Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik Alexandra Pesch „Mithin müßen diese Bilder allgemein und schon für sich verständlich gewesen seyn“. (Wilhelm Grimm, 18211)
Vielfach verwickelte Tierfiguren und Muster, darin versteckte Menschen und insgesamt unnatürlich, verworren wirkende Bilddarstellungen: Die germanische Tierornamentik hat im Laufe der Geschichte nicht nur Liebhaber gefunden. Gerade in der Frühzeit der Forschung fand sie zumeist ungnädige Richter. Manches Erzeugnis wurde als „Bauernarbeit“, als „tieferstehende Kunst“2 oder als „eine von guten Mustern abgeirrte, gesunkene aber doch kecke Manier“3 geschmäht. Sogar Bernhard Salin, der als Vater der eigentlichen Tierstilforschung gilt, sprach von einem „unentwickelten Stadium“4 des Stils im Rahmen der spätantiken Bildkunst und bezeichnete ihn sogar insgesamt als „degenerirt“ (Abb. 1).5 Versöhnlicher klingt seine Aussage „… müssen wir die Art und Weise bewundern, wie die Thierbilder den Anforderungen der Zierformen angepasst sind“.6 Auch Bemerkungen wie „zwar barbarisch, jedoch von einer
1
2 3 4 5 6
Grimm über die Tierstilbilder auf Goldbrakteaten, nach Morten Axboe, Klaus Düwel, Wilhelm Heizmann, Sean Nowak, Alexandra Pesch, Aus der Frühzeit der Brakteatenforschung. Frühmittelalterliche Studien 40, 2006, S. 383–462, hier S. 412, S. 424. Sophus Müller, Nordische Altertumskunde 2: Eisenzeit (Strassburg 1898), S. 201. Grimm 1821, nach Axboe u.a., Frühzeit (wie Anm. 1), S. 418. Bernhard Salin, Die altgermanischen Thierornamentik (Stockholm 1904, ²1935, ³1981), S. 205. – Die Begriffe „Tierstil“ und „Tierornamentik“ stehen nebeneinander. Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 211–214. Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 267.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
634
Alexandra Pesch
Abb. 1: Beschlag mit Ornamentik im Tierstil II, nach Salin, Thierornamentik (vgl. Anm. 4) S. 149.
ganz eigenen Schönheit“7 geben dieses verbreitete, zwiespältige Verhältnis vieler Forscher zur Tierornamentik wieder. Oft scheint dabei eine gewisse herablassende Distanz zum Objekt des Interesses durch. Jedoch wurden auf der anderen Seite auch immer die Eigenständigkeit, Innovations- und Imaginationskraft der germanischen Kunst betont. Diese Eigenschaften rückten besonders seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mehr und mehr in einen würdigenden Blickpunkt der Forschung. Geht es um die Frage der Semantik des Tierstils, dann zeigt sich erst recht, wie breit die Ansichten, Lesungen und Deutungen im Laufe der Zeit gefächert waren und noch heute sind. Die germanische Bildkunst erklärt sich nicht von selbst. Aber es sind ja gerade die Rätsel, welche Menschen anziehen und in ihren Bann schlagen. Das Aufspüren und die Entschlüsselung von Geheimnissen sind Triebfedern der Wissenschaft. Je länger ein Thema rätselhaft bleibt, desto mehr Forschungen zieht es an sich. Sind erst einmal genügend, gerne auch kontroverse Thesen vorgebracht und Rätsel gelöst worden, dann entstehen naturgemäß auch wieder neue Fragen, und so lebt das Thema gut gespeist immer weiter fort. Irgendwann ist die relevante Literatur zu einem gewaltigen Berg angewachsen, der von Einzelnen kaum oder gar nicht mehr zu überblicken ist. Dann kann sich die bisherige Anziehung in Abschreckung umwandeln, und viele seriöse Forscher lassen lieber ganz die Finger davon. So aber steht es heute um die germanische Tierornamentik. Es lassen sich gewisse Tendenzen erkennen, die vorhandene Literatur mehr oder weniger vollständig zu ignorieren, stattdessen die Bilder in neo-impressionistischer Weise auf sich wirken zu lassen und bei Lesung 7
Haakon Shetelig, Hjalmar Falk, Scandinavian Archaeology (Oxford 1937), S. 233.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
635
und Deutung assoziativ wieder „bei Null“ anzufangen.8 Alles in allem für die Wissenschaft eine doppelte Katastrophe. In der Tat faszinierte alles, was mit dieser in Motivik, Stil, Verbreitung und Bedeutung durchaus als rätselhaft zu bezeichnenden Äußerung germanischer Vorstellungen und Identität zu tun hat, über Jahrhunderte die Forschung und führte zu einem imposanten Berg einschlägiger Monographien, Artikel, Theorien und Ideen.9 Drei Hauptfragestellungen sind erkennbar: Die erste zielt auf die Typologisierung (auch Herkunft, Verbreitung und Genese) einzelner Bildchiffren, die zweite auf die Datierung der Objekte und Stilphasen und die dritte auf ihre semantische Bedeutung, die Ikonographie.10 So ist es nur natürlich, dass auch das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde von A wie „Adlersymbolik“ bis Z wie „Ziertechniken“ mit unzähligen Beiträgen zum Thema gefüllt ist. Neben den einschlägigen Lemmata versteckt sich vieles auch unter Einträgen, die im ersten Anschein gar
8
9
10
Der frühen Bildforschung des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die allerdings auch noch wenig andere Möglichkeiten hatte, wird eine „impressionistische“, unsystematische und beliebige Art der Bilddeutung nachgesagt. Vgl. Karl Hauck, Bilddenkmäler § 8, B. zur Religion. In: RGA 2 (1976), S. 578: „So unstreitige Verdienste die ältere impressionistische Bildauswertung hat…“. Siehe auch Mats Malmer, Metodproblem inom järnålderens konsthistoria. Acta Archaeologica Lundensia, Series in 8°, No. 3 (Lund 1963), S. 22 f., S. 80–105, S. 115. Dazu der Disput von Egil Bakka, Methodological Problems in the Study of Gold Bracteates. Norwegian Archaeological Revue 1, 1968, S. 5–35, Reply, S. 45–56, hier S. 10, S. 19, und Mats Malmer, Comments. Problems of storage and communication of information in the Study of Gold Bracteates. Norwegian Archaeological Revue 1, 1968, S. 37–44. Mit dem Fortschreiten der Wissenschaft und der Verfeinerung der chronologischen, typologischen und ikonologischen Methoden ist jedoch der „Impressionismus des noch immer weiter wuchernden Bilder-Ratens“ (Hauck, in einem ungedruckten Entwurf von 1995 für einen Beitrag im RGA) als Weg des Erkenntnisgewinns abzulehnen. Überblicke bieten die Beiträge von Helmut Roth und Torsten Capelle, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, C. Kunst“, in: RGA 11 (1998), S. 356–374, und, sieben Jahre später von Hermann Ament und David M. Wilson, Artikel „Tierornamentik“ in: RGA 30 (2005), S. 586–605. Vgl. auch den großen Beitrag „Bilddenkmäler“. In: RGA 2 (1976), S. 540–598. Der Begriff wird in der Archäologie im Allgemeinen verwendet wie „Bilddeutung bzw. -interpretation“. Zur ursprünglich definierten Bedeutung Erwin Panofsky, Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance (New York 1939), S. 6 f., S. 14 f.; Karl Hauck, Artikel „Brakteatenikonologie“. In: RGA 3 (1978), S. 361–400, hier S. 362 f.; vgl. auch Alexandra Pesch, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Thema und Variation. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 36 (Berlin, New York 2007), S. 14 f.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
636
Alexandra Pesch
nichts damit zu tun haben.11 Dies alles angemessen im Rahmen eines kurzen Beitrags zu würdigen, bleibt aussichtslos. Die Menge der einschlägigen Texte und Thesen erklärt sich auch dadurch, dass der Begriff praktisch alle dekorativen Erscheinungen des germanischen Nordens vom 5. Jahrhundert bis in die Wikingerzeit, teilweise bis ins hohe Mittelalter hinein, subsummiert, seien es figürliche Darstellungen, Ornamente oder sonstige Verzierungen. Außerdem beschränkt sich die germanische Bildkunst nicht auf wenige Objektgattungen, Materialien oder Verbreitungszonen: Sie ist eine universell auftretende Kunst, die auf Gebrauchsgegenständen12 platziert worden ist und so als angewandte Kunst die Sachkultur in praktisch allen Lebensbereichen der germanischen Menschen durchdrungen hat. Als Pioniere ihrer Erforschung im 19. Jahrhundert gelten Christian J. Thomsen, Jens J. A. Worsaae, Sophus Müller, Oscar Montelius, Hans Hildebrand und nicht zuletzt Wilhelm Grimm. Die Etablierung und Konsolidierung der modernen Forschung im 20. Jahrhundert ist unter anderem Bernhard Salin, Nils Åberg, Greta Arwidsson, Wilhelm Holmqvist, Mats Malmer, Joachim Werner, Günther Haseloff, Horst W. Böhme, Karl Hauck, Helmut Roth und Torsten Capelle zu verdanken. Trotz ihrer enormen Ausbreitung kennt die Tierornamentik kaum individuelle Züge. Sie folgt vielmehr in ihren Motiven wie auch in deren konkreter Umsetzung dem Stil,13 einem vorgegebenen Regelwerk. Dies ist in der über weite Gebiete und vielen Objektgruppen nahezu gleichförmigen Art der Darstellungen zu erkennen – eben jener, die es ermöglicht, von einem bestimmten Stil zu sprechen. Ausnahmslos in aller Bildkunst spiegeln sich diese Regeln. Daher ist es möglich, trotz der unüberschaubaren Fülle der Tierstilobjekte in den Jahrhunderten ihres Fortbestehens Haupttendenzen und Stilzüge zu beschreiben und so die Charakteristika der germanischen Bildkunst zu definieren. Doch bringen alle Versuche der Klassifizierung Schwierigkeiten mit sich, die gleichsam als Fallstricke fungieren. Die lebendige Tradition14 der Tierornamentik lebte von der Variation. So kennt die Bandbreite der Darstel11
12
13 14
So etwa in den Beiträgen „Chronologie“, „Fahren und Reiten“, „Reliquiare“, „Sakralkönigtum“ oder „Zentralorte“. Siehe die Einzelnachweise im Registerband 2 zum RGA (2008), S. 884 f. Vgl. Günther Haseloff, Die germanische Tierornamentik der Völkerwanderungszeit. Studien zu Salin’s Stil I. Vorgeschichtliche Forschungen 17, 3 Bände (Berlin, New York 1981), Bd. I, S. 3. Zum Stilbegriff siehe Heinrich Beck, Heiko Steuer, Artikel „Stil“. In: RGA 30 (2005), S. 1–16. Vgl. allgemein Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien (München 2000).
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
637
lungen innerhalb einer Stilrichtung immer auch Ausreißer und „Exoten“, die sich nicht mehr reibungslos in das Gesamtbild einfügen. Bei allen Klassifizierungsversuchen ist daher mit einer gewissen Unschärferelation15 zu arbeiten. Diese muss zwar die Festlegung auf bestimmte Definitionen ermöglichen, aber doch Varianten und Ausnahmen zulassen. Ebenso gefährlich stellt sich das Bemühen um das Verständnis der Bildbedeutungen dar. Hier schlittert man geradezu auf Glatteis. Denn die notwendigen Kontexte zur Deutung der Bilder fehlen zunächst, vor allem aufgrund der altbedauerten Tatsache, dass die Germanen der Nachwelt selbst keine ausführlichen Texte über sich selbst, ihre Bilder und die hinter ihnen liegenden Vorstellungen hinterlassen haben. So sind die Bildkontexte nur in einem mühsamen, interdisziplinären Zusammenspiel der Auswertung verschiedener Quellengattungen zu rekonstruieren,16 und auch das naturgemäß nur mit größeren Unsicherheiten und Unschärfen. Wenn im Folgenden dennoch der Versuch unternommen wird, einen Überblick über den Stand der Forschung, über Herkunft, Charakteristika und Genese sowie die Möglichkeiten zur Entschlüsselung der germanischen Bilder zu geben, dann kann dies nur in überaus verkürzter, ja im Grunde unzulässig simplifizierter Form geschehen, als skizzenhafter Entwurf über die Welt der germanischen Bildersprache im Laufe der Jahrhunderte.17
15
16 17
Zur Unschärfe Heiko Steuer, Datierungsprobleme in der Archäologie. In: Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung. Abhandlungen des Vierten Internationalen Symposiums über Runen und Runeninschriften in Göttingen vom 4. – 9. August 1995, hrsg. von Klaus Düwel, Sean Nowak. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 15 (Berlin, New York 1998), S. 129–149, hier S. 146; vgl. Pesch, Thema und Variation und Variation (wie Anm. 10), S. 26. Dazu unten mehr. Der Text folgt in einigen Zügen meinen Beiträgen: Germanische Tierstilkunst. Charakteristik und Wege zur Deutung. Die Kunde 58, 2007, S. 221–236, sowie Iconologia sacra. Zur Entwicklung und Bedeutung der germanischen Bildersprache im ersten Jahrtausend. In: Glaube, Kult und Herrschaft. Phänomene des Religiösen im 1. Jahrtausend n. Chr. in Mittel- und Nordeuropa, hrsg. von Uta von Freeden, Herwig Friesinger und Egon Wamers. Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte Band 12 (Bonn 2009), S. 203–217; vgl. auch Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 360–391. – Vgl. zur Forschungsgeschichte Karen Høilund Nielsen und Siv Kristoffersen, Germansk dyrestil (Salin I–III). Et historisk perspektiv. Hikuin 29, 2002, S. 15–74; Charlotte Behr, Forschungsgeschichte. In: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Auswertung und Neufunde, hrsg. von Wilhelm Heizmann, Morten Axboe. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 40 (Berlin, New York 2011), S. 153–229.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
638
Alexandra Pesch
Die Vorgeschichte In dem Kontakt und der Auseinandersetzung mit dem römischen Imperium begann um die Zeitenwende für das germanische Barbaricum eine Epoche der Innovationen. Die Anfänge sind heute beispielsweise noch an den neuen Grabsitten der frühen germanischen Eliten erkennbar: Römische Ton- und Metallgefäße, Kleidungsbestandteile, Militaria und andere Gegenstände gelangten bei den Germanen schon seit dem ersten Jahrhundert zu solcher Beliebtheit, dass sie diese sogar noch als Totenausstattung mit sich nahmen. Die Grabgruppen von Lübsow, Hagenow oder dem dänischen Hoby zeugen davon,18 dass Besitz von exklusiven Fremdgütern für die frühen germanischen Oberschichten offenbar eine große Rolle spielte. Die römische Geschichtsschreibung steckt ebenfalls voller Hinweise auf ein vielfach friedliches Nebeneinander bis hin zu einem gegenseitigen Durchdringen der Kulturen. Offenbar durchliefen germanische Männer in großer Zahl den Dienst in den römischen Söldnerarmeen.19 Auch andere Möglichkeiten der Erziehung und Ausbildung im Reich wurden gerne genutzt – Arminius war kein Einzelfall. Gleichzeitig aber ist auch immer wieder von kleineren Kriegszügen germanischer Gruppen in römisches Territorium und von und größeren kriegerischen Auseinandersetzungen die Rede. So erscheint das Barbaricum nicht als geschlossener Kulturraum, sondern als ein politischer 18
19
Allgemein zu den „Fürstengräbern“ Heiko Steuer, Henrik Thrane, Otto Herman Frey, Michael Gebühr und Torsten Capelle, Artikel „Fürstengräber“. In: RGA 10 (1998), S. 168–220; Heiko Steuer, Fürstengräber, Adelsgräber, Elitegräber: Methodisches zur Anthropologie der Prunkgräber. In: Herrschaft – Tod – Bestattung. Zu den vor- und frühgeschichtlichen Prunkgräbern als archäologisch-historische Quelle. Internationale Fachkonferenz Kiel, hrsg. von Claus von Carnap-Bornheim, Dirk Krausse, Anke Wesse. Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie aus dem Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Kiel 139 (Bonn 2006), S. 11–26; Claus von Carnap-Bornheim, Zwischen Anpassung und Widerstand? Überlegungen zu den Fürstengräbern der römischen Kaiserzeit im Barbaricum. In: Herrschaft – Tod – Bestattung (wie Anm. 18), S. 111–126; Angelika Abegg-Wigg und Andreas Rau (Hrsg.), Aktuelle Forschungen zu Kriegsbeuteopfern und Fürstengräbern im Barbaricum. Internationales Kolloquium Schleswig Juni 2006. Schriften des Archäologischen Landesmuseums, Ergänzungsreihe Band 4 (Neumünster 2008). Zum Elitebegriff siehe auch Heiko Steuer, Artikel „Häuptling, Häuptlingtum“. In: RGA 13 (1999), S. 291–311, hier S. 291 f. Horst Wolfgang Böhme, Germanen im Römischen Reich. In: Menschen Zeiten Räume. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung in Berlin und Bonn (Stuttgart 2002), S. 295–305; Birger Storgaard, Kosmopolitische Aristokraten. In: Sieg und Triumpf. Der Norden im Schatten des römischen Reiches, Katalog des dänischen Nationalmuseums (Kopenhagen 2003), S. 106–125.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
639
Flickenteppich. Denkbar, dass ein germanisches Gefolgschaftswesen,20 also die Möglichkeit, sich als Krieger immer wieder neuen Herren anzuschließen und so auch die politischen Einheiten immer neu zu mischen, die Etablierung dauerhafter Machtverhältnisse und größerer staatlicher Strukturen mit einheitlicher politischer Richtung verhinderte. Insgesamt aber ist die Orientierung an der römischen Welt spürbar. Warum auch immer einzelne Germanen im Reich gewesen waren, aus der Ferne zurückgekehrt brachten sie neben interessanten „Souvenirs“ auch ihre Eindrücke und Erinnerungen, neue Kenntnisse, Fertigkeiten und Wertvorstellungen mit. Damit einher ging die schrittweise Entstehung einer neuen Identität.21 Dies war allerdings keine römische Identität: Denn die Grabinventare der beiden ersten Jahrhunderte mit der typischen Mischung aus einheimischen Waren und römischem Importmaterial unterstreichen nicht nur die Kontakte, die Hinwendung der Bestatteten zur römischen Welt, sondern sie zeigen vor allem, dass die germanischen Eliten damit eine eigene, gemeinsame Formensprache entwickelt hatten. Dies ist anhand der in Süddänemark, Norddeutschland und dem Elbe-Saale-Raum im Wesentlichen gleichen Grabsitten und auch anhand gut vergleichbarer Fundstücke zu folgern. Die Bestatteten müssen also bereits untereinander in engem Kontakt und Austausch gestanden und eine Art Konsens gefunden haben:22 Mit der „Sprache“ ihrer Inventare hatten sie eine noch heute sichtbare, eigene Ausdrucksform geschaffen und pflegten offenbar ein gemeinsames Verständnis ihres Daseins. In der früheren Forschung wurde die These vertreten, dass grundsätzlich die kaiserzeitlichen Germanen jegliche Bilder abgelehnt hätten.23 In der Tat waren die ersten vier Jahrhunderte noch relativ bilderarm – jedenfalls nach der Aussage des bisher bekannten archäologischen Fundmaterials. Doch 20
21
22 23
Allgemein dazu Heiko Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 128 (Göttingen 1982), hier besonders S. 54–58, S. 523 f. Vgl. Joachim Werner, Das Aufkommen von Bild und Schrift in Nordeuropa. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Sitzungsberichte 1966, Heft 4 (München 1966). Vgl. Storgaard, Aristokraten (wie Anm. 19). Vgl. Hans Zeiß, Das Heilsbild in der germanischen Kunst des frühen Mittelalters. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl., Sitzungsberichte 1941 II/8 (München 1941), S. 6; Werner, Aufkommen (wie Anm. 21), S. 4 f.; Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12) I, S. 3 f.; Ruth Blankenfeld, Der bildfeindliche Germane? In: Innere Strukturen von Siedlungen und Gräberfeldern als Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit. Akten des 57. Internationalen Sachsensymposiums, hrsg. von Christoph Grünewald und Torsten Capelle (Münster 2007), S. 99–107.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
640
Alexandra Pesch
Abb. 2: Das Motiv des gehörnten Pferdes lässt sich in der Germania langfristig nachweisen. a Gürtelblech aus Hagenow, spätes 1. Jahrhundert (vgl. Anm. 24), Detail-Umzeichnung Paula Haefs; b langes Horn von Gallehus, um 400 (vgl. Anm. 45), Detail nach Paulis Stich; c Inneres Bildfeld des Goldbrakteaten IK 144 aus Holmetorp, 5. Jahrhundert (nach IK, vgl. Anm. 64); d Pferdchenfibel aus Gotland, 5./6. Jahrhundert, nach Hauck, Sievern (vgl. Anm. 123), S. 411. Alle ohne Maßstab.
