungen. Aber nicht nur der Staat, auch Glieder der Kirchen schauten skeptisch und kritisch auf die OA. Die unkonventionelle Jugendarbeit und die noch unkonventionelleren Jugendlichen störten nicht wenige Pfarrer, Kirchenmitarbeiter und Gemeindekirchenräte. Das führte bis 1989 häufig zu Konflikten und harten Auseinandersetzungen. Legendär wurden die seit 1979 in Ost-Berlin durchgeführten Bluesmessen. Die OA erwies sich insgesamt als ein sehr erfolgreiches Sozialisierungs-, Politisierungs- und auch begrenzt Re-Christianisierungskonzept, das Zehntausende Jugendliche, die von Staat und Partei verpönt und geschmäht wurden, erreichte, begeisterte, einband und letztlich in vielen Fällen zu politischen Akteuren werden ließ. Diese Wirkung war nicht den Kirchenleitungen, sondern den an der Basis engagierten Pfarrern und Mitarbeitern zu verdanken. Als Vater der OA gilt Walter Schilling. Literatur: Dirk Moldt (Hg.): mOAning star. Eine Ostberliner Untergrundpublikation 1986–1989. Berlin 2005; ders.: Zwischen Hass und Hoffnung. Die Blues-Messen 1979–1986. Berlin 2008; Gerold Hildebrand: Walter Schilling, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 196–199; Gerbergasse 18, Heft 66/2013
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Offizier im besonderen Einsatz (OibE) Hauptamtliche Mitarbeiter des MfS, die verdeckt und legendiert zur Durchdringung von Ministerien und anderen wichtigen Stellen des Staatsapparates, der Wirtschaft, der Polizei u. Ä eingesetzt wurden Olof-Palme-Friedensmarsch Vom 1. bis 18.9.1987 fand der offiziell zugelassene Olof-Palme-Friedensmarsch statt. Mit dem Marsch sollte an den 1986 ermordeten schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme und seinen Vorschlag eines atomwaffenfreien Korridors in Mitteleuropa erinnert werden. Die Idee ging von der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner in der Bundesrepublik aus. Der Vorschlag wurde auch dem Friedensrat der DDR unterbreitet, der diesen aufnahm. Die bundesdeutschen Vertreter im Vorbereitungskomitee bestanden darauf, dass auch der → BEK zur Mitarbeit eingeladen werde. Dieser nahm die Einladung an. Im August 1987 ist die Idee während des »Mobilen Friedensseminars« in Vipperow bekannt geworden, woraufhin sich Vertreter der unabhängigen Friedensbewegung entschlossen, mit eigenen Transparenten teilzunehmen. Weil die SED-Führung den Marsch schon offiziell bekannt gegeben hatte und zur geplanten Zeit Erich Honecker zu seinem Besuch in der Bundesrepublik weilen würde, konnte sie diese Teilnahme nicht verhindern, ohne dabei an ihrer Selbstdarstellung als friedensfördernder Faktor in Europa selbst zu kratzen. Am 1.9.1987 ist der Friedensmarsch mit einer Veranstaltung in Stralsund eröffnet worden. Hier waren noch relativ wenige eigenständige Transparente zu erkennen. Zum Höhepunkt wurde der von Aktion Sühnezeichen vorbereitete Pilgerweg über 80 Kilometer zwischen Ravensbrück und Sachsenhausen vom 2. bis 5.9., an dem sich 500 bis 600 Personen, darunter viele Vertreter unabhängiger Friedensgruppen, beteiligten. Sie führten Losungen mit, auf denen u. a. gefordert wurde »Schwerter zu Pflugscharen«, »Sozialer Friedensdienst für Wehrdienstverweigerer«, »Friedenserziehung statt Wehrunterricht«, »Abbau der Militarisierung in Schulen und Kindergärten«. Zugleich wurde gegen die Umweltpolitik, gegen Atomkraftwerke und gegen die Abgrenzungspolitik protestiert. Als der Pilgerzug nach Oranienburg kam, wurden 5 000 bestellte Demonstranten dem Zug vorangestellt, um die Dominanz der unabhängigen Transparente zu brechen. Der Pilgerzug hatte eine Vielzahl von Ortschaften durchwandert, wobei er jeweils am Dorfeingang vom örtlichen Bürgermeister und vom Pfarrer mit einer kurzen Rede begrüßt wurde und Schulkinder Friedenslieder sangen. Am frühen Abend des 5.9.1987 kam es in Berlin-Prenzlauer Berg zu einem Demonstrationszug von etwa 1 000 Personen, die sich auf Initiative von Stadtjugendpfarrer Wolfram Hülsemann von der Zionskirche zur Gethsemanekirche mit unabhängigen Transparenten, Losungen und Forderungen bewegten. Diese größte legale Demonstration der Opposition ist von der Polizei weder behindert noch beein-
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trächtigt worden. Offiziell ist der Marsch am 18.9.1987 in Dresden mit einer Kundgebung beendet worden, nachdem zuvor etwa in Leipzig, Königswalde, Brandenburg und Torgau Veranstaltungen stattfanden. Allerdings unterband die SED weitere Pilgerzüge, sodass der Friedensmarsch im Kern eine Kette von Kundgebungen in verschiedenen Städten war. Lediglich von Torgau nach Riesa gab es am 12./13.9.1987 noch einen zweitägigen Pilgermarsch, an dem sich zwischen 50 und 110 Personen beteiligten. Nach der Rückkehr Honeckers aus der Bundesrepublik ist die Polizei gegen unabhängige Plakate schärfer vorgegangen und hat diese etwa in Leipzig, Torgau und Dresden teilweise beschlagnahmt und verboten. Am 19.9.1987 fanden noch Friedensmärsche in Saalfeld mit etwa 150 Menschen sowie in Weimar mit 250 bis 500 Personen statt. Der Friedensmarsch übte eine beflügelnde Wirkung auf die Opposition aus. Viele dachten, dass die Genehmigung ein erstes Anzeichen dafür sei, dass sich die Politik ändere. Allerdings gab es auch kritische Stimmen, die meinten, die Genehmigung zu diesem Marsch hänge allein mit dem Besuch Honeckers in der Bundesrepublik zusammen. Die Zions-Affäre um die → »Umweltbibliothek« im November 1987 gab den Skeptikern Recht. Literatur: Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009; Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. 2., durchges., erw. u. korrig. Aufl., Berlin 2000 Operationsgebiet Zusammenfassende Bezeichnung für alle Länder, in denen bzw. gegen die das MfS geheimdienstliche Aktionen durchführte; zumeist waren die Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin gemeint Operative Personenkontrolle (OPK) Kategorie der Aktenführung des MfS bei der Bearbeitung von Personen »zur Prüfung von Verdachtsmomenten«, in der Regel bezüglich Verbrechen und Straftaten oder »feindlich-negativer« Handlungen. Damit einher ging eine Vielzahl von Bearbeitungsvarianten, zu denen u. a. die Telefonüberwachung gehörte. OPK sind auch gegen systemnahe Personen in sicherheitsrelevanten Bereichen angelegt worden, um sie systematisch zu überwachen oder aufgetretenen Verdachtsmomenten nachzugehen. Operativ-Technischer Sektor (OTS) Technische (Groß-)Abteilung des MfS für Forschungs-, Entwicklungs- und Konstruktionsarbeiten, Fertigung technischer Geräte, Anlagen und verdeckter »Container«, Entwicklung von Methoden zur geheimen Nachrichtenübermittlung, Erstellung kriminalistischer und wissenschaftlicher Expertisen (auch zur
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strafprozessualen Beweisführung), Analyse gegnerischer Techniken, Beschaffung und Ausstellung »operativer« Dokumente Operativer Vorgang (OV) Kategorie der Aktenführung des MfS bei der Bearbeitung von »feindlichen« Personen oder Gruppen; oft als Steigerung einer vorherigen → OPK. OV waren mit Vorschlägen zur Ahndung nachgewiesener Strafrechtsverletzungen bzw. Einstellung der Bearbeitung bei Nicht-Bestätigung abzuschließen. Dass gegen Oppositionelle über viele Jahre hinweg OV geführt wurden, ohne dass es zu einer strafrechtlichen Ahndung kam, war eine Besonderheit in der Bearbeitung dieser Personengruppe und hatte politische Gründe, die eine juristische Bestrafung verhinderten. Im Jahr 1988 sind im gesamten MfS 4 543 OV bearbeitet worden, wovon etwa die Hälfte neu angelegt worden war und ebenso viele in früheren Jahren angelegte OV abgeschlossen worden sind. Ossietzky-Affäre An der Erweiterten Oberschule (EOS) »Carl von Ossietzky« in Berlin-Pankow hatte der Schuldirektor nach einem Wunsch der FDJ 1988 die Genehmigung erteilt, eine »Speaker Corner« im Schulgebäude einzurichten. Dort konnten Schülerinnen und Schüler zu den sie bewegenden Fragen öffentlich und unzensiert schriftlich Stellung nehmen. Auf die Schüler Phillip Lengsfeld, Benjamin Lindner, Shenja-Paul Wiens und Alexander Krohn sind die staatlichen Organe, die SED, das Ministerium für Volksbildung und das MfS am 11.9.1988 aufmerksam geworden, als diese an einer offiziellen Kundgebung für die Opfer des Faschismus auf dem Bebelplatz mit selbstgefertigten Transparenten teilnahmen. Darauf forderten sie: »Gegen faschistische Tendenzen« und »Neonazis raus«. Nur einen Tag darauf hefteten Lindner und Wiens an die freie Wandzeitung der Schule den Artikel »So sehen wir das ... Anmerkungen zur derzeitigen Situation in der VR Polen«. Der Beitrag endete mit folgendem Satz: »Wir meinen, dass eine Machtbeteiligung der Solidarność und anderer oppositioneller Kräfte unerlässlich ist, damit diese Reformen nicht, wie so oft in der 40-jährigen Geschichte der Volksrepublik Polen, im Sande verlaufen.« Noch am selben Tag nahm ihr Mitschüler Carsten Krenz, der Sohn des SED-Politbüromitglieds und späteren SED-Generalsekretärs, den Artikel ab und nahm ihn für einen Tag mit nach Wandlitz. Am nächsten Tag hängte Carsten Krenz einen Gegenkommentar an. Am 14.9. brachte Kai Feller einen Artikel an, in dem er die Notwendigkeit von Militärparaden zum Jahrestag der DDR bezweifelte und einen Verzicht forderte. Dieser Aufruf löste innerhalb der Schule eine lebhafte Debatte aus. Obwohl kaum jemand für Militärparaden votierte unterschrieben auf einer Unterschriftenliste von den etwa 160 Schülerinnen und Schüler der Schule nur 38. Am 17.9. unterband die Stadtbezirksschulrätin diese Aktion. Zugleich begannen scharfe Attacken gegen
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die Schule und die Schüler. Trotzdem gelang es Lengsfeld, Lindner und Krohn noch am 21.9.1988, eine Lobeshymne auf eine Kalaschnikow-MPi aus der Zeitung »Volksarmee« anzupinnen und mit einem ironischen Kommentar zu versehen. Ab dem nächsten Tag begannen in der Schule Verhöre, tribunalähnliche Versammlungen, Diffamierungen und die obligatorische Suche nach Rädelsführern. Von den 38 Unterschriften wurden auf Druck der Schule, SED und Elternhäuser 30 zurückgezogen. Die verbliebenen acht Unterzeichner wurden hart bestraft: Feller, Katja Ihle, Lengsfeld und Lindner wurden relegiert. Ein Studium in der DDR ist ihnen dadurch unmöglich geworden. Georgia von Chamier und Wiens wurden strafversetzt. Die anderen beiden erhielten einen Schulverweis. Die Ossietzky-Affäre schlug hohe Wellen: Mit Lengsfeld war der Sohn der gerade Anfang 1988 nach England ausgebürgerten Vera Wollenberger (Lengsfeld) in den Fall verwickelt, sodass das MfS von Beginn an der Schule eine hohe Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Dadurch, dass der Sohn von Krenz ebenfalls in diese Schule ging, ist der Vorfall praktisch intern zur Staatsangelegenheit hochstilisiert worden, sodass neben dem MfS, der SED, der FDJ und der örtlichen Schulrätin auch die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, sowie der 1. SED-Bezirkssekretär, Günter Schabowski, direkt in den Fall involviert waren. Das Bildungswesen, die wichtigste Zelle des totalitär ausgeprägten Erziehungsmodells, geriet ins Wanken. Gerade hier unter den Augen der Machthaber hatte sich eine eigenständige Opposition herausgebildet. In der Gesellschaft lösten die Vorgänge Bestürzung aus. Insbesondere Ältere glaubten sich in die 1950er Jahre zurückversetzt. In vielen Kirchen hielten die Opposition und kirchliche Amtsträger Solidaritätsveranstaltungen, Aktionstage und Aktionswochen ab. Das Bedeutungsvollste an den Vorgängen war, dass viele jener Bürger aufgeschreckt wurden und vorsichtig ihren Protest artikulierten, die sich ansonsten mit den Verhältnissen arrangiert und sich angepasst hatten. Daraus erklärt sich auch, warum während der Revolution 1989 und nach dem Fall der Mauer die Vorgänge ausführlich in den Medien dokumentiert wurden, eine Untersuchungskommission eingesetzt wurde und die Verantwortlichen, die elf geltende Gesetze und Verordnungen der DDR missachtet hatten, belangt und teilweise entlassen wurden. Literatur: Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009 PUT MfS-Begriff für »Politische Untergrundtätigkeit«. Das MfS sah in der PUT eine der gefährlichsten Formen subversiver Tätigkeit. Daneben verwandte es auch den Begriff PID für »politisch-ideologische Diversion«. PID und PUT galten als vom Westen inspiriert, angeleitet und honoriert.
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Radio 100 Dies war ab März 1987 der erste private Hörfunksender in West-Berlin, der sich bis September 1987 die Sendefrequenz mit dem Sender → »Hundert,6« teilen musste, was wegen der deutlich unterschiedlichen politischen Ausrichtung auch im MfS oft für Verwirrung sorgte und zu Verwechslungen führte. Radio 100 war links-alternativ ausgerichtet und bot über die Sendung → »Radio Glasnost – außer Kontrolle« oppositionellen Stimmen aus der DDR ein direktes Sendeforum. Radio 100,6, eigentlich »Hundert,6« Ab April 1987 sendete »Hundert,6« als zweiter privater Hörfunksender in West-Berlin. Bis September 1987 musste er sich die Sendefrequenz mit → Radio 100 teilen, was wegen der deutlich unterschiedlichen politischen Ausrichtung auch im MfS oft für Verwirrung sorgte und zu Verwechslungen führte. Auch »Hundert,6« hatte eine sehr DDR-kritische Berichterstattung, aber aus politisch eher konservativer Richtung. Radio Glasnost – außer Kontrolle Ab August 1987 gab es diese einstündige Sendung im Programm von → Radio 100, die einmal im Monat ein direktes Forum für Stimmen und Beiträge der Opposition in der DDR war. Es sind insgesamt 27 Sendungen ausgestrahlt worden, die z. T. vom MfS gezielt gestört wurden. Samisdat Dem russischen Schriftsteller Nikolai Glaskow wird die Wortbildung »Samisdat« zugeschrieben. Er hatte 1952 seine unveröffentlichten Gedichte zusammengeheftet und zunächst mit der Bezeichnung »Sam-sebja-isdat« (dt. Verlag für sich selbst), später mit »Samisdat« (dt. Selbstverlag) versehen und privat verteilt. Samisdat stand »Gosisdat« gegenüber, der »Staatsverlag«. Der politische Samisdat entwickelte sich in der Sowjetunion vor allem ab den 1960er Jahren zu einer festen inoffiziellen Größe, wobei neben Einzelwerken im Samisdat eine Vielzahl von Periodika und Zeitschriften publiziert wurden. Einzelne Bücher verbotener Autoren haben im russischen Samisdat höhere Auflagen erzielt als in westlichen Verlagen. Samisdat bedeutet aber mehr als »Selbstverlag«. Es ging nicht nur darum, Manuskripte selbst zu verfassen, selbst abzuschreiben, selbst zu vervielfältigen, selbst zu verbreiten, es ging zunächst darum, sich bürgerlicher Rechte und Freiheiten zu bedienen als seien sie vom Staat garantiert. Samisdat bedeutet, herrschende Vorgaben und Dogmen als inakzeptabel zu brandmarken. Samisdat war neben konkreten politischen Aktionen die wichtigste Artikulationsmöglichkeit der Opposition in den kommunistischen Staaten. Der Stellenwert war in den einzelnen Staaten unterschiedlich. Neben der UdSSR genoss der Samisdat vor allem in Polen seit den
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1960er Jahren eine hohe gesellschaftliche Anerkennung, zugleich stand der Opposition hier auch die Technik zur Verfügung, um Samisdat-Publikationen in hohen Auflagen zu verbreiten. Es existierten Zeitschriften im Samisdat, die Auflagen von über 5 000 Stück erzielten und an deren Herstellung 100 Personen aktiv beteiligt waren. Einzelne Bücher erreichten Auflagen von über 10 000 Exemplaren, wobei sich feste Verlage etablierten, die zwar häufig Repressionen ausgesetzt waren, sich aber behaupten konnten. Auch in der ČSSR und in Ungarn war die Entwicklung der Opposition eng an die Professionalisierung des Samisdat gebunden. Den Samisdat ergänzten weitere Publikationsformen. Dazu zählte der »Magnitizdat«. Verbotene Sänger und Sängerinnen wurden auf Tonbändern und Kassetten, vereinzelt sogar auf selbst produzierten Schallplatten weitergereicht. In der DDR sind auf diese Weise die Lieder von Wolf Biermann, Stephan Krawczyk u. a. verbreitet worden. Bedeutender noch war der »Tamisdat« (tam = dort). Das Wort bezeichnet Verlage, die im »westlichen« Ausland angesiedelt sind, d. h,. dem Tamisdat werden Bücher und Zeitschriften hinzugerechnet, die im westlichen Ausland veröffentlicht worden sind. Dabei sind die Publikationen sowohl zunächst im Samisdat und anschließend im Tamisdat als auch umgekehrt publiziert worden. Im Tamisdat sind eine Reihe von Periodika erschienen, die von osteuropäischen Dissidenten herausgegeben worden sind. Aufgrund der Teilung Deutschlands war der Tamisdat für die DDR stets wichtiger als der Samisdat. Schon in den 1950er Jahren sind oppositionelle Schriften im Westen publiziert worden und anschließend in die DDR geschmuggelt worden. Nach dem Mauerbau änderte sich die Situation. Robert Havemanns berühmte Vorlesungen etwa kursierten zwar als Abschriften und Mitschriften, aber erst nachdem sie komplett im Rowohlt Verlag bei Hamburg 1964 erschienen waren, wurden sie in der DDR (illegal) verbreitet. Der Begriff Samisdat ist bis 1989 in der DDR für die Produkte der Opposition nur sehr selten verwendet worden. Es wird heute unterschieden zwischen »künstlerischem Samisdat« und »politischem Samisdat«. Die unabhängige Literatur- und Künstlerszene in der DDR brachte bis 1989 etwa 30 grafisch-literarische Kleinzeitschriften und über 100 originalgrafische Künstlerbücher heraus. Gedruckt wurden sie zumeist in privaten Künstlerwerkstätten, die Auflagen betrugen zwischen 30 und 200 Stück; viele waren individuell gestaltete Einzelausgaben, die schon in den 1980er Jahren für marktübliche hohe Summen an Sammler in die Bundesrepublik verkauft worden sind. Diese Publikationen überschritten zumeist nur in ästhetischer und nicht in politischer Hinsicht die Grenzen des offiziell Zugelassenen. Dennoch zählte das MfS auch diesen Samisdat zum »politischen Untergrund«. Doch als Anfang März 1989 die Staatssicherheit eine Grundsatzanalyse über die Opposition in der DDR zusammenstellte, fanden sich unter den 39 »nichtlizenzierten Druck- und Vervielfältigungserzeugnissen antisozialistischen Inhalts und Charakters«, die das MfS als bedrohlich ansah, nur drei
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Periodika aus dem künstlerischen Samisdat: »Anschlag« (Leipzig), »Glasnot« (Leipzig/Naumburg) und »Zweite Person« (Leipzig). Diese drei literarischen Periodika publizierten auch politische Texte. Der »politische Samisdat« differenzierte sich in den 1980er Jahren entsprechend der Oppositionsentwicklung breit auseinander. Das erste nicht-staatliche gesellschaftskritische Periodikum waren die seit Januar 1980 vom Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg herausgegebenen »Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch – Natur«. Die Arbeitsgruppe Umweltschutz beim Stadtjugendpfarramt Leipzig gab seit November 1981 das Informationsblatt »Streiflichter« heraus. Das war das erste Periodikum einer politisch engagierten Basisgruppe. Die Zahl der bekannten politischen Samisdat-Periodika stieg von 20 (1987) über 30 (1988) und auf schließlich 39 (1989). Von den Samisdat-Periodika trugen nur sieben (»Anschlag«, »Erfurter Schlagloch«, → »Grenzfall«, »mOAning star«, »Ostkreuz«, »radix-blätter«, »Zweite Person«) keinen Vermerk »Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch« o. dgl. Neben den Periodika gab es eine Vielzahl von Einzelpublikationen, die teilweise Buchcharakter annahmen, wie zum Beispiel »Urkunde« von Bärbel Bohley, Katja Havemann, Irena Kukutz und Reinhard Weißhuhn u. a. (1989), »Fußnote 3« von Peter Grimm, Gerd Poppe und Reinhard Weißhuhn (1988), »Ich zeige an. Gedächtnisprotokolle« vom Berliner Stadtjugendpfarramt (1989), die Ausgaben der »radix-blätter« oder »Dokumenta Zion« von der → »Umweltbibliothek« (1987). Viele Veröffentlichungen im DDR-Samisdat sind einsehbar unter: http://www.ddrsamisdat.de. Verschiedene Archive verfügen über sehr umfangreiche Sammlungen, z. B.: Archiv Bürgerbewegung Leipzig, Robert-Havemann-Gesellschaft Berlin oder das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig. Die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen verfügt über das größte Samisdat-Archiv zu Osteuropa überhaupt. Literatur: Günter Hirt, Sascha Wonders (Hg.): Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizdat. Mit einer Multimedia CD. Bremen 1998; Ludwig Richter, Heinrich Olschowsky (Hg.): Im Dissens zur Macht. Samizdat und Exilliteratur der Länder Ostmittel- und Südosteuropas. Berlin. 1995; Gordon H. Skilling: Samiszdat and an Independent Society in Central and Eastern Europe. Columbus 1989; Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre. Bremen 2000; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002 Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) Nach den Ereignissen 1987/88 haben auch die Theologen und Freunde Martin Gutzeit und Markus Meckel überlegt, neue Strukturen für die Opposition aufzubauen. Schließlich kamen sie Ende 1988/Anfang 1989 auf die Idee, eine Sozialdemokratische Partei in der DDR zu gründen. Ideen zur Parteigründung gab es mehrere, aber nur diese war bereits im Spätsommer 1989 so weit ausge-
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arbeitet, dass es auch zur Gründung am 7.10.1989 kam. Eine Partei zu gründen, zumal eine sozialdemokratische, bedeutete den kompromisslosesten Versuch, der SED ihre Alleinherrschaft streitig zu machen. Weniger von der Programmatik, sondern in dieser machtpolitischen Ausrichtung lag der wesentliche Unterschied zu den Gruppen der Bürgerbewegung. Am 24.7.1989 schrieben Gutzeit und Meckel einen »Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen«. Ende August 1989 wurden die Pläne öffentlich, im September folgte der Gründungsaufruf. Die Entscheidung, diese Partei SDP und nicht SPD zu nennen, fiel Mitte September 1989. Es war eine taktische Maßnahme, um Angriffen der SED wegen der in der DDR seit 1946 (bzw. in Ost-Berlin seit 1961) verbotenen SPD zuvorzukommen und um vom Namen her deutlich zu machen, dass die SDP sich nicht als Anhängsel der SPD verstehe. Diese hatte zunächst einige Probleme, die SDP anzuerkennen, was dann nach dem Mauerfall rasch geschah. Literatur: Markus Meckel, Martin Gutzeit: Opposition in der DDR. Köln 1994; Martin Gutzeit, Stephan Hilsberg: Die SDP/SPD im Herbst 1989, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 607–686; Markus Meckel, Steffen Reiche (Hg.): »Nichts muss bleiben, wie es ist.« Berlin 2010; Wolfgang Herzberg, Patrik von zur Mühlen (Hg.): Auf den Anfang kommt es an. Bonn 1993; Martin Gutzeit, Helge Heidemeyer, Bettina Tüffers (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen Gruppen 1989/90. Düsseldorf 2011 Sputnik-Verbot Der »Sputnik« war eine dem amerikanischen »Readers Digest« nachempfundene sowjetische Zeitschrift, die seit 1967 in einer Auflage von rund einer Million Exemplaren in verschiedenen Sprachen erschien, darunter etwa 180 000 Exemplare auf Deutsch. Seit Gorbatschows Machtantritt 1985 entwickelte sich die Monatszeitschrift neben der sowjetischen Wochenschrift »Neue Zeit«, die ebenfalls in verschiedenen Sprachen erschien, zu einem wichtigen und begehrten Informationsblatt über die Vorgänge und Diskussionen in der UdSSR. Nachdem 1988 bereits mehrere sowjetische Filme in der DDR verboten (u. a. »Die Reue«) und einige Hefte der Zeitschrift »Neue Zeit« in der DDR nicht ausgeliefert worden waren, was beides stillschweigend geschah, veröffentlichte am 19.11.1988 das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« eine kurze Begründung zum Verbot des »Sputniks«. In dieser Mitteilung hieß es, die Zeitschrift »Sputnik« sei »von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Sie bringt keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, statt dessen verzerrende Beiträge zur Geschichte.« Das Verbot war nach einer Entscheidung Erich Honeckers und Kurt Hagers ausgesprochen
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worden, weil im »Sputnik« Beiträge zum Abdruck kamen, in denen die stalinistische Vergangenheit diskutiert und zum Beispiel auch die Verschleppung von KPD-Mitgliedern und das Versagen der KPD thematisiert worden ist. Gegen das »Sputnik«-Verbot erhoben sich vielfältige Proteste. So kam es am 28.11.1988 in Leipzig zu öffentlichen Protesten, am 21.11.1988 hatte es in einem Werksteil von Leuna mehrstündige Arbeitsniederlegungen gegeben und an fast allen Universitäten und Hochschulen regten sich vielfältige Unmutsbekundungen. Vor allem aber haben Tausende Bürger und Bürgerinnen Eingaben an die SED, die »Deutsch-Sowjetische-Freundschaft« (DSF), die Volkskammer und den Ministerrat geschrieben. Es kam zu Austritten aus der DSF sowie zu Austritten und Ausschlüssen aus der SED. Der »Sputnik« ist nach dem Mauerfall 1989 wieder zugelassen worden. Es erschien zudem eine Sondernummer, in der die wichtigsten Beiträge aus jenen Heften zusammengetragen wurden, die in der Zeit des DDR-Verbots publiziert worden sind. Die Bedeutung des Verbots im Vorfeld der Revolution lag insbesondere darin, dass ein Teil der SED-Mitglieder vom Vorgehen ihrer Parteiführung zunächst geschockt war und sich daraus ein kritischerer Blick auf die gesellschaftlichen Zustände in der DDR entwickelte. Insofern trug dieses Verbot zum inneren Erosionsprozess der SED und des Macht- und Herrschaftsapparates unfreiwillig bei. Literatur: Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009 Staatssekretariat für Staatssicherheit (SfS) Von Juli 1953 bis November 1955 geltender Organisationsstatus des vor- und nachmaligen Ministeriums für Staatssicherheit. Das SfS gehörte in dieser Zeit strukturell zum Ministerium des Innern (MdI), dieses aber hatte praktisch keinen Einfluss auf das SfS. Die Zurückstufung des MfS in ein SfS galt nicht vordergründig, wie fast immer behauptet wird, dem angeblichen Versagen des MfS um den 17.6.1953. Diese organisatorisch-strukturelle Veränderung hing mit sowjetischen Umstrukturierungen zusammen, wo ebenfalls die Staatssicherheit dem Innenministerium eingegliedert wurde. Entsprechend wurden die Strukturen in der DDR – das MfS war zu diesem Zeitpunkt noch ein weitgehend reines Erfüllungsorgan der sowjetischen Dienststellen – angepasst. Analog erfolgten die Entwicklungen in Polen, Ungarn oder der ČSSR. 1954 wurde die Staatssicherheit in der Sowjetunion wieder als eigenständiges Ministerium (KGB) installiert. Die DDR folgte 1955. In den anderen kommunistischen Staaten blieb die Staatssicherheit Teil der jeweiligen Innenministerien.