reichen nicht nur die geistigen Wurzeln der Tierornamentik bereits in diese Zeit hinein, sondern es lassen sich auch typische Motive bis hierhin zurückverfolgen. So taucht etwa das gehörnte Pferd, auf den Goldbrakteaten des 5./6. Jahrhunderts als Kernsymbol der Darstellungswelt bekannt, bereits um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert auf einem Prunkgürtel aus Hagenow auf (Abb. 2).24 Sind dies noch vereinzelte Blitzlichter einer neu entstehenden 24
Hans-Ulrich Voß, Artikel „Hagenow“. In: RGA 13 (1999), S. 350–352; siehe auch Alexandra Pesch, Gehörnte Pferde, Elitenkommunikation und synthetische Tradition
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
641
Identität, so begannen die Germanen spätestens im 3. Jahrhundert mit einer ausgeweiteten eigenen Bildproduktion. Im Umkreis der Eliten sind die ersten herausragenden Zeugnisse germanischer Bildproduktion anzutreffen. Diese greift zwar auf imperiale Bildvorlagen bzw. -chiffren zurück, gestaltet diese aber um und setzt sie in neue Zusammenhänge.25 Dieses Vorgehen sollte auch für die kommenden Jahrhunderte typisch bleiben. So reifte eine ganz eigene Bildersprache heran, die sich im Laufe der Zeit unter immer neuen Rückgriffen auf andere Bilderwelten und die damit verbundenen Änderungen motivischer und darstellerischer Details im Norden bis in das hohe Mittelalter hinein behauptete. Es ist kein Zufall, dass bereits im ersten Jahrhundert auch die Runenschrift erfunden worden ist.26 Als künstliche Schöpfung auf der Basis lateinischer und griechischer Alphabete zeugt auch sie einerseits von der römischen Bildung der Erfinder,27 anderseits von deren Wunsch nach Abgrenzung und eigener Identität. Sie beweist auch, dass es bereits in dieser frühen Phase nicht nur gute überregionale Kontakte der Eliten gegeben hat, welche die rasche Verbreitung der Runenschrift ermöglichten, sondern dass auch so viel Macht in ihren Händen lag, dass sie
25
26
27
am Beginn germanischer Bildkunst. In: Das Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander von Kulturen. Zur Archäologie wechselseitiger Beziehungen im 1. Jahrtausend n. Chr., hrsg. von Babette Ludowici, Heike Pöppelmann. Neue Studien zur Sachsenforschung 2, 2011, S. 9–17. Karl Hauck, Zur Ikonologie der Goldbrakteaten X: Formen der Aneignung spätantiker ikonographischer Konventionen im paganen Norden. Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 23. Simboli e simbologia nell’alto medioevo (Spoleto 1976), S. 81–106; Hayo Vierck, Imitatio imperii und interpretatio Germanica vor der Wikingerzeit. In: Les Pays du Nord et Byzance (Scandinavie et Byzance), hrsg. von Rudolf Zeitler. Acta Universitatis Upsaliensis, Figura, Nova Series 19 (Uppsala 1981), S. 64–101; Morten Axboe, Anne Kromann, DN ODINN P F AVG? Germanic „Imperial Portraits“ on Scandinavian Gold Bracteates. Acta Hyperborea 4 (1992), S. 271–305; Torsten Capelle, Artikel „Germanien, Germania, Germanische Altertumskunde, § 40 Die jüngeren Kunststile“. In: RGA 11 (1998), S. 368–374, hier S. 327 f.; vgl. auch schon Peter V. Glob, Über C-Brakteaten. Acta Archaeologica (Kopenhagen) 8, 1937, S. 275–278, hier S. 277. Klaus Düwel, Wilhelm Heizmann, Das ältere Fuþark – Überlieferung und Wirkungsmöglichkeiten der Runenreihe. In: Das fuþark und seine einzelsprachlichen Weiterentwicklungen. Akten der Tagung in Eichstätt vom 20. bis 24. Juli 2003, hrsg. von Alfred Bammesberger, Gaby Waxenberger. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 51 (Berlin, New York 2006), S. 3–60. Wilhelm Heizmann, Zur Entstehung der Runenschrift. In: Zentrale Probleme bei der Erforschung der älteren Runen. Akten einer internationalen Tagung an der Norwegischen Akademie der Wissenschaften, Osloer Beiträge zur Germanistik, hrsg. von John Ole Askedal, Harald Bjorvand, James E. Knirk (Frankfurt/Main a. M. 2010).
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
642
Alexandra Pesch
überhaupt ein einziges System durchsetzen konnten, mit dem sie gleichzeitig die Ausbreitung anderer Schriftsysteme verhinderten. Es blieb also nicht bei der reinen Sammlung römischer Originale. Schon seit dem späten 1. Jahrhundert lässt sich ein Mischhorizont nachweisen, in dem Römisches und Germanisches nicht nur im selben Fundkomplex, sondern auch am selben Objekt feststellbar ist. Berühmte Zeugnisse dafür sind die beiden Zierscheiben aus dem großen Mooropferplatz von Thorsberg (Schleswig-Holstein).28 Hier wurden um das Jahr 200 zahlreiche Waffen und andere Objekte verschiedener Herkunft niedergelegt. Die beiden einer wahrscheinlich provinzialrömischen Werkstatt entstammenden Phalerae schmückten ursprünglich als Orden oder Ehrenzeichen die Brust eines erfolgreichen Soldaten. Doch auf eine der Zierscheiben wurden nachträglich neue Tierfiguren aufgebracht. Ihr Stil unterscheidet sich deutlich von dem Reliefstil der römischen Figuren. Seit langem wird die Herkunft der Thorsberger Zierscheibe, die nun römische und germanische Eigenarten in handwerklicher und motivischer Hinsicht mischt, diskutiert:29 Handelt es sich um ein römisches Importobjekt, um ein Stück römischer Handwerker in germanischen Diensten oder etwa um ein rein germanisches Stück in der Nachahmung römischer Vorbilder, möglicherweise angefertigt von germanischen Handwerkern, die in römischen Werkstätten gelernt hatten? Offenbar waren germanische Handwerker nicht nur bei den Römern in die Lehre gegangen, wo sie sich Techniken z.B. der Edelmetallverarbeitung angeeignet hatten, sondern sie hatten begonnen, ihr Wissen auch zur Gestaltung eigener Produkte nach eigenen Vorstellungen zu nutzen. Dass sie dabei römische Waren, zum Beispiel auch Münzen, Schmuck oder Metallbehälter als Rohstoffe verwendeten, zeugt für ihre wachsende innere Unabhängigkeit von der Ausstrahlung der römischen Welt. 28
29
Eva Nyman, Claus von Carnap-Bornheim, Artikel „Thorsberg“. In: RGA 35 (2007), S. 123–127; Joachim Werner, Die beiden Zierscheiben des Thorsberger Moorfundes. Ein Beitrag zur frühgermanischen Kunst- und Religionsgeschichte. Römisch-Germanische Forschungen 16 (Berlin 1941); Claus von CarnapBornheim, Neue Forschungen zu den beiden Zierscheiben aus dem Thorsberger Moorfund. Germania 75, 1997, S. 69–99. von Carnap-Bornheim, Neue Forschungen (wie Anm. 28); vgl. Claus von CarnapBornheim, Nithijo und Saciro. Einige Bemerkungen zum Verhältnis von römischem und germanischem Feinschmiedehandwerk in der jüngeren römischen Kaiserzeit. Archäologie in Schleswig 3, 1993, S. 49–53; Claus von Carnap-Bornheim, The Social Position of the Germanic Goldsmith A. D. 0–500. In: Roman gold and the development of the early Germanic kingdoms. Aspects of technical, sociopolitical, socio-economic, artistic and intellectual development, A.D. 1–550. Kungliga Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien (KVHAA) Konferenser 51 (Stockholm 2001), S. 263–278.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
643
Bald schon wurden in weiten Regionen nicht-römische Symbole geschaffen und verwendet. Es entfaltete sich eine regelrechte „Pressblechkultur“. In diesem Rahmen entstanden Zierbeschläge für Gürtel oder Pferdezaumzeug aus Bunt- und/oder Edelmetall. Sorgfältig gestaltete Tierfiguren in Pressblechfeldern wie etwa auf den Gürtelteilen aus Neudorf-Bornstein und ihren Verwandten aus Ejsbøl lassen zwar noch gut römische Tierfriesfiguren als ursprüngliche Vorlagen erahnen, doch viele Elemente weisen die Bildträger als einheimische Erzeugnisse aus.30 Das kauernde Tier, in den Tierstilen insgesamt ein Hauptmotiv, erscheint hier erstmals regelhaft, wenn auch noch selten. Aus Inventaren reicher Gräber wie Himlingøje (Dänemark) oder Gommern,31 stammen auch Applikationen und vollplastische Ringobjekte mit einer besonderen Vogel- bzw. Vogelkopf-Symbolik (oft auch als „Schlangenkopfringe“ bezeichnet) (Abb. 3).32 Die Ähnlichkeit dieser Objekte untereinander erweist die Stücke nicht nur als Ausdrücke in derselben Bildersprache, sondern damit auch als Funktionsträger im Rahmen der Elitenkommunikation. Mobilität, internationale Bezüge und der Aufbau der eigenen Identität sind die Voraussetzungen dafür in der kaiserzeitlichen Germania. Auch die „Medaillon-Imitationen“ des Nordens sind Beispiele dieser Entwicklung (Abb. 4).33 Diese goldenen Anhänger des vierten Jahrhunderts sind formal in ihren Formen und Motiven als Kopien römischer Schmuckmünzen und Ehrenabzeichen erkennbar.34 Sogar die lateinischen Buchsta30
31
32 33
34
Claus von Carnap-Bornheim, Zu den Prachtgürteln aus Ejsbøl und Neudorf-Bornstein. In: Sieg und Triumpf (wie Anm. 19), S. 240–245; Angelika Abegg-Wigg, Zu den Grabinventaren aus den „Fürstengräbern“ von Neudorf-Bornstein. In: Herrschaft (wie Anm. 18), S. 279–298. Ulla Lund Hansen, Marie Stoklund, Artikel „Himlingøje“. In: RGA 14 (1999), S. 538–548; Mario Becker, Artikel „Gommern“. In: RGA 12 (1998), S. 395–399; siehe auch Ulla Lund Hansen et al., Himlingøje – Seeland – Europa. Ein Gräberfeld der jüngeren römischen Kaiserzeit auf Seeland, seine Bedeutung und internationalen Beziehungen (København 1995); Gold für die Ewigkeit: Das germanische Fürstengrab von Gommern. Begleitband zur Sonderausstellung vom 18.10.2000 bis 28.02.2001 im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale), hrsg. von Siegfried Fröhlich, Manuela Sailer (Halle/Saale 2001). Ulla Lund Hansen, in: Lund Hansen et al., Himlingøje (wie Anm. 31), S. 206–212. Allgemein siehe Morten Axboe, Om forholdet mellem medaillon-efterligninger og brakteater, eller: Hvad var der i Gudme guldrum? In: Vi får tacka Lamm, hrsg. von Bente Magnus, Carin Orrling, Monika Rasch, Göran Tegnér. The Museum of National Antiquities, Stockholm. Studies 10 (Stockholm 2001), S. 39–46; Morten Axboe, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Herstellungsprobleme und Chronologie. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 38 (Berlin, New York 2004), S. 208 f.; Morten Axboe, Brakteatstudier. Det Kongelige Nordiske Oldskriftselskab. Nordiske fortidsminder Serie B, Bind 25 (København 2007), S. 93–98; Kartierung bei Pesch 2007 (wie Anm. 10), S. 373 ff., dazu auch S. 54 f. Peter Berghaus, Artikel „Goldmedaillons“. In: RGA12 (1998), S. 343–345; Alek-
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
644
Alexandra Pesch
Abb. 3: Schlangenkopfring aus Schweden, 3. Jahrhundert. Nach Salin, Thierornamentik (wie Anm. 4) S. 181. Originalbreite 4 cm, H 2,8 cm.
a
b
Abb. 4: Medaillon-Imitation IK 3 aus Åk, Norwegen, 4. Jahrhundert. a Avers mit Kopf im Profil, Vogelfigur und unlesbaren Kapitalis-Imitationen sowie b Revers mit zwei Figuren am Tropaion und imitierter Kapitalis-Umschrift (nach IK, vgl. Anm. 64). Originaldurchmesser 3,0 cm.
sander Bursche, Roman Gold Medaillons as Power Symbols of the Germanic Elite. In: Roman Gold (wie Anm. 29), S. 83–102.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
645
ben der Vorbilder sind übertragen, wobei oft allerdings nur unlesbare Zeichen entstanden sind. Doch handelt es sich trotz der Nachahmungen römischer Bilder bei den germanischen Objekten nicht um plumpe 1:1-Kopien. Es sind also keine intendierten Fälschungen. Nicht nur die Herstellung war eine völlig andere, sondern auch motivisch variieren sie die Vorlagen, indem sich auf ihnen beispielsweise Elemente unterschiedlicher Vorbilder mischen und ihre Chiffren durch neue Elemente angereichert werden.35
Die Frühzeit Zur Zeit der ersten Hunnenzüge am Ende des 4. Jahrhunderts, als sich auf dem Kontinent das römische Imperium nach und nach auflöste und die politischen Karten dort neu gemischt wurden, sind erstmals breitere Ansätze einer überregionalen und speziell germanischen Kunstentwicklung sichtbar. Die auf dem Kontinent mit erheblichen Unruhen verbundene Völkerwanderungszeit brachte im relativ ruhigen Norden Europas das Aufblühen einer einzigartigen Kultur, die sich archäologisch durch eine Vielzahl von charakteristischen Formen und Objektarten definieren lässt. Der sogenannte „Sösdala-Stil“ floriert in Südskandinavien zu Beginn der Völkerwanderungszeit.36 Produkte mit dieser speziellen Ornamentik stammen aber auch von Fundorten in England, Norwegen, Mittelschweden, Norddeutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien und dem Baltikum, sie kennzeichnen also bereits weitgehend die Hauptverbreitungsgebiete der späteren Tierornamentik in ihren nördlichen und östlichen Bereichen. Charakteristisch dabei ist die Stempelung bzw. Punzung entlang der Ränder und auf den Achsen der Objekte mit Dreiecken, Sternen, Kreisen, Kreisaugen, Punkten, Halbkreisen und Kreuzen. Für die Stempelungen lassen sich keine direkten römischen Vorbilder aufführen. Der Stempelstil darf also als genuin germanische Ausdrucksform bezeichnet werden. Seine einzelnen Zeichen bleiben auch später in der germanischen Kunst wichtig. Ebenso nehmen Tierkopfprotomen, plastisch geformte Objektspitzen oder -enden in Tierkopfform sowie die Formen der damals verwendeten Bügelfibeln schon spätere Motivkonventionen vorweg. Silberblechfibeln (Abb. 5) und vor allem auch Teile vom Pferdezaumzeug gehören zu den wichtigsten Fundgruppen mit Sösdalastil. 35 36
Allgemein Hauck, Bilddenkmäler (wie Anm. 8); Vierck, Imitatio (wie Anm. 25); Morten Axboe, Anne Kromann, DN Odin (wie Anm. 25). Dazu Helmut Roth, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, C. Kunst“. In: RGA 11 (1998), S. 356–368, hier S. 362 f.; Anna Bitner-Wróblewcka, From Samland to Rogaland (Warszawa 2001), besonders S. 89 f.; Storgaard, Aristokraten (wie Anm. 19), S. 123 f.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
646
Alexandra Pesch
Abb. 5: Silberblechfibel aus Sejlflod, Nordjütland, frühes 5. Jahrhundert, in typischer Grundform und mit reicher Stempelornamentik sowie der Darstellung zweier Vierfüßer auf der Kopfplatte. Nach Bente Magnus, Ørnen flyr – om Stil I i Norden. Hikuin 29, 2002, S. 105–118, hier S. 109. Originalhöhe 17,4 cm.
Es handelt sich ausschließlich um hochrangige Qualitätsprodukte, die auch als Statussymbole gelten – in der Nachfolge etwa der Vogel- bzw. Schlangenkopfringe. Ungefähr zur selben Zeit, etwa seit dem letzten Drittel des 4. Jahrhunderts und besonderes im 5. Jahrhundert, war mit den Kerbschnittbronzen37 37
Horst Wolfgang Böhme, Artikel „Kerbschnittbronzen“. In: RGA 16 (2000), S. 456–462; Horst Wolfgang Böhme, Zum Beginn des germanischen Tierstils auf dem Kontinent. In: Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie, Festschrift für Joachim Werner, hrsg. von Georg Kossack, Günter Ulbert (München 1974), Teil II, S. 295–308; Horst Wolfgang Böhme, Bemerkungen zum spätrömischen Militärstil. In: Zum Problem der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte. Akten des 1. Internationalen Kolloquiums in Marburg an der Lahn, 15.–19. Februar 1983, hrsg. von Helmuth Roth (Sigmaringen 1986), S. 25–50; Böhme, Germanen (wie Anm. 19); Günther Haseloff, Zum Ursprung der germanischen Tierornamentik. Frühmittelalterliche Studien 7, 1973, S. 406–442.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
647
Abb. 6: Zwei lanzettförmige Riemenzungen, “Kerbschnittbronzen“ des 4./5. Jahrhunderts, mit plastischen Randtieren und gekerbten Musterfeldern. Linkes Stück aus Aquileia, Österreich, Originalhöhe 7,3 cm, rechtes Stück aus der Prov. Namur, Belgien, Originalhöhe 7,6 cm. Beide nach Salin, Thieroranmentik (wie Anm. 4) S. 121.
eine Objektgruppe verbreitet, die für die folgende Entwicklung vielleicht noch wesentlicher ist als der Stempelstil. Diese oft mehrteiligen, mit tief eingeschnittenen bzw. eingekerbten Musterfeldern verzierten Gürtelgarnituren aus Bunt- oder Edelmetall waren kennzeichnende Ausrüstungsgegenstände der Söldner im römischen Heer (Abb. 6).38 Typisch sind kurvolineare und florale Motive, die als Ranken, Spiralhaken (Akanthus), Perlstabmuster (Astragale) oder Palmetten bezeichnet werden. Bei gegeneinandergelegten Haken entstehen auch Formen wie Herzen, Pelten oder Mäander. Gerne sind die Kerbschnitte zu Kreuzen, Swastiken oder Mehrfachwirbeln kombiniert. Vor allem an den Rändern der Objekte tragen sie oftmals halbplastische Tiere oder Tierfriese mit Löwen, Greifen, Delphinen und Mischwesen wie Seegreifen und Seelöwen.39 Diese Elemente sind auch andernorts für die spätantik-römische Bilderwelt typisch. Dazu gehört auch das Motiv des menschlichen Kopfes zwischen zwei 38 39
Böhme, Germanen (wie Anm. 19). Alexandra Pesch, Artikel „Mischwesen“. In: RGA 20 (2002), S. 61–73.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
648
Alexandra Pesch
Tieren: Es ist in vielen Fällen eine Darstellung des römischen Meeresgottes Oceanos, der von zweien seiner Seetiere flankiert wird. Diese intensivieren seine Gegenwart durch ihre machtvolle Anwesenheit. Solche Motive galten als glückbringend. Es wurde ihnen eine magische Wirksamkeit zum Schutz und für den Erfolg des Trägers zugemessen.40 Obwohl die heutige Forschung davon ausgeht, dass die Gürtelgarnituren in römischen Waffenfabriken angefertigt worden sind, fehlen in der klassischen Antike die direkten Vorbilder ebenso wie die Abnehmer für solche Kerbschnittobjekte. Offenbar hatte sich in den Grenzregionen des Imperiums bei den Söldnern und den bereits romanisierten Völkern eine kulturelle Eigenart herausgebildet, die römische und germanische Elemente umfasste und diese im Kunsthandwerk zu vereinen verstand. Auf diese Weise fanden einerseits die antiken Bildvorlagen, andererseits aber auch germanische Vorlieben Eingang in eine neue Objektwelt. Letztlich drückt sich also ein romanisiert-barbarischer Geschmack in den Kerbschnittbronzen aus. Ob sich römische Handwerker auf diesen Geschmack spezialisiert hatten oder ob nicht vielmehr Germanen selbst, die sich nicht nur als Krieger, sondern auch als Feinschmiede im Heer verdienten, die Stücke angefertigt haben, wird diskutiert. So sind die Kerbschnittbronzen auch als Zeugnisse der Mischkultur in den Grenzregionen zu sehen. In der Region des Elbe-Weser-Dreiecks tauchen seit den frühen Jahren des 5. Jahrhunderts und bis zu seiner Mitte flächenfüllende Kerbschnittdekore auf sächsischen Fibeln auf, kombiniert mit plastischen bzw. halbplastischen Tierfiguren oder Tierköpfen am Rand.41 Hier findet sich also auf nun in rein germanischem Umfeld die glückbringende „Seewesen-Fauna“ der Kerbschnittbronzen wieder. Der als „sächsischer Reliefstil“ oder manchmal auch als „spätrömischer Stil“ bezeichnete Dekor ist nicht nur auf Metallobjekten überliefert. Seit einigen Jahren sind die Grabfunde aus der Fallwart in Wremen, Landkreis Cuxhaven, bekannt, wo durch einen Glücksfall der Überlieferungsbedingungen kerbschnittverzierte Holzmöbel ergraben und konserviert werden konnten (Abb. 7).42 Die Übertragung der Kerbschnitttechnik auf das neue Medium Holz ist als Leistung der germanischen Hersteller zu würdigen. 40 41 42
Bernard Andreae, Delphine als Glückssymbole. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 51–56; Böhme, Bemerkungen (wie Anm. 37), S. 49. Hermann Ament, Artikel „Tierornamentik, Germanische, § 1–6“. In: RGA 30 (2005), S. 586–597, hier S. 588 f. Jürgen Udolph, Mathias D. Schön, Klaus Düwel, Artikel „Wremen“. In: RGA 34 (2006), S. 244–251; Mathias D. Schön, Der Thron aus der Marsch. Ausgrabungen an der Fallward bei Wremen im Landkreis Cuxhaven I. Museum Bad Bederkesa. Begleithefte zu Ausstellungen 1 (Bremerhaven 1995).
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
649
Abb. 7: Hölzerner Klotzstuhl (Thron) aus Wremen (vgl. Anm. 42) mit Kerbschnittverzierungen. Originalhöhe 65 cm. Umzeichnung von Marlene Loevenich. Nach Torsten Capelle, Die Sachsen des frühen Mittelalters (Stuttgart 1998), S. 22.
Der sächsische Reliefstil kann als spezielle Ausprägung des Nydamstils gesehen werden. Diese große Stilphase mit weiträumiger Verbreitung ist als Zeichen eigenständiger Kunstproduktion ganz nach germanischem Geschmack zu bezeichnen.43 Der Nydamstil, benannt nach dem KriegsbeuteOpfermoor im süddänischen Jütland, verbreitete sich seit dem späten 4. Jahrhundert und vor allem im 5. Jahrhundert in Südskandinavien und in den angrenzenden Regionen. Er zeugt von einem großen Aufbruch in der Kunst, von der Entstehung einer regelrechten Bildersprache, die nun mehr und mehr Objektgattungen und Bereiche erobert. Dieses Phänomen kann kaum ausreichend mit dem nachlassenden römischen Import in den Jahren der Unruhe erklärt werden. Eher scheint eine gestärkte Verbundenheit der bildschaffenden Eliten Anlass zu dieser Entwicklung gegeben zu haben. 43
Günther Haseloff, Bild und Motiv im Nydam-Stil und Stil I. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 67–110; Roth, Germanen (wie Anm. 36), S. 363 f.; Jan und Güde Bemmann, Der Opferplatz von Nydam. Die Funde aus den älteren Grabungen: Nydam I und Nydam II (Neumünster 1998), S. 233–240; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 599.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
650
Alexandra Pesch
Auch im Nydamstil sind die flächenfüllenden Kerbschnittverzierungen noch üblich, die Spiralranken und -haken, Mäander, Dreiecke, Voluten, Palmetten und Perlstabmuster bilden. Übernommen wurde auch die glückbringende Seewesen-Fauna der römischen Kerbschnittbronzen. Sie erscheinen hier in Form von Randtieren mit Fischleib oder seeschlangenartig eingerolltem Körper. Überhaupt spielen Tierfiguren eine größer werdende Rolle, sie sind immer häufiger anzutreffen und nehmen an Variantenreichtum und auch an Volumen im Gesamtbild zu. Selten jedoch handelt es sich um zoologisch gesehen reale Arten. Hauptsächlich treten Mischwesen der antiken Seefauna auf. Neu hinzu kommen allerdings auch Wesen aus Tierkörpern mit menschlichen Köpfen oder Händen. Diese „Tiermenschen“,44 bald ein charakteristisches Element der Tierornamentik, finden in der antiken Kunst keine direkten Vorbilder. Viele Besonderheiten der Formen und Motive werden erprobt, die auch später noch lange Zeit als typische Elemente der Tierstile erhalten bleiben. Die Wirkung der Bilder kann von schwarz gefärbten Silbereinlagen, den Nielloverzierungen (Schwefelsilber), unterstützt werden. Auch Stempelmuster, wie sie für den Sösdalastil typisch waren, treten noch auf und zeugen von einer synthetischen Fortentwicklung der regionalen Bildkunst. Die Motivik des Nydamstils zeigen auch die beiden Goldhörner von Gallehus (Südjütland).45 Obwohl die einst zusammen fast 7 kg wiegenden Hörner heute nur noch durch Zeichnungen erhalten sind, zählen sie zu den hochkarätigsten Produkten germanischer Bildkunst. Ihr reichhaltiges Bildprogramm mit menschlichen Figuren und Tieren, vor allem aber auch wieder mit Mischwesen – darunter Seewesen mit Menschenköpfen, Menschen mit Tierköpfen oder klassische Mischwesen wie Kentauren und Kynokephale –, bildet im zeitlichen Horizont um 400 ein in dieser Komplexität einzigartiges Ensemble. Doch lassen sich viele Details mit Motiven und Chiffren anderer Bildträger vergleichen, die zeigen, dass sich diese Gallehus-Hörner trotz ihrer zweifellos herausragenden Stellung und ihres exorbitanten Wertes gut in die allgemeine Entwicklung der germanischen Bildersprache einpassen (vgl. Abb. 2b).46 Das 5. Jahrhundert ist bis zu seiner Mitte vom Nydamstil geprägt. Objekte wie die Goldhörner zeigen nicht nur, dass der Zustrom an Gold in die Germania reichhaltig floss, sondern auch, dass die Eliten den Reichtum zu 44
45 46
Günther Haseloff, Kunststile des frühen Mittelalters (Stuttgart 1979), S. 42 f.; Günther Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12), S. 111–141, S. 707; Günther Haseloff, Bild und Motiv (wie Anm. 43), S. 89–95. Morten Axboe, Hans Frede Nielsen, Wilhelm Heizmann, Artikel „Gallehus“. In: RGA 10 (1997), S. 330–344. Stine Wiell, Christian Adamsen, Giv et glimt tilbage. Skalk 2007/1, S. 14 f.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
651
bündeln und zu nutzen verstanden. Ihre immer einheitlicher werdende, überregionale Bildersprache hatte sich als Spiegel und Ausdruck der Elitenidentität durchzusetzen begonnen. Dabei ist schon in den frühen Phasen germanischer Kunstentwicklung deutlich, dass immer wieder Anregungen „von außen“ analysiert und aufgegriffen worden sind, die zur Entwicklung der typischen Stilphasen in synthetischer Weise mit älteren Konventionen und eigenen Vorstellungen zusammengebracht wurden. Ein fließender Übergang ist in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zu jener Stilphase zu verzeichnen, die als erste nun beinahe in der gesamten Germania auftritt und die auch wirklich mit dem Begriff „Tierornamentik“ bezeichnet wird. Vorher hatten sich im England des späten 4. Jahrhunderts, wo die letzten römischen Truppen allmählich abgezogen waren, vor allem im 5. Jahrhundert immer mehr Angeln, Sachsen und Jüten neue Siedlungsareale erschlossen. Dort entstand alsbald auf Gürteln und Fibeln der „quoit brooch style“ als Spielart des Nydamstils. Optisch dem kontinentalen Nydamstil in vieler Hinsicht ähnlich, zeigen sich doch technische Unterschiede zu diesen Produkten, die auf eine selbständige Herstellung dieser Stücke in den neuen Siedlungsgebieten schließen lassen.47 Außerdem verwendet der Stil bereits Elemente des Tierstils I. Dies macht ihn zu einem echten Übergangsphänomen. Enge Verwandte seiner Tiere finden sich in Skandinavien, beispielsweise auf dem Goldhalskragen von Ålleberg (dazu unten). Insgesamt ist das Bemühen um eine gemeinsame Formensprache zwischen den insularen und den kontinentalen Germanengruppen deutlich sichtbar.
Tierstil I In der Mitte des 5. Jahrhunderts steigerte sich die germanische Bilderproduktion explosionsartig.48 Die germanische Welt erscheint, gemessen an den relativ bilderarmen vier Jahrhunderten vorher, plötzlich als eine regelrechte Bildkultur. Eine Fülle an neuen Motiven und Formen markiert den endgültigen Aufbruch in ein neues Kunstschaffen:49 Praktisch alles, was 47
48
49
Peter Inker, Technology as Active Material Culture: The Quoit-Brooch Style. Medieval Archaeology 44, 2000, S. 25–52; David M. Wilson, Artikel „Tierornamentik § 7. Britain“. In: RGA 30 (2005), S. 597–605, hier S. 598. Helmut Roth, Kunst und Handwerk im frühen Mittelalter. Archäologische Zeugnisse von Childerich I. bis zu Karl dem Großen (Stuttgart 1986), hier S. 137, S. 139; Claus von Carnap-Bornheim, Zur Übernahme und Verbreitung innovativer Techniken und Verzierungsgewohnheiten bei germanischen Fibeln – eine Skizze, Forschungen zur Archäologie im Land Brandenburg 5, 1998, S. 467–473, hier S. 469; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 587. Vgl. Werner, Aufkommen (wie Anm. 21), besonders S. 38 f.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
652
Alexandra Pesch
verziert werden konnte und dieses auch wert war, wurde mit Bilddarstellungen versehen, Schmuck, Waffen, Kleidungsbestandteile, Textilien, Haushaltsgefäße, sogar Häuser und Schiffe. Als Vorlagen waren nach wie vor römische Münzen und Medaillons von großer Bedeutung. Ebenso wurde auch die Kerbschnitttechnik weiter gepflegt. Doch die Bilder entfernten sich mehr und mehr von ihren Vorlagen. So wurden etwa die Seewesen sämtlich durch Vierbeiner ersetzt. Sie eroberten die Mitte der Bildflächen.50 Überhaupt spielen Tierfiguren nun eine Hauptrolle, indem sie nicht nur immer häufiger anzutreffen sind, sondern auch an Variantenreichtum und vor allem an Volumen im Gesamtbild zunehmen. Die Bezeichnung „Tierstil“ bzw. „Tierornamentik“ ist also berechtigt, wenn sie auch unterschlägt, dass zahlreiche Menschendarstellungen existieren.51 Selten sind jedoch die Wesen zoologisch gesehen als „reale“ Arten ansprechbar. Vielfach treten auch Mischwesen antiker Tradition auf.52 Dazu kommen Mischwesen aus Tierkörpern, die mit menschlichen Köpfen oder Händen versehen sind. Viele dieser Tiermenschen finden eben in der Antike keine direkten Vorbilder. Sie scheinen genuin germanischen Vorstellungen zu entsprechen. Zu den frühesten Zeugnissen mit Tierstil-I-Darstellungen gehören die drei schwedischen Goldhalskragen (vgl. Abb. 8a, 8b).53 Auf diesen exquisit gearbeiteten Stücken reihen sich Tier-, Menschen-, Mischwesenfiguren und Masken hintereinander. Dabei wird die für die germanische Bildersprache so charakteristische Vorliebe für das Tier als Hauptmotiv besonders deutlich. Zwar lassen sich einige der Tiere nach ihren biologischen Arten bestimmen (z.B. Pferd, Eber, Hirschkuh), doch war diese Bestimmbarkeit vielleicht weniger von Interesse als die Anwesenheit von Tieren als solchen. Tiere und Mischwesen sind hier als Teilnehmer an einem religiösen Geschehen, als Träger und Vermittler einer Heilsbotschaft von Bedeutung.54 Obwohl vor allem bei den Tierfiguren des ältesten Kragens (Ållebergkragen) noch die typologische 50 51
52 53
54
Roth, Kunst und Handwerk (wie Anm. 48), S. 136; Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12) I, S. 27 ff., II, S. 706; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 589 f. Allgemein zum Begriff Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 214–245; zu den Menschendarstellungen Torsten Capelle, Die verborgenen Menschen in der germanischen Ornamentkunst des frühen Mittelalters (Lund 2003). Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12) I, S. 13, S. 111–131; Roth, Kunst und Handwerk (wie Anm. 48), S. 142 ff.; Alexandra Pesch, Mischwesen (wie Anm. 39). Jan Peder Lamm, Artikel „Goldhalskragen“. In: RGA 12 (1998), S. 335–343. Der Kragen von Ålleberg gilt auch als Erzeugnis des Nydamstils, vgl. Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12), S. 232 f., zeigt aber auch Kriterien von Stil I. Dazu gehören die Konturlinien. Dazu demnächst Alexandra Pesch, in: Alexandra Pesch, Maiken Fecht, Jan Peder Lamm, Die Macht der Tiere. Völkerwanderungszeitliche Goldhalskragen und die Prinzipien der germanischen Kunst, in Vorbereitung.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
653
Abb. 8a: Die drei schwedischen Goldhalskragen der Völkerwanderungszeit. Zwischen den aus drei, fünf bzw. sieben Goldröhren zusammengesetzten und reich mit aufgeschobenen Zierwulsten und -drähten geschmückten Kragen aus Ålleberg (links), Färjestaden (rechts) und Möne (unten) befinden sich Reihen von applizierten Tierfiguren, Mischwesen und Masken. Foto: Sören Hallgren/Statens Historiska Museum, Stockholm.