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Stimmenkonserve Tonaufnahmen in der (bis zuletzt im Aufbau befindlichen) Stimmendatenbank des MfS, die zu Stimmenanalysen und zur Personenidentifizierung dienten »taz«, »die tageszeitung« Seit April 1979 erschien diese in West-Berlin begründete, aber überregionale Tageszeitung mit regionalen Ausgaben. Sie war die Tageszeitung des linksalternativen politischen Spektrums und weist eine bewegte Geschichte auf. Seit Langem gehört sie, trotz einer eher geringen Auflage (60 000), zu den wichtigsten und einflussreichen Tageszeitungen. Sie berichtete kontinuierlich seit 1982/83 über die DDR. Seit 1986 gab es eine monatliche »Ostberlin-Seite«, auf der authentische Stimmen aus der DDR-Opposition mit eigenen Kommentaren, Beiträgen und Interviews zu Wort kamen. Im Spektrum der »taz«Leser und -Redakteure war diese kritische Betrachtung der DDR umstritten. Gleichwohl hat keine andere bundesdeutsche Tageszeitung (die »Frankfurter Rundschau« stand ihr darin nur etwas nach) den Aktivitäten der Opposition so viel Platz eingeräumt. Die »taz«-Ausgaben seit 1986 stehen (unvollständig) online und sind auf CD-Ausgaben (unvollständig) verfügbar. Literatur: Jörg Magenau: Die taz. Eine Zeitung als Lebensform. München 2007 (aber relativ wenig zur Rolle der »taz« bezüglich der DDR und Opposition); taz-DDR-Journal zur Novemberrevolution. August bis Dezember 1989. Berlin 1990 (Nachdrucke von »taz«-Beiträgen); taz-DDR-Journal Nr. 2: Die Wende der Wende, Januar bis März 1990. Berlin 1990 (Nachdrucke von »taz«-Beiträgen) Technische Untersuchungsstelle Nach außen (Firmenschild/Briefbogen) verdeckt in Erscheinung tretende Struktur des MfS als Einrichtung für vorwiegend naturwissenschaftlichtechnische Expertisen; eigentlich Abt. 32 innerhalb des → OperativTechnischer Sektors (OTS) »Umweltbibliothek« (UB) Sie wurde am 2.9.1986 auf Initiative der Oppositionellen Carlo Jordan, Christian Halbrock, Wolfgang Rüddenklau u. a. gegründet. Als Vorbild dienten dabei die »Fliegenden Universitäten« in Polen. Der Pfarrer an der Zionsgemeinde, Hans Simon, stellte zwei Kellerräume im Gemeindehaus zur Verfügung. Neben der Sammlung von meist verbotenen Büchern und Zeitschriften zu Umwelt- und Menschenrechtsthemen diente die Bibliothek als Ort für Treffen von DDR-Oppositionellen. Es fanden Vorträge und Konzerte statt. Außerdem gab es regelmäßige Filmvorführungen und Ausstellungen. Die »Umweltbibliothek« gab die → »Umweltblätter« heraus. Daneben druckte die
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UB auch andere Publikationen der Oppositionsbewegung, was insbesondere im Sommer/Herbst 1989 von hoher Bedeutung war. In der Nacht vom 24. zum 25.11.1987 durchsuchten Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft und MfS-Mitarbeiter die UB. Sie glaubten, die Drucker würden den → »Grenzfall« herstellen. Tatsächlich war das verschoben worden, worüber Reiner Dietrich als IM seinen Führungsoffizier nicht mehr informieren konnte. Zum Zeitpunkt der Durchsuchung ist die neueste Ausgabe der »Umweltblätter« vervielfältigt worden, die als Blatt der Kirche halblegalen Charakter hatte. Sieben UB-Mitarbeiter wurden kurzzeitig festgenommen, ihre Druckmaschinen und anderes konfisziert. Die Ermittlungsverfahren wurden später eingestellt. Die Durchsuchung und Verhaftungen führten zu zahlreichen Protesten und Solidaritätsbekundungen im In- und Ausland. Die bundesdeutschen Medien berichteten ausführlich und prominent. Nicht nur der geplante Schlag gegen die Opposition, sondern auch die faktische Durchsuchung von Räumen der Kirchen empörte viele Menschen. Die »Umweltbibliothek« wurde buchstäblich über Nacht bekannt und zum Symbol für die Opposition gegen den SEDStaat. Im Frühjahr 1988 kam es zur Spaltung der UB und zur Gründung der → Arche, was aber letztlich weder der UB noch der Arche in ihrer Wirksamkeit schadete, sondern zur notwendigen Differenzierung der Opposition, eine wichtige Vorbedingung für die Revolution 1989, beitrug. Im Oktober 1989 organisierten UB-Mitarbeiter zusammen mit anderen die Mahnwache an der Gethsemanekirche, und sie gaben ein in dichter Folge erscheinendes neues Informationsblatt (»telegraph« → »Umweltblätter«) heraus. Im September 1990 beteiligte sich die UB an dem Hungerstreik und der Mahnwache im Archiv der ehemaligen MfS-Zentrale. Im Dezember 1998 löste sich die UB aus finanziellen Gründen auf. Die wichtigsten UB-Unterlagen werden in den Archiven der Robert-Havemann-Gesellschaft aufbewahrt. Literatur: Bernd Gehrke, Wolfgang Rüddenklau (Hg.): »... das war doch nicht unsere Alternative«. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende. Münster 1999; Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986–1989. Mit Texten aus den »Umweltblättern«. Berlin 1992; Wachet und Betet. Herbst 89 in der Gethsemanekirche. Begleitbuch zur Ausstellung. Berlin 2009 »Umweltblätter« 1986 kam die erste Ausgabe der »Umweltblätter« der → »Umweltbibliothek« heraus, die neben dem etwas älteren → »Grenzfall« zur bekanntesten und wichtigsten → Samisdat-Zeitschrift wurde. Insgesamt gab es 32 Ausgaben mit einer Auflagenhöhe von anfangs etwa 200 und ganz zuletzt 4 000 Stück. Die ersten Hefte hießen »Die Umwelt-Bibliothek. Informationen und Mitteilungen«, ab April 1987 dann »Umweltblätter«. Sie erschienen mit dem Vermerk: »Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch«. Die Herausgeber bedienten sich damit der »Anordnung über das Genehmigungsverfahren« von 1959, nach
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der innerkirchliche Publikationen ohne staatliche Genehmigung erscheinen konnten. Die »Umweltblätter« behandelten ein breites Themenspektrum. Dazu gehörten Fragen des Umweltschutzes, die Verletzung von Menschenund Bürgerrechten, die unabhängige Friedensbewegung und andere systemkritische Positionen. Außerdem wurde über die Aktivitäten der Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen und deren Konflikte mit Staat und Kirche berichtet. Als in der Nacht zum 25.11.1987 Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft und des MfS die »Umweltbibliothek« durchsuchten und Festnahmen vornahmen, wurden auch die Druckmaschinen beschlagnahmt. Aus der Bundesrepublik und West-Berlin wurden von Unterstützern und Freunden daraufhin Vervielfältigungsmaschinen, Zubehör und auch ein Computer gespendet und nach Ost-Berlin geschmuggelt. Dadurch konnten auch Umfang und Auflagenhöhe erheblich gesteigert werden. Bis Ende 1988 entstand so eine Untergrunddruckerei. Im Herbst 1989 reichte angesichts der sich überstürzenden Ereignisse ein Monatsblatt nicht mehr aus. Am 10.10.1989 erschien deshalb die erste Ausgabe des »telegraph«, dem Nachfolgeblatt der »Umweltblätter«. Mit der Umbenennung wurde der aktuelle Charakter der Publikation deutlich gemacht. Die zweite Ausgabe erschien einen Tag später, die dritte am 15.10., jeweils in einer Auflage von mehreren Tausend Exemplaren. Für die Zeit bis Dezember 1989 war der »telegraph« das einzige unabhängige Medium in der DDR, das über die Revolution berichtete. In der Redaktion arbeiten u. a. Wolfgang Rüddenklau, Tom Sello und Peter Grimm mit. Literatur: Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986–1989. Mit Texten aus den »Umweltblättern«. Berlin 1992; http://www.ddr-samisdat.de/ Vereinigte Linke (VL) Sie ist von Linken verschiedener politischer Positionen und SED-Mitgliedern gegründet worden. Die Grundlage bildete die »Böhlener Plattform«, ein Aufruf »Für eine Vereinigte Linke in der DDR« vom 4.9.1989. Der Name »Böhlener Plattform« stand noch in der Tradition konspirativer Arbeit, die einige VL-Gründer jahrelang praktiziert hatten. Ein Teil der VL entstammte der Opposition, etwa dem → »Friedenskreis Berlin-Friedrichsfelde«, → »Gegenstimmen« oder der → »Kirche von Unten«. Am 2.10.1989 konstituierte sich die VL. Sie forderte eine Erneuerung des Sozialismus und trat noch 1990 für eine eigenständige DDR ein. Aus dem Westen wurde die VL von linksradikalen und kommunistischen Gruppen unterstützt. Für die VL saß Thomas Klein in der Volkskammer ab 18.3.1990, dann von Oktober bis Dezember 1990 im Bundestag. Die VL zerfiel rasch, blieb aber organisatorisch bestehen. Ihre formale Selbstauflösung erfolgte am 19.10.2013. Literatur: Jan Wielgohs: Die Vereinigte Linke. Zwischen Tradition und Experiment, in: ders., Helmut Müller-Enbergs, Marianne Schulz (Hg.): Von der Illegalität ins Parlament. Werdegang und Konzepte der neuen Bürgerbewe-
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gungen. 2., erw. Aufl., Berlin 1992, S. 283–306; Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007 VRD Verwaltung Rückwärtige Dienste, Abteilung des MfS zur materielltechnischen Sicherstellung der Arbeit der MfS-Diensteinheiten ZAIG Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe; die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren; im Rahmen der namensgebenden Auswertung und Information u. a. auch Berichterstattung an die politische Führung, Optimierung entsprechender Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, Kontrollen, Untersuchungen, Analysen der »operativen Effektivität« des MfS sowie Planung und Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen und Gewährleistung des internationalen Datenaustausches mit anderen kommunistischen Sicherheitsdiensten Zersetzung Methode der verdeckten Bekämpfung von Personen und Personengruppen, die vom MfS als »feindlich-negativ« angesehen wurden. Ziel war laut der einschlägigen Richtlinie zur Bearbeitung → Operativer Vorgänge von 1976, gegnerische Kräfte zu zersplittern, zu lähmen, zu desorganisieren und sie untereinander und von der Umwelt zu isolieren. »Feindliche« Handlungen sollten so vorbeugend verhindert, eingeschränkt oder unterbunden werden. Ziele waren zumeist staatsunabhängige Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsgruppen, Ausreiseantragsteller, aktive Christen sowie Personen und Organisationen im → Operationsgebiet, die das MfS der politischen Untergrundtätigkeit (→ PUT) gegen die DDR verdächtigte. Sie galt als relativ selbstständige Art des Abschlusses von OV und diente als Ersatz für Strafverfolgungsmaßnahmen, die in der Honecker-Ära insbesondere bei der Bekämpfung von Oppositionellen aus Gründen der internationalen Reputation häufig politisch nicht mehr opportun waren. Literatur: Sandra Pingel-Schliemann: Zersetzen. Strategie einer Diktatur. Berlin 2002 ZKG Zentrale Koordinierungsgruppe, die im MfS Übersiedlungen in das westliche Ausland bearbeitete, einschließlich der Versuche »des Zurückdrängens« von Ausreiseanträgen und Bekämpfung des sogenannten staatsfeindlichen Menschenhandels; wirkte auch an den Entscheidungen bei Ausreiseanträgen mit
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ZOV Zentraler Operativer Vorgang; Kategorie der Aktenführung des MfS bei der Bearbeitung von Personen oder Gruppen, bei der unter Federführung einer ZOV-führenden Diensteinheit auch Teilvorgänge in anderen Diensteinheiten angelegt sein konnten; über die Kategorie ZOV entschied der Minister, einer seiner Stellvertreter oder ein Leiter einer → Bezirksverwaltung; oft als Steigerung eines vorherigen → OV, aber insgesamt selten. ZOV galten im MfS als besonders bedeutsam und hatten zur Folge, dass alle Diensteinheiten und Strukturen einbezogen werden konnten; u. a. im Kontext dieses Buches der ZOV »Heuchler«, in dem die OV-Bearbeitungen gegen Bärbel Bohley, Werner Fischer, Ralf Hirsch, Regina (Weis) und Wolfgang Templin, Freya Klier, Stephan Krawczyk sowie Vera Wollenberger (Lengsfeld) nach deren Ausbürgerungen Anfang Februar 1988 fortgeführt wurden; ZOV »Weinberg«, in dem OV gegen aus Jena ausgebürgerte und in West-Berlin lebende Personen fortgeführt wurden, u. a. Jürgen Fuchs und Roland Jahn; ZOV »Lyriker« gegen Wolf Biermann; ZOV »Bühne« gegen Künstler im Bezirk Gera u. a. mit Stephan Krawczyk; ZOV »Zentrale« mit mindestens 20 Teilvorgängen gegen die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte.
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Kurzbiografien
Vorbemerkung
Vorgestellt mit Kurzbiografien werden jene Personen, die in dieser Dokumentation als direkt abgehörte oder als handelnde Personen mehrfach vorkommen. Das formale Auswahlkriterium bestand darin, dass eine Person in mehr als drei Dokumenten vorkommen musste. Ausgenommen sind dabei solche Personen, die als »absolute Personen der Zeitgeschichte« gelten und deren biografische Angaben sich leicht recherchieren lassen (z. B. Gorbatschow, Honecker). Personen (mit Ausnahme von direkt abgehörten), die in maximal drei Dokumenten vorkommen, werden in kontextbezogenen Fußnoten vorgestellt. Solche Anmerkungen erfolgen bei Bedarf auch bei »absoluten Personen der Zeitgeschichte«. Die »Kurzbiografien« geben nur wesentliche Eckdaten der Biografien an. Für erwähnte Begriffe, Gruppen u. Ä. siehe auch das Glossar. Bastian, Gert (1923–1992, geb. in Hamburg), Wehrmachtsoffizier, nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft Lehre zum Buchbinder; 1956–1980 Berufsoffizier der Bundeswehr, zuletzt im Rang eines Generalmajors, war Gegner der geplanten Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa (NATODoppelbeschluss), schloss sich der Friedensbewegung an und gehörte zu den Initiatoren des »Krefelder Appells«; lernte → Petra Kelly kennen, sie lebten bis zu ihrem Tod zusammen; 1983–1987 MdB, gehörte zu jenen Grünen, die Kontakte zur Opposition in der DDR unterhielten; wurde am 19.10.1992 mit seiner Lebensgefährtin Petra Kelly in der gemeinsamen Wohnung tot aufgefunden; nach dem Polizeibericht hatte Bastian seine Lebensgefährtin im Schlaf mit einer Pistole erschossen und sich anschließend selbst getötet. Literatur: Gert Bastian: Frieden schaffen! Gedanken zur Sicherheitspolitik (1983); Alice Schwarzer: Eine tödliche Liebe – Petra Kelly und Gert Bastian. Köln 2001 Baum, Karl-Heinz (geb. 1941 in Breslau), 1961–1965 Studium der Geschichte, Soziologie, Politischen Wissenschaft und Publizistik in West-Berlin, ab 1967 freier Journalist u. a. für »Darmstädter Echo«, »Stuttgarter Nachrichten«, »Die Zeit«, 1977–
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Kurzbiografien
1990 Korrespondent der »Frankfurter Rundschau« in Ost-Berlin, seither auch unter MfS-Beobachtung, 1987–1989 auch für die »Westdeutsche Allgemeine Zeitung« tätig. Literatur: (mit Roland Walter Hg.): »... ehrlich und gewissenhaft ...«. Mielkes Mannen gegen das Neue Forum. Berlin 2008 Beckmann, Lukas (geb. 1950 in Hilten), Landwirt, 1973–1978 Soziologiestudium in Bonn und Bielefeld, Akteur der Friedensbewegung und gegen die moskautreuen KGruppen, Gründungsmitglied und 1979–1984 erster Bundesgeschäftsführer der Grünen; seit 1982 Verbindungen zur DDR-Opposition und seither auch unter MfS-Beobachtung, u. a. 1983 auf dem Alexanderplatz an einer Aktion zur Unterstützung der unabhängigen Friedensbewegung der DDR beteiligt; 1984–1987 einer von drei Bundesvorstandssprechern (für den Realo-Flügel), anschließend u. a. Gründungsgeschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung, 1994–2010 Fraktionsgeschäftsführer der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen; seit 2011 Vorstandsmitglied der Gemeinschaftsbank Leihen und Schenken Treuhand. Literatur: Günter Bannas: Der Unbekannte unter den Allerwichtigsten. Lukas Beckmann – Gründervater der Grünen, in: FAZ vom 12.11.2010 Bickhardt, Stephan (geb. 1959 in Dresden), 1976–1988 Mitglied der Aktion Sühnezeichen, 1977–1979 Lehre zum Werkzeugmacher, 1979–1986 Studium der Theologie und Religionspädagogik am Katechetischen Oberseminar Naumburg und ab 1983 am Sprachenkonvikt in Berlin; vom MfS intensiv beobachtet und verfolgt; engagierte sich in verschiedenen oppositionellen Gruppen, 1985 Mitinitiator der »Initiative für Blockfreiheit in Europa« sowie 1986 des Antrages »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung«; 1986/87 Studienreferent in der ESG Berlin, anschließend Vikar in Berlin, seit 1986 im Samisdat tätig, u. a. mit dem illegalen »Radix-Verlag« und der Schriftenreihe »radix-blätter«, mit → Ludwig Mehlhorn 1987–1989 Veranstalter von 30 unabhängigen Dichterlesungen in Privatwohnungen; September 1989 Gründungsmitglied von Demokratie Jetzt, dort 1989/90 Geschäftsführer; 1991–1995 Pfarrer in Eberswalde, seit 1995 Studentenpfarrer in Leipzig. Literatur: (Mithg.): Spuren. Zur Geschichte der Friedensbewegung in der DDR (1988 Samisdat); (Hg.): Recht ströme wie Wasser. West-Berlin 1988 (Texte aus den »radix-blättern«); (Hg.): Gerechtigkeit aus Recht und Gesetz (2007); (Hg.): In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn (2012); Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; Helmut Müller-Enbergs: Stephan Bickhardt, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein
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freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 228-232 Biermann, Wolf (geb. 1936 in Hamburg), Vater ist in Auschwitz ermordet worden; siedelte 1953 von Hamburg nach Ost-Berlin über; 1955 Abitur, 1957–1959 Eleve am Berliner Ensemble, 1959–1963 Studium der Philosophie und Mathematik an der HUB (die Diplomurkunde erhielt er 2008); 1961–1963 Aufbau des Berliner Arbeiter- und Studententheaters b.a.t., das noch vor der Eröffnung verboten wurde; seit 1963 freischaffend, Beginn der Freundschaft mit → Robert Havemann; 1965 erschienen die erste LP und der erste Gedichtband in der Bundesrepublik; Dezember 1965 Auftritts- und Publikationsverbot in der DDR; 1976 erster öffentlicher Auftritt nach elf Jahren in einer Prenzlauer Kirche, Genehmigung einer Tournee durch die Bundesrepublik, nach dem Kölner Konzert vom 13.11.1976 Ausbürgerung aus der DDR, lebt seitdem wieder in Hamburg; April 1982 einmalige Einreiseerlaubnis für seinen letzten Besuch bei Robert Havemann (Genehmigung durch Erich Honecker); 1./2.12.1989 erster DDR-Besuch nach der Herbstrevolution; ist von Anfang der 1960er Jahre bis 1989 intensiv vom MfS beobachtet und verfolgt worden; neben vielen Preisen und Ehrungen u. a. 2007 Ehrenbürger Berlins und 2008 Dr. h.c. der HUB. Bis heute u. a. 28 LP/CD und über 30 Bücher mit Gedichten, Texten und Essays. Literatur: Jay Rosellini: Wolf Biermann. München 1992; Eva-Maria Hagen: Eva und der Wolf. Düsseldorf, München 1998; dies.: Evas schöne neue Welt. München 2000; Fritz Pleitgen (Hg.): Die Ausbürgerung. Anfang vom Ende der DDR. Berlin 2001 Birthler, Marianne (geb. Radtke, 1948 in Berlin), 1966 Abitur und Facharbeiterbrief, 1967–1971 Exportsachbearbeiterin in Ost-Berlin, Fernstudium Außenhandel bis 1972, 1972–1983 Hausfrau in Schwedt, 1976–1981 Ausbildung zur Katechetin und Gemeindehelferin, 1983–1987 Katechetin in der ev. Eliasgemeinde in BerlinPrenzlauer Berg, 1986 Mitbegründerin des AKSK; seither kontinuierlich (zuvor sporadisch) vom MfS beobachtet und verfolgt, seit 1987/88 Mitarbeit in der IFM, 1987–1990 Jugendreferentin im ev. Stadtjugendpfarramt Berlin; Dezember 1989 bis März 1990 Mitarbeit in einer Arbeitsgruppe am zentralen Runden Tisch, März bis Oktober 1990 Abgeordnete der Volkskammer und Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Grüne, anschließend bis Dezember 1990 MdB; Oktober 1990 MdL Brandenburgs und bis Oktober 1992 Ministerin für Bildung, Jugend und Sport; Rücktritt von diesem Amt wegen der Zusammenarbeit von MP → Manfred Stolpe mit dem MfS; 1993/94 Bundessprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, 1994–1999 Leiterin des Berliner Büros der
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Kurzbiografien
Bundestagsfraktion, 1999–2000 Mitarbeiterin der Bundestagsfraktion; 2000– 2011 Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit; zahlreiche Ehrenämter. Literatur: Halbes Land – Ganzes Land – Ganzes Leben. Erinnerungen (2014); Hagen Findeis, Detlef Pollack, Manuel Schilling: Die Entzauberung des Politischen: Was ist aus den politisch alternativen Gruppen in der DDR geworden? Interviews mit führenden Vertretern. Leipzig 1994; Joachim Goertz (Hg.): Die Solidarische Kirche in der DDR. Erfahrungen, Erinnerungen, Erkenntnisse. Berlin 1999; Eckhard Jesse (Hg.): Eine Revolution und ihre Folgen. Berlin 2000; Ilko-Sascha Kowalczuk: Marianne Birthler, in: ders., Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 361–365 Bohley, Bärbel (1945–2010, geb. Brosius in Berlin), 1963 Abitur; Lehre als Industriekaufmann, 1969–1974 Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee; seit 1974 freischaffende Malerin; ab 1979 enger Kontakt zu → Katja und → Robert Havemann, seit 1980 von der Stasi systematisch beobachtet und ab 1982 verfolgt und von Zersetzungsmaßnahmen betroffen; 1982 Mitgründerin der Oppositionsgruppe »Frauen für den Frieden«; enge Kontakte zur bundesdeutschen und westeuropäischen Friedensbewegung, eng befreundet mit → Petra Kelly; 1983/84 sechs Wochen Untersuchungshaft beim MfS wegen »Verdachts auf landesverräterische Nachrichtenübermittlung« (mit → Ulrike Poppe), Entlassung nach internationalen Protesten; anschließend Auslandsreiseverbot, Auftrags- und Ausstellungsboykott; 1985/86 Mitbegründerin der IFM, Januar 1988 Verhaftung im Zusammenhang mit den Protestaktionen bei der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration, Abschiebung nach England; am 3.8.1988 Rückkehr nach Ost-Berlin; September 1989 Initiatorin des Neuen Forums; Mai bis Dezember 1990 Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung; September 1990 Mitbesetzerin der MfS-Zentrale in Berlin, Initiatorin des »Runden Tisches von unten«; 1996 Gründungsmitglied des Bürgerbüros zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur; 1996–1999 EUBeauftragte in Sarajevo für die Rückkehr von Flüchtlingen und den Wiederaufbau; lebte bis 2008 in Kroatien, dort u. a. Bürgermeisterin und engagiert in und für die Zivilgesellschaft; zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen. Literatur: Die Dächer sind das wichtigste. Mein Bosnien-Tagebuch (1997); (mit Gerald Praschl und Rüdiger Rosenthal) Mut. Frauen in der DDR. München 2005 (darin ein autobiografischer Bericht, S. 13–73); Englisches Tagebuch 1988. Aus dem Nachlass hg. von Irena Kukutz, m. e. Nachwort von Klaus Wolfram (2011); Peter Bohley: Sieben Brüder auf einer fliegenden Schildkröte. 2. Aufl., Norderstedt 2005; Irena Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung Neues Forum 1989–1990. Berlin 2009; Ilko-Sascha Kowalczuk
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(Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; Ehrhart Neubert: Gesicht und Stimme der Revolution: Bärbel Bohley, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte. München 2009, S. 238–248 Böhme, Manfred »Ibrahim« (1944–1999, geb. in Bad Dürrenberg), wuchs als Waisenkind bei Pflegeeltern, in Heimen und Internaten auf; Vorname Ibrahim in den 1980er Jahren selbst gewählt; 1961–1963 Ausbildung zum Maurer; 1962–1978 SED, Abitur an einer Abendschule; 1967–1972 Fernstudium an der Fachschule für Bibliothekare Leipzig; in verschiedenen Tätigkeiten und Hilfsjobs arbeitend; geriet ins Visier des MfS wegen gesellschaftskritischer Äußerungen, seit 1969 als IM für das MfS tätig, nach mehreren anderen Decknamen ab April 1986 als IMB »Maximilian« (HA XX/9); ab 1984 vom MfS auf Oppositionskreise in Mecklenburg und Ost-Berlin angesetzt, seit 1986 als IM in der IFM tätig, erwies sich als einer der eifrigsten IM, die das MfS in der Opposition platzieren konnte; 1989 Mitbegründer der SDP; bis Ende März 1990 an vielen politischen Ereignissen der Revolution beteiligt; am 1.4.1990 Niederlegung aller Parteiämter wegen IM-Vorwürfen; Juli bis Dezember 1990 Polizeibeauftragter des Ostberliner Magistrats, September 1990 Mitglied des SPDParteivorstandes; Dezember 1990 beweiskräftige Enttarnung als IM; leugnete bis zu seinem Tod dennoch, im Auftrag des MfS als IM in der Opposition tätig gewesen zu sein; 1992 Ausschluss aus der SPD. Literatur: Christiane Baumann: Manfred »Ibrahim« Böhme. Ein rekonstruierter Lebenslauf. Berlin 2009; Birgit Lahann: Genosse Judas. Die zwei Leben des Ibrahim Böhme. Berlin 1992 Börner, Hans-Jürgen (geb. 1945 in Göttingen), Studium der Politischen Wissenschaften, Germanistik und Theaterwissenschaften; 1974 Festanstellung als Journalist beim NDR, ab 1976 Redakteur und Reporter für »Panorama« und »extra drei«, September 1986 bis August 1989 ARD-Korrespondent in der DDR; unterhielt Kontakte zu Oppositionellen und Vertretern der unabhängigen Friedensbewegung. Böttcher, Till (geb. 1970 in Dresden), 1986–1988 Tischlerlehre, anschließend Tischler an einem Berliner Theater; seit 1987 Mitarbeit in der Galerie und der Bibliothek der »Umweltbibliothek« Berlin und seither vom MfS verfolgt; am 25.11.1987 bei der Durchsuchung der »Umweltbibliothek« zugeführt; im Zuge der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17.1.1988 verhaftet; zu sechs Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt, nach internationalen Protesten nach drei
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Kurzbiografien
Wochen Haft Anfang Februar 1988 entlassen; er wurde dennoch (oder gerade deswegen) im Februar 1988 von der FDJ-Gruppe seiner Arbeitsstelle zum Funktionär für Agitation und Propaganda gewählt; 1989 beteiligte er sich an der Organisation der Mahnwache und des Kontakttelefons bei der Gethsemanekirche; am 4.9.1990 besetzte er mit anderen die MfS-Zentrale in Berlin. In den 1990er Jahren war er in der Berliner Hausbesetzerszene aktiv. Böttcher arbeitet als Tischler und Messebauer. Literatur: Wir wollten was Eigenes machen, in: Wachet und Betet. Herbst 89 in der Gethsemanekirche. Begleitbuch zur Ausstellung. Berlin 2009, S. 141– 143; Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986–1989. Berlin 1992; http://www.jugendopposition.de Böttger, Antje (geb. 1958 in Dresden), aus politischen Gründen kein Abitur, Krankenschwester, lebte ab 1978 mit ihrem Ehemann → Martin Böttger in Ost-Berlin; ihre Wohnung wurde zu einem der zentralen Anlaufpunkte für Oppositionelle und bundesdeutsche Unterstützer wie → Petra Kelly; Mitglied der »Frauen für den Frieden« und der IFM, jahrelang vom MfS beobachtet; lebte seit 1989 in Cainsdorf bei Zwickau, wo sie das Neue Forum mitaufbaute. Literatur: Peter Grimm: Antje Böttger, in: Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel. Berlin 2011, S. 30–31; Gerold Hofmann: Mutig gegen Marx & Mielke. Die Christen und das Ende der DDR. Leipzig 2009 Böttger, Martin (geb. 1947 in Frankenhain), 1965 Abitur; 1965–1970 Physikstudium in Dresden; 1970–1972 Bausoldat, seit 1972 Teilnahme an der kirchlichen Friedensarbeit und aktiv in der unabhängigen Friedensbewegung; 1972–1976 Programmierer bei Robotron Karl-Marx-Stadt, 1976–1979 beim Versorgungskontor Leder in Berlin, 1979–1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bauakademie in Berlin, 1982 Dr.-Ing. an der TU Dresden; die Wohnung von → Antje und Martin Böttger war in Ost-Berlin einer der zentralen Anlaufpunkte für Oppositionelle und bundesdeutsche Unterstützer wie → Petra Kelly; mehrere »Zuführungen«; 1983 Hausmann; 1.9.–15.9.1983 Verhaftung wegen »versuchter Teilnahme an einer Menschenkette zum Weltfriedenstag«; ab 1985 Programmierer im Kombinat Minol; 1985/86 Mitbegründer der IFM, außerdem Mitarbeit in anderen Oppositionsgruppen, Autor und Mitherausgeber von Publikationen im Samisdat; seit Anfang der 1970er Jahre vom MfS beobachtet, überwacht und von Zersetzungsmaßnahmen betroffen; 1989 Umzug nach Cainsdorf bei Zwickau und 1989/90 Programmierer in Zwickau; September 1989 Erstunterzeichner des Aufrufs zur Bildung des Neuen Forums (NF); 18.3.1990 Wahl in die Volkskammer, aber Weitergabe des Mandats an
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Nachrücker Werner Schulz; 1990–1994 Mitglied des Sächsischen Landtags und Sprecher der Fraktion Neues Forum-Bündnis 90-Die Grünen; 1992/93 Mitglied des Bundessprecherrats der Partei Bündnis 90; 1994–2001 Geschäftsführer einer gemeinnützigen Seniorenpflegeeinrichtung in Kirchberg; 2001– 2009 Leiter der Außenstelle Chemnitz der Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen. Literatur: Doppeltes Gesellschaftsspiel, in: Horch und Guck 3 (2011) 73, S. 56–59 (über ein von ihm in Anlehnung an »Monopoly« entwickeltes Gesellschaftsspiel, das die Verhältnisse in der DDR kritisierte); Karl-Heinz Baum, Roland Walter (Hg.): »... ehrlich und gewissenhaft ...«. Mielkes Mannen gegen das Neue Forum. Berlin 2008; Eckhard Jesse (Hg.): Friedliche Revolution und deutsche Einheit. Sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz. Berlin 2006; Reinhard Weißhuhn: Martin Böttger, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 318–320; Gerold Hofmann: Mutig gegen Marx & Mielke. Die Christen und das Ende der DDR. Leipzig 2009; Thomas Mayer: Helden der Deutschen Einheit. 20 Porträts von Wegbereitern aus Sachsen. Leipzig 2010 Buhl, Hans (geb. 1933), September 1951 bis Juni 1952 VP, Juni 1952 Eintritt ins MfS, März 1954 SED, begann als Wachmann in der KD Marienberg, 1966 Referatsleiter in der HA XX/4, 1971 Referatsleiter in der HA XX/2, 1974 Abteilungsleiter HA XX/2, 1980 Abteilungsleiter HA XX/AKG, 1986 Abteilungsleiter HA XX/5, 1987 zum Oberst befördert, entlassen zum 28.2.1990. Czaputowicz, Jacek (geb. 1956), studierte bis 1986 an der Hochschule für Ökonomie in Warschau; engagierte sich seit den 1970er Jahren in der demokratischen Opposition, arbeitete u. a. in der Solidarność und der Gruppe »Ruch Wolność i Pokój« (»Freiheit und Frieden«) mit, war für knapp ein Jahr interniert; promovierte 1997 und habilitierte sich 2008; ab den 1990er Jahren längere Studienaufenthalte in Oxford, Genua und Florenz und nach verschiedenen Stationen in Polen 2008–2012 Direktor der Nationalen Hochschule für Öffentliche Verwaltung (»Krajowa Skoła Administracji Publicznej«) in Warschau. Dalos, György (geb. 1943 in Budapest), 1962–1967 Geschichtsstudium, 1968 aus der ungarischen KP wegen »staatsfeindlicher« Aktivitäten ausgeschlossen, Verhaftung und Verurteilung zu sieben Monaten Gefängnis, zur Bewährung ausgesetzt, Berufs- und Publikationsverbot, aktiv in der demokratischen ungarischen Opposition; arbeitet als Schriftsteller und Übersetzer, 1964 erster Gedicht-
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band; 1977 Mitbegründer der Oppositionsbewegung in Ungarn; 1984 Stipendium des DAAD (Bremen), Kontakte zur Opposition in der DDR (u. a. IFM), publizierte im osteuropäischen Samisdat, auch im DDR-Samisdat, 1988/89 Redaktionsmitglied von »Ostkreuz«; lebte 1987–1995 in Wien und Budapest, 1995–1999 Direktor des Hauses Ungarn in Berlin, wohnt in Berlin; zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Literatur: Meine Lage in der Lage (1979); 1985 (1982); Mein Großvater und die Weltgeschichte (1985); Die andere Hälfte Europas (1985); Kurzer Lehrgang, langer Marsch (1985); Archipel Gulasch. Die Entstehung der demokratischen Opposition in Ungarn (1986); Der Versteckspieler (1994); Ungarn – Vom Roten Stern zur Stephanskrone (1997); Die Reise nach Sachalin (2001); Ungarn in der Nussschale. Geschichte meines Landes (2004); 1956. Der Aufstand in Ungarn (2006); Die Balaton-Brigade (2006); Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa (2009); Gorbatschow. Mensch und Macht (2011) Diepgen, Eberhard (geb. 1941 in Berlin), Rechtsanwalt, CDU, 1971–1980 MdA, 1980/81 MdB, 1984–1989 und 1991–2001 Regierender Bürgermeister von Berlin. Literatur: Zwischen den Mächten (2004). Dietrich, Reiner (geb. 1959 in Berlin), Lehre bei der Deutschen Reichsbahn, arbeitete ab 1980 als Betriebs- und Verkehrsfacharbeiter, später als Einrichter im VEB Fahrzeugausrüstung und dann als Haushandwerker im ev. Diakoniewerk »Königin Elisabeth« Berlin; seit 1982 als IM »Cindy« für das MfS tätig, eingesetzt in der oppositionellen Szene in Ost-Berlin (u. a. Bluesmessen, Friedensbewegung, IFM), ab 1986 an der technischen Herstellung vom »Grenzfall« beteiligt; im Oktober 1989 Teilnehmer an der Gründungsversammlung des »Demokratischen Aufbruchs«; nach dem Mauerfall löste er die Zusammenarbeit mit dem MfS auf. Er war einer der wichtigsten IM, die das MfS in der Opposition platzieren konnte, die intensiv berichteten und sich bemühten, die Pläne der Stasi umzusetzen. Im Frühjahr/Sommer 1989 äußerten → Rainer Eppelmann und → Bärbel Bohley erste Verdachtsmomente, dass er für das MfS arbeite. Dohmeyer, Kurt (geb. 1931), MfS seit 1.9.1954 als Feldwebel in der Abt. V der Verwaltung Groß-Berlin, 1956 Schule Potsdam-Eiche, 1967–1970 JHS, Fachschuljurist, arbeitete immer in der Abt. V bzw. XX der Verwaltung Groß-Berlin/BV Berlin, Referat 4 zuständig für Kirche, ab 1980 als kommissarischer und ab 1.9.1985 als Referatsleiter; war u. a. Führungsoffizier des IM »Sekretär«;
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1.5.1989 Offizier für Koordinierung, zuletzt im Range eines Majors; entlassen zum 28.2.1990. Eppelmann, Rainer (geb. 1943 in Berlin), bis 1961 Johannes-Kepler-Gymnasium in West-Berlin, 1961/62 Dachdeckerhilfsarbeiter, 1962–1964 Ausbildung zum Maurer, 1966 Verweigerung des Wehrdienstes mit der Waffe und des Fahneneids, dafür acht Monate Haft, anschließend Bausoldat; 1969–1975 Studium der Theologie in Berlin, 1975 Ordination; 1974–1989 Hilfsprediger bzw. Pfarrer in der Berliner Samaritergemeinde, Organisator der Bluesmessen und anderer Veranstaltungen der kirchlichen Jugendarbeit, 1982 mit → Robert Havemann Autor des Berliner Appells »Frieden schaffen ohne Waffen«, deshalb erneute Festnahme; zahlreiche Aktivitäten in kirchlichen Friedens- und Menschenrechtsgruppen, enge Kontakte zu bundesdeutschen Politikern und Medien; das MfS beobachtete und verfolgte ihn intensiv, er war von zahlreichen Zersetzungsmaßnahmen betroffen (bis hin zu Mordplänen), seine Wohnung und das Telefon wurden mindestens seit 1982 ununterbrochen abgehört; September 1989 Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, Dezember 1989 bis März 1990 DA-Vertreter am zentralen Runden Tisch, Februar bis März 1990 Minister ohne Geschäftsbereich, ab März DA-Vorsitzender; März bis Oktober 1990 Abgeordneter der Volkskammer, April bis Oktober 1990 Minister für Abrüstung und Verteidigung, seit September 1990 CDU; 1990–2005 MdB; 1990–1993 Vors. des CDU-LV Brandenburg und stellv. Bundesvorsitzender der CDU; 1992–1994 und 1995–1998 Vorsitzender der beiden EnqueteKommissionen des Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur; 1994 bis 2001 Vors. der CDA (seither Ehrenvorsitzender); seit 1998 Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Er war mit EvaMaria Eppelmann (geb. 1950) von 1969 bis 1988 und von 1990 an verheiratet, sie haben zusammen fünf Kinder, Mitte der 1990er Jahre trennten sie sich. Sie war an systemkritischen Protesten beteiligt. Literatur: Wendewege (1992); Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland (1993); (mit Dietmar Keller) Zwei Deutsche Sichten. Ein Dialog auf gleicher Augenhöhe (2000). Fink, Ulf (geb. 1942 in Freiberg), Volkswirt, CDU, u. a. 1979 Bundesgeschäftsführer der CDU, 1981–1989 Senator für Gesundheit und Soziales in West-Berlin, 1985–1992 MdA, 1987–1993 Vorsitzender der CDA, 1990–1994 stellv. DGB-Bundesvorsitzender, 1994–2002 MdB; seit 2003 Vorstandsvorsitzender des Vereins Gesundheitsstadt Berlin.