Verwandtschaft zu römischen Tierfriesen erkennbar ist, zeigen sie doch bereits wichtige Detailkriterien, die sie als echte Produkte des Tierstils erweisen. Denn wie in jedem Kunststil unterliegen im Tierstil I die Darstellungen ganz bestimmten Regelkriterien. Ein Stil55 lässt sich als Summe von Gestaltungsmerkmalen beschreiben, die öffentlich sind, die von allen akzeptiert und rezipiert werden, und die von den Handwerkern bzw. Künstlern56 als Grundlage ihrer Arbeiten genommen werden. Nicht die Natur lieferte den Künstlern also ihre Vorlagen, und auch ihre Phantasie war nicht gefragt, sondern allen wichtig waren ihre hervorragende, gelehrte Kenntnis der Re55 56
Beck, Steuer, Stil (wie Anm. 13). Zum Künstler-Begriff allgemein Torsten Capelle, Handwerker – Kunsthandwerker – Künstler? Fragen zur Begriffsbestimmung und zu Ausdruckmitteln anhand ur- und frühgeschichtlichen Fundmaterials. Boreas 5, 1982, S. 164–171; Roth, Kunst und Handwerk (wie Anm. 48), besonders S. 34 ff.; Torsten Capelle, Germanen (wie Anm. 36), S. 356; Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 361f.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
654
Alexandra Pesch
Abb. 8b: Vorderteil der linken Kragenhälfte des Goldhalskragens von Ålleberg. Links sind die drei Mittelwulste des Kragens mit applizierten menschlichen Vollfiguren erkennbar. Im Bildausschnitt sind sechs Tierfiguren von insgesamt 62 in den beiden Röhren-Zwischenräumen des gesamten Kragens erkennbar, die, jeweils ein gleiches Paar bildend, hintereinandergereiht sind. Ein Pferd führt die beiden Reihen an und wird, getrennt von einem Feld mit zwei mal zwei anthropomorphen Gesichtern bzw. Masken, von einem Eber und einem rückwärtsblickenden Tier, der Hirschkuh, gefolgt. Foto: nach Pesch et al., Goldhalskragen (wie Anm. 54).
geln des allgemein anerkannten Tierstils und die Fähigkeit, diese konkret auf den Bildträgern umzusetzen. Als erster formulierte Bernhard Salin zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Regeln dieses Tierstils I. Erkennungskriterien waren dabei vor allem Detailbeobachtungen. So wies Salin darauf hin, dass die Köpfe der Tiere zumeist eine u-förmige bzw. halbrunde Augeneinfassung besitzen sowie ein gerades oder rundliches Kinn (Abb. 9).57 Auch sind die Tierkörper nicht reliefartig plastisch herausgearbeitet, wie dies für die römischen Vorbilder typisch war. Vielmehr werden sie als Flächen abgebildet, die, um erkennbar zu bleiben, von Konturlinien umgeben sind. Die Innenflächen können dann schraf57
Vgl. Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 222 Fig. 515; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 590–593.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
655
Abb. 9: Die berühmte Zusammenstellung verschiedener Tierköpfe im Stil I von Bernhard Salin. Gemeinsamkeiten sind trotz Variantenreichtums erkennbar, genauso wie die Entwicklung zu immer längeren Maul- oder Schnabelpartien. Nach Salin, Thierornamentik (wie Anm. 4), S. 222.
fiert sein. Überhaupt treten häufig Schraffuren oder andere ornamentale Flächenverzierungen auf. Darüber hinaus gibt der Tierstil bestimmte Detailkomponenten vor. Die Tiere werden gewissermaßen nicht als Ganzes angelegt, sondern sie werden aus fünf Komponenten zusammengesetzt. Diese sind Kopf, Hals, Schulter mit Vorderbein, Rücken und Hüfte mit Hinterbein (Abb. 10). Doch sind die Komponenten der Tiere manchmal in unnatürlicher Reihenfolge zusammengefügt. Es können auch Komponenten fehlen oder zusätzliche auftauchen, man spricht dann von Tiersalat. Die Komposition der Tierkörper ist also rein addierend.58 Sie werden allerdings auf den Objekten nach und nach gedehnt, immer länger gezeichnet und bald ineinander und in sich selbst geflochten. So gewinnen sie stärkeren Ornamentcharakter. Anthropomorphe Figuren sind im Tierstil I oft nur schwer erkennbar, obwohl sie recht häufig auftreten. Wie die Tiere sind sie aus einzelnen Komponenten zusammengefügt. Auf Fibeln und Preßblechbeschlägen etwa werden sie dann aber durch Verdrehen, Dehnen und Verflechten der Einzelteile im Bildzusammenhang geradezu versteckt.59 Zu den schönsten und in der Literatur ausgiebig gewürdigten Funden mit Tierstil I-Darstellungen gehören die Prachtfibeln vom „jütländischen Typ“ (Abb. 11).60 Die massiven, großen Gewandspangen sind sowohl in ihren 58
59 60
Haseloff, Kunststile (wie Anm. 44), S. 42–51; Roth, Kunst und Handwerk (wie Anm. 48), S. 139; Roth, Germanen (wie Anm. 36), S. 358 f., S. 366 f.; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 590, S. 593 f. Capelle, Verborgene Menschen (wie Anm. 51). Siehe besonders Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12), I, S. 18–173, II, S. 707 f.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
656
Alexandra Pesch
Abb. 10: Die fünf typischen Komponenten, aus denen Tiere im Stil I zusammengefügt sind: a vollständiges Tier von der Donzdorf-Fibel (siehe Abb. 11a), b Kopf, c Hals, d Schulter mit Vorderbein, e Rücken und f Hüfte mit Hinterbein. Nach Haseloff, Kunststile (wie Anm. 44) S. 18.
Grundformen als auch in den Darstellungen recht einheitlich gestaltet, was bei einer Verbreitung von Norwegen bis in die Schweiz erstaunt. Sie tragen Randtiere wie auch zentrale, meist verschlungene Tier- und Menschenfiguren, die heutigen Betrachtern im ersten Eindruck fremd, ja unverständlich erscheinen und oft überhaupt nur schwer zu erkennen sind. Doch fällt die verblüffende Homogenität der Gruppe auf, die einzelnen Exemplare zeigen untereinander viele Ähnlichkeiten: Sie variieren in den Formen und Motiven charakteristische Details, so als wären sie alle Angehörige einer großen Familie. Diese Variation von grundsätzlich offenbar feststehenden, vorgegebenen Motiven und Darstellungsregeln zeugt von der lebendigen Tradition, die sich in der kunstvollen Umgehensweise mit diesen Regeln ausdrückt und bei der jeder Hersteller als hochgebildeter Spezialist seinen Anteil hatte am Gesamtphänomen des Tierstils. Nicht anders ist dies bei den in der Mitte des 5. Jahrhunderts aufkommenden Goldbrakteaten.61 Das sind kleine, runde Amulettanhänger aus goldenem Pressblech (Abb. 12). Ihre Darstellungen sind für heutige Betrachter 61
Im RGA unter anderem in den Lemmata „Bilddenkmäler“, „Brakteaten“, „Goldbrakteaten“, „Mischwesen“ und „Sakralkönigtum (§ 22)“ behandelt.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
a
b
657
c
Abb. 11: Drei Fibeln vom sogenannten jütländischen Typ, mit zahlreichen Tierfiguren, Tiermenschen sowie Maskendarstellungen in „Rundeln“ auf den Kopf- und Fußplatten. a Fibel aus Donzdorf, Kr. Göppingen; b Fibel aus Basel-Kleinhüningen; c Fibel aus Bifrons, Kent. Umzeichnungen nach Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12) S. 42, 46 und 47. Ohne Maßstab (Originalhöhe der Donzdorf-Fibel 13 cm).
weitaus einfacher zu lesen, hier wird keine Figur so versteckt wie bei den eben genannten Fibeln. Trotzdem erfüllen auch ihre Darstellungen die Salinschen Kriterien des Tierstils. Die Brakteaten gehören als Amulette mit Götterbilddarstellungen in einen sakralen Bereich, wenn sie auch als Zeichen hohen Status getragen worden sind. Das gleiche gilt für die Goldhalskragen mit ihren ebenfalls gut erkennbaren Einzelbildern und später auch für die Goldblechfigürchen, den sogenannten gubber.62 Möglich, dass für solche Darstellungen der Götterwelt andere Regeln bezüglich der Bildgestaltung galten, als für die eher weltlich gesehenen Fibeln, oder dass auf den Fibeln gewisse Tabus die Bildauswahl beschränkten und das Verstecken bzw. „Ver62
Allgemein dazu Margrethe Watt, Artikel „Gubber“. In: RGA 13 (1999), S. 132– 142; Margrethe Watt, Die Goldblechfiguren (‚guldgubber‘) aus Sorte Muld. In: Der historische Horizont der Götterbild-Amulette aus der Übergangsepoche von der Spätantike zum Frühmittelalter. Bericht über das Colloquium vom 28.11.–1.12. 1988 in der Werner-Reimers-Stiftung, Bad Homburg, hrsg. von Karl Hauck (Göttingen 1992), S. 195–227.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
658
Alexandra Pesch
a
b
c
d
Abb. 12: Völkerwanderungszeitliche Goldbrakteaten. Die gezeigten Amulette des 5. und 6. Jahrhunderts repräsentieren die vier Typen A bis D, in die Goldbrakteaten anhand ihrer Motive unterschieden werden: a IK 254 Geltorf-A mit einem anthropomorphen Haupt im Profil; b IK 71 Raum Hamburg-B mit einer menschlichen Vollgestalt, hier mit Randtieren; c IK 37 Büstorf-C mit einem menschlichen Haupt über einem Vierbeiner und d IK 471 Nørre Hvam-D mit einem greifenartigen, in sich selbst verschlungenen Mischwesen. Fotos: Archäologisches Landesmuseum Schloss Gottorf.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
659
klausulieren“ der Bilder nötig machten.63 Jedenfalls lassen sich bei den Brakteaten die noch – oder wieder – römischen Darstellungen verpflichteten Chiffren und Motive erkennen. Viele ihrer Bilder gehen direkt auf römische Münzbilder zurück. Doch was im Gegensatz zu der klassischen Reliefkunst römischer Münzen regelrecht barbarisch anmutet und wenig gekonnt, wie dies ja auch als Manko von der älteren Forschung immer wieder betont worden ist, erweist sich bei näherer Betrachtung als Produkt einer sorgfältigen Analyse und Rezeption der römischen Bilderwelt unter Verwendung eigener Techniken, Ideen, Motiven, Chiffren und eben Darstellungsregeln. Eine solche Umgestaltung konnte nicht ohne ein tiefes Verständnis ihrer Vorbilder möglich sein. Sie setzt bei den Herstellern, den Konzeptionisten und Goldschmieden – in diesem Fall den sogenannten „Brakteatenmeistern“,64 ein hohes Maß an Wissen und Können voraus. Seien es Fibeln, Brakteaten oder sonstige Bildträger, es war nur mit Vorkenntnissen und Erfahrung möglich, diese sorgfältig komponierten Bilder richtig zu lesen und zu verstehen. Denn wenn damals auch die Menschen mit dem Tierstil vertraut waren, so setzen gerade die Kürzungen in Verbindung mit der Zerlegung in Komponenten Spezialwissen voraus. Viele Bilder fordern gleichsam die Betrachter zur Entwirrung und Entschlüsselung auf, sie spielen mit den komplizierten Regelvorgaben des Stils und mischen die Komponenten zu immer neuen und scheinbar individuellen Bilddarstellungen. In der schriftlosen Zeit war dies für die Betrachter solcher Bilder sicherlich nicht nur eine Art denksportlicher Herausforderung, sondern geradezu ein „intellektuelles Vergnügen“.65 Generell sind viele Bilder im Tierstil durch die Zerlegung der Figuren in Detailkomponenten, durch die Zersplitterung der Formen, durch Verflechtungen und Verstecken einzelner Elemente wie auch durch die symmetrische Gesamtkomposition der Bilddarstellungen nicht mehr auf Anhieb zu lesen. Darüber hinaus kennt der Tierstil viele verkürzte Darstellungen, bei denen nur einzelne Komponenten einer Figur abgebildet werden. Mit einer natural63 64
65
Vgl. Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 385. Siehe dazu: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. Bd. 1,1 Einleitung, Bände 1,2–3,2 Ikonographischer Katalog. Münstersche Mittelalter Schriften 24,1,1–24,3,2, hrsg. von Karl Hauck, Morten Axboe, Klaus Düwel, Lutz E. von Padberg et al. Münstersche Mittelalter Schriften 24,1,1–24,3,2 (München 1985– 89), hier IK 1, Einleitung, S. 18; Sean Nowak, Schrift auf den Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. Untersuchungen zu den Formen der Schriftzeichen und zu formalen und inhaltlichen Aspekten der Inschriften. Dissertation Göttingen, 2003, im Internet abrufbar unter: http://webdoc.sub.gwdg.de/diss/2003/nowak/index.html (letzter Zugang August 2011), siehe dort S. 23–29 mit weiterer Literatur. Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 594.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
660
Alexandra Pesch
istischen Darstellung oder einem natürlichen organischen Zusammenhang hat dies nichts zu tun. Doch handelt es sich auch weder um einen Ausdruck der Unfähigkeit der Hersteller, noch um „freie Kunst“, wie dies im ersten Anschein auf heutige Betrachter wirken mag. Der so verspielt wirkende Tierstil ist alles andere als beliebig. Er tritt von Anfang an als durch und durch organisierte Erscheinung auf. Seine Regeln zu beherrschen, erforderte ein hohes Maß an Kenntnissen, die sich nicht jeder Hufschmied kurzfristig aneignen konnte. Spezialisten mit hoher Mehrfachqualifikation waren die Garanten der Tierstiltradition (dazu unten). Das Verbreitungsgebiet des Tierstils mit seiner Kernregion in Südskandinavien (vor allem in Dänemark und Südschweden), der Nordseeküstenregion und Südostengland, umfasste bereits im späten 5. Jahrhundert auch weite Teile von Norwegen und Finnland und reichte im kontinentalen Süden – wenn auch nicht flächendeckend – bis zum Donauraum.66 Im Tierstil sprechen die germanischen Völker in ihrer Bildkunst eine gemeinsame Sprache.67 Die Angehörigen der Eliten, welche die Objekte mit Tierstilbildern trugen und diese für ihre Repräsentation als Zeichen ihres hohen Status nutzten, korrespondierten gewissermaßen untereinander in der Bildersprache der Prunkobjekte. Damit fungierte die Tierornamentik auch als germanisches „Corporate design“.68 Dieser moderne Terminus meint ein Rahmenwerk aus vorgegebenen Formen, Motiven und Stilregeln zur Auswahl und Gestaltung von Bildern und Texten. Indem sich möglicherweise unterschiedliche, aber doch zusammengehörige Gruppen (heute beispielsweise grundsätzlich unabhängige Abteilungen einer großen Firma) solchen gemeinsamen Regeln unterwerfen, wirkt ein Corporate design nach außen als Selbstdarstellung einer zwar vielfältigen, aber geschlossenen agierenden Einheit, und darüber hinaus auch nach innen als Medium der Identifizierung. In ihrer sichtbaren Reglementiertheit ist die germanische Bildersprache als Ausdruck einer gemeinsamen Eliten-Identität zu verstehen.69 Generell sind ja Bilder identitätsstiftend 66
67 68 69
Bitner-Wróblewska (wie Anm. 36); Margit Nagy, Tierdarstellungen und der germanische Tierstil I im Gebiet der mittleren Donau (Budapest 2007). – Haseloff (wie Anm. 12) unterschied mehrere Stufen im Stil I, die er mit A–D bezeichnete. Da diese aber nur als Varianten mit minimalen Unterschieden angesehen werden und grundsätzlich auch keine zeitliche Abfolge repräsentieren, sind sie hier zu vernachlässigen. Doch sei erwähnt, dass der Stil I insgesamt nicht nur ein höchst komplexes, sondern eben auch ein dynamisches System von Motiven, Chiffren und Detailkriterien darstellt. Noch lange sind nicht alle seine Randerscheinungen, Stilstufen, lokalen Besonderheiten und Inhalte erforscht. Vgl. Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 587. Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 387 f. Vgl. Christoph Huth, Menschenbilder und Menschenbild. Anthropomorphe Bildwerke der frühen Eisenzeit (Berlin 2003), S. 11, S. 21, S. 25 f.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
661
und fungieren als verbindende Glieder von Gruppen.70 In der frühmittelalterlichen Germania des Nordens, wo neben dem Tierstil gleichzeitig keine anderen Bildersysteme entwickelt oder genutzt wurden und auch Schriften als Mittel der Kommunikation weitgehend fehlten, waren Bilder der wichtigste, authentische Ausdruck der allgemeinen Kultur, im Sinne von Weltanschauung, Religion und gesellschaftlicher Ordnung. Als Medien internationaler Elitenkommunikation spiegeln sie soziale Beziehungen. Gleichzeitig sind sie auch sichtbarer Ausdruck einer gemeinsamen ideologischen Basis der Gesellschaft. Über deren Größe wie auch ihre konkreten Inhalte lässt sich allerdings heute wenig sagen, was wiederum auch an dem immer wieder beklagten Fehlen erläuternder Schriftquellen liegt.