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Fischbeck, Hans-Jürgen (geb. 1938 in Tanganjika), 1944 Repatriierung nach Deutschland; 1956 Abitur, 1956–1962 Physikstudium an der HUB, 1962–1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Elektronenphysik der AdW, 1966 Promotion, 1969 Habilitation; ab 1968 Mitglied des Gemeindekirchenrats der Berliner Bartholomäusgemeinde, seit 1977 Synodaler der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg, brachte 1987 den Antrag »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« in die Synode ein; 1988 Delegierter zur 1. Ökumenischen Versammlung der Kirchen und Christen in der DDR in Dresden; im September 1989 Mitinitiator von Demokratie Jetzt, Mitglied des Sprecherrats von DJ; 1990 Mitglied der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung; 1990– 1992 MdA; 1992–2003 Studienleiter an der Evangelischen Akademie Mühlheim (Ruhr); lebt seit 2002 in der christlichen Kommunität Grimnitz in der Schorfheide. Literatur: Hagen Findeis, Detlef Pollack, Manuel Schilling: Die Entzauberung des Politischen: Was ist aus den politisch alternativen Gruppen in der DDR geworden? Interviews mit führenden Vertretern. Leipzig 1994; Stefan Berg: Hans-Jürgen Fischbeck, in: Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel. Berlin 2011, S. 44–45 Fischer, Werner (geb. 1950 in Caputh b. Potsdam), 1964 nach einer Weigerung, der FDJ beizutreten, nicht zur EOS zugelassen; 1964–1967 Ausbildung zum Rohrleitungsmonteur; 1968/69 Wehrdienst; ab 1972 Bühnenarbeiter, später Werbeorganisator am Metropoltheater in Ost-Berlin; 1976 Protest gegen die Ausbürgerung → Wolf Biermanns; Teilnahme an illegalen politischen Zirkeln, seit 1981 in der unabhängigen Friedensbewegung aktiv; systematisch vom MfS verfolgt; 1985/86 Mitbegründer der IFM; 1986 Berufsverbot; im Januar 1988 im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration Verhaftung wegen Verdachts auf »landesverräterische Agententätigkeit«, Anfang Februar 1988 Abschiebung nach England (gemeinsam mit → Bärbel Bohley), Anfang August 1988 Rückkehr nach Ost-Berlin, neuerlich aktiv in der IFM; 1989 Mitarbeit im Kontaktbüro der Opposition bei der Berliner Gethsemanegemeinde; November 1989 als IFM-Vertreter Mitglied der Vorbereitungsgruppe des zentralen Runden Tisches; 1990 von der Opposition, später vom Berliner Magistrat benannter Regierungsbeauftragter zur Auflösung des MfS; 1991/92 Leiter der Projektgruppe zur Auflösung des MfS in der Berliner Senatsverwaltung, 1992–1994 Pressesprecher der Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen. Literatur: Hagen Findeis, Detlef Pollack, Manuel Schilling: Die Entzauberung des Politischen: Was ist aus den politisch alternativen Gruppen in der DDR geworden? Interviews mit führenden Vertretern. Leipzig 1994
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Fleischhauer, Werner (geb. 1936), 1954 Abitur, 1955 SED, 1954–1956 Studium am Pädagogischen Institut Halle, 1956-1958 Lehrer; seit 1.11.1958 MfS, Abt. V der BV Potsdam, ab 1966 HA XX/5; 1977 Abschlussarbeit an der JHS: »Anforderungen an inoffizielle Mitarbeiter, die zur Bearbeitung operativer Vorgänge bei Delikten des staatsfeindlichen Menschenhandels im Innern der DDR eingesetzt werden«; 1984 stellv. Abteilungsleiter der HA XX/5; 15.1.1989 Abteilungsleiter HA XX/8; letzter Dienstgrad seit 1985 Oberstleutnant; entlassen zum 15.2.1990. Forck, Gottfried (1923–1996, geb. in Ilmenau), 1942–1945 Wehrmacht (Ltn.), bis 1947 amerikanische Kriegsgefangenschaft; 1947–1951 Theologiestudium in Bethel, Heidelberg, Basel und Berlin, 1952 1. Theologisches Examen, 1952–1954 Assistent an der Kirchlichen Hochschule in West-Berlin, Vikar; 1954 2. Theologisches Examen und Ordination, 1956 Promotion in Heidelberg, 1954– 1959 Studentenpfarrer in Ost-Berlin, 1959–1963 Pfarrer in der Niederlausitz, 1963–1972 Leiter des Predigerseminars Brandenburg, 1972–1981 Generalsuperintendent des Sprengels Cottbus; 1981–1991 Bischof der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg, 1984–1987 Vorsitzender des Rats der Ev. Kirche der Union für den Bereich DDR; gehörte zu denjenigen kirchlichen Amtsträgern, die in der innerkirchlichen Diskussion der 1980er Jahre dafür eintraten, oppositionellen Gruppen einen begrenzten Wirkungs- und Schutzraum unter dem Dach der evangelischen Kirche zu gewähren; trug 1981 demonstrativ das Zeichen »Schwerter zu Pflugscharen«, als zahlreiche junge Menschen dafür polizeilich belangt wurden; im Herbst 1989 aktiv beteiligt an der Untersuchung der polizeilichen Übergriffe auf Demonstranten sowie an der Auflösung des MfS. Literatur: Christian Sachse: Den Menschen eine Stimme geben. Bischof Gottfried Forck und die Opposition in der DDR. Berlin 2009; Hagen Findeis, Detlef Pollack (Hg.): Selbstbewahrung oder Selbstverlust. Bischöfe und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in der DDR über ihr Leben. Berlin 1999, S. 286–321 Fuchs, Jürgen (1950–1999, geb. in Reichenbach/Vogtl.), 1969 Abitur und Facharbeiterabschluss bei der Reichsbahn, 1969–1971 Grundwehrdienst NVA, ab 1971 Studium der Sozialpsychologie in Jena, 1973 SED, 1974 Heirat mit Lilo Fuchs (geb. 1953); 1974 erste Veröffentlichungen von Prosa und Gedichten, öffentliche und private Lesungen mit kritischen Texten zur Militarisierung der DDR-Gesellschaft; April 1975 Ausschluss aus der SED wegen »feindlicher Angriffe gegen die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft«; 1975 Exmat-
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rikulation und Publikationsverbot; Transportarbeiter, Pfleger in der Stephanusstiftung Berlin, wohnte mit Lilo Fuchs bei → Katja und → Robert Havemann; November 1976 Protest gegen die Ausbürgerung → Wolf Biermanns, neun Monate Untersuchungshaft beim MfS; August 1977 Ausbürgerung, Lilo Fuchs folgte ihm; freischaffender Autor in West-Berlin, bis 1989 aktive Unterstützung der Opposition in der DDR und auch im Westen weiterhin vom MfS verfolgt; 1990 Mitarbeit zur Auflösung des MfS, 1992/93 wissenschaftlicher Mitarbeiter des BStU, tätig als Psychologe in einem Beratungszentrum in Berlin. Literatur: Gedächtnisprotokolle (1977); Vernehmungsprotokolle (1978/2009); Fassonschnitt (1984); Einmischung in eigene Angelegenheiten (1984); Das Ende einer Feigheit (1988); ... und wann kommt der Hammer (1990); (mit Doris Liebermann und Vlasta Wallat Hg.) Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler. Tschechische und ostdeutsche Dissidenten 1968–1998 (1998); Magdalena (1998); Landschaften der Lüge (2 CD 2013); Wolfgang Templin: Jürgen Fuchs, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 175–177; Udo Scheer: Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition. Berlin 2007; Doris Liebermann: Lilo Fuchs, in: Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel. Berlin 2011, S. 48–49; Ernest Kuczyński (Hg.): Im Dialog mit der Wirklichkeit. Annäherungen an Leben und Werk von Jürgen Fuchs (1950-1999). Halle 2014 Furian, Hans-Otto (1931-2012, geb. in Arnswalde), Theologe, 1959–1970 Pfarrer in Libbenichen/Oderbruch, 1970–1988 Superintendent in Zossen, 1988–1996 Propst der Kirche Berlin-Brandenburg. Grimm, Peter (geb. 1965 in Berlin), 1982 Teilnahme an der Beerdigung von → Robert Havemann, anschließend Kontakte zur Opposition; 1983 wenige Tage vor dem Abitur auf Veranlassung vom MfS von der EOS relegiert, anschließend bis 1986 Hilfsarbeiter; 1986 Heirat mit → Sabine Börner (Grimm; Trennung 1991, bis 1996 verheiratet); 1983–1986 engagiert in verschiedenen Friedensund Umweltkreisen, Mitbegründer der IFM 1985/86, ab 1986 Mitherausgeber und Redakteur vom »Grenzfall«; Redakteur, Herausgeber und Autor weiterer Veröffentlichungen im Samisdat, mehrfache Festnahmen; systematisch vom MfS verfolgt; September/Oktober 1989 beteiligt an Solidaritätsveranstaltungen für politische Gefangene und an der Mahnwache an der Gethsemanekirche, Redakteur der Zeitschrift »telegraph«, 1990 Redakteur der ersten unabhängigen Tageszeitung »die andere«; 1990/91 Pressesprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag; seit 1991 freier Fernseh-
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journalist, Dokumentarfilmer und Publizist, u. a. auch 2007–2013 verantwortlicher Redakteur der Vierteljahresschrift »Horch und Guck«. Literatur: http://www.jugendopposition.de Grimm, Sabine (geb. Börner, 1962 in Mittweida), lebte ab 1971 in Crimmitschau, 1978– 1981 Medizinische Fachschule Zwickau, Krankenpflegerin in Crimmitschau, ab März 1985 Berlin, tätig in der Volkssolidarität, 1986 Heirat mit → Peter Grimm (Trennung 1991, bis 1996 verheiratet). Gysi, Gregor (geb. 1948 in Berlin), 1966 Abitur und Lehrabschluss als Facharbeiter für Rinderzucht; 1966–1970 Jurastudium an der HUB, 1967 SED, ab 1971 Rechtsanwalt, vertrat u. a. zahlreiche Oppositionelle; widersprach stets dem Verdacht, er sei seit Ende der 1970er Jahre als IM für das MfS tätig gewesen; 1976 Promotion an der HUB; 1988/89 Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte Berlin und des Rats der Vorsitzenden der Kollegien in der DDR; Dezember 1989 bis Januar 1993 Vorsitzender der SED/PDS, 1990 Abgeordneter der Volkskammer, 1990–2002 und seit 2005 MdB, 17.1.2002– 31.7.2002 Berliner Wirtschaftssenator. Literatur: Das war’s. Noch lange nicht (1997); Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn (2001); Wie weiter? (2013); Jens König: Gregor Gysi. Berlin 2005 Haeger, Monika (1945–2006), lebte viele Jahre im Kinderheim Königsheide, anschließend im Internat; Studium, SED, Mitarbeiterin und Lektorin im Verlag »Junge Welt«, dort durch das MfS fingiert entlassen worden; Mitte der 1980er Jahre tätig im Baubüro des Diakonischen Werks; 1982–1989 als IMB »Karin Lenz« für das MfS tätig, agierte u. a. im Stasi-Auftrag in der IFM, im »Friedenskreis Pankow«, bei den »Frauen für den Frieden«; eine der ergiebigsten MfS-Quellen in der Ostberliner Opposition; 1983 in Abstimmung mit dem MfS scheinbar aus der SED geworfen; im Februar/April 1989 als Stasi-Spitzel entlarvt. Literatur: Irena Kukutz, Katja Havemann: Geschützte Quelle. Gespräche mit Monika H. alias Karin Lenz. Berlin 1990; Die Wahrheit muss raus – Bekenntnisse einer Stasi-Agentin. Sendebeitrag »Kontraste« am 16.10.1990, enthalten in: Kontraste: Auf den Spuren einer Diktatur (3 DVD). Bonn 2005 Hager, Kurt (1912–1998, geb. in Bietigheim), 1930 KPD, 1931 Abitur, 1933 KZ, 1934– 1946 Westemigration, 1937–1939 Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg; 1946 Rückkehr nach Deutschland, ab 1949 Philosophieprofessor an der HUB und im zentralen Parteiapparat tätig, u. a. 1950 Kandidat, 1954 Mitglied und
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ab 1955 Sekretär des ZK der SED, verantwortlich u. a. für Wissenschaft, Volksbildung, Kultur, Ideologie, 1958 Kandidat und ab 1963 Mitglied des Politbüros, zahlreiche weitere Funktionen; Januar 1990 SED-Ausschluss. Literatur: Erinnerungen (1996) Harich, Katharina (geb. 1952 in Berlin), Tochter von Wolfgang Harich (1923–1995); war u. a. Managerin der Gruppe MTS und von Bettina Wegner; engagierte sich in den 1980er Jahren in der KvU und in anderen Ostberliner Oppositionsgruppen; initiierte die Proteste gegen die Relegierungen der Ossietzky-Oberschüler 1988 mit und war 1989 u. a. beim oppositionellen Kontakttelefon bei der Ostberliner Gethsemanegemeinde engagiert. Hartz, Frank (geb. Schulz, 1959 in Wittenberge), Studium der Slawistik 1987 abgebrochen, anschließend Zeitungskioskverkäufer; ab 1986 Kontakte zu Mitgliedern der IFM und anderen Oppositionsgruppen; wegen seiner Fremdsprachenkenntnisse in die oppositionellen Kontakte zu osteuropäischen Gruppen involviert; für die Stasi intensiv als IMS/IMB »Dietmar Lorenz« (HA XX/2 bzw. HA XX/9) tätig. Hauswald, Harald (geb. 1954 in Radebeul), 1970–1971 Lehre als Fotolaborant, abgebrochen, anschließend Gelegenheitsjobs, Wehrdienst; 1974–1976 Ausbildung als Fotograf, seit 1978 verschiedene Jobs in Ost-Berlin und tätig als Fotograf, intensiv vom MfS bearbeitet und von Zersetzungsmaßnahmen betroffen; zahlreiche Fotoausstellungen in Kirchen und Privaträumen sowie Fotoreportagen für westliche Zeitschriften; 1989 Gründungsmitglied der Fotoagentur »Ostkreuz«; gilt als einer der wichtigsten deutschen Fotokünstler. Literatur: (mit Lutz Rathenow) Berlin-Ost. Die andere Seite einer Stadt (1987/1990/1996/2014); Seitenwechsel (1999); (mit Lutz Rathenow) Gewendet – Vor und nach dem Mauerfall (2006); Alexanderplatz (2012); Vor Zeiten (2013); Ferner Osten (2013); Radfahrer (DVD 2009; über H.H.) Havemann, Annedore (Katja) (geb. Grafe, 1947 in Neubarnim/Oderbruch), 1967 Berufsausbildung mit Abitur, 1967/68 Studium an der HfÖ, Abbruch auf eigenen Wunsch, ab 1968 Arbeit in einem Kinderheim, 1973 Abschluss eines Heimerzieher-Studiums, seit der Heirat 1974 mit → Robert Havemann intensiv vom MfS verfolgt; ab 1982 engagiert in der Gruppe »Frauen für den Frieden«, ab 1986 in der IFM, 1989 Mitbegründerin des Neuen Forums; im September 1990 beteiligt an der Besetzung der MfS-Zentrale in Berlin zur Öffnung der Aktenbestände.
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Literatur: (mit Irena Kukutz) Geschützte Quelle. Gespräche mit Monika H. alias Karin Lenz (1990); (mit Joachim Wiedmann) Robert Havemann oder Wie die DDR sich erledigte (2003) Havemann, Robert (1910–1982, geb. in München), 1929–1933 Chemiestudium in München und Berlin, 1935 Promotion, 1943 Habilitation; September 1943 Verhaftung als Mitbegründer und Leiter der Widerstandsgruppe »Europäische Union«, 16.12.1943 Todesurteil, 1944/45 beschäftigt mit »kriegswichtigen Arbeiten« in der Todeszelle des Zuchthauses Brandenburg-Görden; 1945–1950 Direktor der Berliner Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ab 1946 auch Professor der Berliner Universität; ab 1949 Abgeordneter der (Prov.) Volkskammer; 1950 Übersiedlung in die DDR; 1950 SED, 1950–1954 Studentendekan an der HUB; 1956–1963 als GI »Leitz« für das MfS tätig, zuvor für sowjetische Dienste aktiv; 1961 Korrespondierendes Mitglied der DAW; angeregt vom XX. Parteitag der KPdSU 1956 wurde er ab den frühen 1960er Jahren zum bedeutendsten und bekanntesten Systemkritiker in der DDR; 1964 Ausschluss aus der SED und fristlose Entlassung durch die HUB, 1965/66 Entlassung durch die DAW und Streichung als Mitglied; faktisches Berufsverbot, engmaschige Überwachung, Hausarrest (1976–1978) u. a. Repressalien durch das MfS, 1982 mit → Rainer Eppelmann Autor des Berliner Appells »Frieden schaffen ohne Waffen«, Mitbegründer der unabhängigen Friedens- u. Bürgerrechtsbewegung; 16.11.1989 Aufhebung der Streichung durch die AdW; 28.11.1989 Rehabilitierung durch die SED; 2006 Auszeichnung als »Gerechter« durch den Staat Israel. Literatur: Dialektik ohne Dogma (1964); Fragen – Antworten – Fragen (1970); Rückantworten an die Hauptverwaltung »Ewige Wahrheiten« (1971); Berliner Schriften (1977); Ein deutscher Kommunist (1978); Morgen (1980); Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde (1990); Die Stimme des Gewissens (1990); Dokumente eines Lebens (1991); Hartmut Jäckel (Hg.): Ein Marxist in der DDR. München, Zürich 1980; Silvia Müller, Bernd Florath: Die Entlassung. Berlin 1996; Clemens Vollnhals: Der Fall Havemann. Berlin 1998; Katja Havemann, Joachim Widmann: Robert Havemann oder Wie die DDR sich erledigte. Berlin 2003; Simone Hannemann: Robert Havemann und die Widerstandsgruppe »Europäische Union«. Berlin 2001; Arno Polzin: Der Wandel Robert Havemanns vom Inoffiziellen Mitarbeiter zum Dissidenten im Spiegel der MfS-Akten. Berlin 2006; Werner Theuer, Bernd Florath: Robert Havemanns Bibliographie. Berlin 2007; Werner Theuer, Arno Polzin, Bernd Florath: Aktenlandschaft Havemann. Berlin 2008
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Heimann, Günther (geb. 1938), 1953 Volksschulabschluss, 1957 SED, 1957–1962 NVA, 1963 Sonderabitur, seit 1964 MfS, zunächst operativer Mitarbeiter der KD Bad Doberan, ab 1969 in der HA XX/7, seit 1981 als Major Referatsleiter in der HA XX/9; entlassen zum 28.2.1990. Hein, Christoph (geb. 1944 in Heizendorf/Schlesien), aufgewachsen in Bad Düben, 1958– 1960 Gymnasium in West-Berlin, 1964 Abitur an einer Abendschule in OstBerlin, 1974 Uraufführung der ersten eigenen Theaterstücke, seit 1979 freischaffender Autor; zahlreiche Auszeichnungen, Ehrungen und Preise, Mitglied mehrerer Akademien; zählt seit den 1980er Jahren zu den bekanntesten deutschen Gegenwartsautoren; stand stets in wahrnehmbarer Distanz zum SEDSystem und gehörte zu den Schriftstellern, die über ihr künstlerisches Werk hinaus deutliche Kritik am SED-Staat übten; zählte 1989/90 zu den wichtigsten Intellektuellen in der Revolution, die nicht unmittelbar zum politischoppositionellen Milieu zählten. Henrich, Rolf (geb. 1944 in Magdeburg), 1964 SED, Studium der Rechtswissenschaften an der HUB; 1964–1969 als IM für das MfS erfasst, u. a. in dessen Auftrag Westreisen; nach dem Wehrdienst 1973 Zulassung als Rechtsanwalt, u. a. SEDParteisekretär des Kollegiums der Rechtsanwälte Frankfurt/O.; ab 1988 im Umfeld von → Bärbel Bohley und → Katja Havemann engagiert; im April 1989 SED-Ausschluss und Entzug der Zulassung als Rechtsanwalt; Mitinitiator des Neuen Forums, dessen Vertreter am zentralen Runden Tisch; 1990 Mitglied der SPD; seit 1990 wieder als Rechtsanwalt tätig. Literatur: Der vormundschaftliche Staat (1989); Die Schlinge (2001); Irena Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung Neues Forum 1989–1990. Berlin 2009; Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchges. Aufl., München 2009 Hensel, Karitas (1946–1999, geb. in Haldensleben), 1970–1980 Lehrerin in Hessen; seit 1980 Mitarbeit in der Bürgerinitiative »Keine Startbahn West«; seit 1982 Mitglied der Partei »Die Grünen«, Mitarbeit in der Bürgerinitiative »Volkszählungsboykott«; 1987–1990 MdB, deutschlandpolitische Sprecherin der Fraktion und Mitglied im Ausschuss für innerdeutsche Beziehungen; setzte sich für die Bürgerrechtsbewegung in der DDR ein (u. a. »Umweltbibliothek« und IFM).