Tierstil II Im späten 6. Jahrhundert lässt sich eine neue Phase der Tierornamentik definieren: der „Tierstil II“.71 Die germanischen Darstellungen erscheinen in grundsätzlicher Weise verändert. Mit Bernhard Salin sind neue Detailkriterien gegenüber der älteren Stilphase zu benennen: Die Augeneinfassungen der Tierköpfe werden nun nicht mehr rundlich, sondern eckig bzw. rechtwinklig dargestellt, und die Tiere zeigen das charakteristische spitze Kinn (Abb. 13). Außerdem haben auch vierbeinige Tiere oft eine lange Schnauzenpartie, die eingerollt sein kann wie ein Raubvogelschnabel. Diese Detailkriterien sind, obwohl sie nicht wirklich bei jedem einzelnen Objekt auftreten, bei der Bestimmung nach wie vor hilfreich. Doch treten sie heute meistens hinter einer neuen Definition der Stilphasen zurück. Diese arbeitet mit dem Kompositionsprinzip des Gesamtbildes.72 Im Stil II werden Köpfe und andere Tierkomponenten nicht mehr rein additiv zusammengestellt, sondern in ein Bandgeflecht integriert. Dieses erscheint optisch ausgewogen, es ist als primäre Flächenfüllung symmetrisch angelegt. Die Tierkomponenten werden sekundär den Schlingungen des Bandgeflechtes zugeordnet, wobei diese oft die Körper der Tiere bilden.73 Egil Bakka beschrieb dieses Kompo70
71 72
73
Heiko Steuer, in Beck, Steuer, Stil (wie Anm. 13), S. 14 ff.; Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 362–367; Charlotte Behr, Using bracteates as evidence for long-distance contacts. In: Incipient Globalisation? Long-distance contacts in the 6th century, hrsg. von Anthea Harris, British Archaeological Reports International Series, Reading Medieval Studies 32 (Oxford 2006), S. 15–25. Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 245–271; vgl. Roth, Germanen (wie Anm. 36), S. 366. Greta Arwidsson, Vendelstile. Email und Glas im 7.–8. Jahrhundert. Valsgärdestudien 1 (Uppsala 1942); Haseloff, Kunststile (wie Anm. 44), S. 43 f.; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 590. Anthropomorphe Gestalten unterliegen auch im Stil II denselben Kriterien wie die Tiere.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
662
Alexandra Pesch
Abb. 13: Zusammenstellung verschiedener Tierköpfe im Stil II von Bernhard Salin. Als typisches Detailkriterium gilt das spitze Kinn. Erkennbar ist auch die Verlängerung der Augenumrandung nach vorne/oben oder hinten/unten. Nach Salin, Thierornamentik (wie Anm. 4), S. 246.
sitionsprinzip als ‚organisierten Rhythmus‘.74 Oft sind die Tiere dabei nur inkomplett gezeichnet, es fehlen Gliedmaßen an den langen, bandförmigen und verflochtenen Körpern. Generell wirken die Stil II-Bilder bewegter, dynamischer als die Vorfahren im Stil I. Flechtbandmotive hielten damit erstmals in großem Maße Einzug in die Germania. Doch liegen ihre Wurzeln wiederum in der antiken Bilderwelt. Als einfache und komplexe Formen waren sie in Antike und Frühmittelalter zum Beispiel an Bauwerken, auf Mosaiken oder Sarkophagen ausgesprochen beliebt. Sie wurden als unheilabwehrende und glückbringende Zeichen verwendet und versprachen Hilfe gegen Unfälle oder böse Mächte. Auch Knoten- und Schlingenmuster gehören in diesen Zusammenhang. Teils als „byzantinisch“ bezeichnet,75 teils auch als koptisches Element angesehen,76 74
75 76
Egil Bakka, On the Beginning of Salin’s Stil I in England. Universitetet i Bergen, Årbok 1958, Historisk-antikvarisk rekke (Bergen 1958), hier S. 3; vgl. Roth, Germanen (wie Anm. 36), S. 366. Haseloff, Kunststile (wie Anm. 44), S. 38, S. 42 f. Wilhelm Holmqvist, Kunstprobleme der Merowingerzeit. Kungliga Vitterhets Historie och Antikvitetets Akademiens Handlingar 47 (Stockholm 1939).
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
663
war die Flechtbandornamentik doch ein weit verbreitetes Phänomen, das vor allem im gesamten nördlichen und östlichen Mittelmeerraum auftrat. Auch im Rahmen der Missionierung Europas erfreute sie sich zu verschiedenen Zeiten großer Beliebtheit. Der Tierstil II erscheint als eine Synthese aus dieser spätantiken Ornamentik und dem Tierstil I. Wo auch immer der Anstoß zum Vollzug dieser Synthese gegeben wurde, etwa bei den Alemannen,77 die engeren Kontakt zum Süden hatten, oder im Norden, wo der Stil I initiiert worden war,78 praktisch gleichzeitig ist der neue Stil II überall anzutreffen. Damit muss auch seine Erfindung und Verbreitung wieder als gemeinsames Unternehmen zahlreicher germanischer Einheiten bzw. Werkstätten verstanden werden. Es war also im späten 6. und im 7. Jahrhundert mit dem Stil II ein neuer Konsens der Bildkunst erreicht, das neue germanische „Corporate design“ war umgesetzt worden. In jüngerer Zeit ist wieder die Diskussion nach dem ursprünglichen Inhalt der Stil II-Darstellungen aufgelebt. Die zahlreichen Anleihen aus der mediterranen, christlichen Bilderwelt und die Nutzung des Stils auch auf Objekten christlicher Bedeutung führten zu der Annahme, dass mit dem neuen Stil grundsätzlich auch christliche Inhalte verbunden gewesen seien.79 In der Tat tauchen vor allem im 7. Jahrhundert Tierstilbilder bei den bereits – mehr oder weniger – bekehrten Germanen des Südens auf, an Schmuck oder Waffen, sowie auch auf Objekten explizit christlichen Charakters wie den Goldblattkreuzen.80 Dazu gehören auch die vielzitierte Zierscheibe von Limons, auf der Christus im Kreuznimbus, umgeben von Tiermotiven im Stil II, dargestellt ist,81 sowie etwa die berühmte, aufklappbare Reliquienschnalle aus dem englischen Schiffsgrab von Sutton Hoo (vgl. Abb. 14).82 Ganz offensichtlich verwendeten die bekehrten Germanen des Südens Stil II-Motive und Bildchiffren im Dienste ihrer christlichen Vorstellungen. Doch muss dies heißen, dass Stil II als bewusster Gegenschlag zur 77
78 79 80
81 82
So die gängige These, siehe etwa Haseloff, Kunststile (wie Anm. 44), S. 42 f.; Egon Wamers, Salins Stil II auf christlichen Gegenständen. Zur Ikonographie merowingerzeitlicher Kunst im 7. Jahrhundert. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 2008, S. 33–72, hier S. 67 f. Wilhelm Holmqvist, Germanic Art During the First Millenium A.D. Kungliga Vitterhets Historie och Antikvitetets Akademiens Handlingar (Stockholm 1955). Birgit Arrhenius, Einige christliche Paraphrasen aus dem 6. Jahrhundert. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 129–152; Wamers, Salins Stil II (wie Anm. 77). Horst Wolfgang Böhme, Goldblattkreuze. In: RGA 12 (1998), S. 312–318; Günther Haseloff, Goldbrakteaten – Goldblattkreuze. Neue Ausgrabungen und Forschungen in Niedersachsen 5, 1970, S. 24–39. Wamers, Salins Stil II (wie Anm. 77), S. 40 ff. Angela Evans, Gareth Williams, Artikel „Sutton Hoo“. In: RGA 30 (2005), S. 146–153.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
664
Alexandra Pesch
Abb. 14: Reliquiarschnalle aus dem Schiffsgrab von Sutton Hoo, Ostengland. Die aufklappbare, goldene Schnalle ist flächendeckend mit kunstvollen Tierbildern im Stil II geschmückt. Nach Rupert Leo Scott Bruce-Mitfort, The Sutton Hoo ShipBurial, Volume 2. Arms, Armour and Regalia (Cambridge 1978) Plate 20 a.
heidnischen Bilderwelt im Stil I erfunden worden sein muss, also im Sinne einer christlichen Propaganda zu verstehen wäre? Der neue Stil hat vor allem auch die älteren Tierstilkonventionen aufgenommen und fortgeführt. Darin drückt sich erneut das traditionelle, gemeinsame Elitenbewußtsein der Germania aus. Die synthetische Technik der Bildweltgestaltung, die ein typisches Merkmal aller germanischen Kunst vom Anfang bis ins Mittelalter hinein war und die bereits den Stil I als Synthese aus spätantiken Bildern und germanischen Vorstellungen hervorgebracht hat, ermöglichte auch die Integration verschiedener neuer Vorlagen in die Bildersprache. Diese vermochte sich dadurch nicht nur über geographisch weite Bereiche, sondern sogar über die Grenzen der Religionen hinweg durchzusetzen.83 Offenbar entfalteten die Bilder ihre Wirksamkeit konkurrenzlos in beiden verschiedenen Umgebungen. Dies bedeutet leider 83
Vgl. Karen Høilund-Nielsen, Animal Style – A Symbol of Might and Myth. Acta Archaeologica 69, 1998, S. 1–52.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
665
auch, dass nicht eindeutig zu unterscheiden ist, ob bestimmte Objekte – wie etwa die ursprünglich aus christlichem Umfeld stammenden Inventare des Sutton Hoo-Grabes – von den einstigen Besitzern christlich oder heidnisch verstanden worden sind, ob also der neue Glaube mitsamt dem Tierstil II tatsächlich auch schon den Westen und Norden erreicht hatte.84
Vendelstile Die Salinsche Untergliederung in drei Stilphasen wurde aufgrund ihrer relativen Schlichtheit, bei welcher lokale Ausprägungen, Werkstattkreise und ähnliches weitgehend unberücksichtigt bleiben, immer wieder in Frage gestellt und durch erweiterte oder veränderte Definitionen modifiziert. Doch ist sie bis heute grundsätzlich aktuell geblieben. Dabei machte Greta Arwidsson bereits 1942 einen anderen Vorschlag, bei dem Salins Stil II und Stil III (dazu unten) ersetzt werden durch die sogenannten „Vendelstile“ (Abb. 15). Hierbei werden fünf Stufen, Vendelstil A bis E, unterschieden.85 Mit der Untergliederung der Vendelstile wird die Kontinuität des Tierstils im Norden als Abfolge sich auseinander entwickelnder, teilweise auch zeitlich parallel auftretender Erscheinungen zwischen Völkerwanderungs- und Wikingerzeit betont und der besondere Anteil des Nordens an diesen Bildern gewürdigt. Auch lassen sich verschiedene Einflüsse und Vorbilder aus dem Süden und Westen genauer analysieren.86 Doch die konkrete Bestimmung bzw. Unterscheidung der Charakteristika der einzelnen Vendelstile ist wesentlich anspruchsvoller als die Erkennung der beiden relevanten Stufen Salins, denn die Definitionen bei Arwidsson sind ausgesprochen kurz gehalten. Die Arbeit mit ihnen gestaltet sich somit als schwierig. Daher ist es den „Vendelstilen“ in den meisten Schulen nicht gelungen, sich gegen die beiden Phasen Salins durchzusetzen, und sie werden gerade im deutschsprachigen Raum selten rezipiert.
84
85 86
Vgl. allgemein Kurt Schäferdieck u.a., Artikel „Christentum der Bekehrungszeit“. In: RGA 4 (1981), S. 501–599; Torsten Capelle, Heidenchristen im Norden. Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch 38 (Mainz 2005). Arwidsson, Vendelstile (wie Anm. 72) 1942, besonders S. 18–21; später kam noch Stil F als sechste Stufe der Übergangszeit hinzu. Vgl. Arwidsson, Vendelstile (wie Anm. 72), S. 63–69, S. 100–105.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
666
Alexandra Pesch
Abb. 15: Große Fibel aus Gotland mit flächendeckenden Tierornamenten unterschiedlicher Prägung, 7. Jahrhundert. Nach Salin, Thierornamentik (wie Anm. 4) S. 284. Originallänge 16,7 cm.
Stil III, Tassilokelchstil und insulare Stile Im späten 7. Jahrhundert sind eine erneute Veränderung der grundsätzlichen Motivik und deren Komposition im Tierstil zu beobachten. Nicht nur metallische oder hölzerne Bildträger zeigen eine neue Stilphase, sondern auch Wand- und Buchmalerei sowie Steindenkmäler. Nach Salin sind die Köpfe der Tiere nun durch eine Augenumrahmung bezeichnet, die sich nach oben oder hinten teils stark verlängert und verselbständigt, bis sie schließlich einen Schopf bilden kann.87 „Niemals hat der Nordländer elegantere, um nicht zu sagen extravagantere Ornamente geschaffen, als während dieser Epoche“.88 Dabei sind oftmals kaum mehr die ursprünglichen Körperteile 87
88
Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 271–290; siehe auch Günther Haseloff, Die Kunst der insularen Mission auf dem Kontinent, in: Helmut Roth, Kunst der Völkerwanderungszeit. Propyläen Kunstgeschichte, Supplementbände IV (Frankfurt u.a. 1979), S. 85–92; Egil Bakka, Westeuropäische und nordische Tierornamentik des 8. Jahrhunderts im überregionalen Stil III. Studien zur Sachsenforschung 4, 1983, S. 1–56; Egon Wamers, Zwischen Salzburg und Oseberg. Zu Ursprung und Ikonographie des nordischen Greiftierstils. In: Völker an Nord- und Ostsee und die Franken, Akten des 48. Sachsensymposiums in Mannheim vom 7. bis 11. September 1997, hrsg. von Uta von Freeden et al. (Bonn 1999), S. 195– 228; Volker Bierbrauer, Kontinentaler und insularer Tierstil im Kunsthandwerk des 8. Jahrhunderts. In: Tiere – Menschen – Götter. Wikingerzeitliche Kunststile und ihre neuzeitliche Rezeption, hrsg. von Michael Müller-Wille und Lars Olof Larsson (Göttingen 2001), S. 63–87. Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 271.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
667
der Tiere erkennbar und teilweise etwa Köpfe und Füße schwerer zu unterscheiden. Doch es gibt auch Tierfiguren, die gegenüber ihren langgestreckten Bandgeflecht-„Ahnen“ im Stil II wieder figürlicher, körperhafter gestaltet und besser erkennbar sind. Insgesamt werden die vielfältigen Tierfiguren variantenreich ausgeführt. Weil daher Stil III weniger klar per Definition zu erfassen ist als seine Vorgänger und sich auch deutliche lokale Unterschiede bemerkbar machen, ist die Benennung dieser Stilphase nicht mehr einheitlich akzeptiert und wird in neueren Publikationen oft ganz aufgegeben.89 Stattdessen wird dieser neue Stil häufig als „Tassilostil“ bezeichnet, nach seinem berühmtesten Bildträgerobjekt.90 Der Tassilokelch, ein im Jahre 777 dem Kloster Kremsmünster gespendeter Abendmahlskelch (vgl. Abb. 16), vereinigt Flechtbänder und Tierfigurfelder mit Christusdarstellungen, die in byzantinischer Tradition stehen. Hier sind die Tiere in dünne, aus den Schwänzen entwickelte Fadengeflechte eingebunden. Typisch für diesen Stil sind auch symmetrisch bzw. heraldisch angeordnete Tiere und Pflanzen, die als Paradiesdarstellungen gelten. Dabei gruppieren sich die Tiere etwa um den Lebensbaum bzw. Lebensbrunnen. oder sie klettern in paradiesischen Ranken.91 Der in dieser Weise ausgeprägte Stil erlebte eine Blüte im kontinentalen Frankenreich und wurde nicht nur für Spitzenprodukte liturgischer Bestimmung verwendet, sondern auch für kleine metallische Objekte wie Schwertriemenbeschläge aus Buntmetall. Immer sind die schlanken Tiere kombiniert mit Ranken, oft auch mit floralen Elementen. Grundsätzlich haben auch solche Chiffren ihren Ursprung in der Antike. Mit der byzantinisch-mediterranen Ikonographie des spätantiken bzw. frühmittelalterlichen Christentums gelangten sie nach Mitteleuropa.92 In den großen Klosterwerkstätten vor allem in Irland und England, die mit der Buchmalerei wie auch der dekorativen Gestaltung liturgischer Geräte oder anderer Preziosen neue internationale Standards höchster Güte schufen, geschah ihre Vereinigung mit älteren Elementen des Tierstils. Schon vorher hatten dort Aspekte keltischer Kunst Einzug in die dortige christliche Bildkunst gefunden. Damit präsentiert sich der neue Stil in der althergebrachten Weise als Synthese aus verschiedenen Wurzeln. Er wird auch als „insularer 89 90 91
92
Vgl. Capelle, Die jüngeren Kunststile (wie Anm. 25), S. 368 f.; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 594 f. Egon Wamers, Artikel „Tassilo-Kelch“. In: RGA 30 (2005), S. 293 f.; vgl. Bierbrauer, Tierstil (wie Anm. 87), S. 89 f. Helmut Roth, Christentum der Bekehrungszeit (wie Anm. 84), S. 592 f.; vgl. allgemein Victor H. Elbern, Fructus Operis. Kunstgeschichtliche Aufsätze aus fünf Jahrzehnten, hrsg. von Piotr Skubiszewski (Regensburg 1998), S. 182–200 und passim; Wamers, Oseberg (wie Anm. 87), S. 223. Vgl. Holmqvist, Kunstprobleme (wie Anm. 76).
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
668
Alexandra Pesch
Abb. 16: Tassilo-Kelch aus Kremsmünster, Bayern. Der prachtvoll durch partielle Versilberungen, Vergoldungen, Niello und Glaseinlagen farblich akzentuierte Abendmahlskelch ist auf der Kuppa mit Darstellungen der vier Evangelisten bzw. Christus geschmückt, die von architektonisch gliedernden Flechtbändern, Ranken und Zwickel-Tierfiguren im Stil III umgeben sind. Nach Wilfried Menghin, Frühgeschichte Bayerns (Stuttgart 1990) Farbtafel 68. Originalhöhe 27 cm.