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Hermlin, Stephan (1915–1997, geb. in Chemnitz; eigentlich Rudolf Leder), SED, seit 1947 freischaffender Schriftsteller; 1976 Mitinitiator und Verfasser der KünstlerResolution gegen die Ausbürgerung → Wolf Biermanns, strenge Parteirüge, seither zeitweise vom MfS überwacht; verfügte sowohl über enge Kontakte zur SED-Führung wie zu kritischen Künstlern. Literatur: Karl Corino: Außen Marmor, innen Gips. Düsseldorf 1996 Herzberg, Guntolf (geb. 1940 in Berlin), 1958 Abitur, 1961–1965 Studium der Philosophie, Physik und Geschichte an der HUB, 1964 SED, 1966–1973 Assistent am Philosophieinstitut der AdW; 1972 Gründer der »Freitagsrunde«, die 1989 zur Keimzelle des Neuen Forums zählte; 1973 Entlassung und Parteiausschluss, systematische Verfolgung durch das MfS; freiberuflicher Redakteur und Übersetzer, 1976 Promotion; Zusammenarbeit mit Rudolf Bahro, Mitarbeit in verschiedenen oppositionellen Zirkeln und Gruppen; 1985 Ausreise nach West-Berlin, politisch in der AL engagiert, aktiv bei der Unterstützung der Opposition in der DDR und Osteuropa; 1993/94 Mitarbeiter in der Forschungsabteilung des BStU; 1994–2005 Philosophieinstitut der HUB. Literatur: Überwindungen (1990); Einen eigenen Weg gehen (1991); Karrieremuster (1992); Abhängigkeit und Verstrickung (1996); Aufbruch und Abwicklung (2000); (mit Kurt Seifert) Rudolf Bahro (2002); Anpassung und Aufbegehren (2006); Moral extremer Lagen (2012) Hildebrand, Gerold »Hilli« (geb. 1955 in Lauchhammer), 1973 Abitur, 1973–1975 Wehrdienst, durch die Weigerung, an der Grenze die Schusswaffe einzusetzen, verlor er seine Studienzulassung; 1977–1981 Ausbildung zum Krankenpfleger, engagiert in der Offenen Arbeit in Jena; 1982 Umzug nach Ost-Berlin, Arbeit im St.Joseph-Krankenhaus; in verschiedenen oppositionellen Zusammenhängen und Gruppen aktiv, u. a. ab 1986 in der »Umweltbibliothek«, 1989 Proteste gegen die Wahlfälschungen, ab Frühjahr 1989 in der Gruppe Kontakttelefon bei der Gethsemanegemeinde, Herbst 1989 Mitwirkung an der Mahnwache bei der Gethsemanekirche; seit 1990 vielfältig engagiert in der Aufarbeitungsszene; 1997–2005 Studium der Sozialwissenschaften an der HUB. Literatur: Transparent »Demokratie«, in: Wachet und Betet. Herbst 89 in der Gethsemanekirche. Begleitbuch zur Ausstellung (2009); Nanette Hojdyssek: Gerold Hildebrand, in: Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel. Berlin 2011, S. 60–61; http://www.jugendopposition.de
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Hirsch, Ralf (geb. 1960 in Berlin), ab 1977 wegen »fehlgeleiteter politischer Anschauungen« Einweisung in letztlich mehrere Jugendwerkhöfe; Schlosserlehre; 1979 Entlassung aus dem Jugendwerkhof mit Auflagen für drei Jahre (Meldepflicht, Umgangsverbot, Reiseverbot); Schlosser im Transformatorenwerk Berlin; ab 1980 Mitarbeiter in einem Kirchhofsbüro bei der Auferstehungsgemeinde; Mitorganisation der Blues-Messen; Mitglied des Friedenskreises der Samaritergemeinde von → Rainer Eppelmann; 1982–1984 Bausoldat; 1984 Sachbearbeiter bei der Ev. Kirche, Organisation von Veranstaltungen der kirchlichen Jugendarbeit, der Friedenswerkstatt u. a.; zahlreiche oppositionelle Aktivitäten, u. a. 1985/86 Gründungsmitglied der IFM; Organisationstätigkeit für den »Grenzfall«; umfangreiche Kontakte zu westlichen Journalisten und Diplomaten; betroffen von zahlreichen Zersetzungsmaßnahmen des MfS; am 25.1.1988 verhaftet und am 5.2.1988 ausgebürgert; fortan einer der wichtigsten Unterstützer der DDR-Opposition von West-Berlin aus; ist auch in WestBerlin weiterhin systematisch vom MfS verfolgt worden; seit Mai 1988 Angestellter im Landesamt für zentrale soziale Aufgaben West-Berlin, 1990/91 Mitarbeiter im Büro des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Walter Momper; seit 1992 Angestellter beim Berliner Senat. Literatur: Ferdinand Kroh (Hg.): »Freiheit ist immer die Freiheit …« Die Andersdenkenden in der DDR. Frankfurt/M., Berlin 1988; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; Stefan Wolle: Ralf Hirsch, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 333–335; Dirk Moldt: Zwischen Hass und Hoffnung. Die Blues-Messen 1979–1986. Berlin 2008 Horáček, Milan (geb. 1946 in Velké Losiny), Lehre zum Elektromonteur, emigrierte nach dem Prager Frühling 1968 in die Bundesrepublik; gab seit März 1973 die deutschsprachige Version der Exil-Zeitschrift Listy (Blätter) heraus; 1976–1981 Studium der Politikwissenschaft in Frankfurt/M.; 1979 an der Gründung der Partei »Die Grünen« beteiligt; 1983 MdB, Arbeitsschwerpunkte Außen- und Sicherheitspolitik, Osteuropa und Menschenrechte; 1990 Rücknahme seiner Ausbürgerung durch die ČSSR und Mitarbeit im Beraterstab von Václav Havel; 1991 Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Prag; 2004–2009 MdEP. Literatur: Exil und Grün. Milan Horáček. Brüssel 2009 Hülsemann, Wolfram (geb. 1943), ev. Theologe, nach Pfarrstellen in Thüringen 1984–1992 Stadtjugendpfarrer Ost-Berlins; 1989 Mitglied der Vorbereitungsgruppe des Run-
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den Tisches bzw. 1989/90 Moderator des Runden Tisches im Ostberliner Roten Rathaus; 1992–1995 ev. Berufsschularbeit in Berlin; 1995–1998 Superintendent in Königs Wusterhausen; 1998–2008 Leiter des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus in Brandenburg; gab 1993 das ihm 1991 verliehene Bundesverdienstkreuz aus Protest dagegen zurück, dass einem Kommunisten und KZ-Häftling dieses nicht verliehen worden war. Jahn, Roland (geb. 1953 in Jena), 1972 Abitur, bis 1974 Grundwehrdienst; seit 1974 Mitarbeit in verschiedenen oppositionellen Gruppen in Jena; ab 1975 Studium der Wirtschaftswissenschaft an der Universität Jena; Februar 1977 Exmatrikulation nach Protest gegen die Ausbürgerung → Wolf Biermanns; ab März 1977 Transportarbeiter im VEB Carl Zeiss Jena; 1980/81 öffentliche Unterstützung für die polnische Gewerkschaft Solidarność, Protest gegen das Kriegsrecht in Polen; September 1982 Verhaftung und Januar 1983 wegen »öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung« und »Missachtung staatlicher Symbole« zu 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt; Februar 1983 Haftentlassung aufgrund internationaler Proteste; März 1983 Mitbegründer der nicht-kirchlichen Oppositionsgruppe »Friedensgemeinschaft Jena«, neben Protestaktionen übermittelte er u. a. Informationen über oppositionelle Gruppen an westliche Medien; 8.6.1983 Ausbürgerung in die Bundesrepublik, seitdem einer der wichtigsten Unterstützer der DDR-Opposition in der Bundesrepublik, stellte vielfach Öffentlichkeit her, organisierte Druck- und Filmtechnik für Oppositionelle, vermittelte politische und journalistische Kontakte, ist auch in West-Berlin weiterhin systematisch vom MfS verfolgt worden; 1985–1987 Studienprojekt »Opposition in der DDR« am Hamburger Institut für Sozialforschung; seit 1987 freier Journalist (u. a. Radio Glasnost, »taz«, SFB); begleitete ab Herbst 1989 journalistisch den Auflösungsprozess des MfS; seit 1991 Redakteur beim SFB-Magazin »Kontraste«; mehrere Auszeichnungen und Ehrungen; seit März 2011 Bundesbeauftragter für die MfS-Unterlagen (BStU); der TV-Spielfilm »Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen« (2008) verarbeitet auch seine Biografie. Literatur: »Du bist wie Gift.« Der Friedensaktivist Roland Jahn über seine Vertreibung aus der DDR, in: Der Spiegel Nr. 25 und 26/1983 (2 Teile); Kontraste: Auf den Spuren einer Diktatur (3 DVD, 2005); (Mithg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte (2007); Wir Angepassten. Überleben in der DDR (2014); Walter Jahn: »Du bist wie Gift.« Erinnerungen eines Vaters. Erfurt 1996; Udo Scheer: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. Berlin 1999; Tom Sello: Roland Jahn, in: ders., Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 321–324; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.):
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Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; Gerald Praschl: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011 Jordan, Carlo Karl-Heinz (geb. 1951 in Berlin), 1965–1968 Zimmererlehre; 1969–1972 Studium zum Bauingenieur, 1970–1981 Teilnahme an konspirativen Zirkeln, Mitorganisator von kulturoppositionellen Veranstaltungen, ab 1973 alternatives Landhausprojekt in der Uckermark (1984 Zwangsräumung durch das MfS); 1972– 1979 Bauleiter; 1976 Festnahme wegen einer Eingabe zur Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz; 1978 Fernstudium der Philosophie und Geschichte an der HUB, 1982 Relegierung wegen »ungenügender gesellschaftlicher Einbindung«; 1980–1989 künstlerische und kirchliche Bauprojekte; 1985–1989 Dozent für Philosophie und Literatur an Bildungsstätten der Ev. Kirche Potsdam; 1982–1986 Mitarbeit in verschiedenen Oppositionskreisen (u. a. ESG Berlin, »Friedenskreis Berlin-Friedrichsfelde«), 1986 Mitbegründer der »Umweltbibliothek«, 1987–1990 DDR-Koordinator im Osteuropäischen Netzwerk Greenway; 1988 Mitbegründer des Grünen Netzwerks Arche und der Samisdat-Zeitschrift »Arche Nova«; November 1989 Mitbegründer der Grünen Partei in der DDR, Dezember 1989 bis März 1990 Sprecher der Grünen am zentralen Runden Tisch; Januar 1990 Mitinitiator der Gedenkund Forschungsstätte für die Opfer des Stalinismus ASTAK BerlinNormannenstraße, 1994–1995 MdA; 2000 Promotion an der FU Berlin. Literatur: Grüner Rückblick, in: Stattbuch Ost. Berlin 1991, S. 137–144; Greenway 1989–90. The Foundation of the East European Green Parties, in: Sara Parkin (Ed.): Green Light on Europe. London 1991, S. 76–83; Im Wandel – Ökologiebewegung und Grüne im Osten, in: Gerda Haufe, Karl Bruckmeier (Hg.): Die Bürgerbewegungen in der DDR und in den ostdeutschen Bundesländern. Opladen 1993, S. 240–260; (mit Hans Michael Kloth Hg.): Arche Nova. Opposition in der DDR. Das »Grün-ökologische Netzwerk Arche« 1988–90. Mit den Texten der Arche Nova (1995); Umweltzerstörung und Umweltpolitik in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Baden-Baden 1995, Bd. II/3, S. 1770–1790; Kaderschmiede HumboldtUniversität zu Berlin (2001; zugl. Diss.); Ilko-Sascha Kowalczuk: Carlo Jordan, in: ders., Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 280– 283 Kalk, Andreas (geb. 1967), Motorenschlosser mit Abitur, seit 1987 Mitarbeiter in der »Umweltbibliothek« Berlin, am 25.11.1987 nach der Durchsuchung der »Umwelt-
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bibliothek« festgenommen; im Januar 1988 erneute Verhaftung während der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration, Verurteilung zu sechs Monaten Haft zur Bewährung; ab 1990 tätig in einer Landkommune in Klein Hundorf. Literatur: Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986–1989. Berlin 1992 Kant, Hermann (geb. 1926 in Hamburg), 1952–1956 Studium der Germanistik und Philosophie, seit 1959 freischaffender Schriftsteller, 1963–1976 als IM »Martin« vom MfS erfasst, 1978–1990 Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes, 1974– 1979 Mitglied der SED-Bezirksleitung Berlin, 1981–1990 Mitglied der Volkskammer, 1986–1989 Mitglied des ZK der SED; trat als Repräsentant der SED-Kulturpolitik in Erscheinung, setzte sich einige Male auch für bedrängte Schriftsteller ein; einige seiner Bücher (Die Aula, Das Impressum, Der Aufenthalt) werden ungeachtet von Kants Verstrickungen auch künftig beachtet bleiben; legte 1991 (Abspann) und 2011 (Lebenslauf) autobiografische Versuche vor. Literatur: Karl Corino: Die Akte Kant. IM »Martin«, die Stasi und die Literatur in Ost und West. Reinbek bei Hamburg1995; Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1996; Matthias Braun: Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit. Göttingen 2007 Kelly, Petra (1947–1992, geb. in Günzburg), 1966–1970 Studium der Politikwissenschaften in Washington D.C.; 1972–1982 für die Europäische Kommission in Brüssel tätig; zunächst SPD, 1979 Gründungsmitglied der Partei »Die Grünen«; 1982 Auszeichnung Alternativer Nobelpreis; Mai 1983 Beteiligung am Protest auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin mit einem Transparent »Schwerter zu Pflugscharen«; 1983–1990 MdB, hielt enge Kontakte zur Opposition in Ost-Berlin; lebte zuletzt mit → Gert Bastian zusammen, der sie mutmaßlich tötete, bevor er sich selbst umbrachte. Literatur: (mit Gert Bastian Hg.) Tibet – ein vergewaltigtes Land (1988); Mit dem Herzen denken (1990); Lebe, als müsstest Du heute sterben (1997); Lukas Beckmann, Lew Kopelew (Hg.): Gedenken heißt erinnern. Petra K. Kelly, Gert Bastian. Göttingen 1993; Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Petra Kelly. Eine Erinnerung. Berlin 2007; Sara Parkin: The Life and Death of Petra Kelly. London 1994; Alice Schwarzer: Eine tödliche Liebe – Petra Kelly und Gert Bastian. Köln 2001; Saskia Richter: Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly. München 2010
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Kienberg, Paul (1926–2013, geb. in Mühlberg), 1941–1944 Schlosserlehre ohne Facharbeiterbrief wegen jüdischer Herkunft des Vaters, 1944/45 Arbeitslager; 1945 KPD, 1946 SED, Dezember 1949 VP, Februar 1950 MfS, Abt. VI, 1953 HA V, 1956 Abteilungsleiter HA V/1, 1959 stellv. Leiter der HA V, 1964 Leiter HA V bzw. ab 1965 HA XX, 1989 Generalleutnant; entlassen zum 31.1.1990. Kirchner, Dankwart (geb. 1941), 1959–1963 Musikstudium in Leipzig, 1965–1970 Theologiestudium in Berlin, 1977 Promotion; seit 1975 Musik- und Gruppenpsychotherapeut, Gesprächstherapeut und tätig als ev. Theologe; u. a. 1988/89 aktiv im Friedenskreis der Gethsemanekirche in Ost-Berlin und beim dort angebundenen oppositionellen Kontakttelefon. Klein, Thomas (geb. 1948 in Berlin), 1966 Abitur, 1966–1973 Mathematikstudium an der HUB, 1973–1979 Assistent am Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der AdW, 1975 Promotion; seit 1973 in oppositionellen Zirkeln aktiv, ab 1976 Initiativen gegen Berufsverbote in beiden deutschen Staaten nach der Ausbürgerung → Wolf Biermanns; September 1979 bis Dezember 1980 Haftstrafe wegen »ungesetzlicher Verbindungsaufnahme«, anschließend Berufsverbot und Zuweisung einer Stelle als Preisbearbeiter im Möbelkombinat Berlin; seit 1981 Mitarbeit im Friedenskreis der ESG, ab 1983 »Friedrichsfelder Friedenskreis«, 1986 Mitinitiator der Gruppe »Gegenstimmen«, Autor in Samisdat-Zeitschriften wie »Umweltblätter«, »Friedrichsfelder Feuermelder«, »Kontext«; September 1989 Mitautor des Gründungsaufrufs der Vereinigten Linken (VL) (Böhlener Plattform); Dezember 1989 bis März 1990 VL-Vertreter am zentralen Runden Tisch, April bis Oktober 1990 Volkskammerabgeordneter, Oktober bis Dezember 1990 MdB; 1995–2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Publizist und Autor. Literatur: (Mitautor) Visionen. Repression und Opposition in der SED (1996); Für die Einheit und Reinheit der Partei (2002); Frieden und Gerechtigkeit (2007); SEW (2009); (Mithg.) Das Land ist still – noch! (2009); Martin Jander: Thomas Klein, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 143–146 Klier, Freya (geb. 1950 in Dresden), 1968 Abitur mit Ausbildung zur Maschinenbauzeichnerin; Verurteilung zu 16 Monaten Haft wegen »versuchter Republikflucht«; Postangestellte, Kellnerin, Disponentin im Dresdener Puppentheater; 1970– 1975 Schauspielstudium, Diplom, ab 1975 Schauspielerin am Theater Senf-
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tenberg, 1978–1982 Regiestudium in Berlin, Diplom, Inszenierungen in Halle, Bautzen, Berlin, ab 1982 Regisseurin am Theater Schwedt, 1984/85 in Berlin; seit 1980 in der unabhängigen Friedensbewegung aktiv, 1985 Berufsverbot, 1985–1987 gemeinsame Auftritte mit → Stephan Krawczyk in ev. Kirchen; Januar 1988 Verhaftung und Anfang Februar 1988 Ausbürgerung; lebt als freischaffende Autorin, Regisseurin und Filmemacherin in Berlin. Literatur: Abreiß-Kalender (1988); Lüg Vaterland (1990); Aktion »Störenfried«, in: Hans Joachim Schädlich (Hg.): Aktenkundig. Berlin 1992, S. 91– 153; Die Kaninchen von Ravensbrück (1994); Penetrante Verwandte (1996); Verschleppt ans Ende der Welt (1998); Wir Brüder und Schwestern (2000); Gelobtes Neuseeland (2004); Oskar Brüsewitz (2004), Matthias Domaschk (2007); (Mithg.) Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte (2007); Michael Gartenschläger (2009); Eckhard Jesse (Hg.): Eine Revolution und ihre Folgen. Berlin 2000; Ilko-Sascha Kowalczuk: Freya Klier, in: ders., Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 181–184 Knabe, Wilhelm (geb. 1923 in Arnsdorf), 1942 Abitur, 1942–1945 Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft; 1946 CDU, 1946–1950 Studium Forstwissenschaften in Tharandt, 1951–1959 Assistent an der HUB, 1957 Promotion; 1959 Flucht in die Bundesrepublik, war fortan in der Umweltforschung und Umweltpolitik tätig, seit 1963 auch mit Lehraufträgen an verschiedenen Universitäten; 1966 Austritt aus der CDU, seit den 1970er Jahren aktiv in Bürgerinitiativen, 1979 Mitgründer der Partei »Die Grünen«, 1982–1984 Sprecher (Realo-Flügel) der Partei, 1987–1990 MdB, aktiver Unterstützer der DDR-Opposition mit intensiven Verbindungen zu zahlreichen Oppositionsgruppen in Ost-Berlin und anderen Regionen der DDR, schmuggelte u. a. Drucktechnik nach Ost-Berlin; 1994–1999 2. Bürgermeister in Mühlheim a. d. Ruhr. Literatur: Westparteien und DDR-Opposition. Der Einfluss der westdeutschen Parteien in den achtziger Jahren auf unabhängige politische Bestrebungen in der ehemaligen DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Baden-Baden 1995, Bd. VII/2, S. 1110–1202; Zivilcourage und Repression. Szenen aus dem Hochschulalltag in Tharandt und Ost-Berlin, 1946–1959, in: Benjamin Schröder, Jochen Staadt (Hg.): Unter Hammer und Zirkel. Repression, Opposition und Widerstand an den Hochschulen der SBZ/DDR. Frankfurt/M. 2011, S. 61–79 Krawczyk, Stephan (geb. 1955 in Weida), 1974 Abitur, 1974–1976 Wehrdienst, Beschäftigungen als Hauswart, Kulturhausmitarbeiter, 1976 SED, 1978–1982 Fernstudium
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Konzertgitarre in Weimar, freiberuflicher Liedermacher; 1982 Schallplattenproduktion mit der Gruppe »Liedehrlich«; 1985 Austritt aus der SED, Berufsverbot durch Entzug der Zulassung als freiberuflicher Liedermacher; Auftritte in Kirchen, seit 1985 auch mit → Freya Klier; 1987 Mitarbeit beim illegalen DDR-Rundfunksender »Schwarzer Kanal«; Januar 1988 Verhaftung, am 2.2.1988 gemeinsam mit Freya Klier Ausbürgerung nach West-Berlin; seither freischaffender Liedermacher und Autor, zahlreiche LP, CD und Bücher. Literatur: Der Himmel fiel aus allen Wolken (2009, Autobiografie); Matthias Braun: Dramaturgie der Repression – der ZOV »Bühne«, in: Lutz Niethammer, Roger Engelmann (Hg.): Bühne der Dissidenz und Dramaturgie der Repression. Ein Kulturkonflikt in der späten DDR. Göttingen 2014, S. 121– 235 Krusche, Günter (geb. 1931 in Dresden), 1949–1954 Theologiestudium in Leipzig, 1956 Ordination, nach verschiedenen Positionen ab 1983 Generalsuperintendent des Sprengels Berlin der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg, nach anfänglicher Unterstützung oppositioneller Gruppen bestritt er zunehmend die Legitimität oppositionellen Handelns im Schutzraum der Kirche, so war er u. a. 1985 am Verbot des Menschenrechtsseminars und 1987 entscheidend am Verbot der Friedenswerkstatt in Berlin beteiligt, behinderte die Arbeit der KvU und gab nach der Durchsuchung der »Umweltbibliothek« 1987 umstrittene Kommentare im Namen der Kirche ab; seit Ende der 1960er Jahre Kontakte zum MfS und dort als IM erfasst; nach Bekanntwerden seiner Stasiverbindungen 1992 in den Ruhestand versetzt worden, die Kirche urteilte jedoch, er sei kein IM gewesen, tadelte aber, dass er die Gespräche mit der Stasi der Kirchenleitung nicht gemeldet hatte. Literatur: Hagen Findeis, Detlef Pollack (Hg.): Selbstbewahrung oder Selbstverlust. Bischöfe und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in der DDR über ihr Leben. Berlin 1999, S. 546–585 Kulisch, Uwe (geb. 1957 in Halle/Saale), 1973–1975 Lehre zum Industriemechaniker, Ausschluss aus der FDJ wegen Aufhängens eines Porträts von Ernesto Che Guevara, 1975 Wehrdienstverweigerung, seither intensiv vom MfS verfolgt und bearbeitet; 1976 Beginn der Ausbildung zum Sozialdiakon, November 1976 verhaftet wegen einer Plakataktion gegen die Ausbürgerung von → Wolf Biermann, verurteilt zu einem Jahr praktischer Arbeit im Pflegeheim (Krankenpfleger), 1977 Gemeindehelfer in der Galiläa-Gemeinde, aktiv in der Offenen Jugendarbeit, ab 1979 Mitinitiator der Bluesmessen, Arbeit als Mechaniker, alternative Wohn- und Lebensprojekte, Versuch der Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft nach polnischem Vorbild, Arbeitsverweigerung
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nach der Information, dass der Betrieb Ölpfannen für Panzer herstellt, anschließend tätig als Hausmeister und Altenpfleger; ab 1987 Mitglied der KvU, Mitorganisator des Kirchentages von Unten in Berlin; nach 1990 u. a. Aufbau des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte. Literatur: Wunder gibt es immer wieder. Fragmente zur Geschichte der Offenen Arbeit Berlin und der Kirche von Unten. Berlin 1997; Dirk Moldt: Zwischen Hass und Hoffnung. Die Blues-Messen 1979–1986. Berlin 2008; http://www.jugendopposition.de Leich, Werner (geb. 1927 in Mühlhausen), Besuch der Napola, 1942–1945 freiwilliger Kriegsdienst; 1947–1951 Studium der Theologie in Marburg und Heidelberg, anschließend Vikar, ab 1954 Pfarrer in Thüringen, 1967–1978 Vizepräsident der Synode der Ev.-Luth. Landeskirche Thüringen, 1978–1992 Landesbischof der Ev.-Luth. Kirchen Thüringen, 1986–1990 Vorsitzender der Konferenz der Ev. Kirchenleitung in der DDR; 3.3.1988 Treffen mit Erich Honecker, Anmahnung von gesellschaftlichen Reformen in der DDR; ein Jahr später empfahl er, auf die Formel »Kirche im Sozialismus« zu verzichten. Literatur: DU aber bleibst – im Wechsel der Horizonte (2002); Gesandt zum Dienst (2002); Hagen Findeis, Detlef Pollack (Hg.): Selbstbewahrung oder Selbstverlust. Bischöfe und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in der DDR über ihr Leben. Berlin 1999, S. 322–355 Lengsfeld, Vera (geb. 1952 in Sondershausen, verh. Wollenberger), 1970 Abitur; 1970–1975 Philosophiestudium in Leipzig und an der HUB, 1975 SED, 1975–1980 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der AdW; lernte 1980 ihren späteren Ehemann → Knud Wollenberger kennen, der auch sie als IM bespitzelte; 1981– 1983 Lektorin im Verlag Neues Leben; Mitbegründerin des »Pankower Friedenskreises«, 1983 SED-Ausschluss, Berufsverbot, tätig als Imkerin, Übersetzerin; 1985–1988 Studium der Theologie am Sprachenkonvikt Berlin; 1985 und 1987 Mitglied im Fortsetzungsausschusses des Netzwerks »Frieden konkret«; 1986 Mitglied der Gruppe »Gegenstimmen«; Mitorganisatorin vieler Friedenswerkstätten und Ökoseminare, Mitbegründerin der »Kirche von unten«, 1987 Mitorganisatorin des Kirchentags von unten; 17.1.1988 Verhaftung am Rande der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration und Verurteilung zu sechs Monaten Haft; 8.2.1988 Abschiebung nach England für zunächst ein Jahr; 1988/89 Studium an der Universität Cambridge; 9.11.1989 Rückkehr in die DDR; Eintritt in die Grüne Partei und Wahl in deren Sprecherrat; Dezember 1989 bis März 1990 Mitarbeit am zentralen Runden Tisch, März bis Oktober 1990 Abgeordnete der Volkskammer, 1990–2005 MdB, 1996 Übertritt in die CDU; seit 2005 freie Publizistin.
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Literatur: Virus der Heuchler (1992); Eine zweite Vergewaltigung, in: Hans Joachim Schädlich (Hg.): Aktenkundig. Berlin 1992, S. 154–165; Mein Weg zur Freiheit (2002); Neustart! (2006); Ich wollte frei sein (2011); Eckhard Jesse (Hg.): Eine Revolution und ihre Folgen. Berlin 2000; Marianne Subklew-Jeutner: Der Pankower Friedenskreis. Geschichte einer Ost-Berliner Gruppe innerhalb der Evangelischen Kirchen in der DDR 1981–1989. Osnabrück 2004; dies. (Hg.): Ich wurde mutiger. Der Pankower Friedenskreis – politische Selbstbehauptung und öffentlicher Widerspruch. Berlin 2009; Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986–1989. Berlin 1992; Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007; Martin Jander: Vera Lengsfeld, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 147–150; Mikael Busch: Knud og Vera. Et Stasi-drama. Kopenhagen 2012; Ruth Hoffmann: StasiKinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat. Berlin 2012 Lietz, Heiko (geb. 1943 in Schwerin), 1961 Abitur, bis 1966 Theologiestudium in Rostock, 1967–1970 Vikariat in Rostock, nach zwei Wochen Untersuchungshaft wegen Totalwehrdienstverweigerung Bausoldat; ab 1970 Pastor in der Domgemeinde zu Güstrow, nebenamtlich Studentenpfarrer; ab 1979 Mitarbeit in der unabhängigen Friedensbewegung; 1980 Abbruch der kirchlichen Amtstätigkeit wegen theologischer Konflikte, 1981–1988 Hauswirtschaftspfleger und Essensausträger; ab 1984 Mitorganisator des jährlichen DDR-weiten Treffens »Frieden konkret«; seit 1985 Vorsitzender der AG Frieden der Ev.-Luth. Landeskirche Mecklenburg, Mitorganisator der DDR-weiten Arbeitsgruppe »Wehrdienstverweigerung«; Auslandsreiseverbot, 1988–1990 Mitarbeiter der Kirchengemeinde Badendiek (b. Güstrow), ab September 1989 Mitarbeit im Neuen Forum; war in den 1980er Jahren die Oppositionspersönlichkeit im Norden der DDR schlechthin mit engen Kontakten zu Oppositionsgruppen in der gesamten DDR; 1990–1997 aktiv im Bündnis 90/Die Grünen, dann Austritt; vielfältig engagiert in Sozialarbeit, ökumenischen Basisgruppen und Aufarbeitungsfragen. Literatur: Kai Langer: »Ihr sollt wissen, dass der Norden nicht schläft ...«. Zur Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR. Bremen 1999; Rahel Frank: Realer, exakter, präziser? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. Schwerin 2004; Uta Rüchel, Maria Klähn: »… aber wir hatten einen Traum«. Das Neue Forum in Schwerin 1989–1994. Schwerin 2009; Gerold Hildebrand: Heiko Lietz, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und
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Fotos. Berlin 2006, S. 216–220; Bernd Florath: Heiko Lietz, in: Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel. Berlin 2011, S. 82–83; Christian Halbrock: »Freiheit heißt, die Angst verlieren«. Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostseebezirk Rostock. Göttingen 2014 Lindemann, Marie-Luise (geb. 1946 in Essen), Studium in Bochum, Konstanz, Paris und West-Berlin, Soziologin und Diplomhandelslehrerin; 1971–1991 Lehrerin in West-Berlin; seit 1980 aktive Mitarbeit bei den Grünen/AL, 1983–1989 Mitarbeit im »OstWest-Dialog Berlin« und im »Europäischen Netzwerk für den Ost-WestDialog«, aktive Unterstützerin der Opposition in der DDR und Osteuropa, dadurch im Visier der Stasi; ab 1991 Referentin im Bildungsministerium Brandenburg. Lintner, Eduard (geb. 1944 in Marktlangendorf), nach dem Abitur Jurastudium in Würzburg, anschließend im öffentlichen Dienst Bayerns, seit 1981 als Rechtsanwalt zugelassen; 1962 CSU, 1976–2009 MdB, 1982–1990 Vorsitzender der Arbeitsgruppe Deutschlandpolitik und Berlin-Fragen der CDU/CSUBundestagsfraktion; 1987 in Ost-Berlin an einem Treffen mit Vertretern der Opposition beteiligt; 1991–1998 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium und 1992–1998 Drogenbeauftragter der Bundesregierung. Löffler, Kurt (geb. 1932 in Leipzig), 1952 SED, 1951–1955 Studium Wirtschaftswissenschaft in Leipzig und Ost-Berlin, 1955–1961 Gesellschaftswissenschaftler an der Musikhochschule Weimar, 1961–1967 Leiter der Abteilung Kultur beim Rat des Bezirkes Erfurt, 1967–1970 Mitglied des Rats des Bezirkes Erfurt, ab 1971 Mitarbeiter im ZK der SED, u. a. maßgeblich beteiligt an der Vorbereitung der Weltfestspiele (1973), des Martin-Luther-Jubiläums (1983) und des Berlin-Jubiläums (1987); 1988 Ernennung zum Staatssekretär für Kirchenfragen. Mehlhorn, Ludwig (1950–2011, geb. in Bernsbach), 1969 Abitur, 1969–1974 Mathematikstudium in Freiberg, 1974–1985 wiss. Mitarbeiter in einem Rechenzentrum in Berlin; seit 1969 Mitarbeit in der Aktion Sühnezeichen und intensive Kontakte nach Polen, seit 1975 engagiert in der Opposition, 1981–1987 Auslandsreiseverbot; 1984 Verweigerung des Reservistendienstes, 1985 Berufsverbot, seitdem Pfleger in der Stephanusstiftung; 1986 Mitinitiator der »Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung«, Autor und Herausgeber im
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Samisdat (»radix-blätter«), Übersetzungen aus dem Polnischen für den Samisdat, mit → Stephan Bickhardt Veranstalter von literarischen Lesungen in Privatwohnungen; 1989 Mitbegründer von Demokratie Jetzt; 1990 Mitarbeiter bei Demokratie Jetzt, 1991 Referent im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg, 1990 Mitbegründer und ab 1991 Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung Kreisau für europäische Verständigung, ab 1992 Studienleiter an der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg. Literatur: In der Wahrheit leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Opposition in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Begleitbuch zur Ausstellung (2012); Doris Liebermann, Jürgen Fuchs, Vlasta Wallat (Hg.): Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler. Tschechische und ostdeutsche Dissidenten 1968–1998. Essen 1998; Stephan Bickhardt (Hg.): In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn. Leipzig 2012; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; Danuta Kneipp: Im Abseits. Berufliche Diskriminierung und politische Dissidenz in der Honecker-DDR. Köln, Weimar, Wien 2009 Metz, Gisela (geb. 1952), Dipl.-Ing., seit 1982 in der Kommunalen Wohnungsverwaltung Berlin-Mitte beschäftigt; u. a. bei den »Frauen für den Frieden« und anderen Oppositionsgruppen engagiert; im Sommer 1990 Mitarbeiterin einer Arbeitsgruppe zur Beratung des Berliner Innensenators in Stasi-Fragen. Mielke, Erich (1907–2000, geb. in Berlin), Speditionskaufmann, KPD 1927, 1931 Flucht in die UdSSR (nach der Ermordung von zwei Polizisten), 1936–1939 Teilnahme am Bürgerkrieg in Spanien, 1939/40 Belgien, 1940–1943 Frankreich; Juni 1945 Rückkehr nach Berlin, 1946–1949 Vizepräsident der Deutschen Verwaltung des Inneren; 1949/50 Leiter der Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft, 1950–1989 Mitglied des ZK der SED; 1950–1953 Staatssekretär im MfS, 1953–1955 stellv. Staatssekretär, 1955–1957 stellv. Minister, ab November 1957 Minister für Staatssicherheit, 1958–1989 Abgeordneter der Volkskammer, 1971 Kandidat und 1976 Mitglied des Politbüros des ZK der SED, 1980 Armeegeneral, 7.11.1989 Rücktritt als Minister, 8.11.1989 Rücktritt als Politbüro-Mitglied, 3.12.1989 SED-Ausschluss, ab 7.12.1989 Untersuchungshaft, 26.10.1993 Verurteilung zu sechs Jahren Gefängnis wegen der Polizistenmorde am Bülowplatz 1931; 1.8.1995 Entlassung auf Bewährung; beigesetzt auf einem namenlosen Urnengrab. Literatur: Wilfriede Otto: Erich Mielke. Biographie. Aufstieg und Fall eines Tschekisten. Berlin 2000
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Mißlitz, Frank-Herbert (geb. 1960 in Berlin), Stukkateur, tätig als Hauswirtschaftspfleger; seit 1980 Mitarbeiter der Offenen Arbeit Berlin und im Umfeld verschiedener Oppositionsgruppen engagiert (z. B. »Gegenstimmen«, KvU, »Umweltbibliothek«); im Januar 1988 im Umfeld der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration verhaftet und Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, das wenig später eingestellt wurde; 1988/89 Mitglied der Gruppe »Demokratische SozialistInnen«, 1989 Mitverfasser der »Böhlener Plattform«, Gründungsmitglied der Vereinigten Linken (VL), Mitglied des politischen Beirats der VL, September 1990 Austritt aus der VL; Studium der Slawistik und Geschichte. Nagorski, Lutz (geb. 1952), in den 1980er Jahren als IMB »Christian« des MfS u. a. in der IFM und dem Ökokreis Berlin-Friedrichsfelde, zu dessen praktischer Auflösung im Jahre 1987 er vermutlich maßgeblich beitrug, eingesetzt. Opitz, Detlef (geb. 1956 in Steinheidel-Erlabrunn), Schienenfahrzeugschlosser, bis 1982 in Halle Bibliothekstechniker, Kellner, Puppenspieler, Verkäufer und Briefträger; seit 1982 in Berlin-Prenzlauer Berg lebend und dort der alternativen Literaturund Kunstszene zugehörig; publizierte bis 1989 in Untergrundzeitschriften wie »Ariadnefabrik«, »Entwerter Oder«, »Schaden und Verwendung«; nach 1990 mehrere Roman- und Buchveröffentlichungen sowie Preise und Stipendien. Literatur: Frank Eckart: Eigenart und Eigensinn. Alternative Kulturszenen in der DDR (1980–1990). Bremen 1993; Christine Cosentino, Wolfgang Müller (Hg.): »im widerstand, in missverstand«? Zur Literatur und Kunst des Prenzlauer Bergs. New York 1995; Klaus Michael, Thomas Wohlfahrt (Hg.): Vogel oder Käfig sein. Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften der DDR 1979–1989. Berlin 1992 Passauer, Martin-Michael (geb. 1943 in Angerapp/Ostpreußen), 1962–1967 Theologiestudium in Greifswald und Ost-Berlin, nach anderen kirchlichen Ämtern 1976–1983 erster hauptamtlicher Jugendpfarrer von Ost-Berlin, aktiv in der kirchlichen Friedensbewegung und in der Offenen Arbeit, Mitorganisierung zahlreicher Veranstaltungen (Stadtjugendsonntage, Bluesmessen, Friedenswerkstätten und -seminare), kirchliche Mitverantwortung beim Olof-Palme-Friedensmarsch, 1984–2008 Pfarrer der Sophiengemeinde in Berlin-Mitte, beteiligt u. a. an der Organisation des Protestes gegen Wahlfälschungen am 7.5.1989; 1988–1990 persönlicher Berater von Bischof → Gottfried Forck; ab November 1989 Mitglied der Kommission zur Untersuchung der Übergriffe von Polizei und MfS auf die Demonstranten vor der Berliner Gethsemanekirche 7.–9.10.1989;
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ab 1992 Superintendent für den Kirchenkreis Berlin-Stadt III (Mitte und Prenzlauer Berg), ab 1996 Generalsuperintendent des Sprengels Berlin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg; 1992–1994 sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« des Deutschen Bundestages. Pawliczak, Lothar (geb. 1951 in Berlin), bereits als Oberschüler vom MfS verpflichtet; Philosophie-Studium an der HUB, Mitglied der SED; Mitarbeiter des Zentralinstituts für Philosophie der AdW; 1982 wegen Beteiligung an parteikritischen Diskussionen Entlassung, SED-Ausschluss und Entpflichtung durch das MfS; etwa sechs Monate später erneut vom MfS kontaktiert und 1985–1989 als IMB »Wolf« der HA XX/2, später der HA XX/9 geführt und angesetzt auf die IFM und insbesondere auf → Wolfgang Templin; 1989/90 im Umfeld des Runden Tischs und der SDP aktiv; in den 2000er Jahren als Reiseleiter tätig. Pesch, Manfred (geb. 1940), Molkereifacharbeiter, 1962–1964 Grenzregiment, 1965 SED, ab Juli 1965 MfS-Mitarbeiter (KD Niesky), ab 1969 BV Dresden, Abt. XX, ab 1976 HA XX (Operativgruppe), ab 1981 HA XX/9, ab 1983 Referatsleiter in der HA XX/9, 1983 Major; entlassen zum 31.1.1990. Poppe, Gerd (geb. 1941 in Rostock), 1958 Abitur, 1959–1964 Physikstudium, 1965–1976 Physiker im Halbleiterwerk Stahnsdorf; seit 1968 in oppositionellen Kreisen aktiv, seither vom MfS verfolgt und beobachtet; er war praktisch seit dieser Zeit mit fast allen Oppositionellen und Oppositionsgruppen bekannt, z. T. mit → Robert Havemann oder → Wolf Biermann befreundet; 1975 sechs Monate Bausoldat (als ungedienter Reservist); 1976 Rücknahme eines Einstellungsversprechens der AdW wegen Protestes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns; 1977–1984 Maschinist in einer Berliner Schwimmhalle; 1978– 1997 verheiratet mit → Ulrike Poppe; 1980 Mitinitiator des ersten unabhängigen Ostberliner Kinderladens; 1980–1989 Auslandsreiseverbot; 1984–1989 Ingenieur im Baubüro des Diakonischen Werks; 1985/86 Mitbegründer der IFM; Mitherausgeber und Autor mehrerer Samisdat-Publikationen; maßgeblich beteiligt an der Organisation von Kontakten zur osteuropäischen Opposition und zu westeuropäischen/bundesdeutschen Politikern, Journalisten und Unterstützern; 1989/90 Sprecher der IFM, deren Vertreter am zentralen Runden Tisch; Februar bis März 1990 Minister ohne Geschäftsbereich, März bis Oktober 1990 Volkskammerabgeordneter; 1990–1998 MdB, außenpolitischer Sprecher, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, Mitglied der beiden EnqueteKommissionen des Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (1992–
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1994 und 1995–1998); 1998–2003 erster Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe; 2003–2005 Berater der HeinrichBöll-Stiftung für Demokratieprojekte in Russland; seit 1998 Mitglied des Vorstandes der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Literatur: Einheit und Identität der Deutschen in Ost und West, in: Markierungen. Auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen Verfassung. Bad Boll 1990, S. 124–155; Der Staatsfeind im Wohnzimmer, in: Peter Böthig, Klaus Michael (Hg.): MachtSpiele. Leipzig 1993, S. 228–241; Um Hoffnung kämpfen, in: Lukas Beckmann, Lew Kopelew (Hg.): Gedenken heißt erinnern – Petra K. Kelly, Gert Bastian. Göttingen 1993, S. 56–58; Immer in heller Aufregung – Die Kunst des Unmöglichen, in: Petra K. Kelly: Lebe, als müsstest Du heute sterben. Texte und Interviews. Düsseldorf 1997, S. 233–239; Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SEDHerrschaft. Opladen 1999, S. 349–377; Das Haus der Parlamentarier, in: Hans Wilderotter (Hg.): Das Haus am Werderschen Markt. Berlin 2000, S. 253–262; Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe in Afrika, in: Susan Arndt (Hg.): AfrikaBilder. Münster 2001, S. 436–446; Der Internationale Strafgerichtshof, in: Jahrbuch Menschenrechte 2002. Frankfurt/M. 2001, S. 199–209; (mit anderen Hg.): Die deutsche Frage in der SBZ und DDR (2010); Wahrheit und Öffentlichkeit – Ludwig Mehlhorns Beitrags zum Ende des Kommunismus, in: Stephan Bickhardt (Hg.): In der Wahrheit leben. Leipzig 2012, S. 242–247; Reinhard Weißhuhn (Hg.): Gesteinssammlung. Festschrift für Gerd Poppe zum 50. Geburtstag im März 1991. Berlin 1991; Hagen Findeis, Detlef Pollack, Manuel Schilling: Die Entzauberung des Politischen: Was ist aus den politisch alternativen Gruppen in der DDR geworden? Interviews mit führenden Vertretern. Leipzig 1994; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; ders.: Gerd Poppe, in: ders., Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 297–301; Martin Gutzeit, Helge Heidemeyer, Bettina Tüffers (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen Gruppen 1989/90. Düsseldorf 2011; Danuta Kneipp: Im Abseits. Berufliche Diskriminierung und politische Dissidenz in der Honecker-DDR. Köln, Weimar, Wien 2009; Christin Leistner: Gerd Poppe. Ein unangepasstes Leben in der DDR. Stuttgart 2013 Poppe, Ulrike (geb. Wick, 1953 in Rostock), 1971 Abitur; 1971–1973 Studium der Kunsterziehung und Geschichte an der HUB (abgebrochen); anschließend u. a. Hilfserzieherin in einem Durchgangsheim für Kinder und Jugendliche, Hilfspflegerin in der Psychiatrischen Klinik der Charité; 1976–1988 Mitarbeiterin
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im Museum für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin; 1978–1997 verheiratet mit → Gerd Poppe; 1980 Mitinitiatorin des ersten unabhängigen Ostberliner Kinderladens, 1982 Gründungsmitglied der Oppositionsgruppe »Frauen für den Frieden«; 1983/84 sechs Wochen Stasi-Untersuchungshaft (mit → Bärbel Bohley), nach internationalen Protesten ohne Verfahren entlassen; 1985/86 Gründungsmitglied IFM; 1987/88 Berlin-Brandenburgische Regionalvertreterin im Fortsetzungsausschuss des Netzwerks »Frieden konkret«; 1987–1989 Beteiligung am Arbeitskreis »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung«; September 1989 Erstunterzeichnerin des Gründungsaufrufs der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt (DJ); 1989–1991 Mitglied des DJ-Sprecherrats; Dezember 1989 bis März 1990 DJ-Vertreterin am zentralen Runden Tisch; anschließend Mitarbeiterin der Volkskammerfraktion Bündnis 90/Grüne; 1992– 2009 Studienleiterin an der Ev. Akademie Berlin-Brandenburg; seit 2010 Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. Literatur: Das kritische Potential der Gruppen in Kirche und Gesellschaft (1988), in: Detlef Pollack (Hg.): Die Legitimität der Freiheit. Frankfurt/M. 1990, S. 63–80; Trotzdem immer neue Hoffnung, in: Bernd Lindner (Hg.): Zum Herbst ’89. Leipzig 1994, S. 174–180; (mit Rainer Eckert und IlkoSascha Kowalczuk Hg.) Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR (1995); (mit Rainer Eckert und Ilko-Sascha Kowalczuk Hg.) Wer schreibt die DDR-Geschichte? (1995); »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden«. Opposition und Protest in der DDR, in: Franz-Josef Hutter, Carsten Tessmer (Hg.): Die Menschenrechte in Deutschland. Geschichte und Gegenwart. München 1997, S. 239–252; (mit Rainer Eckert und Ilko-Sascha Kowalczuk Hg.) Mit uns zieht die neue Zeit ...« Die SED zwischen Kriegsende und Mauerbau (1998); »Die Unterstützung, die wir brauchten«. Petra Kelly und die Oppositionellen in der DDR, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Petra Kelly. Eine Erinnerung. Berlin 2007, S. 70–79; (Mithg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007); Der Runde Tisch, in: Martin Sabrow (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München 2009, S. 492–502; Barbara Felsmann, Annett Gröschner (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften. Berlin 1999; Eckhard Jesse (Hg.): Eine Revolution und ihre Folgen. Berlin 2000; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; ders.: Ulrike Poppe, in: ders., Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 310–313; Martin Gutzeit, Helge Heidemeyer, Bettina Tüffers (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen Gruppen 1989/90. Düsseldorf 2011
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Rathenow, Bettina (geb. 1953), Lehrer-Studium in Jena, engagiert in oppositionellen Zusammenhängen, lernte hier auch ihren Ehemann → Lutz Rathenow kennen, mit dem sie 1977 nach Ost-Berlin umzog; seit 1982 Mitglied der Oppositionsgruppe »Frauen für den Frieden« und anderen oppositionellen Netzwerken; zusammen mit Lutz Rathenow seit Mitte der 1970er Jahre vom MfS beobachtet und verfolgt; faktisches Betätigungsverbot als Lehrerin (1986 telefonische Aufforderung des MfS beim Direktor einer Berufsschule, sie auch als Teilzeitkraft nicht mehr zu beschäftigen), seit 1990 Schulrätin in Berlin. Rathenow, Lutz (geb. 1952 in Jena), 1971 Abitur, anschließend Wehrdienst; ab 1973 LehrerStudium (Deutsch und Geschichte) in Jena, 1973–1975 Gründer und Leiter des Arbeitskreises Literatur und Lyrik in Jena; 1977 Exmatrikulation aus politischen Gründen, anschließend Transportarbeiter, Produktions- und Regieassistent, 1978 Mitglied im Verband der Theaterschaffenden; seitdem freiberuflich; 1977 mit → Bettina Rathenow Umzug nach Ost-Berlin; November 1980 – nachdem sein Prosadebüt »Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet« in der Bundesrepublik erschienen war – mit zwei anderen Autoren verhaftet, nach internationalen Protesten nach zehn Tagen entlassen, Ermittlungsverfahren nach drei Monaten eingestellt; seit Mitte der 1970er Jahre vom MfS intensiv beobachtet, verfolgt und mit Zersetzungsmaßnahmen belegt; hielt enge Kontakte zu Ostberliner Oppositionsgruppen und zu subkulturellen Netzwerken in beiden Teilen Berlins, publizierte vor allem im Westen – in der DDR bekam er Öffentlichkeit nur durch Lesungen in Kirchen und Wohnungen; war aufgrund seiner umfangreichen Kontakte zu westlichen Medien eine Schaltstelle für die Übermittlung von Informationen aus dem Osten direkt an diese bzw. über die Vermittlung von → Jürgen Fuchs und → Roland Jahn; seit 1988 Preise und Stipendien, Bücher wurden übersetzt, sein Werk umfasst Gedichte, Erzählungen, Hörspiele, Stücke, Essays, Glossen u. a., publiziert kontinuierlich; seit 2011 Sächsischer Landesbeauftragter für die StasiUnterlagen. Literatur: Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet (1980); Zangengeburt (1982); Einst war ich Fänger im Schnee (1984); Boden 411 (1984); (mit Harald Hauswald) Ost-Berlin (1987/1990/1996/2014); Zärtlich kreist die Faust (1989); Teile zu keinem Bild oder: Das Puzzle von der geheimen Macht, in: Hans Joachim Schädlich (Hg.): Aktenkundig. Berlin 1992, S. 62–90; Autorenschlachten (Uraufführung Staatstheater Saarbrücken, 1993); Sisyphos (1995); Der Himmel ist heut blau (2000); Vom DDR-Bürger zum EU-Bürger (2000); Vom DDR-Grenzsoldaten zum Bürgerrechtler (2002); Fortsetzung folgt. Prosa zum Tage (2004); (mit Harald Hauswald) Gewendet (2006); Echos aus einer überwundenen Zeit, in: Hochschule im Sozialismus. Studien
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zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Köln, Weimar, Wien 2007, Bd. 2, S. 2221–2237; Der Liebe wegen (2009); Klick zum Glück (2010); Einer lacht immer (2014); Udo Scheer: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. Berlin 1999; IlkoSascha Kowalczuk: Ein Buch und seine Geschichten. Erinnerungen und Akteneinsichten, in: Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall. 6., erw. Aufl., Berlin 2014, S. 5–31 Reinhold, Otto (geb. 1925 in Altrohlau), 1945/46 KPD/SED, 1946–1950 Studium der Wirtschaftswissenschaft in Jena, 1950–1953 Redakteur der SED-Zeitschrift »Einheit«, 1951 Professor HUB, 1953 Lehrstuhl an der SED-Parteihochschule; 1956–1961 stellv. Leiter der Abt. Propaganda des ZK der SED, 1962–1989 Direktor des Institut für Gesellschaftswissenschaften bzw. Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, 1967–1989 Mitglied des ZK der SED. Rinke, Manfred »Kiste« (geb. 1950 in Wittenberg), Schulbesuch mit Abschluss der 9. Klasse, Maurerlehre abgebrochen, später in der Erwachsenenbildung Abschluss als Maurer; 1969/70 Wehrdienst bei der NVA; 1968–1988 unter dem Decknamen »Raffelt« als IM für das MfS tätig, ab 1970 als IM auf Gruppen und einzelne Jugendliche angesetzt, agierte in Dresden, Leipzig, Halle, Jena, Berlin und anderen Städten; 1975 nach Kneipenschlägerei acht Monate Haft, 1977–1980 Scheinarbeitsverhältnis bei der Wasserwirtschaftsdirektion Stralsund, Bezahlung vom MfS; ab 1985 als Hauptamtlicher inoffizieller Mitarbeiter (HIM) beim MfS angestellt, ab 1986/87 Aktionsradius auf in West-Berlin lebende ehemalige DDR-Bürger und in der DDR akkreditierte Journalisten aus der Bundesrepublik erweitert; 1987 Koordinator des Kontaktbüros beim Kirchentag von Unten in Ost-Berlin; Rinke war innerhalb der Opposition, kritischer Jugendmilieus und subversiver Künstlerszenen einer der wichtigsten und umtriebigsten IM in der MfS-Geschichte, der zugleich zu den bestbezahlten IM in der DDR gehörte; Dezember 1988 Entlassung aus dem MfS und »operative Invalidisierung«. Literatur: Gespräch mit »Kiste«, in: Horch und Guck 2 (1993) 8, S. 16–25; Christian Halbrock: »Kiste«. Anmerkungen zu IM »Raffelt« – dem »bestbezahlten« IM der DDR, in: Markus Mohr, Klaus Viehmann (Hg.): Spitzel. Eine kleine Sozialgeschichte. Berlin, Hamburg 2004, S. 139–149 Röder, Bettina (geb. 1953 in Dresden), Studium der Kunsterziehung und Kunstgeschichte, anschließend fünf Jahre Lehrerin in Großenhain; ab 1980 Redakteurin der
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Dresdner Kirchenzeitung »Der Sonntag«, wechselte 1983/84 zur »Mecklenburgischen Kirchenzeitung«; ab 1987 Redakteurin und ab 1992/93 Chefredakteurin der »Kirche«. Röder, Hans-Jürgen (geb. 1946 in Suhl), ab 1954 Bundesrepublik, bis 1974 Studium der Geschichte, Politik und Publizistik, ab 1975 Redakteur der Zeitschrift »Kirche im Sozialismus«; seit 1979 als DDR-Korrespondent für den epd in Ost-Berlin akkreditiert, seit 1990 Chefredakteur beim Landesdienst Ost vom epd, 2011 Ruhestand. Rölle, Peter (geb. 1964 in Berlin), 1981 Ausbildung zum BMSR-Mechaniker im Glühlampenwerk NARVA, dort bis 1994 beschäftigt; ab 1982 engagiert im Friedenskreis der Samariterkirche in Berlin, hier erste Beschäftigung mit Menschenrechtsfragen, 1985 Mitinitiator eines Briefes zum Jahr der Jugend, 1985/86 Mitbegründer der IFM, Mitherausgeber und Redakteur der Untergrundzeitschrift »Grenzfall«, seit etwa 1985 an den meisten oppositionellen Protesten, Mahnwachen etc. aktiv beteiligt; seit 1994 selbstständig. Rosenthal, Rüdiger (geb. 1952 in Boizenburg/Elbe), 1970 Abitur, Schiffbauschlosser; 1970–1974 Studium der Physik in Magdeburg, 1974–1977 Physikassistent an einer Ostberliner Hochschule, in dieser Zeit kurzzeitige Kontakte zum MfS, die er selbst abbrach; 1977–1979 Physiker im Werk für Fernsehelektronik Ost-Berlin; seit 1980 freier Autor (in der DDR konnte er offiziell fast nichts publizieren), Mitarbeit in Umwelt- und Friedenskreisen, 1982 Erstunterzeichner des »Berliner Appells«; 1987 Ausreise nach West-Berlin, von dort einer der wichtigen Unterstützer oppositioneller Aktivitäten in der DDR, vor allem durch Medienarbeit; 1990/91 Pressesprecher bei der Grünen Partei der DDR und Bündnis 90/Die Grünen, ab 1991 Pressesprecher bei Umweltverbänden; seit 1999 beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Literatur: Polnische Reise (1984); Stalins Erben, in: Aufbruch in eine andere DDR. Reinbek b. Hamburg 1989, S. 50–58; (Hg.) Robert Havemann. Die Stimme des Gewissens. Texte eines deutschen Antistalinisten (1990); (Mithg.) Mut. Frauen in der DDR (2005); Roland Berbig (Hg.): Der Lyrikclub Pankow. Literarische Zirkel in der DDR Rüddenklau, Wolfgang (geb. 1953 in Erfurt), 1971 Abitur, 1972 ein Semester Theologie-Studium am Sprachenkonvikt in Berlin, anschließend Bühnenarbeiter am Deutschen Theater; 1973 Ausbildung zum Kinder- und Jugendarbeiter im gemeindekirchli-
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chen Dienst, anschließend Pförtner, Nachtwächter, Hausmeister, Friedhofsarbeiter; das MfS verfolgte und beobachtete ihn seit den 1970er Jahren engmaschig; 1983 Mitbegründer des Friedens- und Umweltkreises bei der Glaubenskirche in Berlin-Lichtenberg; 1984/85 ein Jahr Haft; 1986 Mitbegründer der »Umweltbibliothek« und der »Umweltblätter«, bei der Durchsuchung der UB im November 1987 verhaftet, Haftentlassung nach internationalen Protesten; er war eine der zentralen Persönlichkeiten der UB; ab Oktober 1989 Redakteur beim »telegraph« (bis 1996), seit 2003 freiberuflicher Webdesigner; seit 2001 Führungen durch die Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, zahlreiche Publikationen auch seit 1990. Literatur: Störenfried (1992); (mit Bernd Gehrke Hg.) »... das war doch nicht unsere Alternative« (1999); Tom Sello: Wolfgang Rüddenklau, in: ders., IlkoSascha Kowalczuk (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 276–279 Šabatová, Anna (geb. 1951 in Brno), ab 1969 Studium der Philosophie und Geschichte, November 1971 verhaftet wegen Verbreitung von Flugblättern und Herstellung von Samisdatliteratur, verurteilt zu drei Jahren Haft, Dezember 1973 Entlassung; anschließend Gelegenheitsjobs u. Ä.; Erstunterzeichnerin der »Charta 77«, 1978 Mitbegründerin von VONS; zeitweise Sprecherin der »Charta 77«, Mitbegründerin weiterer oppositioneller Gruppen sowie Herausgabe von Samisdatzeitschriften; seit 1974 verheiratet mit → Petr Uhl; die Wohnung von Šabatová/Uhl war ein zentraler Prager Treffpunkt für Oppositionelle aus der ČSSR, Osteuropa und Unterstützer aus Westeuropa sowie für westliche Journalisten; nach 1989 in verschiedenen Tätigkeiten arbeitend, 1996 nachgeholter Abschluss des Studiums an der Universität Prag, 1998 erhielt sie als erste Osteuropäerin den Menschenrechtspreis der UNO; 2001–2007 stellv. Ombudsfrau Tschechiens; seit 2007 Lehrtätigkeit an der Universität Prag, seit 2008 Vorsitzende des Helsinki-Komitees Tschechiens. Literatur: Blanka Císařovská, Vilém Prečan (Hg.): Charta 77: Dokumenty 1977–1989. Prag 2007; Doris Liebermann, Jürgen Fuchs, Vlasta Wallat (Hg.): Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler. Tschechische und ostdeutsche Dissidenten 1968–1998. Essen 1998; Annabelle Lutz: Dissidenten und Bürgerbewegung. Ein Vergleich zwischen DDR und Tschechoslowakei. Frankfurt/M. 1999; Alexander von Plato, Tomáš Vilímek, Piotr Filipkowski, Joanna Wawrzyniak: Opposition als Lebensform. Dissidenz in der DDR, ČSSR und in Polen. Berlin 2013 Sacharow, Andrej D. (1921–1989, geb. in Moskau), ab 1939 beim sowjetischen Atomforschungsprojekt in Leningrad eingesetzt und maßgeblich an der Entwicklung sowjeti-
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scher Kernwaffen beteiligt; 1942 als Professor nach Moskau berufen; kritisierte ab den 1960er Jahren das sowjetische Herrschaftssystem und forderte seine Liberalisierung; wurde zu einem Hauptwortführer der Bürgerrechtsbewegung; 1975 Friedensnobelpreis, Verweigerung der Ausreise zur Entgegennahme des Preises; 1980 ohne Gerichtsverfahren nach Gorki verbannt; 1986 durfte er nach Moskau zurückkehren; 1988 wurde er Mitglied des Präsidiums der Akademie der Wissenschaften; gehört zu den Symbolfiguren des Widerstands gegen die kommunistische Herrschaft in Europa. Literatur: Wie ich mir die Zukunft vorstelle (1968); Stellungnahme (1974); Den Frieden retten! (1983); Mein Leben (1991); Für Sacharow. München 1981; Jelena Bonner: In Einsamkeit vereint. München, Zürich 1986; Andrej Sacharow – Ein Porträt. Leipzig, Weimar 1991; Richard Lourie: Sacharow. Biographie. München 2003 Schefke, Siegbert (geb. 1959 in Eberswalde), 1975–1978 Ausbildung zum Baufacharbeiter mit Abitur, 1978–1980 NVA-Grundwehrdienst, 1980–1985 Studium an der Hochschule für Bauwesen Cottbus, ab 1985 Bauleiter in Berlin; 1986 Mitbegründer der »Umweltbibliothek«, Mitarbeit in weiteren Oppositionsgruppen; ab 1987 freiberuflicher Fotograf, Journalist und Kameramann für verschiedene politische TV-Magazine in der Bundesrepublik, u. a. für die Sendung »Kontraste«, enge Zusammenarbeit mit → Roland Jahn; dokumentierte Umweltzerstörung und den sich formierenden Widerstand in der DDR, lieferte filmische Dokumentation wichtiger Ereignisse des Jahres 1989, u. a. die ersten Demonstrationsbilder aus Leipzig gemeinsam mit Aram Radomski; seit 1992 Journalist beim MDR; der TV-Spielfilm »Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen« (2008) verarbeitet auch seine Biografie. Schenk, Wolfgang (geb. 1948 in Frankfurt/M.), nach dem Studium 1972–2007 Hauptschullehrer in West-Berlin; Mitglied der AL; hielt engen Kontakt zur Opposition in Ost-Berlin; eines der prägenden Mitglieder in der »Initiative Ost-WestDialog«; 1985–1989 MdA; 1987 Austritt aus der AL. Schierholz, Henning (1949–2007, geb. in Jerxen-Orbke), 1972 Lehrerexamen, 1974 Magister, 1976 Promotion; 1975–1983 Studienleiter an der Ev. Akademie Loccum; anschließend Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der Grünen, 1985–1987 MdB, unterhielt Kontakte zur Opposition in Ost-Berlin; nach 1990 u. a. Referent in der Bundestagsfraktion der PDS/Linkspartei.
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Schlegel, Bert (geb. 1967 in Berlin), Mechaniker, 1985/86 Mitarbeiter der Friedensgruppe »Wühlmaus«, ab 1986 Mitinitiator und Mitarbeiter der »Umweltbibliothek«, bei der Durchsuchung der UB am 25.11.1987 verhaftet; erneut verhaftet am 17.1.1988, als er zusammen mit anderen an der Luxemburg-LiebknechtDemonstration mit eigenen Transparenten teilnehmen wollte, Verurteilung zu sechs Monaten Haft, Anfang Februar 1988 nach West-Berlin ausgereist, dort u. a. engagiert in der Unterstützergruppe der »Umweltbibliothek«. Schnur, Wolfgang (geb. in 1944 Stettin), Waisenkind, Ausbildung zum Maurer, nach dem Abitur Studium der Rechtswissenschaft bis 1973; 1965–1989 vom MfS als IM »Torsten« bzw. »Dr. Ralf Schirmer« geführt; ab 1978 Rechtsanwalt in Binz und später in Rostock; als Anwalt Rechtsbeistand für viele Oppositionelle, Bausoldaten, Wehrdienstverweigerer; Vertrauensanwalt der ev. Kirche; Mitglied der Synode der Ev. Kirche in Mecklenburg, zeitweise Vizepräses der Synode der Ev. Kirche der Union, Mitglied der Synode des Bunds der Ev. Kirchen in der DDR; im Herbst 1989 Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs (DA), 17.12.1989 Wahl zum DA-Vorsitzenden, Dezember 1989 bis März 1990 DA-Vertreter am zentralen Runden Tisch; Mitinitiator der Allianz für Deutschland; 14.3.1990 Rücktritt vom DA-Vorsitz wegen IMVorwürfen; 1991–1993 Rechtsanwalt in Berlin; Juli 1993 wegen Vergehens an den »Grundsätzen der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit« Entzug der Rechtsanwaltslizenz; März 1996 vom Landgericht Berlin wegen »politischer Verdächtigung« (Denunziation von → Freya Klier und → Stephan Krawczyk wegen Verbindung zu westlichen Medien) zu zwölf Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt; lebt in Brandenburg. Schnur war in den 1980er Jahren ein Schlüssel-IM für das MfS, wenn es um die Bearbeitung der Kirchen und der Opposition ging. Literatur: Freya Klier: Aktion »Störenfried«, in: Hans Joachim Schädlich (Hg.): Aktenkundig. Berlin 1992, S. 91–153; Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993 Schönfeld, Sinico (geb. 1963; heute: von Keitz, Siniko), Lehre zum BMSR-Techniker; 1989 als Computertechniker im VEB Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf, Außenstelle Berlin tätig; von 1981 bis 1989 als IM »Nico Adler« bzw. »Rudolf Ritter« des MfS tätig, u. a. im Umfeld der »Umweltbibliothek« und der IFM eingesetzt; blieb nach einer zunächst von der VP abgelehnten, dann aber über Einflussnahme durch das MfS bewilligten Besuchsreise im Juli 1989 in der Bundesrepublik.