Stil“ bezeichnet,93 was allerdings die Tatsache verschleiert, dass er gerade im kontinentalen Frankenreich zu höchster Blüte gelangte. Ob dies ursächlich mit der angelsächsischen Mission auf dem Kontinent zu erklären ist94 oder mit einem gleichzeitig gepflegten, gemeinsamen Verständnis der Kunst, ist zu diskutieren. Wie mehrfach betont, fand der Stil vor allem in den ehemals germanischen Gebieten des karolingischen Reiches Verwendung.95 Dies ist bemerkenswert, zeigt es doch, dass es sich offenbar grund93
94 95
Vgl. Katharina Bierbrauer, Insulares in der kontinentalen Buchmalerei des 8. Jahrhunderts. In: Tiere – Menschen – Götter (wie Anm. 90), S. 63–87; Uta Roth, Insulare Tierstile, Entwicklungsgeschichtliche Aspekte. Hikuin 29, 2002, S. 219–242. Haseloff (wie Anm. 87); Bakka, Tierornamentik (wie Anm. 87); Bierbrauer, Tierstil (wie Anm. 90). Bakka, Tierornamentik (wie Anm. 87), S. 8 ff.; Egon Wamers, Insular Art in Carolingian Europe: the Reception of Old Ideas in a New Empire. In: The Age of Mi-
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
669
sätzlich immer noch um eine von den germanischen Eliten über alle politischen und religiösen Grenzen hinweg verwendete Bildersprache handelte und weniger um eine primär christliche Kunst, die sich vom Süden und Westen in den Norden verbreitete.96 War die Unterscheidung zwischen Bildträgern mit christlicher Symbolik und solchen mit heidnischen Inhalten schon im Stil II schwierig, so scheinen im Stil III die Grenzen völlig zu verschwimmen. Flechtbänder spielen immer noch eine große Rolle. In der Buchmalerei waren sie schon seit der Stil II-Zeit eingeführt worden, wie das um 680 entstandene Book of Durrow (vgl. Abb. 17 und 18) zeigt, und in der Folge gelangten sie vor allem auch in der Kunst der Initialen zu vollendeter Form (so etwa im berühmten Book of Kells, ca. 750–800).97 In gleicher Weise erscheinen sie in der zeitgenössischen Wandmalerei, etwa in Sakralbauten, wie sie die karolingische Kirche von Mals in Norditalien überliefert hat.98 Doch viele der monumentalen gotländischen Bildsteine des 8. Jahrhunderts zeigen identische Flechtbänder um ihre Bildflächen.99 Diese Bildsteine gelten als wichtiger Ausdruck des heidnischen Glaubens, als Zeichen der heidnischen Glaubens- und Bilderwelt.100 Leider ist heute das erste Aufkommen solcher Ornamentik nicht mehr genau nachzuvollziehen, und so sind auch Urheber und Nachahmer nicht zu benennen. Doch weder ist ein Einfluss der Klosterwerkstätten auf den heidnischen Norden erwiesen, noch erscheint allein der umgekehrte Weg unmittelbar einleuchtend. Die Erklärung liegt wohl darin, dass in beiden Bereichen noch dieselben Bildtraditionen wirksam waren und sich diese verschiedenen Ideen unterordnen ließen. Ältere Produkte höchster Qualität, wie etwa die Stil II-Schnalle (vgl. Abb. 14) aus dem Grab von Sutton Hoo (um 625), zeugen davon, dass es beispielsweise in England eine lange Tradition der
96 97
98 99
100
grating Ideas, Early Medieval Art in Northern Britain and Irland, hrsg. von R. M. Spearman und J. Higgit (Edinburgh/Gloucestershire/Dover [USA]), S. 35–44; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 595. Anders Wamers, Salins Stil II (wie Anm. 77). David M. Wilson, Artikel „Durrow.“ In: RGA 6 (1986), S. 295 f.; Uta Roth, Artikel „Irische Kunst“. In: RGA 15 (2000), S. 487–491; Wilson, Tierornamentik (wie Anm. 47), S. 599–603; Otto Pächt, Buchmalerei des Mittelalters (München, 3. Aufl.1989). Elisabeth Rüber, Sankt Benedikt in Mals (Bozen 1992), siehe besonders Abb. 32 f. Wilhelm Holmqvist, Artikel „Bilddenkmäler, § 6 Bildsteine“. In: RGA 2 (1974), S. 561–570. – Ebenso zeigen die großen Prachtfibeln der Vendelzeit diese Flechtbänder. Erik Nylén, Jan Peder Lamm, Bildsteine auf Gotland (Neumünster, 2. Aufl. 1991), besonders S. 13–16.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
670
Alexandra Pesch
Abb. 17: Ornament aus dem um 680 entstandenen Book of Durrow mit vier kunstvoll verflochtenen Tieren. Nach Salin, Thierornamentik (wie Anm. 4), S. 341.
Abb. 18: Johannes-Löwe mit Flechtbandrahmung aus dem Book of Durrow, um 680, einem der frühesten Werke insularer Tierstilkunst. Nach Pächt, Buchmalerei (wie Anm. 97), Ausschnitt aus Farbtafel II.
hochspezialisierten Werkstätten gegeben hat. Kontinuierlich wurden hier Spitzenprodukte des Tierstils von der Völkerwanderungszeit bis ins Mittelalter angefertigt, und dies im ständigen Austausch mit anderen Werkstätten in Skandinavien und auf dem Kontinent. Es handelt sich also nicht um eingewanderte Handwerksbetriebe aus dem Süden oder gar aus Byzanz, die für die Herstellung etwa metallischer Prunkobjekte, liturgischen Geräts und der Prachthandschriften verantwortlich waren, sondern es sind weiterhin die alteingesessenen Werkstätten, die hier lediglich wieder neue Impulse zur Herstellung neuartiger Objekte und Ornamente aufnehmen und damit ihre alten
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
671
synthetischen Traditionen kunstfertig fortführen. Offenbar galten für sie eigene Regeln. Diese wurden in einem gewissen Konsens aller Werkstätten bzw. der sie bezahlenden Eliten entwickelt und verfolgt, so dass auch der Stil III wieder im Großen und Ganzen als ein gemeinsames Unternehmen der Germania erscheint. Die motivischen und technischen Traditionen der Hersteller flossen ein in alle Bildkunst, seien sie nun im Rahmen christlicher oder heidnischer Kultur entstanden. So war die Plattform der Bildersprache den germanischen Eliten als Ausdruck ihrer gemeinsamen Traditionen und Werte, als bildhaftes Kommunikationsmittel untereinander, wichtiger als die religiösen und politischen Unterschiede zwischen ihnen. Über die karolingische Kunst wurde der alte Tierstil schließlich zu einer Wurzel der mittelalterlichen Kunst des Abendlandes.
Die wikingischen Tierstile Mit den Phänomenen um Stil III, die auf dem Kontinent und in England in die romanische Epoche überleiteten, war der denkwürdige Mischhorizont der Bildkunst des germanischen Spätheidentums noch nicht abgeschlossen. Denn vom 8.–11. Jahrhundert entstanden in den letzten germanischen Gebieten, die noch nicht zum neuen Glauben konvertiert waren, wieder mehrere neue Stilstufen. Diese wikingerzeitlichen Tierstile Skandinaviens, auf zahlreichen Denkmälern aus Holz, Metall und Stein überliefert, führen in vieler Hinsicht die Traditionen der älteren Tierstile fort.101 Sie lassen sich besser als die Stufen in Stil I bis III nicht nur als zeitliche, mehr oder weniger aufeinander folgende Erscheinungen erfassen, sondern sie sind als differenziertes System teils gleichzeitiger, teils aufeinander folgender Ausprägungen desselben Kunstverständnisses zu sehen.102 So wurde von Anfang an hier von verschiedenen, oft parallel arbeitenden Werkstätten mit gemeinsamen Traditionen, aber auch eigenen Charakteristiken ausgegangen – ohne dass diese bisher genauer zu lokalisieren wären. 101
102
Dazu allgemein David M. Wilson, Artikel „Wikinger § 3 Kunst“. In: RGA 34 (2007), S. 64–72; David M. Wilson, Ole Klindt-Jensen, Viking Art (London 1966); Lennart Karlsson, Nordisk Form, om djurornamentik. The Museum of National Antiquities, Stockholm, Studies 3 (Stockholm 1983), hier S. 30–91; Signe Horn Fuglesang, Kunst. In: Wikinger Waräger Normannen, die Skandinavier und Europa 800–1200. Katalog (Paris u.a. 1992), S. 176–183; Capelle, Die jüngeren Kunststile (wie Anm. 25); Michael Müller-Wille, Tierstile des 8.-12. Jahrhunderts im Norden Europas. Dendrochronologische und kunsthistorische Einordnung. In: Tiere – Menschen – Götter (wie Anm. 90), S. 215–250; Wamers, Oseberg (wie Anm. 87). Zu den unterschiedlichen Datierungsansätzen Müller-Wille, Tierstile (wie Anm. 101), S. 215–250.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
672
Alexandra Pesch
Typisch für die frühe Zeit um 800 (teils noch als Vendelstil E betrachtet) und bis ins 10. Jahrhundert ist im Broa- und Berdal- sowie im Oseberg- und Borrestil das Motiv des „Greiftieres“: Es ist ein zoologisch kaum bestimmbares Wesen, das mit seinen handartigen Pfoten seine eigenen Gliedmaßen oder die anderer Tiere bzw. Ranken umfaßt (vgl. Abb. 19).103 Die kleinen Tiere schlingen und kringeln sich, so dass sie trotz ihrer häufigen Unterwerfung unter geometrische Formgefüge oder ihre Zerlegung in mehrere Teile, dynamisch und belebt, ja brodelnd wirken. Die Tiere haben kleine, nach oben stehende Ohren und zeigen ihre leicht dreieckigen Köpfe en face. In den etwas jüngeren Jelling- und Mammenstilen, die teilweise parallel in das späte 9. und 10. Jahrhundert gehören, tritt dieses Phänomen wieder zurück, die Tiere werden im Profil und in Ranken und Bänder geflochten dargestellt und haben langgezogene Bandleiber mit Schraffurfüllungen. Der elegante Urnesstil des 11. Jahrhunderts schließlich beendet, gemeinsam mit dem Ringerikestil Norwegens und dem Runensteinstil, der hauptsächlich in Schweden auf mit Schriftbändern und Tierfiguren geschmückten Gedenksteinen auftritt, die germanische Tradition der Tierornamentik. In vielen Fällen handelt es sich bereits um christliche Denkmäler. Hier vollzieht sich also endgültig der Übergang zur christlichen Gesellschaft des Mittelalters, die dann in der Romanik und später der Gotik ihren neuen, internationalen Ausdruck findet.104 Weiterhin wurden bei der Entwicklung der wikingischen Tierstile Bilder der Nachbarkulturen analysiert und teilweise in die Bildersprache integriert.105 Die Ähnlichkeiten zwischen den Greiftieren und manchen der Wesen, die z.B. auf kontinentalen und insularen Reliquienschreinen, etwa dem sogenannten Runenkästchen von Gandersheim, im Rankenwerk des christlichen Lebensbaums klettern, sind unverkennbar.106 So wird nach wie 103
104 105 106
Heiko Steuer wies in seinem Beitrag: Zur Herleitung des nordischen Greiftierstils. In: Studien zum Altgermanischen, Festschrift für Heinrich Beck, hrsg. von Heiko Uecker. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 11 (Berlin, New York 1994), S. 648–676, auf die Möglichkeit hin, dass die Beobachtung von Hauskatzen die Darstellungen der Greiftiere beeinflusst haben könnten. Dagegen Wamers, Oseberg (wie Anm. 87), S. 195 ff. – Siehe auch Michael Müller-Wille, Bild und Bildträger. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 153–174; Michaela Helmbrecht, Die Greiftiere auf dem Lindauer Buchdeckel – Bemerkungen zu skandinavischem Tierstil in Süddeutschland. In: Cum grano salis, Beiträge zur europäischen Vor- und Frühgeschichte. Festschrift für Volker Bierbrauer, hrsg. von Bernd Päffgen, Ernst Pohl, Michael Schmauder (Friedberg 2005), S. 209–218. Vgl. Fuglesang, Kunst (wie Anm. 101), S. 182. Vgl. Wilson, Wikinger (wie Anm. 101), S. 64. Vgl. Victor H. Elbern, Das Gandersheimer Runenkästchen – Versuch einer ikono-
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
673
Abb. 19: Tierkopfpfosten aus dem norwegischen Schiffsgrab von Oseberg, Vestfold, mit Schnitzereien im Greiftierstil. Die farbige Skizze fertigte Gabriel Gustafson, der Ausgräber, zur besseren Unterscheidung der einzelnen Tiere. Nach Arne Emil Christensen, Anne Stine Ingstad und Bjørn Myhre, Oseberg Dronningens Grav, Vår arkeologiske Nationalskatt i nytt lys (Oslo 1992), S. 103.
vor Herkunft und Bedeutung vieler bildtragender Objekte dieser Zeit diskutiert, und immer noch sind Urheber bzw. Erfinder und Rezipienten nicht eindeutig voneinander zu trennen. Noch im Hochmittelalter wurden im Norden ältere, ehemals heidnische Vorstellungen im Dienst des Christentums in die romanische Bilderwelt integriert, wie etwa die Sigurddarstellungen an der Stabkirche von Hylestad belegen.107 Gleichzeitig wurden die alten, offenbar mündlich tradierten Überlieferungen des Spätheidentums von den christlichen Schreibern in das Umfeld des neuen Glaubens übertragen.
107
graphischen Synthese. In: Fructus Operis (wie Anm. 91), S. 42–52; allgemein auch Helmbrecht, Greiftiere (wie Anm. 103). Klaus Düwel, Artikel „Sigurddarstellung“. In: RGA 28 (2005), S. 412–423, hier S. 417 f.; allgemein auch Agnethe Berentsen Harket, Signe Horn Fuglesang, Romanesque Animal Ornament. In: Tiere – Menschen – Götter (wie Anm. 90), S. 195–213.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
674
Alexandra Pesch
Tierstilmeister und Zentralorte Die Tierornamentik stellt sich dar als differenziertes System aus im einzelnen definierbaren Stilphasen, Ausprägungen und Motivkomplexen. Diese gehören doch alle einem gemeinsamen, sich weiterentwickelnden System an. Gleichzeitig kann sie auch betrachtet werden als Variation einer allgemeinen europäischen Bildersprache des ersten Jahrtausends (vgl. Abb. 21). Diese hatte in der Germania einen Seitenarm ausgebildet, der auf der Basis von antiker bzw. spätantiker Ikonographie als temporäre Parallelerscheinung existierte und dabei im Laufe ihrer Entwicklung immer wieder Anregungen aus gleichzeitigen Bildsystemen des Südens und Westens schöpfte. Im Gegenzug flossen auch Anregungen aus der germanischen Tierornamentik in die gleichzeitigen christlichen Bilderwelten ein. In allen Stilphasen wurden die Bildträger nicht an einem einzigen Ort zentral hergestellt und von dort aus verbreitet. Vielmehr waren Menschen in jeweils verschiedenen Orten in der Lage, die Motive, Formen und Stilkriterien der Tierornamentik durch kopiale Herstellungsprozesse zu beleben und sie in immer neue Regionen weiterzuvermitteln. Dafür zeugen nicht nur Beobachtungen technischer Unterschiede als Indizien für lokale Herstellung, sondern auch Variationen in den Motiven und deren konkreter Umsetzung an jedem einzelnen Werkstück.108 Doch bei weitem nicht jeder war zur Herstellung von Tierstilobjekten in der Lage. Schon frühe Forscher hatten die Tatsache erkannt, dass sowohl die generelle Ausbildung der typischen Gesetzmäßigkeiten der Tierornamentik, als auch deren überraschend weite Verbreitung von weit mehr Planung, Organisation, Kenntnis und Geisteskraft zeugen,109 als dies bei einer „Volkskunst“110 der Fall gewesen wäre. Um Tierstilbilder verständlich kopieren und auf wertvollen Objekten aus Metall oder Holz anbringen und sie im Rahmen der Regeln des Stils variieren, neu entwickeln und konzipieren zu können, war ein hoher Wissensstand des Herstellers nötig. Er muss sowohl über sehr gute theoretische Kenntnisse verfügt haben, damit die zugrundeliegenden Kontexte korrekt in Bilder umgesetzt werden konnten, wie auch über hervorragende handwerkliche Fertigkeiten und Erfahrungen. Wer sich mit der Aufbereitung und Verarbeitung 108
109 110
Vgl. auch Morten Axboe, The Scandinavian Gold Bracteates. Acta Archaeologica (København) 52, 1981, S. 1–100, hier S. 39 f., S. 46 ff.; Morten Axboe, Brakteatstudier (wie Anm. 33), S. 15, S. 77–91; Nancy Wicker, On the Trail of the Elusive Goldsmith: Tracing Individual Style and Workshop Charakteristics in Migration Period Metalwork. Gesta 33/1, 1994, S. 65–70, hier S. 67 f., S. 69, S. 98, S. 258. Siehe etwa Jens J. A. Worsaae, Om Forestillingerne paa Guldbracteaterne. Et Tydningsforsøg. Aarbøger for Nordisk Oldkyndighed og Historie 1870, S. 382–419. Sophus Müller, Nordische Altertumskunde 2: Eisenzeit (Straßburg 1898), S. 201.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
675
unterschiedlicher Metalle, der Herstellung verschiedener Legierungen, der Nutzung ihrer jeweiligen Eigenschaften und der Prozesse ihrer Vereinigung durch Lote, Kleber und Schmelzprozesse auskannte und zusätzlich die Formenkunde seiner Zeit, vielleicht sogar die Runen, meisterlich beherrschte, der darf ohne Frage als hochgebildeter Mehrfachspezialist bezeichnet werden. Zweifellos war er Angehöriger der Eliten.111 Doch diese „Tierstilmeister“112 selbst lassen sich nur noch anhand ihrer Produkte nachweisen. Sie sind sämtlich anonym. Leider ist eine solche Person konkret weder in Textquellen, noch in Herstellermarkierungen oder einem Grab auszumachen. Für die schnelle und sichere Verbreitung von Bildern und Bildträgern waren nicht nur qualifizierte Menschen mit hervorragenden Kontakten untereinander nötig,113 sondern auch Orte, an denen die Herstellung möglich war. Es muss Werkstätten gegeben haben, welche die technischen Voraussetzungen für die Vorbereitung, Bearbeitung und Herstellung von Edelmetallobjekten boten. Komplexe Arbeitsfolgen der Bearbeitung von Bunt- und Edelmetall und der Herstellung hoch qualitätvoller Objekte lassen sich nicht ohne weiteres an jedem beliebigen Herd- oder Schmiedefeuer durchführen.114 Auch entsprechendes Werkzeug muss zur Verfügung stehen; die gro111
112 113 114
Allgemein zur Position der Handwerker Jochem Wolters, Artikel „Goldschmied, Goldschmiedekunst“. In: RGA 12 (1998), S. 362–386, hier S. 363 ff. mit weiterer Literatur; Barbara Regine Armbruster et al., Artikel „Schmied, Schmiedehandwerk, Schmiedewerkzeuge“. In: RGA 37 (2004), S. 194–213; Alexandra Pesch, Artikel „Wieland § 1. Person“. In: RGA 33 (2006), S. 604–608, hier S. 606 ff.; Joachim Werner, Zur Verbreitung frühgeschichtlicher Metallarbeiten. Antikvarisk Arkiv 38, 1970, S. 65–81; Capelle, Handwerker (wie Anm. 56); Torsten Capelle, Zu den Arbeitsbedingungen von Feinschmieden im Barbaricum. In: Archäologische Beiträge zur Geschichte Westfalens, Festschrift für Klaus Günther (Rahden/Westf. 1997), S. 195–198; Wicker, Goldsmith (wie Anm. 108); Nancy Wicker, Production Areas and Workshops for the Manufacture of Bracteates. In: Runeninschriften als Quellen (wie Anm. 15), S. 253–267; Nancy Wicker, The Organisazion of Crafts Production and the Social Status of the Migration Period Goldsmith. In: The Archaeology of Gudme and Lundeborg, Papers presented at a Conference at Svendborg, October 1991, hrsg. von Per O. Nielsen, Klaus Randsborg und Henrik Thrane (København 1994), S. 145–150; Birgit Arrhenius, Why the King needed his own Goldsmith. Laborativ Arkeologi 10–11, 1998, S. 109–111; Claus von Carnap-Bornheim, The Social Position of the Germanic Goldsmith A. D. 0–500. In: Roman Gold (wie Anm. 29), S. 263–278. Der Begriff wird hier analog zu den eingeführten Termini „Runenmeister“ und „Brakteatenmeister“ verwendet. Vgl. für die kaiserzeitlichen Waffenhersteller Claus von Carnap-Bornheim, Nithijo (wie Anm. 29), S. 53. Allgemein Barbara Armbruster, Traditionelle Goldschmiedehandwerk in Westafrika und bronzezeitliche Metallverarbeitung in Europa. Technologien im ethnoar-
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
676
Alexandra Pesch