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Schult, Reinhard (geb. 1951 in Berlin), 1968–1971 Berufsausbildung als Maurer mit Abitur, 1971/72 Theologie-Studium, 1972–1982 Bauarbeiter, 1976–1978 Bausoldat, 1982–1986 Heizer; seit Mitte der 1970er Jahre Mitarbeit in verschiedenen unabhängigen Friedenskreisen, oppositionellen Gruppen, konspirativen Zirkeln; 1979/80 acht Monate Freiheitsstrafe wegen Verbreitung illegaler Literatur (→ Wolf-Biermann-Texte); Mitinitiator DDR-weiter Diskussionsforen für Bausoldaten; 1978–1982 Mitarbeit im Friedenskreis der ESG Berlin, ab 1983 im »Friedrichsfelder Friedenskreis«, Redakteur des »Friedrichsfelder Feuermelders«; ab 1986 Mitglied »Gegenstimmen«; 1987–1990 Mitglied der »Kirche von unten«; September 1989 Erstunterzeichner des Aufrufs »Aufbruch 89 – Neues Forum«, einer der bekannten Köpfe der Revolution 1989/90; ab 1990 exponierter Vertreter der basisdemokratisch orientierten Minderheitenfraktion im NF; März bis Oktober 1990 Staatliches Komitee zur Auflösung des MfS; September 1990 beteiligt an der Besetzung des früheren MfS-Hauptgebäudes und dem Hungerstreik gegen die beabsichtigte Auslagerung der MfS-Akten ins Bundesarchiv Koblenz; 1991–1995 MdA; 1995 stellv. Bürgermeister von Fredersdorf; engagiert in zahlreichen basisdemokratischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen und Zusammenhängen, u. a. gegen Rechtsextremismus, für soziale Gerechtigkeit und für die Aufarbeitung der SED-Diktatur; u. a. Mitarbeiter beim Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, seit 2010 Mitarbeiter bei der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. Literatur: Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986–1989. Berlin 1992; Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007; Stefan Wolle: Reinhard Schult, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 302– 305; Martin Gutzeit, Helge Heidemeyer, Bettina Tüffers (Hg.): Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen Gruppen 1989/90. Düsseldorf 2011 Schütt, Hans-Dieter (geb. 1948 in Ohrdruf), Facharbeiterausbildung mit Abitur, 1967–1969 Gummifacharbeiter, 1969–1973 Studium an der Theater-Hochschule; 1973– 1989 Mitarbeiter der FDJ-Zeitung »Junge Welt«, zunächst als Filmkritiker, dann stellv. Leiter der Kulturabteilung, dann stellv. Chefredakteur; 1976 SED; 1981–1984 Abteilungsleiter und 1984–1989 Sekretär des Zentralrats der FDJ, 1984–1989 Chefredakteur der »Jungen Welt«; ideologischer Scharfmacher, sozusagen der Karl Eduard von Schnitzler seiner Generation; 1992–2012 Feuilletonredakteur beim »Neuen Deutschland«; Publizist, Autor und Heraus-
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geber. Schütt gehört zu den wenigen SED-Ideologen, die sich öffentlich und sehr selbstkritisch mit ihrem Tun vor 1989 auseinandergesetzt und davon distanziert haben. Literatur: Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR (2009); Ilko-Sascha Kowalczuk: Er hat verstanden. Die erstaunliche Autobiografie des ehemaligen »Junge Welt«-Chefs Hans-Dieter Schütt, in: der Tagesspiegel vom 2.11.2009 (auch online). Schwabe, Uwe (geb. 1962 in Leipzig), Instandhaltungsmechaniker, 1988–1990 Hilfskrankenpfleger; 1984 Mitglied der Leipziger Arbeitsgruppen Umweltschutz und Menschenrechte; 1984–1989 maßgeblich an der Vorbereitung und Durchführung der Friedensgebete in der Nikolaikirche beteiligt; 1987 Mitbegründer der Initiativgruppe Leben; Januar 1989 Verhaftung, wegen internationaler Proteste schnelle Freilassung; 1989 Mitbegründer und Regionalsprecher des NF Leipzig; in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in Leipzig einer der wichtigsten Oppositionellen, der an fast allen Aktivitäten beteiligt war; 1990 Mitbegründer des Archivs Bürgerbewegung Leipzig; seit 1994 Mitarbeiter im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig des Hauses der Geschichte. Literatur: (mit Christian Dietrich) Freunde und Feinde (1994); Der Herbst 89 in Zahlen, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 719– 735; Die Entwicklung der Leipziger Opposition in den achtziger Jahren am Beispiel der Friedensgebete, in: Günther Heydemann, Gunther Mai, Werner Müller (Hg.): Revolution und Transformation in der DDR 1989/90. Berlin 1999, S. 159–172; Tobias Hollitzer, Reinhard Bohse (Hg.): Heute vor 10 Jahren. Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution. Bonn 2000; Eckhard Jesse (Hg.): Friedliche Revolution und deutsche Einheit. Sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz. Berlin 2006; Thomas Mayer: Helden der Friedlichen Revolution. 18 Porträts von Wegbereitern aus Leipzig. Leipzig 2009; http://www.jugendopposition.de Schwarz, Stefan (geb. 1959 in Bonn), Bankkaufmann; ab 1986 Vorsitzender der Jungen Union Rheinland-Pfalz, hielt in den 1980er Jahren engen Kontakt zu ostdeutschen Oppositionellen, u. a. zu → Rainer Eppelmann und → Ralf Hirsch, und vermittelte Kontakte zu Journalisten und anderen Politikern; 1990–1994 MdB, Bruder von → Thomas Schwarz. Schwarz, Thomas (geb. 1957 in Bonn), Journalist und Moderator, arbeitete u. a. ab 1979 bei RTL, dann beim RIAS (»Treffpunkt«), wieder bei RTL, bei Radio Hundert,6,
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bei der Deutschen Welle; unterhielt Kontakte zu Ostberliner Oppositionellen wie → Rainer Eppelmann und → Ralf Hirsch und vermittelte Medienkontakte bzw. stellte diese selbst für die Opposition her; Bruder von → Stefan Schwarz; arbeitet seit 2006 als Pressesprecher für Care Deutschland. Literatur: Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993; Ursula Kals: Lieber dreimal auf die Nase fallen. Die zweite Karriere, in: FAZ vom 3.9.2006 Schwarz, Ulrich (geb. 1936 in Castrop-Rauxel), Theologiestudium; seit 1961 journalistisch tätig, 1972–2003 beim »Spiegel«; 1976–1978 Korrespondent des »Spiegel« in der DDR; 1978 Entzug der Akkreditierung und Schließung des »Spiegel«Büros in Ost-Berlin, danach gelegentlich als Reisekorrespondent in der DDR; 1985 Wiederzulassung des »Spiegel«-Büros, bis 1990 erneut mit ihm besetzt, der viele Kontakte in der DDR zu Funktionären, Künstlern und zu Oppositionellen (z. B. → Rainer Eppelmann, → Ralf Hirsch, → Gerd Poppe, → Lutz Rathenow, → Wolfgang Templin) unterhielt und die Opposition mit der Herstellung von Öffentlichkeit unterstützte; ab 1990 »Spiegel«-Ressortleiter in Hamburg; seit 2003 freier Autor, lebt in Berlin. Literatur: Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993; Dominik Geppert: Störmanöver. Das »Manifest der Opposition« und die Schließung des Ost-Berliner »Spiegel«-Büros im Januar 1978. Berlin 1996 Schwelz, Ingomar (geb. 1953), 1973–1984 Studium Germanistik, Sport und Philosophie in Graz und Stuttgart; parallel journalistisch tätig; März 1985 bis Dezember 1990 APKorrespondent in der DDR; verfügte über umfangreiche Kontakte zur Ostberliner Opposition (u. a. zu → Ralf Hirsch oder → Peter Grimm), betätigte sich als Kurier zwischen Ost- und West-Berlin und war u. a. für → Roland Jahn eine der wichtigsten Personen, die Materialen nach Ost-Berlin ein- und von Ost-Berlin hinausschmuggelten; arbeitet weiterhin als Journalist und Publizist. Simon, Hans (geb. 1935 in Krayna), 1953 Relegation von der EOS Droyßig im Zusammenhang mit dem Kampf der SED/FDJ gegen die Jungen Gemeinden; 1957 Abitur am Kirchlichen Oberseminar in Potsdam-Hermannswerder, Theologiestudium in Berlin, verschiedene Pfarrämter; 1984–1997 Pfarrer in der Zionsgemeinde Berlin-Mitte, wo ab 1986 die »Umweltbibliothek« angesiedelt war; seit 1997 im Ruhestand. Literatur: Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986–1989. Berlin 1992
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Stolpe, Manfred (geb. 1936 in Stettin-Hökendorf), 1955 Abitur in Greifswald, 1955–1959 Jurastudium in Jena; seit 1959 in der kirchlichen Verwaltung tätig, 1963 Kirchenbeamter auf Lebenszeit, ab 1969 Leiter des Sekretariats des BEK; 1970–1989 vom MfS als IM »Sekretär« erfasst; 1976 Mitarbeit in der Menschenrechtskommission des Weltkirchenrats, ab 1982 Konsistorialpräsident des Ev. Konsistoriums Berlin-Brandenburg; seit 1990 SPD, Oktober 1990 MdL Brandenburgs, 1990–2002 Ministerpräsident des Landes Brandenburg; 1992–1994 Untersuchung seiner Kontakte zu Staatsapparat, SED und MfS durch einen Untersuchungsausschuss des Brandenburger Landtags, trotz Feststellung bewusster und konspirativer Kontakte zum MfS Entlastung durch den Mehrheitsabschlussbericht mit der Begründung, er habe die Interessen der ev. Kirchen vertreten, abweichende Voten der Fraktionen Bündnis 90, CDU und PDS; 2002–2005 Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Stolpe war in den 1980er Jahren einer der wichtigsten Gesprächspartner und Vermittler sowohl für die Bundesregierungen als auch für den SED-Apparat, er war in den 1980er Jahren praktisch in alle Vorgänge um die Kirchen und die Opposition direkt oder indirekt involviert; seine in den MfS-Unterlagen dokumentierte IM-Tätigkeit blieb umstritten, er bestreitet diese Kontakte nicht, habe aber nicht als IM für das MfS gearbeitet, sondern in diesen Gesprächen die Interessen der Kirche vertreten; diese Einschätzung führte 1992 u. a. zum Rücktritt der brandenburgischen Bildungsministerin → Marianne Birthler. Literatur: Den Menschen Hoffnung geben (1991); Schwieriger Aufbruch (1992); Demokratie wagen – Aufbruch in Brandenburg (1994); Sieben Jahre, sieben Brücken (1997); Hagen Findeis, Detlef Pollack (Hg.): Selbstbewahrung oder Selbstverlust. Bischöfe und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in der DDR über ihr Leben. Berlin 1999, S. 622–671; (mit seiner Ehefrau Ingrid) »Wir haben noch so viel vor«. Unser gemeinsamer Kampf gegen den Krebs (2011); Ralf Georg Reuth: IM »Sekretär«. Berlin 1992; Sabine Gries, Dieter Voigt: Manfred Stolpe in Selbstzeugnissen. Frankfurt/M. 1993; Ehrhart Neubert: Untersuchung zu den Vorwürfen gegen den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg Dr. Manfred Stolpe vom 27.8.1993. Potsdam 1994; Bericht des Untersuchungsausschusses des Landtags. 3 Bde., Potsdam 1994; Freya Klier: Penetrante Verwandte. Frankfurt/M. 1996; Marianne Birthler: Halbes Land – Ganzes Land – Ganzes Leben. Erinnerungen. Berlin 2014 Suhr, Heinz (geb. 1951 in Augsburg), Industriekaufmann; Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Journalist; ab 1983 Pressesprecher der Bundestagsfraktion Die Grünen, 1985–1987 MdB; 1987–1994 wiederum Pressesprecher der Fraktion bzw. Gruppe; anschließend als Journalist tätig; gehörte zu den Grü-
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nen, die enge Kontakte zur Opposition in Ost-Berlin unterhielten; 1999 Parteiaustritt wegen deren Balkan-Politik; Selbstständiger. Templin, Regina (siehe Weis, Regina) Templin, Wolfgang (geb. 1948 in Jena), 1965/66 Lehre als Buchdrucker (abgebrochen), 1966– 1968 Ausbildung zum Bibliotheksfacharbeiter, 1968–1970 Studium an der Fachschule für Bibliothekswesen in Berlin; 1970–1974 Philosophiestudium an der HUB; SED-Mitglied; 1971–1975 IM für das MfS, beendet durch bewusste Dekonspiration; 1974–1977 Forschungsstudent; Mitglied einer illegalen oppositionellen Studentengruppe; 1976/77 Studienaufenthalt an der Universität Warschau, seitdem Kontakte zur polnischen Opposition; 1977–1983 Mitarbeiter am Zentralinstitut für Philosophie der AdW, 1983 aus politischen Gründen entlassen, Austritt aus der SED, Berufsverbot, vom MfS gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau Regina Templin (→ Weis) intensiv beobachtet und verfolgt, mit vielfachen Zersetzungsmaßnahmen belegt; anschließend arbeitend als Putzhilfe, Waldarbeiter, Heizer; ab Ende der 1970er Jahre Mitarbeit in verschiedenen unabhängigen Friedens- und Menschenrechtsgruppen, 1985/86 Mitbegründer der IFM, vielfältige Kontakte nach West- und Osteuropa; 1988 Verhaftung im Nachgang der Luxemburg-LiebknechtDemonstration in Berlin wegen des Verdachts auf landesverräterische Beziehungen, Anfang Februar 1988 Abschiebung für zwei Jahre, Studienaufenthalt in Bochum; November 1989 Rückkehr nach Ost-Berlin, Vertreter der IFM am zentralen Runden Tisch, 1989–1991 Sprecher der IFM; 1990 Mitarbeiter der Volkskammerfraktion Bündnis 90/Grüne, September 1991 bis Mai 1992 hauptberufliches Mitglied des Gründungssprecherrats der Partei Bündnis 90; 1994–1996 Mitarbeiter im Mauermuseum »Haus am Checkpoint Charlie« in Berlin; ab 1997 freier Publizist; 2007–2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der BStU, 2010–2013 Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau; zahlreiche Publikationen und mehrere hochrangige polnische Auszeichnungen und Ehrungen. Literatur: Stasi-Akte »Verräter«. Bürgerrechtler Templin: Dokumente einer Verfolgung (1993); (mit Christian Striefler) Von der Wiederkunft des Sozialismus? (1995); (mit Frank Ebert und Sigrun Werner) Der Umgang des Staates mit oppositionellem und widerständigem Verhalten, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland«. Baden-Baden 1995, Bd. VII/2, S. 1654–1705; (mit Reinhard Weißhuhn) Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 171–211; Antikommunistische Opposition in der DDR und Polen, in: Zwangsverordnete Freund-
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schaft? Osnabrück 2003, S. 167–175; Farbenspiele – die Ukraine nach der Revolution in Orange (2007); Charta 77 – Nähe und Einfluss, in: Charta 77. Prag 2007, S. 267–273; Eckhard Jesse (Hg.): Eine Revolution und ihre Folgen. Berlin 2000; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002; Martin Jander: Wolfgang Templin, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 325–328; Reinhard Weißhuhn: Wolfgang Templin, in: Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel. Berlin 2011, S. 130–131 Uhl, Petr (geb. 1941 in Prag), Diplom-Maschinenbauingenieur, sympathisierte nach Besuchen in Frankreich mit dem Trotzkismus und der IV. Internationale; gründete nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 im Untergrund die HRM (Hnutí revoluční mládeže, dt.: Bewegung der revolutionären Jugend), im Dezember 1969 wurde die Gruppe zerschlagen, einige Mitglieder verhaftet und Uhl in einem Schauprozess zu vier Jahren Haft verurteilt; seit 1974 mit → Anna Šabatová verheiratet; Erstunterzeichner der »Charta 77«; 1978 Mitbegründer von VONS; 1979 Verurteilung zu fünf Jahren Haft; aktiv in der »Charta« und VONS, Herausgeber von Samisdatpublikationen und -zeitschriften, engagiert in weiteren Oppositionsgruppen; Uhl war eine der zentralen Persönlichkeiten nach 1968 im Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft; die Wohnung von Šabatová/Uhl war ein zentraler Prager Treffpunkt für Oppositionelle aus der ČSSR, Osteuropa und Unterstützer aus Westeuropa sowie für westliche Journalisten; nach 1989 u. a. Direktor der Nachrichtenagentur ČTK, 1998–2001 Bevollmächtigter der tschechischen Regierung für Menschenrechte, tätig als Journalist und Publizist; 2002–2007 Mitglied der tschechischen Grünen. Literatur: Die Herausforderung (dt. 1981); Sibylle Plogstedt: Im Netz der Gedichte. Gefangen in Prag nach 1968. Berlin 2001; Blanka Císařovská, Vilém Prečan (Hg.): Charta 77: Dokumenty 1977–1989. Prag 2007; Doris Liebermann, Jürgen Fuchs, Vlasta Wallat (Hg.): Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler. Tschechische und ostdeutsche Dissidenten 1968–1998. Essen 1998; Annabelle Lutz: Dissidenten und Bürgerbewegung. Ein Vergleich zwischen DDR und Tschechoslowakei. Frankfurt/M. 1999; Alexander von Plato, Tomáš Vilímek, Piotr Filipkowski, Joanna Wawrzyniak: Opposition als Lebensform. Dissidenz in der DDR, ČSSR und in Polen. Berlin 2013 Vogel, Wolfgang (1925–2008, geb. in Wilhelmsthal), 1944/45 Luftwaffe, 1945–1949 Jurastudium in Jena und Leipzig, Referendar am Amtsgericht Waldheim, 1952
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Hauptreferent im Ministerium der Justiz, 1953 aus dem Staatsdienst ausgeschieden; vom MfS als GM »Eva« bzw. »Georg« erfasst, seit 1954 Rechtsanwalt in Berlin, ab 1957 auch an Gerichten in West-Berlin zugelassen; 1963 staatlich Beauftragter für den Freikauf und Austausch politischer Häftlinge, 1969 offiziell »Bevollmächtigter der DDR für humanitäre Fragen bei der Bundesregierung«, vermittelte die Ausreise von etwa 250 000 DDR-Bürgern, den Freikauf von 33 775 Häftlingen und den Austausch von rund 150 Agenten, Vermittler bei der Besetzung der US-Botschaft in Ost-Berlin (1984) und der bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau (1989) durch DDRBürger; 5.12.1989 kurzzeitige Verhaftung unter dem Vorwurf verbrecherischer Erpressung; bis Oktober 1990 Anwalt von Erich Honecker, 1991 Verzicht auf die Zulassung als Anwalt; 1993/94 Untersuchungshaft wegen Verdachts der Erpressung ausreisewilliger Bürger; 1996 zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt; er war der private finanzielle Profiteur der deutschen Teilung und des deutsch-deutschen Häftlingsfreikaufs, seine tatsächliche Rolle ist bis heute umstritten und dubios. Literatur: Norbert F. Pötzl: Basar der Spione. Die geheimen Missionen des DDR-Unterhändlers Wolfgang Vogel. Hamburg 1997; Jan Philipp Wölbern: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Göttingen 2014 Voigt, Birgit (geb. 1951 in Offenburg), 1970 Abitur, 1970–1975 Studium der Politologie, Germanistik und Geschichte in Heidelberg, seit 1976 am Max-PlanckGymnasium Karlsruhe; seit 1979 in Friedensgruppen aktiv, seit 1982 Mitglied der Grünen; ab 1984 intensive Zusammenarbeit mit Oppositionellen in der DDR, ČSSR und Ungarn; Mitglied im »Europäischen Netzwerk für OstWest-Beziehungen«; 1986–1988 Landesvorstandssprecherin der Grünen in Baden-Württemberg; seit 1985 Einreiseverbot in die DDR; 1988 wohnten → Bärbel Bohley und → Werner Fischer zeitweilig bei ihr und ihrem Ehemann → Joachim Voigt; engagiert bei den Grünen und in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Gruppen und Stiftungen. Voigt, Joachim (geb. 1947 in Offenburg/Baden), oft nur als »Putz« bekannt, seit 1967 mit → Birgit Voigt zusammen (Heirat 1975), 1967 Abitur, 1967–1973 Medizinstudium in Heidelberg, seit 1974 verschiedene ärztliche Tätigkeiten, zuletzt seit 1990 als Leitender Chirurgischer Oberarzt der Chirurgischen Abteilung der Vincentius-Krankenhäuser Karlsruhe, 2013 pensioniert; er beteiligte sich an Kurierdiensten zur Unterstützung der Opposition.
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Weber, Elisabeth (geb. 1941 in Hamburg), ab 1960 Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik in Köln, Wien und ab 1962 in West-Berlin, 1969 Promotion; 1970–1980 Mitglied im ZK der maoistischen KPD; beschreibt sich selbst als »68erin mit allen Höhen und Tiefen«, aber strikt antisowjetisch; 1982 Teilnahme an einem Treffen von Linken aus West und Ost in Ost-Berlin (u. a. mit → Reinhard Schult, → Wolfgang Templin, → Martin Böttger); Einreiseverbot in die DDR; unterhielt dennoch enge Kontakte zur Opposition in der DDR, aber auch nach Polen, in die ČSSR, Ungarn und die UdSSR; in der DDR unterstützte sie u. a. die IFM um → Bärbel Bohley und → Gerd Poppe; sie gehörte bei den Grünen zum Menschenrechtsflügel um → Petra Kelly; 1984–2003 Mitarbeiterin der Bundestagsfraktion der Grünen bzw. Bündnis 90/Die Grünen; Mitbegründerin der Heinrich-Böll-Stiftung; ab 1988/89 enge Zusammenarbeit mit Memorial; seit 2003 Rentnerin; ehrenamtlich u. a. für das Kopelew-Forum Köln und die Böll-Stiftung engagiert. Literatur: (mit Uli Fischer, Milan Horaček, Petra Kelly) Was soll das Geholze. Croissant und andere gefährden leichtsinnig einen grünen Grundkonsens, in: Kommune 4 (1986) 6, S. 58–60; Über die Schwierigkeiten einer Westlerin, acht Bundestagsabgeordnete aus der ehemaligen DDR als Chefs zu akzeptieren, in: Reinhard Weißhuhn (Hg.): Gesteinssammlung. Festschrift für Gerd Poppe zum 50. Geburtstag im März 1991. Berlin 1991, S. 83–93; StasiEinflussagent mit Einfluss bei den Grünen?, in: Kommune 10 (1992) 2, S. 3539; Bericht über meine ersten Erfahrungen der Zusammenarbeit von Grünen und Bündnis 90. Heinrich Böll Stiftung, Grünes Archiv 2009 Weis, Regina »Lotte« (geb. 1953 in Berlin), Berufsausbildung in einem Chemiebetrieb, Austritt aus der FDJ, Ausbildung zur Kinderdiakonin in der ev. Kirche; Studium der Gemeindepädagogik in Potsdam; trotz bestandenem 2. Examen nicht in den kirchlichen Dienst übernommen; Hilfsarbeiterin in einem Berliner Großhandelsbetrieb; aktiv in verschiedenen Oppositionsgruppen; 1985/86 Mitgründerin der IFM; gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann → Wolfgang Templin vom MfS verfolgt und mit zahlreichen Zersetzungsmaßnahmen belegt; Januar 1988 nach der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration wegen des Verdachts auf landesverräterische Beziehungen verhaftet, aus der Haft mit einem Zweijahresvisum in die Bundesrepublik faktisch ausgebürgert; nach dem Mauerfall im November 1989 Rückkehr in die DDR, Vertreterin der IFM am Berliner Runden Tisch, seit Mitte 1990 Geschäftsführerin der IFM; anschließend Jura-Studium; seither in Sozialbereichen tätig.
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Weißhuhn, Reinhard (geb. 1951 in Dresden), 1969 Abitur, 1969–1973 Studium der Architektur und Stadtplanung in Weimar, 1973–1978 Stadtplaner im Rat des Stadtbezirks Berlin-Prenzlauer Berg, seit 1975 in oppositionellen Zirkeln engagiert und seither vom MfS verfolgt und beobachtet; 1978–1984 Dokumentarist bei der Bauakademie; ab 1980 Auslandsreiseverbot; ab 1983 Übersetzung oppositioneller ungarischer Literatur für bundesdeutsche Verlage, 1985–1989 Projektant im Diakonischen Werk; 1985/86 Mitbegründer der IFM; seit 1986 Autor und Mitherausgeber verschiedener illegaler Publikationen im Samisdat (u. a. »Grenzfall«, Fußnote 3, Ostkreuz, Urkunde); 1989/90 Korrespondent der aus dem ungarischen Samisdat erwachsenen Wochenzeitung »Beszelö«; 1989/90 für die IFM Berater am zentralen Runden Tisch, 1990/91 Pressesprecher der IFM, 1990 Mitarbeiter der Volkskammerfraktion Bündnis 90/Grüne, 1990/91 freier Mitarbeiter der Wochenzeitung »die andere«, 1991–1998 persönlicher Mitarbeiter von MdB → Gerd Poppe, 1992 Mitglied der Verhandlungsgruppe zur Fusion von Bündnis 90 und Die Grünen; 1998–2013 Referent für Außenpolitik in der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Literatur: (Hg.): Gesteinssammlung. Festschrift für Gerd Poppe zum 50. Geburtstag im März 1991; Der Einfluss der bundesdeutschen Parteien auf die Entwicklung widerständigen Verhaltens in der DDR der achtziger Jahre. Parteien in der Bundesrepublik aus der Sicht der Opposition in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Bd. VII/2, S. 1853–1949; (mit Wolfgang Templin) Die Initiative Frieden und Menschenrechte, in: Eberhard Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Opladen 1999, S. 171– 211; Die ungarische demokratische Opposition und ihre Kontakte zur DDROpposition, in: Bernd Florath (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur. Göttingen 2011, S. 187–196; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Berlin 2002 Wetzky, Mario (geb. 1959 in Schleiz), Journalist, aus der SED ausgeschlossen; ab 1982 als IM »Martin« der HA XX/2 bzw. HA XX/9 des MfS tätig; in den 1980er Jahren im Stasi-Auftrag Mitarbeiter der Samisdat-Zeitung »Friedrichsfelder Feuermelder«, Mitglied des »Friedenskreises Berlin-Friedrichsfelde« und der Gruppe »Gegenstimmen«, ab 1987 im Stasi-Auftrag in der IFM; im Mai 1989 Selbstenttarnung als Spitzel.
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Wolf, Christa (1929–2011, geb. in Landsberg), 1949 SED, 1949–1953 Germanistikstudium, 1959–1962 freischaffende Lektorin beim Mitteldeutschen Verlag, wurde 1959–1962 vom MfS als IM »Margarete« geführt, später vom MfS engmaschig überwacht, ab 1962 freischaffende Schriftstellerin, 1963–1967 Kandidatin des ZK der SED; November 1976 Mitunterzeichnerin der Protestresolution gegen die Ausbürgerung → Wolf Biermanns; Juni 1989 Austritt aus der SED; eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen im 20. Jahrhundert. Wolf, Frieder (geb. 1955 in Hirsau), Studium der Pädagogik, Psychologie und Theologie in Heidelberg und Tübingen, Diplom-Pädagoge; 1984–1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestagsbüro von → Petra Kelly; 1989/90 Asienreferent bei der Gesellschaft für bedrohte Völker; 1990–2001 Heinrich-Böll-Stiftung; 2001–2003 Leiter des Europabüros und seit 2004 Leiter des für kommunale Europaarbeit, Städtepartnerschaften und kommunale Entwicklungszusammenarbeit zuständigen Büros für internationale Angelegenheiten im Amt des Oberbürgermeisters der Stadt Köln; seit 2007 auch Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft und Europäische Politik der Universität zu Köln; aktiv in mehreren zivilgesellschaftlichen Einrichtungen. Wolf, Wolfgang (geb. 1930), 1946–1952 (Austritt) und 1960–1984 (Ausschluss) SED, 1948 Abitur, 1948–1952 Studium der Ökonomie an der HUB (ohne Abschluss), 1955–1962 VP, externer Abschluss als Diplomökonom an der HUB; 1962– 1965 Assistent am Institut für Marxismus-Leninismus an der HUB; seit 1962 Kontakte, seit 1964 als IM unter mehreren Decknamen für das MfS tätig; auch seine Frau Helga Wolf (geb. 1929) ist verpflichtet worden; verschiedene Tätigkeiten bis 1977 (u. a. als Direktor, Referent, wiss. Mitarbeiter); 1977 Müllfahrer, 1982 Produktionsleiter, 1986 mit MfS-Unterstützung invalidisiert; seit 1979 als IM für die HA XX/4 aktiv, ab 1985 unter dem Decknamen »Max«, seine Ehefrau als IM »Mutter«; von der Stasi ab 1984 eingesetzt im »Pankower Friedenskreis«, im »Friedenskreis Berlin-Friedrichsfelde«, in der Gruppe »Gegenstimmen«; Mitbegründer der VL; führte mehrere Zersetzungsmaßnahmen durch; berichtete als IM auch aus West-Berlin; einer seiner Söhne, Rainer Wolf (geb. 1957), arbeitete ebenfalls als IM für das MfS. Dieser blieb im Dezember 1985 bei einer Besuchsreise in West-Berlin und berichtete im März 1988 im bundesdeutschen Fernsehen über seine Stasi-Tätigkeit. Literatur: Wolfgang Rüddenklau: Kein leichter Fall. Zum Umgang mit dem Verrat, in: Bernd Gehrke, Wolfgang Rüddenklau (Hg.): »... das war doch nicht unsere Alternative«. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende. Westfälisches Dampfboot. Münster 1999, S. 246–254
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Kurzbiografien
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Wollenberger, Knud (1952–2012, geb. in Kopenhagen), seine Eltern kehrten 1955 mit ihm aus dem Exil zurück; lebte in der DDR mit einem dänischen Pass; DiplomMathematiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der AdW; Lyriker; seit 1972 IM des MfS, zunächst für die HV A, ab den 1980er Jahren unter dem Decknamen »Donald« für die BV Berlin, Abt. XX; war in vielen Oppositionsgruppen aktiv (u. a. »Pankower Friedenskreis«, »Gegenstimmen«), berichtete auch über seine Ehefrau → Vera Lengsfeld, die er 1980 kennenlernte; lebte zuletzt in Irland. Literatur: Vera Wollenberger: Virus der Heuchler. Berlin 1992; Vera Lengsfeld: Mein Weg zur Freiheit. München 2002; Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986–1989. Berlin 1992; Thomas Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln, Weimar, Wien 2007; Mikael Busch: Knud og Vera. Et Stasi-drama. Kopenhagen 2012 Wollenberger, Vera (siehe Lengsfeld, Vera) Wonneberger, Christoph (geb. 1944 in Wiesa), 1960–1963 Maschinenschlosserausbildung, 1963–1965 Sprachstudium am Theologischen Seminar, dann bis 1970 Studium der Theologie, in dieser Zeit kurzzeitige Kontakte zum MfS; 1973 Ordination, 1977– 1984 Pfarrer der Dresdener Weinbergskirchgemeinde, ein Zentrum der Offenen Arbeit, Beratung von Wehrdienstverweigerern; 1979 Begründer der »Initiative Sozialer Friedensdienst«, Mitinitiator der Friedensgebete; zahlreiche Disziplinierungsversuche durch die Kirche, ab 1985 Pfarrer in der Lukas-Gemeinde in Leipzig, 1986 Gründer der Leipziger Gruppe »Menschenrechte«, beteiligt an zahlreichen Aktionen der Leipziger Opposition, vom MfS intensiv bearbeitet und verfolgt, 1989 eine der zentralen Persönlichkeiten bei den Leipziger Friedensgebeten und Demonstrationen; Ende Oktober 1989 schwer erkrankt; 1991 Ruhestand. Literatur: Thomas Mayer: Helden der Friedlichen Revolution. 18 Porträts von Wegbereitern aus Leipzig. Leipzig 2009; Tobias Hollitzer, Reinhard Bohse (Hg.): Heute vor 10 Jahren. Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution. Bonn 2000; Christian Dietrich, Uwe Schwabe (Hg.): Freunde und Feinde. Friedensgebete in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989. Leipzig 1994; Gerold Hildebrand: Christoph Wonneberger, in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): »Für ein freies Land mit freien Menschen.« Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 208–211; Thomas Mayer: Der nicht aufgibt. Christoph Wonneberger – eine Biographie. Leipzig 2014; Andreas Peter Pausch: Widerstehen. Pfarrer Christoph Wonneberger. Leipzig 2014
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Abkürzungen Abs. Abt. a.D. ADN AdK AdW AFP AG AGA AHB AI AIM AK AKG AKK AKSK AKW AL allg. Anm. AOP AP AP App. ARD Art. ASBw ASt. AU Aufl. AZI BArch BBC BCD Bd./Bde BdL BdVP Bearb. BEK BfV Bl.
Absatz Abteilung außer Dienst Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Akademie der Künste Akademie der Wissenschaften Agence France-Presse Arbeitsgruppe Arbeitsgruppe Ausländer Außenhandelsbetrieb Auswertung und Information archivierter IM-Vorgang bzw. archivierter IM-Vorlauf Aktuelle Kamera Auswertungs- und Kontrollgruppe archivierte(s Material aus) Kerblochkarteierfassung Arbeitskreis Solidarische Kirche Atomkraftwerk Alternative Liste allgemein Anmerkung archivierter Operativer Vorgang Allgemeine Personenablage Associated Press Apparat Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland Artikel Amt für Sicherheit der Bundeswehr Außenstelle Archivierter Untersuchungsvorgang Auflage Archivierter Vorgang eines Zelleninformators Bundesarchiv British Broadcasting Corporation Bewaffnung und Chemischer Dienst Band/Bände Büro der Leitung Bezirksdirektion der Deutschen Volkspolizei Bearbeiter/Bearbeitung Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR Bundesamt für Verfassungsschutz Blatt
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Abkürzungen BMB BMW BND BRD BStU BV CD CDA CD-ROM CDU CEKO CIA ČSSR CSU DA DAW DAAD DDR DE DGB dgl. DI DJ/dj/Dj DKP DLF DM DPA/dpa DRK DT-64 DVP einschl. EKD EKiBB END EOS epd erf. ESG EV ev. e. V.
1037
Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen Bayerische Motoren Werke (sowohl Name der Aktiengesellschaft als auch der Pkw) Bundesnachrichtendienst Bundesrepublik Deutschland Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Bezirksverwaltung Compact Disc Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (in der CDU) Compact Disc Read-Only Memory Christlich Demokratische Union Deutschlands centrales Kontrollsystem (MfS) Central Intelligence Agency Československá socialistická republika (dt.: Tschechoslowakische Sozialistische Republik) Christlich Soziale Union Demokratischer Aufbruch Deutsche Akademie der Wissenschaften Deutscher Akademischer Austauschdienst e.V. Deutsche Demokratische Republik Diensteinheit/Diensteinheiten Deutscher Gewerkschaftsbund dergleichen Demokratische Initiative – Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft Demokratie Jetzt Deutsche Kommunistische Partei Deutschlandfunk Deutsche Mark Deutsche Presse-Agentur Deutsches Rotes Kreuz Deutschlandtreffen 1964; eigentlich ein jugendpolitisches Ereignis in der DDR, dazu auch Name eines darin begründeten Radiosenders Deutsche Volkspolizei einschließlich Evangelische Kirche in Deutschland Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg European Nuclear Disarmament Erweiterte (allgemeinbildende polytechnische) Oberschule Evangelischer Pressedienst erfasst Evangelische Studentengemeinde Ermittlungsverfahren evangelisch eingetragener Verein
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1038 ev.-luth. EVz Exp. FAZ, F.A.Z. FDJ FDP FK/Fk FR FSA FU Berlin GA Gau Gen. Gestapo GEW GH GKR GMS GNU GÜST/GÜSt HA hekt. HfÖ Hg./hg. HIM Hptm. HUB HV A HVt Hz IF IFM IG IGfM IKV IKVU IM IMB IME IMK/KW IMK/KO IMS
Abkürzungen evangelisch-lutherisch Endverzweiger Expertise Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei Friedenskreis Frankfurter Rundschau Fernsprechamt Freie Universität Berlin Geschäftsführender Ausschuss größter anzunehmender Unfall Genosse/Genossin Geheime Staatspolizei Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Geheime Ablage Gemeindekirchenrat Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Gesellschaft für Natur und Umwelt Grenzübergangsstelle/Grenzübertrittstelle Hauptabteilung hektografiert Hochschule für Ökonomie Berlin Herausgeber/herausgegeben Hauptamtlicher inoffizieller Mitarbeiter des MfS Hauptmann Humboldt-Universität zu Berlin Hauptverwaltung A Hauptverteiler Hertz Interflug »Initiative Frieden und Menschenrechte« Interessengemeinschaft Internationale Gesellschaft für Menschenrechte Interkerkelijk Vredesberaad (dt.: Zwischenkirchlicher Friedensrat, Niederlande) Initiative »Kirche von Unten« Inoffizieller Mitarbeiter Inoffizieller Mitarbeiter mit Feindverbindung IM-Experte; Inoffizieller Mitarbeiter im bzw. für einen besonderen Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration/Konspirative Wohnung Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration/Konspiratives Objekt Inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit
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Abkürzungen Infas IPPNW
ITU IWF IWK IWV JHS Ka KASBA Kčs KD KGB kHz KiS KKL KoKo KOR KPČ KPD KPdSU KSZE KvU KVz Lit. LKA LP LPG Ltn. Ltr. LV LVz M M.A. mA MAD MdA mdr/MDR
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Institut für angewandte Sozialwissenschaft International Physicians for the Prevention of Nuclear War (dt.: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung) Institut für Technische Untersuchungen Internationaler Währungsfonds (engl.: International Monetary Fund, IMF) Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Impulswählverfahren Juristische Hochschule (MfS) Kassette Arbeitsgruppe »Kontrolle der Abhör-, Schaltungs- und Bereinigungsaktion« Krone (tschechische Währung) Kreisdienststelle des MfS Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti (pri Sowjete Ministrow SSSR) – Komitee für Staatssicherheit (beim Ministerrat der UdSSR) Kilohertz Kirche im Sozialismus Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (Arbeitsgruppe Bereich) Kommerzielle Koordinierung (des MfS), auch AG BKK Komitet Obrony Robotników (dt.: Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) Komunistická strana Československa (KSČ) (dt.: Kommunistische Partei der Tschechoslowakei, KPTsch oder KPČ) Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa »Kirche von Unten«; selten auch: Kirchentag von Unten Kabelverzweiger Literatur Landeskirchenamt Langspielplatte Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Leutnant Leiter/Leiterin Landesverband Linienverzweiger Mark (der DDR) Magister Artium/Master of Arts Milliampere Militärischer Abschirmdienst Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses Mitteldeutscher Rundfunk
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1040 MdB MdEP MdI MdJ MdL mdv MfAA MfNV MfS MfV Min. Mio. ML MMM MOG MP MPF Mrd. Ms. MTB NATO ND NDPD NDR NF NF NSA NSA NSW NVA NVR OA o. D. OG OibE OKR ONA op. OpD OPK ORF OSL OTS OV OVSt
Abkürzungen Mitglied des Bundestages Mitglied des Europäischen Parlaments Ministerium des Innern Ministerium der Justiz Mitglied des Landtages Mitteldeutscher Verlag Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten Ministerium für Nationale Verteidigung Ministerium für Staatssicherheit Ministerium für Volksbildung Minute/n Millionen Marxismus-Leninismus Messe der Meister von Morgen Militärobergericht Ministerpräsident Ministerium für Post- und Fernmeldewesen Milliarden Manuskript Messtischblatt North Atlantic Treaty Organization Neues Deutschland National-Demokratische Partei Deutschlands Norddeutscher Rundfunk Neues Forum Niederfrequenz (NF-Spannung) National Security Agency, deutsch: Nationale Sicherheitsbehörde; ein Auslandsgeheimdienst der USA nichtsozialistisches Ausland nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet Nationale Volksarmee Nationaler Verteidigungsrat Offene Arbeit ohne Datum Operationsgebiet Offizier im besonderen Einsatz Oberkirchenrat Osteuropäische Nachrichtenagentur operativ Operativer Diensthabender Operative Personenkontrolle Österreichischer Rundfunk Oberstleutnant Operativ-Technischer Sektor Operativer Vorgang Ortsvermittlungsstelle
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Abkürzungen OZ PBA PDS PEN/P.E.N. PF/PSF ph. PID PLO Pkw PKZ PM 12 PO-Leitung Prof. PSF PUT PZV RAF Red. Reg. Reg. Nr. resp. RGW RHG RIAS SBZ SdM SDP SED Sekr. SEW SFB SFR Jugoslawien SfS SMS SPD SPW staatl. Stellv./stellv. StGB StäV StPO SU SV SW SWR taz
1041
Ortszentrale Politisch Beratender Ausschuss des Warschauer-Vertrages Partei des Demokratischen Sozialismus poets essayists novelists (internationale Schriftstellervereinigung) Postfach/Postschließfach phonetisch Politisch-ideologische Diversion Palestine Liberation Organization Personenkraftwagen Personenkennzahl Formular des Pass- und Meldewesens Postmietleitung-Ortsnetz Professor/in Postschließfach Politische Untergrundtätigkeit Postzeitungsvertrieb Rote Armee Fraktion Redaktion Regierender Registriernummer respektive Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Robert-Havemann-Gesellschaft Rundfunk im amerikanischen Sektor (Berlins) sowjetische Besatzungszone Sekretariat des Ministers Sozialdemokratische Partei Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sekretär Sozialistische Einheitspartei Westberlins Sender Freies Berlin Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien Staatssekretariat für Staatssicherheit Short Message Service (englisch für Kurznachrichtendienst) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schützenpanzerwagen staatlich Stellvertreter/stellvertretender Strafgesetzbuch Ständige Vertretung Strafprozessordnung Sowjetunion Sozialversicherung sozialistisches Wirtschaftsgebiet Südwestrundfunk die tageszeitung
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1042 Tb Tel. TK TOP TU TV UB UdSSR UfJ ugs. UHA UN/UNO US/USA ÜSE UVR UZ V VdF VDJ VEB Verf. verm. Vi VIP VL VONS Vopo/Vopos Vors. VP VPI VR VRD VRP VSH-Kartei WASG WB WDR wh./whft. WTsch ZAIG ZDF ZI ZK
Abkürzungen Tonband Telefon(nummer) Tonkonserven Tagesordnungspunkt Technische Universität Television (Fernsehen) Umwelt-Bibliothek/»Umweltbibliothek« Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen umgangssprachlich Untersuchungshaftanstalt United Nations Organization United States/of America Übersiedlungsersuchende (Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR) Ungarische Volksrepublik Unsere Zeit Volt Verband der Freidenker Verband der Journalisten Volkseigener Betrieb Verfasser vermutlich Video very important person Vereinigte Linke Výbor na obranu nespravedlivě stíhaných (dt.: Komitee für die Verteidigung der ungerecht Verfolgten) Volkspolizist/en Vorsitzende/r Volkspolizei Volkspolizei-Inspektion Volksrepublik Verwaltung Rückwärtige Dienste Volksrepublik Polen Vorverdichtungs-, Such- und Hinweis-Kartei Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit West-Berlin Westdeutscher Rundfunk wohnhaft russ.: Bч: высокочастотная (dt.: hohe Frequenz, Hochfrequenz, hochfrequent) Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Zweites Deutsches Fernsehen Zelleninformator Zentralkomitee
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Abkürzungen ZKG ZMA ZOV
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Zentrale Koordinierungsgruppe Zentrale Materialablage Zentraler Operativer Vorgang
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Personenregister Abuladse, Tengis 472 Aichinger, Xaver 755, 874 Albani, Bernd 123, 885, 914 Allen, Woody 206 Alt, Franz 650 Anderson, Sascha (Alexander) 90, 99, 236, 306, 336–337 Anding, Knut 159–161 Arafat, Jassir 888 Ardenne, Manfred von 687 Arnold, Michael 105, 796, 806, 813, 821 Ash, Timothy Garton 100 Assenov, Assen 307 Auerbach, Dieter 862 Auerbach, Thomas 379 Aurich, Eberhard 101–102 Axen, Hermann 73, 157, 401, 642 Bach, Dieter 674 Bachtin, Michail 133 Backendorf, Günter 201 Bacon, Francis 21 Bahr, Egon 157, 526, 771, 804 Bahro, Rudolf 145, 221, 1003 BAP 570–572 Barbe, Angelika 125 Barth, Bernd-Rainer 242 Barthes, Roland 35 Bartczak, Lutz 201 Bastian, Gert 71, 136, 260, 289, 428, 610, 637, 650, 652–653, 666–669, 675, 684–688, 699–700, 725, 727– 729, 731, 804, 898–901, 987, 1007 Battěk, Rudolf 762, 955 Baum, Karl-Heinz 15, 300–301, 367– 368, 987–988 Baumgart, Christine 676, 767 Baumgart, Jürgen 676, 767 Bayer, René 622–623
Bebel, August 110 Becker, Jurek 554 Becker, Manfred 639, 653 Beckmann, Lukas 71, 115, 350, 354, 637–638, 650, 652, 988 Bengsch, Alfred 122–123 Berg, Hermann von 335 Bertele, Franz 831 Besson, Tatjana 889 Beyer, Simone 355–356, 659 Bickhardt, Stephan 73, 111–112, 144, 169, 235–236, 336, 358, 372–374, 397, 628, 659, 801, 855, 956, 988, 1014 Bienek, Horst 572 Biermann, Pamela 928 Biermann, Wolf 38, 54, 87–88, 136, 169, 208, 226, 237, 266, 306, 311, 321, 337, 357, 379, 423, 425, 535, 572–573, 576, 602–603, 664, 804, 824, 904, 912, 917, 923–931, 938– 939, 941, 978, 986, 989, 996, 998, 1003, 1005, 1008, 1010, 1016, 1025, 1034 Binder, Heinz-Georg 660 Birthler, Marianne 10, 12–13, 15, 101, 105, 147, 164, 167, 692–694, 712, 724, 730, 737, 757, 805, 810–812, 814, 818–819, 828, 840–841, 857– 858, 873–874, 879, 882–884, 886, 901–903, 911, 920, 932–934, 938, 945, 989–990, 1028 Bischoff, Norbert 874 Blüm, Norbert 401, 404, 636 Blume, Rainer 738 Bohley, Annette 661 Bohley, Anselm 546, 651–652, 707, 733 Bohley, Bärbel 12, 15, 51–53, 68, 71, 78, 81–82, 85–97, 99–100, 104,
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Personenregister 111, 113, 115, 118–120, 125, 127, 130, 132, 134, 138, 144–146, 151– 152, 154, 156, 158–160, 163, 167– 168, 209, 215, 218, 225–227, 238, 254–255, 258–261, 264, 266, 286– 296, 304, 310, 318, 320, 327, 333, 354–358, 369, 390, 402, 417, 427– 432, 456, 463, 466, 493, 510–511, 544–552, 556–561, 564, 572, 574, 576–577, 600, 602, 609–610, 614– 616, 625–626, 628, 630, 632, 635– 641, 643, 649–656, 659–661, 663, 666, 668, 670–671, 675–676, 685– 691, 699, 705–708, 711–712, 714– 715, 717–724, 726, 728–729, 731– 733, 735, 755–756, 771, 773–776, 833–834, 869–872, 877, 881, 885– 887, 889, 899–901, 914, 921, 923– 930, 936, 938–942, 944, 957, 961, 966, 971–972, 979, 986, 990–991, 994, 996, 1002, 1018, 1031–1032 Bohley, Dietrich 551 Bohley, Eckart 551 Bohley, Heidi 551 Bohley, Jochen 551 Bohley, Karl 551, 779, 792, 832, 835, 855 Bohley, Michael 551 Bohley, Peter 551 Bohley, Reiner 551, 661 Böhme, Gerhard 208 Böhme, Manfred »Ibrahim« 99, 113, 245, 376, 466, 493, 636, 639, 653, 657, 682, 731, 763, 769, 826, 874, 887, 991 Böll, Heinrich 8 Bölling, Klaus 599 Bomberg, Karl-Heinz 347, 764 Bonhoeffer, Dietrich 65, 242 Bonner, Jelena 836 Booß, Christian 382, 585 Borgmann, Annemarie 295, 320 Börner, Hans-Jürgen 87, 337, 366, 509, 578, 672, 777, 810, 849, 851, 991
1045
Börner, Holger 509 Bornschlegel, Carola 796, 813 Borchardt, Christian 228–229, 245, 258, 670, 873 Borštner, Ivan 678–679 Böttcher, Till 86, 89, 255, 418, 427– 432, 503, 506, 510, 545–546, 562, 567, 574, 600, 664, 870, 873, 991– 992 Böttger, Antje 15, 71, 228, 391, 668, 682, 687, 770, 957, 992 Böttger, Martin 15, 71, 73, 75, 79, 85, 95–97, 144, 159, 169, 209, 228, 235, 286, 301, 327, 336, 361–362, 369, 377, 391, 397, 411, 456, 466, 472, 493, 635, 639–640, 651, 653– 654, 656–657, 659, 668, 682, 687– 688, 700, 731, 735, 761, 770, 789, 826, 881, 966, 992–993, 1032 Botz, André 796, 813 Bourdieu, Pierre 41, 133 Brandt, Peter 262 Brandt, Willy 167, 262, 636, 651, 653, 759, 766–767, 769–770, 773 Brasch, Peter 912 Braun, Volker 305 Bräutigam, Hans Otto 520, 611, 721 Breschnew, Leonid I. 239, 459 Bretschneider, Harald 61 Brie, Michael 926, 930 Bronder, Manfred 52–53 Bruyn, Günter de 419, 584 Büchner-Uhder, Willi 170 Buhl, Hans 400, 553, 581, 583, 645, 702, 993 Busse, Jochen 571 Cage, Nicolas 302 Carlsson, Ingvar 805, 813, 823–824 Čarnogurský, Ján 762 Ceauşescu, Nicolae 459, 585, 712, 724– 725, 727, 763 Chamier, Georgia von 976 Childs, David 676
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Personenregister
Cibulka, Petr 799–800 City 526 Coppola, Francis Ford 302 Corino, Karl 301 Croissant, Klaus 320 Czaputowicz, Jacek 362–364, 377, 993 Dalai Lama 899 Dalos, György 41–42, 135, 249, 320, 396–399, 993–994 Dangrieß, Dieter 890 Demant, Ebbo 473 Demke, Christoph 66, 524 Derrida, Jacques 45 Deter, Ina 571 Dethleffsen, Erich 618, 629 Dickel, Friedrich 163–165, 871, 936 Die Firma 471, 888–889 Die Skeptiker 889 Diekmann, Kai 831 Dienstbier, Jiří 294, 955 Diepgen, Eberhard 368, 499, 829, 834, 836, 844, 847, 994 Diestel, Peter-Michael 218 Dietrich, Christian 397, 712, 724, 881 Dietrich, Reiner 73, 80, 99, 125, 245– 246, 355, 416–417, 510, 636, 660, 676–677, 682, 708, 714, 719, 777– 778, 782–784, 828, 830, 833, 836, 845, 856, 960–961, 983, 994 Dohmeyer, Kurt 777, 785, 791, 828, 830, 838, 840, 842, 849, 857, 994– 995 Dolezal, Josef 804 Domaschk, Matthias 8, 380, 598 Dörner, Christine 318 Drees, Erika 341, 872 Dubček, Alexander 521–523 Dutschke, Rudi 226 Dvořák, Tomáš 800 Ebert, Frank 873 Ebstein, Katja 526 Eckart, Gabriele 344, 347
Eckerberg, Lennart 813 Ehmke, Horst 599 Eigenfeld, Frank 125 Eigenfeld, Katrin 209, 682, 957 Einhorn, Barbara 675 Eisenfeld, Bernd 240 Eisenfeld, Peter 240–241 Eger, Jürgen 874 Element of Crime 471 Elsner, Gisela 396 Endler, Adolf 299 Engelhardt, Heinz 127 Engert, Jürgen 43–44, 599 Enzensberger, Hans Magnus 17–18, 396 Eörsi, István 396 Eppelmann, Eva-Maria 855, 995 Eppelmann, Rainer 12, 15, 51–53, 62– 63, 71–75, 79, 91, 97–98, 107–109, 115, 123–126, 128, 149, 152, 159, 167, 169, 227, 238–239, 249, 288– 289, 291, 304–305, 331, 336–338, 392, 400–402, 414, 463, 491, 494– 496, 509, 624, 659, 662–663, 673, 677, 689–690, 697, 714, 762, 777– 787, 790–794, 828–839, 842–856, 858, 860, 870, 874, 884, 908, 941, 956, 994–995, 1001, 1004, 1026, 1027 Eppelmann, Wiebke 779 Eppler, Erhard 384, 805 Erwin, Thomas 584 Esche, Klaus-Dieter 681 Eyck, Mathias 243 Faktor, Jan 905–906, 913–914 Falcke, Heino 65, 358, 628 Feeling B 889 Felfe, Heinz 615, 617, 630 Feller, Kai 975–976 Ferworn, Helmut 875 Fink, Hans-Jürgen 414 Fink, Heinrich 628
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351154 — ISBN E-Book: 9783647351155
Personenregister Fink, Ulf 781, 794, 829, 834, 837, 844–845, 852, 995 Finkemeier, Werner 392–393 Fischbeck, Hans-Jürgen 358, 628, 657, 855, 874, 956, 996 Fischer, Erna 217, 262, 735–736, 738– 751, 943–947 Fischer, Helmut siehe Tiedge, Hansjoachim Fischer, Martin 217, 262, 735, 738, 943–947 Fischer, Oskar 73, 110 Fischer, Ulrich 71, 295–296, 320 Fischer, Werner 15, 51–53, 68, 79, 81, 84–85, 88–91, 93, 96, 104–105, 115, 118–120, 126–127, 138, 144, 146–147, 152, 154, 160, 168, 217, 226–228, 231, 245–246, 258–262, 264, 286–289, 292–296, 318, 331, 355, 376–377, 390, 417, 456, 472, 510, 600, 610, 614, 632, 635–639, 641, 643, 649–650, 652–653, 654– 655, 659–661, 663, 666, 668, 670– 671, 675, 685–687, 689–691, 699, 705–709, 711–712, 714–719, 721– 722, 724–765, 768–773, 775, 788– 790, 795–817, 820–827, 834, 840– 841, 860, 869–874, 879–889, 896– 903, 911, 920–922, 943–947, 966, 971, 986, 996, 1031 Fister, Rolf 695 Fleischhauer, Werner 315, 361, 387, 396, 409, 417, 997 Flügge, Reiner 336 Forck, Gottfried 61–62, 96, 101, 123, 155, 260, 336, 338, 417, 419, 497, 582, 606, 639, 641, 649, 651–653, 660, 685–686, 691–692, 706, 711, 724, 730, 732, 737, 756, 758, 763– 764, 850, 853, 884, 902, 914, 997, 1015 Foschepoth, Josef 171 Foucault, Michel 133 Fränkel, Hans-Joachim 65
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Frauendorf, Stefan 616, 620–621 Frauendorfer, Helmuth 572, 657, 712 Frenzel, Michael 101, 730, 737, 873 Fricke, Karl Wilhelm 783, 832, 855– 856 Friedrichs, Hanns Joachim 922 Fuchs, Anke 401 Fuchs, Jürgen 8, 33, 51, 54, 70, 75, 88, 90–93, 117, 129, 134, 137, 142– 143, 152, 159, 168–169, 206, 210, 231, 233, 236–238, 241–243, 254, 256–257, 259, 285, 308, 315–316, 320, 354, 384, 408, 428, 445–446, 463, 488, 516, 553–555, 572, 574, 581, 583–585, 590, 592–593, 599, 602–603, 646–648, 653, 659, 663– 664, 712, 718, 835–836, 919, 928, 938, 957, 986, 997–998, 1019 Fuchs, Lilo 15, 285, 928, 997–998 Führer, Christian 104 Furian, Hans-Otto 66, 96, 689, 707, 780–781, 826, 853, 998 Gaus, Günter 832 Gehlen, Reinhard 617 Gehlert, Siegfried 165 Geißler, Heiner 401 Genin, Salomea 874 Genscher, Hans-Dietrich 104, 401, 788, 808 Gere, Richard 302 Geremek, Bronisław 244 Gernentz, Jürgen 811, 841 Glaskow, Nikolai I. 977 Gläßner, Ludwig 80, 778 Gorbatschow, Michael S. 59, 77, 105, 241, 247, 298, 336, 343, 375–376, 409, 431, 444, 521, 523, 611, 622, 643, 725, 729, 731, 896, 898, 907, 925, 980, 987 Görig, Klaus 419 Grass, Günter 374, 535 Graupner, Horst 90, 138, 315
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351154 — ISBN E-Book: 9783647351155 Persönliches Exemplar für Ilko-Sascha Kowalczuk
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Personenregister
Grimm, Peter 15, 68, 79–80, 85, 95, 116, 143, 169, 223, 228–229, 286, 289, 291, 318, 325, 336, 355, 367, 415–416, 456, 466, 468, 472, 493, 510–511, 550, 552, 635, 653, 659, 680, 682–683, 711, 724, 731, 735, 755–756, 770–771, 788–789, 803, 809–810, 822, 826, 833, 873, 881, 960–961, 966, 979, 984, 998–999, 1027 Grimm, Sabine 355, 771, 810, 998– 999 Grönemeyer, Herbert 571 Grotewohl, Otto 122 Grund, Thomas 383 Gruša, Jiří 955 Grzemba, Udo 885 Günther, Eberhard 651 Gutzeit, Martin 112, 870, 979–980 Gysi, Gregor 91, 101, 120–121, 261, 336, 651–652, 654, 707–708, 713, 721, 806–807, 846, 850, 853, 946, 999 Gysi, Klaus 73, 429, 508, 899 Haas, Gerhard 365, 437, 456 Häbler, Manfred 52 Haeger, Monika 99–100, 154, 222, 245–246, 258, 286, 333, 355, 357, 359–360, 376, 466, 493, 510–511, 635–636, 639, 653, 706–707, 731, 758, 833, 999 Hagen, Eva-Maria 824 Hager, Kurt 238, 247, 306, 309, 426, 454, 470, 488, 500, 523, 530–531, 753, 920–921, 924, 941, 980, 999– 1000 Hähnel, Siegfried 113 Hájek, Jiří 762, 955 Halbrock, Christian 12, 70, 239, 289, 353, 698, 982 Hamm-Brücher, Hildegard 721 Haraszti, Miklós 294
Harich, Katharina 498, 661, 703, 840– 841, 858, 1000 Harich, Wolfgang 54, 1000 Härtl, Heidemarie 876 Hartmann, Udo 796, 813, 866 Hartung, Klaus 566, 569 Hartz, Frank 99, 245, 247, 460–461, 639, 653, 769, 1000 Hartz, Miriam 245 Hasch, Wolfram 151 Håstad, Disa 304–305 Hattenhauer, Katrin 806 Hauswald, Harald 116, 305, 307, 310, 334, 396, 639, 653, 755, 1000 Havel, Václav 264, 294, 655, 762, 798– 799–800, 955, 1004 Havemann, Annedore (Katja) 15, 79, 99, 113, 118, 136, 169, 225, 229, 238, 286, 310, 355–357, 359, 400, 551, 636, 650–654, 659, 687–690, 707–708, 731, 775, 832, 872, 929, 938–939, 957, 979, 990, 998, 1000–1002 Havemann, Franziska 652 Havemann, Robert 38, 42, 45, 54, 116, 118, 145, 149, 208, 221, 225–226, 229, 238–239, 356–357, 359, 400, 713, 978, 989–990, 995, 998, 1000–1001, 1016 Heber, Hartwig 367, 919 Heimann, Günther 285, 599, 687, 863, 866, 875, 904, 910, 917, 1002 Hein, Andreas 840 Hein, Christoph 305, 419, 584, 730, 737, 840, 926, 930, 1002 Heitkamp, Uwe 794, 834 Hejdánek, Ladislav 955 Heldt, Uwe 306–307 Helms, Renate 69–70 Hempel, Johannes 66, 104 Hennig, Klaus 616, 622 Hennig, Ruth 260 Henrich, Rolf 145, 871–872, 874, 877, 880, 888, 898, 940, 1002
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Personenregister Hensel, Karitas 427, 668, 900, 1002 Henselmann, Hermann 396 Hermlin, Stephan 39–40, 42, 307, 452, 535, 730, 737, 835, 1003 Herzberg, André 874 Herzberg, Guntolf 15, 221, 226, 643– 644, 664, 762, 790, 832–833, 879, 882, 1003 Herzberg, Heidi 226 Heß, Herbert 704 Heuer, Klaus 654 Heuer, Uwe-Jens 654 Heusinger, Hans-Joachim 257 Heyer, Eberhard 613 Heym, Stefan 38, 40–42, 45, 509, 576, 926, 930 Hilbig, Wolfgang 299 Hildebrand, Gerold 336, 556, 712, 840, 873, 890–891, 1003 Hildebrand, Hilde 170 Hildebrandt, Dieter 571 Hines, Gregory 302 Hinze, Albrecht 297, 300, 918 Hirsch, Ralf 12, 15, 51–53, 68, 71, 73, 75–76, 79–81, 85–99, 115–117, 119, 125–126, 129–130, 134, 137– 138, 142, 144–145, 152, 154–156, 158–160, 168–169, 215–218, 223, 227–229, 231, 238–239, 245, 248– 249, 254, 259, 266, 286, 289, 291– 296, 304, 320, 325–327, 331–333, 335, 337, 344–349, 352, 355–357, 365–366, 369, 381–383, 387–388, 390–395, 400–407, 412–413, 415– 421, 425, 438, 440–447, 456, 462– 465, 468–469, 472–473, 476–486, 496, 507, 510, 512–518, 523, 542, 544–545, 557, 564–580, 597–598, 600, 602, 610, 614–616, 625–626, 630, 632, 635, 638, 641, 646, 648– 650, 656, 659, 662–664, 669, 673, 676–677, 690, 693, 696–697, 703, 705–709, 714–719, 733–734, 757– 759, 761–762, 777–784, 789–794,