ben, archäologisch gut belegten Zangen eines Hufschmiedes reichen bei weitem nicht aus. Leider ist es bisher nicht gelungen, auch nur eine einzige dieser Spezialwerkstätten oder das dazugehörige Feinwerkzeug zu ergraben – auch das gehört zu den Rätseln der germanischen Eisenzeit.115 Erst mit den großen Klosterwerkstätten des christlichen Mittelalters sind vergleichbare Institutionen bekannt. Diese bieten auch das Muster zum Verständnis der älteren Werkstätten.116 Denn in ihnen arbeiteten nicht nur Spezialisten verschiedenen Schwerpunktes nebeneinander und zusammen, sondern sie waren auch für die Ausbildung den Nachwuchses verantwortlich. Dies ging von der Vermittlung der ideologischen Basis allen Kunstschaffens bis hin zur konkreten handwerklichen Ausbildung. Dabei lassen sich Schulen unterschiedlichen Qualitätsstandards unterscheiden, Ausstrahlungskraft und Produktivität waren nicht immer gleich. Doch letztlich unterlagen alle Werkstätten – unabhängig von ihrer Ausstattung und Bedeutung – denselben ideologischen und stilkundlichen Grundregeln. Kommunikation und Wissenstransfer zwischen den Stätten waren beispielsweise dadurch gewährleistet, dass nicht nur Schüler, sondern auch die Meister den Ort wechseln konnten oder dass sie zeitweilig ihr Wirkungsfeld an eine andere Stätte verlegten. Große Fest-, Markt- oder Thingtage mögen ebenfalls Foren des regelmäßigen Austausches gewesen sein. Keinesfalls aber kann die alte These, nach der in der Germania lediglich Wanderhandwerker von Ort zu Ort zogen und für die Verbreitung der Tierstilobjekte sorgten, aufrechterhalten werden.117 Als Standorte der großen germanischen Werkstätten kommen vor allem die sogenannten Zentralplätze in Frage. Dort waren einerseits der militärische Schutz, den die Arbeit mit Edelmetall benötigt, vorhanden, wie auch andererseits die „Auftraggeber und Kunden“, die letztlich die Produkte nutzten. Obwohl die Erforschung einiger Zentralplätze in den letzten Jahren
115 116
117
chäologischen Vergleich. Beiträge zur Allgemeinen und Vergleichenden Archäologie 15, 1995, S. 111–120; demnächst genauer dazu Fecht, in: Pesch et al. Goldhalskragen (wie Anm. 54). Lediglich Indizien wie Werkstattabfälle, Halbfabrikate oder Edelmetalldepots sind nachzuweisen. Vgl. Capelle, Die jüngeren Kunststile (wie Anm. 25), S. 372; siehe auch Hayo Vierck, Werke des Eligius. In: Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie, Festschrift für Joachim Werner, hrsg. von Georg Kossack und Günter Ulbert. Münchener Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte (München 1974), S. 309–381. Natürlich besteht durchaus die Möglichkeit, dass „Auszubildende“, „Novizen“ oder „Lehrlinge“ der festen Werkstätten an verschiedenen Orten lernten oder dass „Meister“ auch zeitweise an fremden Stätten wirken konnten. Es versteht sich von selbst, dass unser heutiges Vokabular sich nicht auf die Frühgeschichte übertragen lässt und nur als nähere oder weitere Analogie zu verstehen ist.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
677
deutlich vorangekommen ist, fehlen noch viele Informationen zu diesen Stätten, und sicherlich sind bisher nur wenige lokalisiert und gründlich genug erforscht. Der wohl berühmteste Zentralort liegt auf der dänischen Insel Fünen: Gudme/Lundeborg wird auch in der Diskussion um einen Ursprungsort des Tierstils genannt.118 In diesem seit vielen Jahren ausführlich erforschten Siedlungskomplex hatte sich im Laufe der späten Kaiserzeit ein Reichtumszentrum etabliert, dessen herrscherliche Hallenbauten und reiche Schatzfunde von seiner überregionalen politischen und wirtschaftlichen Bedeutung bis in die Vendelzeit und darüber hinaus zeugen. Außerdem illustrieren unterschiedliche Fundgattungen die weitreichenden Verbindungen Gudmes. Es ist also in der Tat denkbar, dass die politischen, militärischen und sakralen Eliten dieses Zentrums mit ihrer Qualitätswerkstatt bei der Entwicklung des Tierstils eine Rolle gespielt haben. Doch wenn die germanische Gesellschaft nach wie vor als relativ unstrukturiert gilt, als politisch weitgehend ungegliedert oder nur kleinräumig organisiert, warum sollten ihre losen Gruppen ohne politischen Zusammenhang bzw. kleinen Gefolgschaften unter wechselnden, oft konkurrierenden Anführern sich in einem so wichtigen Bereich wie der Kunst, dem Medium ihrer Repräsentation, einem gemeinsamen Regelwerk bedient und sich in intensivem Austausch mit den anderen an der Entwicklung und Verbreitung derselben Bildkunst beteiligt haben? Uner118
Henrik Thrane, Marie Stoklund, Artikel „Gudme“. In: RGA 13 (1999), S. 142– 149; The Archaeology of Gudme (wie Anm. 111); Henrik Thrane, Das Reichtumszentrum Gudme in der Völkerwanderungszeit Fünens. In: Historischer Horizont (wie Anm. 62), S. 299–380: Henrik Thrane, Guldrige Gudme i folkevandringstiden – efter 20 års forskning. In: Kult, Guld och Makt. Ett tvärvetenskapligt symposium I Götene, hrsg. von I. Nordgren. Serie B: Vetenskapliga rapporter och småskrifter No. 4 (Göteborg 2006), S. 258–271; siehe auch Karl Hauck, Gudme in der Sicht der Brakteatenforschung. Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XXXVI. Frühmittelalterliche Studien 21, 1987, S. 147–181; Karl Hauck, Gudme als Kultort und seine Rolle beim Austausch von Bildformularen der Goldbrakteaten. Zur Ikonologie der Goldbrakteaten L. In: The Archaeology of Gudme (wie Anm. 111), S. 78– 88; Karl Hauck, Der Kollierfund vom fünischen Gudme und das Mythenwissen skandinavischer Führungsschichten in der Mitte des Ersten Jahrtausends. Mit zwei runologischen Beiträgen von Wilhelm Heizmann. Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LV. In: Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496– 97), hrsg. von Dieter Geuenich. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 19 (Berlin, New York 1998), S. 489–544; Karl Hauck, Zur religionsgeschichtlichen Auswertung von Bildchiffren und Runen der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten. Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LVI. In: Runeninschriften als Quelle (wie Anm. 15), S. 298–353; Karl Hauck, Die runenkundigen Erfinder von den Bildchiffren der Goldbrakteaten. Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LVII. Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, S. 28–56.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
678
Alexandra Pesch
klärt wäre dabei ebenfalls, wie einer der Zentralorte seine Bildkunst und damit seine Macht so erfolgreich international durchsetzen konnte, dass ihm die Verbreitung dieser Bilder unter Verdrängung aller anderen denkbaren Bilderstile gelingen konnte. Eine solche Oberhoheit Gudmes über andere Orte lässt sich auch mit Tierstilobjekten nicht nachweisen. Die Stücke stammen eben nicht alle von dort. Auch erscheint die Bildkunst insgesamt nicht vollständig kanonisiert, gerade die Variation, geprägt auch von lokalen Anpassungen und Besonderheiten, gehört ja zu ihren Eigenarten. Die Tatsache der schnellen und weiten Verbreitung des Tierstils und vor allem auch seine kleineren und größeren motivischen Variationen, an fast jedem Objekt erkennbar, zeugen vielmehr von der Tierstilentwicklung als einem gemeinsamen Unternehmen. Nicht eine Werkstatt in Gudme darf diese Erfindung allein für sich beanspruchen, sondern von Anfang an scheinen Kontakt und enge Zusammenarbeit vieler solcher Werkstätten bzw. Zentren die Bildersprache als Gemeinschaftsleistung gefördert zu haben. Die Verbreitung der einheitlich gepflegten Bildkunst ist auch ein Hinweis auf eine gemeinsame ideologische Basis der sie nutzenden Eliten und somit auch auf überregionale und langlebige politische Gemeinsamkeiten. Damit lässt sich als eine der organisatorischen Strukturen der Germania ein Netzwerk der Zentralorte bzw. ihrer Eliten rekonstruieren.119 Innerhalb dieses Netzwerkes wurde mit Hilfe der Tierstilmeister in den Qualitätswerkstätten ein Konsens bezüglich der Bildkunst erreicht und gepflegt.
Zur Rekonstruktion der Kontexte Wer nach der konkreten Bedeutung des Tierstils oder einzelner Motive fragt, hat einen schwierigen Weg vor sich. Denn kein Bild ist aus sich allein heraus verständlich. Es müssen dazu die passenden Kontexte bekannt sein.120 Dies sind die Hintergrundgeschichten, die zugrundeliegenden Ideen, von denen das Bild einen Aspekt oder ein Detail illustriert. Antike und frühmittelalterliche Bilder bieten gewissermaßen Auszüge aus komplexen Hintergrundge119
120
Alexandra Pesch, Netzwerk der Zentralplätze. Elitenkontakte und Zusammenarbeit frühmittelalterlicher Reichtumszentren im Spiegel der Goldbrakteaten. In: Goldbrakteaten – Auswertung und Neufunde (wie Anm. 17); vgl. auch Heiko Steuer, Artikel „Reichtumszentrum“. In: RGA 24 (2003), S. 343–348; Heiko Steuer, Artikel „Zentralorte“. In: RGA 35 (2007), S. 878–914. Panofsky, Iconology (wie Anm. 10), S. 11 f.; Karl Hauck, Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, VII: Kontext-Ikonographie. In: Verbum et Signum, hrsg. von Hans Fromm, Wolfgang Harms und Uwe Ruhberg (München 1975) Bd. 2, S. 25–69; Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 367–370.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
679
schichten. So wie es nur möglich ist, ein Kruzifix in der gemeinten Weise als Symbol der Hoffnung und Freude zu verstehen (indem es mit der Kreuzigung einen schrecklichen, aber wesentlichen Aspekt der Hintergrundgeschichte von Jesus Christus abbildet), wäre es auch nur möglich, beispielsweise die Botschaft eines Goldbrakteaten zu verstehen, wenn dessen entsprechende Hintergrundgeschichte bekannt wäre. Doch vor allem aufgrund des Fehlens umfangreicher zeitgleicher Schriftüberlieferung innerhalb der Germania liegen solche Kontexte nicht offen ersichtlich vor. Sie können nur in einem mühsamen, interdisziplinären und bis heute auch in vielen Details strittigen Verfahren rekonstruiert werden. Eine systematisierte Bewertung der unterschiedlichen Hintergrundrekonstruktionen ist dabei unerlässlich. Ohne dies blieben die Bemühungen um das Bilderverständnis letztlich nur ein vielleicht amüsantes, aber nicht zum Ziele führendes Bilderraten. Dabei wären für Spekulationen Tür und Tor geöffnet, die Interpretationen wären anfällig für Ideologien jeglicher Art, und sie bewegten sich regelrecht schlitternd auf Glatteis. Tatsächlich bieten sich aber mehrere Zugriffsmöglichkeiten zur Bestimmung und Rekonstruktion der passenden Kontexte an. Das hierfür notwendige interdisziplinäre Verfahren schöpft verschiedene Wege zur Rekonstruktion von Hintergrundgeschichten aus (Abb. 20).121 Mit Hilfe dieser sechs Haupt-Ansatzpunkte aus verschiedenen Fachbereichen lassen sich grundsätzliche Möglichkeiten der Bilddeutung fassen: 1. Die Voraussetzung zur Erkennung und Rekonstruktion der richtigen Kontexte ist die Bestimmung des Bildinhaltes als Zusammenstellung von Figuren, Formen, Attributen oder Symbolen. Nicht immer aber sind die Details germanische Bilder auf Anhieb zu lesen. Daher ist es im ersten Schritt sinnvoll, Varianten einer Bilddarstellung zu suchen. Aufgrund der Reglementierung frühmittelalterlicher Bildmuster finden sich für die meisten Bilder auch heute noch gute Vergleiche, Kopien oder eben Varianten. Mit ihrer Hilfe kann eine breitere Überlieferungsbasis gewonnen werden, eine Art „Standardbild“ oder „Idealbild“. Damit können Schwächen einzelner Bilder ausgeglichen werden, dargestellte Details lassen sich besser ansprechen bzw. identifizieren. 121
Vgl. Karl Hauck, Brakteatenikonologie. In: RGA 3 (1978), S. 361–400, hier S. 362 f.; Karl Hauck, Kontext-Ikonographie (wie Anm. 120); Karl Hauck, Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XI: Methoden der Brakteatendeutung. Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 4, Nr. 3, 1976, S. 156–175; Karl Hauck, Methodenfragen der Brakteatendeutung. Erprobung eines Interpretationsmusters für die Bildzeugnisse aus einer oralen Kultur. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 273–296.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
680
Alexandra Pesch
1. Idealbildrekonstruktion durch Variantenanalyse
6. Texte antiker und frühmittelalt. Autoren
2. Fundort, Umfeld Bilddeutung
5. Skandinavische Mythen bzw. Textüberlieferung
3. Antike Bildersprache
4. Romanische/ mittelalterliche Kunst
Abb. 20: Schema der Hauptzugangswege für die Bilddeutung.
2. Die Betrachtung des Umfeldes eines Bildträgers kann weitere Zugriffspunkte bieten. Bei den archäologischen Objekten ist dies zunächst der Fundort. Doch auch der Zweck des bildtragenden Gegenstandes – z.B. Waffe, Trinkhornbeschlag oder Schmuckstück – ist von Interesse, wie auch die Position des Bildes auf seinem Träger bzw. des Bildes an einem Objekt.122 Ob Waffe oder Schmuckstück, die Funktion kann durchaus Hinweise auf die Bedeutung oder Intention der Bilder geben. Allerdings ist dies zu interpretieren, denn heutige Sichtweisen können sich dabei erheblich unterscheiden von denjenigen des Frühmittelalters. Auch fallen die Tierstilbilder gerade durch ihre Verwendung auf verschiedenen Objektgruppen auf, sowie dadurch, dass sie über große Regionen gleichförmig ausfallen. Positiv daran ist, dass gerade diese weite Verbreitung einen wichtigen Hinweis zur generellen Bedeutung der Bilder gibt, denn sie zeigt ja, dass es sich nicht um individuelle Darstellungen von Einzelnen oder für einzelne Menschen handeln kann und dass somit die Kontexte für die Bilddeutung auch im allgemeinen Gedankengut ihrer Zeit zu suchen sein werden. 3. Einen bedeutenden Zugriffspunkt bietet die Bilderwelt des antiken Kulturraums. Aus ihr waren die frühen germanischen Bildchiffren während 122
Thorsten Lemm legt dar, dass Maskendarstellungen häufig an gefährdeten Bauteilen wie möglichen Bruchstellen angebracht worden sind, in: Maskendarstellungen der Wikingerzeit. Offa 61/62, 2004/05, S. 309–352, hier S. 335.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
681
des Frühmittelalters in verschiedenen Schüben entlehnt worden. Zwar haben sie sich mit den Jahren dann zwar rasch emanzipiert, wurden neu kombiniert, weiterentwickelt und mit neuen Chiffren aus dem germanischen wie auch römischen Bereich zusammengebracht. Doch wenigstens bei der Wertigkeit römischer Bilder ist durchaus an eine Bedeutungsübertragung zu denken: Waren die jeweiligen römischen Vorbilder glückbringende oder schutzspendende Heilsbilder oder aber Status- und Machtzeichen oder abschreckende Bilder? Diese Wertigkeit kann sehr wohl Hinweise auf die Bedeutung der Tierstilbilder geben. Im Laufe der Zeit allerdings kann sich diese Bedeutung dann wie die Bildchiffren selbst verschoben und verändert haben. 4. In den Schriften antiker, spätantiker und mittelalterlicher Autoren gibt es zahlreiche Nennungen und Beschreibungen germanischer Gruppen. Darunter finden sich auch Bemerkungen zu bestimmten Eigenarten. Dies alles ist für die Kontextrekonstruktion wichtig, vor allem, weil die entsprechenden Textüberlieferungen auf germanischer Seite fehlen. Doch solche Schriften sind keine objektiven Berichte. Es ist nie sicher, dass sich darin historische Realität von Fiktion und reelle Fakten von Propaganda, Phrasen oder Topoi unterscheiden lassen. Als Geschichtsquellen sind sie daher vorsichtig und nur mit der nötigen Quellenkritik zu genießen.123 5. Wertvolle Einblicke in die Vorstellungswelt der Germanen bieten die skandinavischen Textüberlieferungen des Mittelalters. Ihre detaillierten Beschreibungen der vorchristlichen Lebensumstände im Norden, der Götterwelt, der Mythen und Heldengeschichten vermitteln tiefe Einblicke in die schriftlosen Zeiten davor. Viele Inhalte gehen nachweislich wenigstens bis in die Völkerwanderungszeit zurück. Vor allem auf Island wurden nach der offiziellen Annahme des Christentums im Jahre 1000 die dort 123
Dies gilt etwa auch für den zweiten Merseburger Zauberspruch, der als kontinentale Wodan/Odinüberlieferung für die Deutung der C-Brakteaten eine wichtige Rolle gespielt hat. Dazu Karl Hauck, Goldbrakteaten aus Sievern. Spätantike Amulett-Bilder der ‚Dania Saxonica‘ und die Sachsen-‚Origo‘ bei Widukind von Corvey, mit Beiträgen von Klaus Düwel, Heinrich Tiefenbach, Hayo Vierck (München 1970), hier S. 160–203, S. 396–447; Karl Hauck, Brakteatenikonologie (wie Anm. 121), S. 386–389; Wilhelm Heizmann, Bildchiffren und Runen von Kommunikationsformen und Heilverfahren auf goldenen C-Brakteaten. In: Kontinuitäten und Brüche in der Religionsgeschichte, Festschrift für Anders Hultgård zu seinem 65. Geburtstag, hrsg. von Michal Stausberg, Olof Sundqvist, Astrid van Nahl. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 31 (Berlin, New York 2001), S. 326–351, hier S. 327 f.; Wilhelm Heizmann, Die Fauna der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten. Tiere im Kontext der Regenerationsthematik. In: Tiere in skandinavischer Literatur und Kulturgeschichte: Repräsentationsformen und Zeichenfunktionen, hrsg. von Annegret Heitmann, Wilhelm Heizmann, Ortrun Rehm (Freiburg 2008), S. 15–40, hier S. 28–35.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
682
Alexandra Pesch
noch lebendigen, einst mündlichen Traditionen germanischer Dichtkunst aufgeschrieben. Indem die komplexe spätheidnische Götterwelt wie auch sagenhafte historische Überlieferungen zum Inhalt christlicher Gelehrsamkeit wurden, konnten alte Traditionen den Religionswechsel überdauern. 6. In den Texten kann eine unabsichtliche oder intendierte Vermischung mit christlichen Vorstellungen niemals ausgeschlossen werden. Ebenso ist es möglich, dass es sich in manchen Teilen um „gelehrte Geschichte“, also rückwirkend rekonstruierte Vorstellungen des Mittelalters, handelt. Die Aussagen und Vorstellungen sind demnach sorgfältig im Einzelfall zu prüfen.124 7. Schließlich sei auf die Relevanz der Semantik und Typologie mittelalterlicher Kunst hingewiesen. Sie schöpfte nicht nur ihre Motive und Stile aus denselben Wurzeln wie die Tierstile, nämlich hauptsächlich aus der spätantiken Bildkunst, sondern es waren auch viele Elemente der Tierornamentik (vorwiegend Stil II und III) in sie eingeflossen (siehe Abb. 15). Aus der recht gut bekannten Bedeutung beispielsweise romanischer Bildmotive lassen sich daher Analogien zur Bewertung der älteren Bilder finden. Natürlich sind auch hierbei der zeitliche Abstand und der veränderte geistige Hintergrund zu bedenken. Die genannten sechs Haupt-Zugangsmöglichkeiten zur Rekonstruktion der Kontexte germanischer Bildkunst bergen jeweils eigene Schwierigkeiten, die innerhalb ihrer wissenschaftlichen Disziplinen zu bewerten sind. Dies macht eine Gesamtbewertung der Tierstilbilder keineswegs einfach, ist aber als quellenkritische Herangehensweise unabdingbar. Nur die Kombination verschiedener Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Hilfswegen kann zu einer Gesamtdeutung von Tierstilbildern führen. Doch selbst auf diese interdisziplinäre Weise bleibt alles noch ein wenig „schwammig“, sicher auch im Einzelnen angreifbar.125 Wirklich erfolgreich kann die interdisziplinäre Methode letztlich erst sein, wenn die heute noch in vieler Hinsicht rätselhafte Zeit der Germanen mit ihren Eigenarten und Vorstellungen in ihrer ganzen Komplexität verstanden worden ist. Doch dies ist auf dem heutigen Stand der Forschung noch wissenschaftliche Zukunftsmusik.