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803, 805, 827–837, 842–856, 871, 885–886, 901, 928–929, 938, 960, 966, 971, 986, 1004, 1026–1027 Hitler, Adolf 760, 796 Hoch, Ullrich 624 Hoch, Ulrich 312 Hoffmann, Heinz 61 Hoffmann, Klaus 571 Hofmann, Ulf 138–139, 704 Hofmeister, Martin 297 Höfner, Ernst 945 Hohler, Franz 910 Höhn, Kurt 616, 622–623 Holtz-Baumert, Gerhard 533, 554 Honecker, Erich 11, 39–40, 44, 57, 65, 71, 79, 83, 86–88, 91, 94, 101–104, 110, 115, 153–157, 163, 209, 239, 249, 252, 256, 263, 289, 295, 318, 332–333, 336, 355, 358, 430, 434, 451, 472, 494, 505, 516, 519, 526, 530, 558–559, 569, 571, 573, 585– 586, 611, 622, 625, 641, 643, 649, 660, 668, 676, 685, 687–688, 691, 706, 712, 724, 730, 735, 763, 783, 788, 803–804, 808, 823–824, 854– 855, 885, 900, 941, 943, 970, 973– 974, 980, 985, 987, 989, 1011, 1031 Honecker, Margot 730, 735, 760, 976 Hönes, Hannegret 295 Horkheimer, Max 46 Horáček, Milan 320, 344, 348, 1004 Horn, Gyula 109–110 Hoyer, Steny H. 401 Hülsemann, Wolfram 456, 497, 510– 511, 732, 760, 828–829, 839, 851, 853, 857–858, 873–874, 914, 932– 934, 973, 1004–1005 Hummitzsch, Manfred 213 Ihle, Katja 976 Ihlow, Uta 431–432 Illmer, Uwe 705, 714
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351154 — ISBN E-Book: 9783647351155 Persönliches Exemplar für Ilko-Sascha Kowalczuk
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1050
Personenregister
Jaerisch, Ursula 320 Jäger, Detlef 935 Jahn, Roland 11–13, 15, 46, 51, 54, 70–71, 74–76, 78, 80–82, 85, 88, 90–92, 99–101, 117–119, 128–129, 134–139, 142–145, 152–153, 159– 160, 168–169, 205–206, 210, 215, 217–218, 225, 227–228, 231, 233– 238, 240, 242, 244, 246, 248–251, 254, 256, 257–259, 264, 290–292, 294, 308, 311, 315, 318–324, 326– 331, 339–345, 350, 352, 354–364, 369, 372–374, 377, 379–391, 400– 405, 409, 411, 417–422, 427–433, 438–441, 443, 446–447, 457, 459, 462–463, 466, 468, 483, 485, 487– 496, 499–503, 505–509, 512–519, 521–522, 531, 539, 544, 552, 556– 561, 564, 566, 574, 576, 584–590, 593, 597–599, 602, 604–614, 616, 625–630, 632, 638, 645–648, 653, 659, 663–665, 673, 676, 685, 695– 700, 702–704, 706, 709, 717–718, 790, 803–807, 811–812, 821, 835– 836, 860, 867–868, 875–882, 889, 903, 920–921, 928, 938, 957, 986, 1005–1006, 1019, 1023, 1027 Jahnke, Reinhard 695 Jakobson, Grigori R. 410 Jander, Martin 260, 643 Jänicke, Martin 319 Janša, Janez 678–679 Jarowinsky, Werner 94–95, 256 Jasiński, Mirosław 797 Jelinek, Elfriede 396 Jennerjahn, Hartmut 299, 313, 477 Jenninger, Philipp 295 Jeschonnek, Günter 456 Jirous, Ivan Martin 800 Jonas, Bruno 571 Jordan, Carlo (Karl-Heinz) 15, 70, 138–139, 144, 169, 239, 286, 289, 336, 353, 417, 437, 453–454, 462,
499, 505, 646, 659, 697–698, 702, 771, 982, 1006 Kafka, Franz 37 Kalb, Hermann 850 Kalex, Johanna 247, 595–596 Kalex, Roman 247, 595 Kalix, Christian 616, 621–622 Kalk, Andreas 86, 255, 503, 506, 510, 545–546, 562, 567, 574, 600, 1006 Kanafolski, Barbara 148–149 Kant, Hermann 83, 434, 438, 445, 452–453, 478, 526, 533, 535, 554 Karrer, Renate 204 Kavan, Jan 294, 430, 681–683, 801 Keller, Dietmar 873, 926–927, 930 Kelly, Petra 71, 115, 209, 224, 260, 289, 318, 320, 427–428, 432, 599, 610, 637, 650, 652, 668–669, 684– 688, 699–700, 724, 726, 728, 773, 803–804, 813, 898–901, 987, 990, 992, 1007, 1032, 1034 Kennedy, Ted 167 Kerbel, Lew J. 312 Kern, Werner 906, 913 Kiechle, Ignaz 469 Kienberg, Paul 113, 205, 214, 315, 405, 440, 512, 1008 Kirchner, Dankwart 147, 692–694, 811–812, 817–818, 840, 857, 1008 Kirchner, Martin 817 Kirsch, Sarah 554–555, 572 Kis, János 294 Klein, Helmut 786 Klein, Manfred 297 Klein, Thomas 68, 223, 286, 292, 333, 341, 377, 732, 735, 753, 755, 959, 984 Klein, Wolfgang 299 Klier, Freya 12, 15, 51, 79, 87–89, 91– 93, 99, 116, 119, 144, 154–155, 158, 160, 168, 236, 249, 319, 440, 454, 470, 488, 500, 531, 557–558, 560, 563–564, 567, 571–572, 576–
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351154 — ISBN E-Book: 9783647351155
Personenregister 578, 581–582, 597, 599–601, 605– 607, 626, 631, 641, 646–648, 658– 659, 661–665, 672, 676, 708, 710– 712, 715–716, 733, 764, 791, 794, 834, 971, 986, 1008–1010, 1024 Klingenberg, Reinhard 380 Knabe, Wilhelm 15, 71, 143, 381, 599, 1009 Kohl, Helmut 10–11, 22, 241, 295, 401, 729, 845, 930 Kohout, Pavel 955 Kołakowski, Leszek 242 Kolbe, Uwe 299, 304, 398, 639, 653 König, Hans-Joachim 193 König, Martin 773 Kopelew, Lew 792 Köpke, Horst 301 Koristka, Christian 140, 215, 466, 476, 519, 539, 564, 613, 615 Korotitsch, Vitali A. 521 Kowasch, Fred 103, 788, 798, 808, 813, 881 Krahl, Toni 526 Krawczyk, Stephan 12, 15, 51, 75–76, 79, 86–87, 89, 91–93, 97, 99, 115– 116, 119, 136, 144, 154, 158–160, 168, 236, 249, 255, 319, 371, 391, 414, 440, 447, 454, 456, 470, 477, 480, 483–484, 488, 500, 507, 531, 555, 560, 562–563, 567, 570–572, 574, 576, 578, 581, 597, 599–602, 605–607, 610, 626, 631, 641, 646– 648, 656, 659, 661–665, 671–672, 708, 715–717, 733, 764, 791, 794, 834, 970–971, 978, 986, 1009– 1010, 1024 Kray, Steffen 815 Krenkers, Brigitte 344, 348, 352 Krenz, Carsten 263, 730, 735, 746, 975–976 Krenz, Egon 39, 79, 86, 91, 106, 108, 153–154, 157, 263, 332, 427, 504, 510, 641, 649, 660, 685, 691, 706,
1051
730, 735, 746, 863, 871, 899, 924, 936, 941, 943–946, 970 Kretschmer, Thomas 151–152 Kriwow, Andrej 375–376, 409–410 Kriwowa, Irina 375, 409–411, 460–461 Krohn, Alexander 975–976 Krone, Tina 959 Krug, Manfred 149 Krumbholz, Reiner 562 Krusche, Günter 63, 82, 95, 123, 220, 233, 419, 430–431, 439–441, 508, 511, 760, 785, 831, 847, 851, 860– 861, 914, 1010 Kuby, Erich 396 Kuczynski, Jürgen 467–468, 730, 737 Kukutz, Irena 15, 99, 690, 707–708, 958, 979 Kulisch, Uwe 85, 143, 382, 437, 562, 597, 639, 653, 659, 1010 Künast, Renate 318–320 Kunert, Christian 572 Kunert, Günter 535, 554 Kunze, Angela 891 Kunze, Reiner 88, 572 Kuroń, Jaćek 242, 294 Kuschel, Horst 205, 214, 232, 427, 460 Küster, Renate 571 Lafontaine, Oskar 636, 650–651, 804 Lambsdorff, Otto Friedrich Wilhelm Freiherr von der Wenge Graf von 155, 611 Laschitza, Annelies 92, 767 Läßig, Jochen 795, 813 Laudien, Ingrid 785, 847, 850–851 Laukner, Wolfram 329–330 Leben, Olaf 199, 208 Lehmann, Theo 60 Lehmann, Uwe 805 Lehmann-Brauns, Uwe 311 Leich, Werner 63, 67, 94–95, 220, 256, 338, 558–559, 586, 1011 Lengsfeld, Philipp 89, 101, 610, 729, 735, 975–976
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351154 — ISBN E-Book: 9783647351155 Persönliches Exemplar für Ilko-Sascha Kowalczuk
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1052
Personenregister
Lengsfeld, Vera 15, 68, 71, 82, 86, 89– 90, 93, 97, 101, 119, 160, 168, 255, 259, 263, 286, 292, 418, 454, 471– 472, 489, 497, 545, 560, 562, 567, 574, 600, 610, 632, 641, 656, 659, 661–662, 664, 671, 674–675, 685, 691, 703, 714–716, 719, 729–730, 735, 834, 959, 971, 975–976, 986, 1011–1012, 1035 Lenin, Wladimir I. 521 Leonardo da Vinci 21 Leprêtre, Jean-Louis 303 Lettau, Reinhard 396 Liebewirth, Gunter 892 Liebknecht, Karl 86, 527–528, 542, 554, 559, 565, 567–569, 571–572, 582, 589, 626–627, 752, 767, 788, 796, 808, 821, 860, 970 Lietz, Heiko 234–235, 766, 789, 805– 806, 1012–1013 Lindemann, Marie-Luise 71, 680, 686, 715, 717, 722, 724, 727, 812, 882, 886, 1013 Lindenberg, Udo 571–572 Lindner, Benjamin 975–976 Linke, Dietmar 706 Lintner, Eduard 395, 400–401, 425, 599, 1013 Lippelt, Helmut 320, 900 Loest, Erich 88, 535, 572 Löffler, Kurt 786, 850–851, 1013 Lölhöffel, Helmut 297, 348 Lorentzen, Jochen 319 Löwenthal, Gerhard 559 Ludewig, Bernd 354, 635 Luther, Horst 85 Luxemburg, Rosa 86, 92, 262, 527– 530, 542, 554, 559, 565, 567–572, 582, 589, 626–627, 752, 767, 796, 808, 821, 860, 970 Maahn, Wolf 571 Maaß, Ekkehard 243, 374, 904–905, 917
Mader, Julius 122 Maffay, Peter 570–573 Magirius, Friedrich 104, 804, 806, 816, 821, 862 Maizière, Lothar de 91, 634, 692, 840 Majd, Ahmad 774 Malý, Václav 762 Mann, Dietmar 616, 623 Männchen, Horst 119, 168, 170, 174, 185, 205, 214, 218, 379 Marenbach, Ilona 478 Maron, Karl 878 Maron, Monika 878 Märtin, Ralf-Peter 307 Marvanová, Hana 800 Marx, Karl 854 Matthies, Frank-Wolf 38, 374, 584 Mayer, Hans 396 Meckel, Markus 62, 112, 979–980 Mehlhorn, Ludwig 15, 120, 144, 206, 236, 242, 336, 358, 374, 628, 711– 712, 724, 756, 801, 855, 870, 956, 988, 1013–1014 Mehr, Max Thomas 302 Meinecke, Ulla 571 Meisner, Joachim 90, 606 Meißner, Herbert 334–335 Merseburger, Peter 299 Metz, Gisela 310, 705–706, 708, 724, 737, 770, 879, 1014 Metz, Johanna 706, 708, 740 Meyer, Thomas 384, 655 Michnik, Adam 242, 294 Micke, Werner 927 Mielke, Erich 38, 75, 77, 79, 83, 93– 94, 107, 113, 119, 154–155, 157– 158, 160, 162, 164, 214, 438, 477– 478, 505, 641, 649, 660, 685, 691, 706, 715, 782, 871, 890, 936, 941, 943, 1014 Miller, Cynthia J. 302 Misselwitz, Hans 562 Misselwitz, Ruth 562, 853
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Personenregister Mißlitz, Frank-Herbert 85–86, 255, 490, 496–497, 545, 560, 562, 567, 574, 581, 597, 640, 645, 659, 1015 Mittig, Rudi 66, 83, 113, 168, 657 Mlynář, Zdeněk 955 Mock, Alois 109 Moderow, Myriam 569, 579 Modrow, Hans 39, 127, 166, 877, 899, 946 Modzelewski, Karol 242 Moldt, Ewald 425 Momper, Walter 829, 834, 843–844, 847, 852, 899, 1004 Müller, Gerhard 415 Müller, Hanfried 65, 327, 369 Müller, Heiner 396, 905, 939 Müller, Herta 396, 572, 712 Müller, Rainer 105, 795, 813 Müller, Silvia 68, 286, 292, 711, 724, 756 Müller, Wilfried 212 Müller-Westernhagen, Marius 571 Müntzer, Thomas 263 Muschter, Gabriele 906, 915 Nagorski, Lutz 73, 99, 286, 318, 635, 640, 653 Natho, Eberhard 676 Nau, Stefan 62 Němcová, Dana 799 Neubert, Ehrhart 125, 167, 874, 884, 956 Neumann, Gert 876 Niebling, Gerhard 109 Niederlag, Wolfram 598 Niederländer, Harald 288 Nitsche, Wolfgang 372, 374 Noske, Gustav 925–926 Noth, Gottfried 122–123 Nustede, Iris 872 Oestreicher, Paul 675, 690 Okudshawa, Bulat 904 Oltmanns, Dietrich 876
1053
Oltmanns, Gesine 105, 790–791, 795, 813, 881 Opitz, Detlef 584, 594, 910–914, 917– 919, 1015 Orth, Manfred 329 Orwell, George 36 Pahnke, Rudi 466–467, 493–495, 639, 653, 853, 956 Palach, Jan 798 Pallagi, Ferenc 109 Palme, Olof 973 Pannach, Gerulf 603 Paroch, Benno 205, 214, 379, 414, 859 Parthey, Knuth 106 Partz, Wolfgang 831 Passauer, Martin-Michael 66, 785, 838– 839, 847, 851, 853, 1015–1016 Patočka, Jan 955 Pawliczak, Lothar 99, 225, 229, 245, 286, 639, 653, 731, 826, 880, 1016 Pech, Cyrill 57, 85 Pelikan, Jiři 655 Pesch, Manfred 724, 727, 732, 735, 752, 756–759, 769, 773, 788, 795, 803, 808, 813, 820, 869, 879, 884, 896, 898, 902, 920 Pettelkau, Ingemar 828–830, 850 Pflugbeil, Sebastian 871, 936 Pietsch, Karl 57 Pinior, Józef 797 Piper, Ernst 306 Plastic People of the Universe, The 800, 955, 960 Plenzdorf, Ulrich 307 Pohl, Johannes 240 Pol Pot 733 Popelka, Jaroslav »Slávek« 800 Popiełuszko, Jerzy 53, 232, 255 Poppe, Gerd 12, 15, 26, 51, 53, 68–69, 71, 73–75, 78, 80, 84–86, 88, 95, 97–100, 115, 119–121, 126, 129– 130, 132, 134, 139, 143–144, 146, 149, 152–153, 159, 167, 169, 225–
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Personenregister
229, 235, 246, 250, 289, 304, 310, 318–322, 327, 336, 344, 349, 352, 356, 358, 362, 369, 374, 376–377, 391–392, 402–404, 406, 412, 415, 418, 422, 437, 456–457, 466, 472, 493, 597, 635–641, 645, 649, 649– 659, 651–659, 661, 665–669, 671– 673, 675, 677–680, 682–686, 697, 699–700, 708–709, 711, 724, 728, 731, 735, 755–756, 758, 761, 764, 766–768, 770, 800–801, 812, 833, 835, 874, 880–881, 886, 888, 898– 899, 935–937, 966, 979, 1016– 1018, 1027, 1032–1033 Poppe, Grit 883 Poppe, Johanna 661, 713 Poppe, Ulrike 12, 15, 51, 68, 71, 75, 78, 82, 85, 95, 99, 115, 120, 125– 126, 129, 144, 146–147, 151–152, 169, 209, 225–227, 286, 290, 304, 310, 318–319, 321–322, 336, 344, 346, 349, 358, 374, 376, 422, 456, 466, 472, 493, 510, 559, 597, 635– 641, 649, 649–659, 661, 665–669, 678–680, 684, 692–694, 710–713, 731–732, 735, 753, 755–756, 764, 766–768, 790, 811–812, 814, 835, 840, 869, 874, 880, 888, 898–899, 956–957, 966, 990, 1016–1018 Pospíchal, Petr 797 Pragal, Peter 300 Prill, Gertraud 207–208 Probst, Lothar 295, 326 Proust, Marcel 35 Przybylski, Peter 92 Rachowski, Utz 572 Rathenow, Bettina 15, 237, 310, 604, 609–612, 875, 957, 1019 Rathenow, Lutz 12, 15, 33, 51, 53, 79, 88, 115–117, 119–120, 125–126, 128, 130, 138, 143–144, 152, 169, 236–238, 254, 256, 285, 297–314, 331, 334, 336, 344–349, 396, 404,
422–425, 429, 433–436, 562–563, 581, 583–586, 599–609, 611, 631– 633, 639, 653, 659, 663, 697–698, 700, 738, 835, 863–868, 870, 875– 878, 890, 892–895, 904–919, 939, 941, 1019–1020, 1027 Rathfelder, Erich 399 Rathke, Heinrich 61–62 Rau, Johannes 262, 759, 767 Rausch, Friedhelm 164–165 Reder, Hans 816–817 Regener, Sven 21 Rehlinger, Ludwig 648, 837 Reich, Jens 871, 898, 926, 930, 936, 939 Reichel, Hubert 585 Rein, Gerhard 786 Reinhold, Otto 262, 384, 446, 526, 759, 766–767, 770–773, 1020 Reiser, Rio 571 Reißig, Rolf 384, 427, 446, 516 Rettner, Gunter 318 Reuter, Wolfgang 815 Richter, Edelbert 222, 235, 870, 872, 881, 956 Richter, Horst-Eberhard 143 Richter, Johannes 804, 806, 816, 821, 862 Rinke, Manfred 259, 344, 349, 381– 382, 595–598, 1020 Röbisch, Helmut 365 Röder, Bettina 665, 1020–1021 Röder, Günter 85 Röder, Hans-Jürgen 298, 338, 665, 707, 1021 Rohde, Martin 152 Röhr, Werner 243 Rölle, Peter 79–80, 85, 223, 229, 333, 344, 348, 355–356, 416, 468, 639, 653, 659, 663, 731, 833, 960–961, 1021 Röntgen, Robert 299 Roolf, Benn 68, 800
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351154 — ISBN E-Book: 9783647351155
Personenregister Rösch, Peter »Blase« 70, 133–134, 143, 380, 598 Rosenthal, Rüdiger 12, 15, 33, 52, 75– 76, 82, 90, 101, 136, 233, 301, 306, 310, 344, 347, 381–383, 501–502, 517, 556, 585, 631–632, 648, 653, 656, 664, 676–677, 716, 765, 1021 Rößler, Jürgen 892 Rothschild, Thomas 302 Ruben, Peter 243 Rüddenklau, Wolfgang 15, 70, 80–81, 85, 139, 144, 239–240, 254, 350– 353, 381–382, 402–403, 415–416, 418, 429–430, 437–438, 446, 448– 451, 503–510, 512, 515, 517, 526, 597, 633, 656, 662, 664, 698, 700, 702–704, 755, 771, 859, 982, 984, 1021–1022 Rudolph, Thomas 104–105, 822 Rudolph, Wolfgang 329 Rust, Mathias 410 Šabatová, Anna 795–802, 955, 1022, 1030 Sacharow, Andrej D. 241, 244, 364, 521, 831, 836, 1022–1023 Sallmann, Michael 572 Samjatin, Jewgenij I. 36 Sarstedt, Wolfgang 789, 815–816 Schabowski, Günter 39, 79, 86, 92, 153, 298, 310, 504, 510, 730, 735, 871, 921, 936, 939, 945–946, 970, 976 Schädlich, Hans Joachim 572 Schädlich, Karl-Heinz 40 Schalck-Golodkowski, Alexander 39 Scharrenbroich, Heribert 400–401, 464–465 Schatta, Mario 107–108 Schäuble, Wolfgang 156, 875 Schedlinski, Rainer 310, 584–585 Schefke, Siegbert 12, 15, 138, 144, 289, 336, 417, 420, 438, 446, 477, 659, 700, 702, 712, 920, 1023
1055
Schenk, Fritz 559 Schenk, Wolfgang 320, 643, 655, 671, 768, 1023 Schewardnadse, Eduard A. 434, 451 Schierholz, Henning 295, 326, 668, 720–721, 729, 1023 Schilling, Walter 60, 62, 911, 920, 967, 972 Schily, Otto 295 Schlegel, Bert 81, 86, 89, 255, 418, 437, 446, 503, 506, 510, 512, 545– 546, 562, 567, 574, 600, 610, 662, 664, 703, 859, 971, 1024 Schmidt, Günter 208 Schmidt, Helmut 721 Schmidt, Max 526 Schmierer, Hans-Gerhart 733 Schmude, Jürgen 427, 652, 721 Schnappertz, Jürgen 288, 295, 344, 346, 348 Schneider, Dirk 319–320, 470 Schneider, Hans-Peter 785, 787, 793 Schneider, Rolf 73, 393 Schnitzler, Karl Eduard von 220, 559, 783, 791–792, 941, 1025 Schnur, Wolfgang 89–91, 96, 99, 125, 154–156, 255, 439, 442, 497, 503– 506, 508–511, 558, 575, 581, 583– 584, 605–606, 631, 637, 650–652, 654, 657, 659–660, 663–664, 685, 687, 689–691, 708, 720–721, 764, 778, 809–812, 814, 825, 828, 835, 839, 850, 853, 884, 956, 1024 Schölzel, Arnold 204 Schönfeld, Sinico 99, 245, 417, 456, 472, 635, 731, 1024 Schönfelder, Andreas 235, 940 Schönherr, Albrecht 65, 526 Schöpflin, György 712, 724 Schorlemmer, Friedrich 62, 66, 73, 111, 700, 877, 956 Schöttes, Heinz Joachim 906 Schramm, Martin 659 Schreiber, Werner 400
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351154 — ISBN E-Book: 9783647351155 Persönliches Exemplar für Ilko-Sascha Kowalczuk
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1056
Personenregister
Schreiner, Klaus Peter 571 Schröder, Richard 66 Schröter, Ulrich 639, 653 Schröter-Chetrit, Rupert 320–321 Schult, Reinhard 12, 15, 68, 75–76, 85, 97–98, 112, 146, 169, 254, 286, 292, 344, 349, 456, 463, 487–500, 639, 653, 656–657, 659, 672, 675, 710, 719, 755, 869, 871, 911, 920, 940, 958–959, 1025, 1032 Schultze, Harry 79, 116 Schulz, Rüdiger »Purple« 571 Schürer, Gerhard 945 Schütt, Hans-Dieter 471–472, 478, 500, 1025–1026 Schwabe, Uwe 12, 15–16, 98, 103, 105, 789, 796, 813, 821–822, 825–826, 881, 1026 Schwan, Heribert 831 Schwanitz, Wolfgang 81, 119, 141, 166, 185, 859 Schwarz, Stefan 392–395, 465, 1017, 1026 Schwarz, Thomas 217, 412–413, 419– 421, 465, 794, 1026–1027 Schwarz, Ulrich 15, 241, 300, 319, 331–338, 344–345, 347, 349, 366– 368, 376, 777–779, 793, 835, 847, 849, 854, 872, 1027 Schwarze, Hanns Werner 526, 570 Schwelz, Ingomar 404, 918, 1027 Seidel, Jutta 869, 957 Seidl, Anni 85 Seigewasser, Hans 123 Seiters, Rudolf 168, 875 Sellentin, Frank 796, 813 Sello, Wolfram »Tom« 12, 16, 143, 712, 755, 771, 984 Semler, Christian 260, 680, 686 Seul, Arnold 302 Shultz, George 104, 434, 451, 788, 808 Simmel, Johannes Mario 396 Simon, Annette 905–906, 913–914
Simon, Hans 70, 80–81, 251, 417, 419–420, 431, 433, 448, 451, 471, 497, 499, 504, 508–509, 511, 815, 982, 1027 Sindermann, Horst 288, 295, 352, 642 Singelnstein, Christoph 692–693, 840, 911, 920 Skála, Dušan 800 Soldat, Hans-Georg 312 Sorgenicht, Klaus 257 Sostschenko, Michail M. 34 Staemmler, Johannes 311 Stahlmann, Richard 40–41 Stalin, Josef W. 26, 760, 796 Starnick, Jürgen 520 Stelzer, Hans-Ehrenfried 39, 630 Stencl, Jiří 800 Stier, Christoph 62 Stieringer, Andrea 425–426 Stiller, Werner 620 Stockmann, Ulrich 336, 657, 881 Stolpe, Manfred 59, 61–62, 66, 91, 96, 154–157, 261, 279, 336, 338, 402, 429–430, 442, 444, 446, 456, 467, 469, 492–494, 497, 508, 517, 531, 534, 567–568, 574–575, 579, 581– 582, 586, 634, 641, 649, 651, 657, 660, 672, 686, 691–692, 705–708, 717, 721, 725, 730, 737, 760, 764, 778, 785–787, 792, 793, 826, 828– 829, 848–851, 853, 860, 876, 911, 920, 933, 945, 967, 989, 1028 Strahl, Rudi 533–534, 554 Strauß, Franz-Josef 355 Strube, Rolf 307 Suhr, Heinz 71, 344, 346–347, 373, 637–638, 650, 1028–1029 Sukowa, Barbara 571 Süssmuth, Rita 401, 836–837, 844–845 Swetuschkin, Sergej 244–245, 375–376, 409 Tarkowskij, Andrei A. 473 Tasić, David 678–679
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Personenregister Tatschke, Igor 448 Teichert, Rüdiger siehe Rosenthal, Rüdiger Teltschik, Horst 401 Templin, Jozek 366–368, 541, 583, 656, 670, 722 Templin, Regina »Lotte« siehe Weis, Regina Templin, Sascha 531, 540–541, 583, 656, 670, 720, 722, 762 Templin, Wolfgang 11–13, 15, 51, 68, 78, 83–86, 88–89, 91, 93, 94, 98, 100–101, 116–119, 130, 134, 136, 142, 144–145, 152, 154, 158–160, 168, 203–266, 286–287, 289, 291, 294, 307, 317–319, 321–327, 331, 333, 335–337, 344–349, 355–356, 361–373, 375–377, 384–386, 396– 399, 400, 402, 409–411, 418, 427– 432, 429, 434, 437–439, 443, 453, 456–461, 466–475, 493, 496, 510, 519–543, 553–555, 572, 582–583, 587–594, 597, 600, 610, 614–616, 625–627, 630, 632, 634–636, 641– 644, 652, 654–659, 662, 664, 670– 671, 674, 685–686, 707, 710–711, 714–715, 720–723, 730, 735, 759– 776, 801, 803–805, 810, 813–814, 820–827, 834, 884–889, 935–937, 952, 966, 970–971, 986, 1016, 1027, 1029–1030, 1032 Thälmann, Ernst 312 Theisinger, Manfred 408 Tichý, Jiří 800 Tiedge, Hansjoachim 616, 624, 629 Timofejew, Lew M. 411 Töpfer, Klaus 520 Totok, Wiliam 572 Trampert, Rainer 320 Tröger, Frank 889 Trolle, Lothar 304, 398, 905 Trotta, Margarethe von 571–572, 767 Trotzki, Leo 26 Tschiche, Hans-Joachim 67, 692
1057
Turek, Rolf-Michael 97, 104–105, 673, 825 Twain, Mark 46 Tzscheutschler, Ernst 595, 597 Uexküll, Jakob von 320 Uhl, Petr 15, 144, 294, 678–680, 682– 683, 762, 795–802, 826, 955, 1022, 1030 Ullmann, Wolfgang 956 Unger, Walter 85 Urban, Jan 144, 801 Vaculík, Ludvík 955 Venske, Henning 571 Vidlářová, Eva 800 Viehmann, Adolf 208 Vogel, Hans-Jochen 573 Vogel, Helmar 315 Vogel, Herbert 315–316 Vogel, Wolfgang 90, 151, 601, 610, 631, 1030–1031 Voigt, Birgit 15, 71, 144–145, 225, 286–296, 512, 637–638, 649, 651– 652, 655, 717, 720, 722, 732–734, 762, 1031 Voigt, Joachim »Putz« 717, 733, 1031 Voigt, Karsten D. 100, 157 Vollmer, Antje 295–296 Vondra, Alexander »Saša« 799 Vydra, Luboš 800 Wagner, Bernd 304, 398 Wagner, Manfred 115 Wagner, Richard 572, 712, 724 Wałesa, Lech 400, 877 Warnke, Jürgen 469 Wawerzinek, Peter 912 Weber, Elisabeth 15, 71, 132, 320, 643, 664, 711, 724–725, 727, 882, 1032 Wecker, Konstantin 571 Wegner, Bettina 1000 Weigel, Hansjörg 111–112
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Personenregister
Weis, Regina »Lotte« 12, 15, 82–86, 88–89, 91–95, 101, 116–1187, 152, 154, 160, 168, 205, 221, 225, 230– 231, 253–255, 258–260, 286, 318, 321, 327, 366–371, 428, 437, 466– 468, 473, 540–541, 553, 583, 587– 589, 600, 610, 614–616, 625, 632, 634–636, 641–644, 652, 654–656, 658–659, 662, 664, 670, 707, 714– 715, 720–723, 730, 735, 759, 762– 763, 773–776, 813–814, 826–827, 834, 886–887, 952, 966, 970–971, 986, 1029, 1032 Weiß, Konrad 956 Weißbach, Dieter 738 Weißhuhn, Reinhard 15, 68, 95, 120– 121, 127, 132, 147, 169, 206, 229, 242, 258, 437–438, 444, 531, 639, 651, 653, 659, 680, 682–683, 692– 693, 711–712, 724, 731, 755–756, 758, 801, 833, 840, 911, 920, 961, 966, 979, 1033 Weisskirchen, Gert 157, 804–805 Welz, Thomas 494–495, 497, 777, 784 Wenderoth, Horst 312 Wendland, Günter 257 Wendler, Frank 380 Wendt, Michael 318–320 Wensierski, Peter 599–603, 775 Werdin, Justus 242 Werthebach, Eckart 218 Wessel, Harald 472 Wetzel, Norbert 317 Wetzky, Mario 99, 222–223, 245–246, 264, 286, 355, 361–362, 377, 639, 653, 731, 1033 Whitehead, John C. 217, 412–413 Wieck, Hans-Georg 167–168 Wiegand, Joachim 787, 890, 932
Wiens, Andreas 540 Wiens, Maja-Michaela 540–541, 730 Wiens, Shenja-Paul 975–976 Wilms, Dorothee 599 Windelen, Heinrich 328 Winters, Peter Jochen 300 Wizisla, Claus-Jürgen 60 Wojtyla, Karol (Johannes Paul II.) 242 Wolf, Christa 41–42, 307, 419, 712, 730, 737, 905–906, 914, 1034 Wolf, Constanze 796, 813 Wolf, Frieder 344, 346, 348, 699, 724– 728, 804, 1034 Wolf, Helga 149, 761, 1034 Wolf, Markus 41, 877, 926, 930 Wolf, Rainer 99, 761–762, 832–833, 1034 Wolf, Wolfgang 98–99, 148–149, 246, 248, 292, 456, 490, 497–498, 632, 656, 673, 732, 761–762, 1034 Wollenberger, Knud 90–91, 246, 286, 292, 497, 632, 671, 674–675, 1011, 1035 Wollenberger, Vera siehe Lengsfeld, Vera Wonneberger, Christoph 104–105, 235, 789, 798, 859, 861–862, 870, 917, 1035 Woronowicz, Ulrich 95 Zappa, Frank 955 Zavrl, Franci 679 Zickler, Jörg »Jolly« 498 Ziegs, Michaela 796, 813 Zimmermann, Falk 99, 477 Zobel, Peter 616, 619 Zönnchen, Karl-Heinz 766 Zupke, Evelyn 107, 147 Zylla, Elsbeth 774
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351154 — ISBN E-Book: 9783647351155
Autorenverzeichnis
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Autorenverzeichnis
Kowalczuk, Ilko-Sascha, geb. 1967, Dr. phil., Historiker, seit 2001 beim BStU, Projektleiter in der Abteilung Bildung und Forschung Polzin, Arno, geb. 1962, Maschinenbauingenieur, seit 1990 beim BStU, Sachbearbeiter in der Abteilung Bildung und Forschung Schmidt, Andreas, geb. 1962, Diplom-Sonderpädagoge, seit 1990 beim BStU, Sachbearbeiter in der Abteilung Bildung und Forschung Schmole, Angela, geb. 1962, Studium der Geschichte und Politikwissenschaften, seit 1992 beim BStU, Sachbearbeiterin in der Abteilung Bildung und Forschung Templin, Wolfgang, geb. 1948, Diplom-Philosoph, 2008–2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Bildung und Forschung beim BStU, 2010– 2013 Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau
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