124
125
Vom blinden Jonglieren mit wieder- und wiedergekäuten Versatzstücken aus der Edda ohne kritische Prüfung auch ihres Gesamtzusammenhangs ist jedenfalls abzuraten. Das von Egon Wamers 1993, Rezension: Zum Problem der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte, Germania 71, 2. Halbband, S. 596–606, hier S. 597, als „trial and error“ bezeichnete Arbeitsprinzip der ikonographischen Forschung gehört noch nicht selbstverständlich der Vergangenheit an.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
683
Zur Bedeutung von Tierstilbildern Auf die vieldiskutierte Frage nach der semantischen Bedeutung von Tierstilbildern ist zunächst grundsätzlich zu bemerken, dass es kaum eine einzige Antwort darauf geben kann. Zu variantenreich sind die im Laufe der Zeit auftretenden Erscheinungen, zu unterschiedlich die rekonstruierbaren und denkbaren Kontexte und zu dünn die Möglichkeiten des konkreten Verständnisses. Einige grundsätzliche Erwägungen sind dennoch geeignet, sich dem mit den Bildern verbundenen Inhalt zu nähern. Wichtig ist hierbei die Erkenntnis, dass es sich nicht um individuelle Zeichen handeln kann. Nicht jeder Kleinherrscher oder Tierstilmeister entwickelte eigene Bildchiffren und stellte seine persönlichen Ideen dar oder gar sich selbst.126 Die in vieler Hinsicht genormten Bilder sind auch nicht als willkürliche Auswüchse „wilder Phantasie“127 erklärbar. Dass sie in weiten Regionen und durch lange Zeiträume hindurch von allen akzeptiert und gerade auch als Zeichen hohen gesellschaftlichen Status getragen worden sind, weist in die Richtung, welche die Deutung nehmen muss. Denn offenbar sind die Bilder Darstellungen von etwas Übergeordnetem. Nur mit einem allgemeinen Wert konnten sich alle identifizieren. Überindividualität und Überregionalität beweisen also einen allgemeinen, offiziellen Charakter der Bilder. Im ersten Jahrtausend ist dies nur bei Darstellungen numinoser Bedeutung denkbar. Denn alle gleichzeitigen Bildersprachen unterstützten dies: So etwa die verwandten antiken und mittelalterlichen Ikonographien, die ebenfalls als Bilder aus der Welt des Göttlichen religiös motiviert sind (vgl. allgemein Abb. 15). Für die germanischen Darstellungen prägte Hans Zeiß den Begriff des „Heilsbildes“.128 Ohne eine konkrete Religion benennen zu müssen, ist damit treffend der Charakter der Tierstilbilder und Symbole ausgedrückt. Wie ihre 126
127 128
Vgl. Alexandra Pesch, Charismatisches Königtum im Spiegel materieller Quellen: Die völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten. In: Das frühmittelalterliche Königtum, hrsg. von Franz-Reiner Erkens. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 49 (Berlin, New York 2005), S. 65–86, hier S. 78 f.; Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 383 f. So schon Worsaae (wie Anm. 109), S. 385. Zeiß, Heilsbild (wie Anm. 23); vgl. auch Heiko Steuer, Artikel „Heilsbild“. In: RGA 14 (1999), S. 233–236; Helmut Roth, Einführung in die Problematik, Rückblick und Ausblick. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 9–24, hier S. 12; siehe auch Charlotte Behr, Wilhelm Heizmann, Sinnbilder und Heilswörter. In: RGA 28 (2006), S. 467–473; Joachim Werner, Tiergestaltige Heilsbilder und germanische Personennamen. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37, 1963, S. 377–383; Burkard Gladigow, Schutz durch Bilder. In: Historischer Horizont (wie Anm. 62), S. 12–31.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
684
Alexandra Pesch
Vorbilder und Nachfahren versprach die germanische Heilsbildikonographie den Lebenden Schutz und Hilfe. Sie versicherte die Besitzer der Anwesenheit des Numinosen, der Teilnahme der Götter am irdischen Geschehen. Forscher wie Wilhelm Holmqvist, Günther Haseloff, Helmuth Roth und Karl Hauck haben dies in ihren Werken wiederholt ausführlich und grundsätzlich schlüssig dargelegt. Vor allem die skandinavischen Texte des Mittelalters halfen dabei, einige der germanischen Bilder genauer verstehen zu lernen. Durch ihre Informationen sind manche der figürlichen Darstellungen, beispielsweise auf Goldbrakteaten oder Goldfolien (gubber), konkret als Darstellungen aus der Odinreligion anzusprechen.129 Der nordische Hauptgott Odin (kontinental Wotan) ist durch die Textüberlieferungen wohlbekannt und wurde noch im Mittelalter auch als erster und vorbildlicher Herrscher sowie als Spitzenahn verschiedener Königsdynastien verehrt.130 Einen Beleg für das hohe Alter des mit ihm verbundenen Kultes und einiger der übrigen Hauptgöttinnen und -götter des Nordens (Thor, Frigg, Tyr) bieten die germanischen Wochentagsnamen, die in der Übersetzung der römischen Sieben-Tage-Woche im 3. oder 4. Jahrhundert aufgekommen sind.131 Grundsätzlich bildet also die Odinreligion den Kontext, in dem die germanischen Bilder zu verstehen sind. Doch die Wortüberlieferungen leisten keinen Beitrag zum konkreten Verständnis der separat (also nicht in szenischen Bildern, z.B. auf Goldbrakteaten) dargestellten Tiere. Obwohl von Anfang an solche Tiere und Mischwesen die Hauptrolle in der germanischen Ikonographie spielten, lassen sie sich nur in wenigen Ausnahmefällen möglicherweise mit Hinweisen der Texte benennen. Dabei sind gerade die unspezifischen, vorwärts- und rückwärtsblickenden, häufig kauernden und in sich und andere verschlungenen Tiere die Kernsymbole des nicht umsonst diesen Namen tragenden Tierstils und seine am häufigsten abgebildeten Motive. Um hier einen Zugang zur Deutung zu bekommen, sind andere Überlegungen erforderlich. Zunächst war es offenbar in vielen Fällen nicht wichtig, welche zoologische Tierart bei einer Darstellung gemeint war. Nur selten sind Tiere genau
129
130 131
Karl Hauck, Methodenfragen der Brakteatendeutung. Erprobung eines Interpretationsmusters für die Bildzeugnisse aus einer oralen Kultur. In: Problem der Deutung (wieAnm. 37), S. 273–296, hier S. 278 ff., S. 293 f. und passim; Roth, Einführung (wie Anm. 128), S. 9 f.; vgl. auch Heizmann, Bildchiffren (wie Anm. 123) und Heizmann, Fauna (wie Anm. 123). Anders Hultgård, Artikel „Wotan-Odin“. In: RGA 35 (2007), S. 759–785. Peter Ernst, Artikel „Woche und Wochentagsnamen“. In: RGA 34 (2007), S. 169– 172.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
685
anzusprechen. Oft wurde das Tier als solches abgebildet, variiert und verfremdet. Es ist damit Ausdruck des Unaussprechlichen und Nichtdarstellbaren, ein Träger numinoser Ideen. In dieser Funktion wurden Tiere nicht nur in der Bildkunst der Germania gesehen. Vielmehr drückt sich hier eine uralte, auch im Abendland weit verbreitete Vorstellung aus: Tiere und Mischwesen gelten als Vermittler zwischen Menschen und Göttern.132 In den Bilddarstellungen sind sie mit Rollen in religiösen Vorgängen betraut, indem sie Heilsgeschehnisse und göttliche Epiphanien flankieren und durch ihre Anwesenheit betonen. Sie verstärken die Eindrücklichkeit der Darstellungen. So war es bei den Kerbschnittbronzen und anderen Bildträgern spätrömischer Herkunft, die als direkte Vorgänger der Tierstilkunst gelten, und so nahmen auch später Tiere noch vergleichbare Positionen ein, etwa in der Buch- und Objektkunst der Karolingerzeit, der Romanik und, modifiziert, auch im Symbolismus des Mittelalters.133 Auch ohne die Abbildung der Götter selbst sind separate Tierdarstellungen als verkürzte bzw. komprimierte Fassungen solcher Vorstellungen zu sehen und damit als Substrate komplexer religiöser Ideen. Als Zeugen göttlicher Anwesenheit und Macht sind Tiere Botschafter einer göttlichen Ordnung, die sich in den Bildern manifestiert. Damit unterstützen sie auch die Besitzer solcher Bilder in ihrem irdischen Dasein und weisen sie als Teil des numinosen kosmologischen Plans aus. Tiere fungieren also beispielsweise auf Amuletten oder Schmuckstücken nicht nur als kraftvolle Helfer im irdischen Dasein der Menschen, sie garantieren auch die Übertragung göttlicher Ordnung in die menschliche Sphäre. Damit bezeugen sie den Glauben an den Einklang mit dem Numinosen und die Hoffnung auf göttlichen Beistand im Leben und im Tode. Grundsätzlich sind die Heilstiere dabei nicht an bestimmte Götter gebunden. Sie sind universell wirksam und wurden über die Grenzen von Zeitepochen, Reichen und Religionen hinaus eingesetzt. Tiere sind immer ein bedeutender Bestandteil der verschiedenen Ikonographien Europas gewesen, die sich niemals separiert entwickelten, sondern immer im gegenseitigen Austausch und in gemeinsam entwickelten Schritten (siehe Abb. 21).134 Weil es sich also nicht um ein spezifisch germanisches Phänomen handelt, konnte es auch zur Übernahme und Vermischung der Tierbilder aus den christlichen und heidnischen Bildersprachen kommen und zur permanenten 132
133 134
Gunther Müller, Germanische Tiersymbolik und Namengebung. Frühmittelalterliche Studien 2, 1968, S. 202–217, hier S. 215 f.; Pesch, Mischwesen (wie Anm. 39). Vgl. Gudrun Lange, Artikel „Tiersymbolik“. In: RGA 30 (2005), S. 605–608. Pesch, Iconologia Sacra (wie Anm. 17).
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
686
Alexandra Pesch
(Vorstufen)
Keltische Kunst
Klassische Antike
Oströmische und koptische Kunst
Spätantike
Frühe germanische Bilder
Nydamstil
Tierstil I
Flechtbandornamentik
Polychromer Stil Tierstil II
Insulare Kunst
Karolingische Kunst
Tierstil III
Romanische Bildkunst Mittelalterliche Traditionen
Aquitanische Motivik
Wikingische Tierstile
Abb. 21: Hauptströmungen der Kunstentwicklung im ersten Jahrtausend.
gegenseitigen Befruchtung. Die Tierbilder sind zwar fest in den Rahmen jeder einzelnen Religion integriert, doch sie gehören im Grunde zu einer älteren, parallel existierenden und in unterschiedlichen Kontexten lebendig gehaltenen Vorstellung. Eigene, charakteristische Interpretationen und bildnerische Ausfertigungen der Tiere bei den Germanen führten diese grundsätzlich gemeinsamen Vorstellungen in den Phasen des Tierstils zu einer jeweils ganz besonderen Blüte. Im Nydamstil und frühesten Stil I finden sich noch einigermaßen gut erkennbare Tiere beispielsweise auf den Goldhalskragen (Abb. 1), Preziosen höchster Qualität, wo sie jeweils in mehreren Reihen hintereinander angeordnet sind und als die eigentlichen Träger der dortigen Heilsbildikonographie fungieren.135 Auch die besonders im Stil II und III auftretenden, orna-
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
687
mentalen Reihungen und Verflechtungen von Tieren bzw. Ranken sind nicht nur als glückbringende bzw. unheilabwehrende Symbole zu verstehen, sondern als komprimierter Ausdruck des Wunsches nach numinoser Begleitung. Indem sie göttliche Ordnung auf den Zeichen irdischer Macht und weltlichen Reichtums (wie etwa Prunkwaffen, Prachtfibeln oder Brakteaten) repräsentieren, legitimieren sie auch die Trägerinnen und Träger dieser Bilder als Teile dieser göttlichen Ordnung.136 Immer wieder wurde daran erinnert, daß sich in dieser schwierigen, streng reglementierten und doch so variantenreichen, ja geradezu verspielt wirkenden Bildkunst dieselben geistigen Ideen spiegeln, wie sie auch in der ebenso verschlungenen, ungeheuer kunstfertigen Sprache der skaldischen Dichtung in der Wikingerzeit bzw. dem nordischen Mittelalter Ausdruck fanden.137 Die Eliten der Germania schufen und pflegten ihre Bildkunst in wiederholten synthetischen Prozessen, die immer zwischen der Analyse und Integration fremder Bilder in die eigene Bildersprache und deren Umgestaltung im Rahmen der eigenen Weltanschauung pendelten. Generell hatte die Kunst der Tierstilmeister auf den Gebrauchsobjekten wie Schmuck, Beschlägen oder Waffen die Tierbilder zu einer beeindruckenden, anregenden Schönheit geführt, deren zeitlose Faszination bis heute anhält. Sie unterstreicht die mentale Eigenständigkeit der germanischen Eliten. Durch viele Jahrhunderte kommunizierten sie mit Hilfe ihrer Bildersprache, grenzten sich mit ihr von anderen Kulturen ab und stellten ihre Zusammengehörigkeit untereinander zur Schau. Dabei war es kaum relevant, welcher Religionsgemeinschaft die Träger angehörten, denn die Tierbilder waren grundsätzlich universell verständlich und entfalteten ihre heilsame Macht in unterschiedlichen Kontexten.
135 136
137
Genauer zur konkreten Bedeutung einzelner Tiere demnächst Pesch, in: Pesch et al., Goldhalskragen (wie Anm. 54). Vgl. auch Lotte Hedeager, Skandinavisk dyreornamentik: Symbolsk repræsentation af en før-kristen kosmologi. In: Old Norse Myths, Literature and Society. Proceedings of the 11th International Saga Conference 2–7 July 2000, University of Sydney, hrsg. von Geraldine Barnes, Margaret Clunies Ross (Sydney 2000), S. 126– 141. Der in diesem Beitrag, besonders S. 141, vorgetragenen Ansicht, der Tierstil sei eine rein germanisch-heidnische Angelegenheit, die sich in Opposition zur christlichen Bildersprache und ohne jeden Austausch mit dieser entwickelt habe, ist zu widersprechen. Vgl. auch Wamers, Salins Stil II (wie Anm. 77), S. 34 f. Siehe z.B. Friedrich Panzer, Das germanische Tierornament und der Stil der Stabreimepik. Germania V, Heft 1, 1921, S. 80–91; Nancy Wicker, The Scandinavian Animal Styles in Response to Mediterranean and Christian Narrative Art. In: The Cross goes North. Processes of Conversion in Northern Europe, AD 300–1300, hrsg. von Martin Carver (York 2003), S. 531–550, hier S. 538; Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 385 f.
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS (De Gruyter / TCS ) Angemeldet | 172.16.1.226 Heruntergeladen am | 14.02.12 08:05
Comments
Report "Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik "