Exhibition Review: 99x Neukölln – Die Dauerausstellung des Museum Neukölln, in: H-Soz-u-Kult, online unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=147&type=rezausstellungen

July 28, 2017 | Author: Lucia Halder | Category: Curating, City Museums, Collecting and Collections, New Museology, Berlin, History Museums
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99 × Neukölln Veranstalter: Kulturamt Neukölln Datum, Ort: 15.10.2010, Berlin Gößwald, Udo (Hrsg.): 99 × Neukölln. Berlin: Heimatmuseum Neukölln 15.10.2010. ISBN: 978-3-9809348-8-6; 416 S. Rezensiert von: Lucia Halder, Bonn Vermutlich werden einige Museumsbesucher in der neuen Ständigen Ausstellung des Museum Neukölln schnurstracks zu den Objekten eilen, sich etwas nach vorne neigen und – jahrelang konditioniert – zielgenau einige Zentimeter neben das Objekt starren, auf der Suche nach einem erläuternden Text. Fehlanzeige! Denn das Museum Neukölln setzt ein gleichermaßen erfrischendes wie intelligentes kuratorisches Konzept zur Neupräsentation seiner Sammlung ein. „99x Neukölln“ heißt die neue Dauerausstellung. Mit 99 Originalobjekten aus der Sammlung des Museums wird seit vergangenem Mai im stilvoll renovierten ehemaligen Pferde- und Ochsenstall des Gutshofes Britz im Süden der Hauptstadt auf 100 Quadratmetern Ausstellungsfläche Bezirksgeschichte erzählt. Die Exponate sind scheinbar zufällig und vollkommen gleichwertig angeordnet, ohne Ausstellungsarchitektur, ohne Inszenierung, ohne Texttafeln und Grafiken. Damit kommt es allein auf ihre sinnliche Qualität und Anziehungskraft auf den Besucher an. Dennoch ist das Museum Neukölln viel mehr als nur ein Musée Sentimentale. Die Kuratoren präsentieren ein Ausstellungsformat, mit dem es gelingen kann, den einzelnen Besucher zu einem individuellen Zugang zur Geschichte des Stadtteils aufzufordern. Jedes Objekt hat eine Geschichte zu erzählen und jede Geschichte ist gleichermaßen bedeutsam, so der Ansatz. Vier Rundvitrinen und zwei große Wandvitrinen beherbergen die Exponate. Das älteste – der Unterkiefer eines Mammuts – ist über 20.000 Jahre alt, das jüngste ist ein türkisches Tanztuch, angekauft im Jahr 2009. Es gibt keinen vorgegebenen Parcours, jeder Besucher kann bei demjenigen Objekt starten, das ihn visuell oder durch seine individuellen Interessen am meisten anzieht. „Jedes Objekt wurde nach seiner möglichen Schlüssel-

funktion für einen narrativen Kontext durchleuchtet und verschiedenen strukturellen Fragen zeitlicher, topographischer und thematischer Relevanz zugeordnet. Daraus entstand ein Kosmos Neukölln, der historische, soziale und politische Aspekte der Geschichte und Gegenwart des Bezirks Neukölln in einem Wissensnetz zusammenführt.“, so Museumsleiter Udo Gößwald zur Auswahl der Objekte.1 Informationen zu den Exponaten erhält der Besucher mittels einer mobilen TouchscreenStation, die um die Vitrinen herumgeführt werden kann. Stoppt der Benutzer an einer bestimmten Stelle, erkennt der Computer die anvisierten Objekte und stellt auf dem Bildschirm Information zur Verfügung. In der Kategorie „Objekt“ sind alle unmittelbaren Informationen zum Ausstellungsstück versammelt. Die weiterführende Kategorie „Wissensnetz“ hält darüber hinaus gehende Informationen, Fotografien, ergänzende Filme oder Tonaufnahmen bereit. In der nochmals übergeordneten – etwas unglücklich als „SuperWissensnetz“ bezeichneten – Ebene wird das Objekt in den größeren historischen Zusammenhang eingeordnet. So taucht der Besucher in Geschichten aus dem Bezirk ein und erfährt nach und nach immer mehr über dessen Historie. Die Herausforderung einer jeden historischen Ausstellung, anhand eines einzelnen Objektes eine große Narration zu entfalten, haben die Kuratoren mit Bravour gemeistert. Die sehr gut verständlichen Texte vermögen es, anhand eines einzelnen spezifischen Objektes Geschichte(n) zu erzählen und gleichzeitig einen Bezug zur Lebenswelt des Lesers herzustellen. So kann beispielsweise ein bemaltes Toilettenbecken aus der Zeit um 1900 als Zugang zur Sozialgeschichte von Rixdorf (1912 in Neukölln umbenannt) dienen, ein Wäscherührstab aus den 1920er-Jahren beleuchtet alltags- und technikgeschichtliche Aspekte. Die Flöte, die eine kurdische Familie als eines der wenigen Güter mit nach Deutschland ins Exil gebracht hat, symbolisiert ein Stück Neuköllner Migrationsgeschichte. Eine Schellackplatte mit dem Karstadt-Werbesong evolviert die Historie des heute noch existierenden Kaufhauses 1

(09.03.2011).

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am Hermannplatz und somit ein Stück Kulturgeschichte des Bezirks in der Großstadt. Gleichzeitig erfährt der Besucher am Rande allerlei Kurioses, aber stets Interessantes, zum Beispiel dass sich jährlich 40 Tonnen Hundekot auf Berlins Straßen anhäufen oder der Name des Volksparks Hasenheide daher rührt, dass der Große Kurfürst sich hier im 17. Jahrhundert ein Gebiet zur Hasenjagd einzäunen ließ. Die Texte in den Terminals werden in deutscher und englischer Sprache zur Verfügung gestellt. Mit dem Bedienfeld „easy“ kann der „eilige“ Besucher jeweils die BasisInformationen zu dem Objekt abrufen, die aus wenigen kurz und knapp formulierten Zeilen bestehen. Über eine Navigationsleiste sieht der Besucher, wo er sich im Menü befindet und kann jederzeit von einem Menüpunkt zum anderen wechseln. Oberfläche und Navigation der Terminals sind schlicht gehalten und leicht bedienbar. Für Gruppen und Schulklassen gibt es an der Stirnseite des Ausstellungsraumes ein weiteres Terminal mit Großbildschirm und Lautsprechern. Die Besucher können den Ausflug in Neuköllns Entwicklung auch über Themengebiete, eine dreidimensionale Karte des Stadtteils oder spielerisch über Animationsfilme zur Geschichte Neuköllns beginnen. Vier zusätzliche Arbeitsplätze liefern ebenfalls Informationen zu allen Objekten – entweder über die direkte Objektauswahl, über eine Zeitschiene oder einen alternativen Zugang nach den Fragen „Was“, „Wann“ und „Wo“. Doch auch wenn die Wortbeiträge zu fesseln vermögen, ist der Bildschirm das einzige Vermittlungsmedium in der Ausstellung und so droht die Gefahr, vor lauter Geschriebenem das Originalobjekt aus dem Blick zu verlieren. Alle Texte können auch im Katalog zur Ausstellung nachgelesen werden. Dort sind die 99 Objekte auf rund 400 Seiten alphabetisch geordnet beschrieben und verweisen thematisch aufeinander. Konzeptionell orientiert sich die Begleitpublikation an der Ausstellung und verzichtet auf darüber hinausgehende Beiträge. Das Museumskonzept beinhaltet ein partizipatives Moment: Der Menüpunkt „My Story“ in den Terminals enthält Zeitzeugenberichte und persönliche Erinnerungen von Bürgern zum jeweiligen Objekt. Textbeiträge und

Bilder können von jedem Interessierten sowohl an den Terminals in der Ausstellung, als auch über die Homepage des Museums eingesandt werden. Und auf dem so genannten „Geschichtsspeicher“ – Depot und Archiv des Museums – können Besucher nach vorheriger Anmeldung in rund 53.000 Fotografien und Postkarten und 6.500 Objekten selbst recherchieren und idealiter mit dem Museum in einen Wissensdialog treten. Das Museum Neukölln möchte ein inklusives Museum sein und die Bürger in seine Arbeit mit einbeziehen. Die Kuratoren und der Museumsleiter „bloggten“ während der Umbauphase nahezu täglich und informierten über ihre Arbeit, spezifische Fragen der Ausstellung und der Gestaltung. Doch um ein lebendiges Forum für die Stadtgesellschaft zu gestalten, in dem Austausch stattfindet, in dem die Vergangenheit, die Gegenwart und gegebenenfalls sogar die Zukunft verhandelt und sichtbar gemacht werden, braucht es vielleicht noch mehr. Jüngere Entwicklungen zeigen, dass sich ein Museum als Produkt und Faktor einer Gesellschaft verstehen kann2 , und sich insbesondere ein Stadtmuseum des 21. Jahrhunderts stärker mit seinen „Nutzern“ auseinandersetzen muss – Identitätskonstruktion nicht als Mythenbildung, sondern als soziale Praxis, die unter anderem im Museum stattfindet. Der Wandel einer Stadt verläuft schneller als die traditionellen Modi musealer Repräsentation ihn bisher erfassen können. Dem Neuköllner Museum fehlt leider – sieht man von den Wechselausstellungen ab – ein dynamisches Moment, das aktuelle Entwicklungen im Bezirk mit einbezieht und zur Diskussion stellt. Eines der jüngsten Objekte im Museum ist eine Mütze der „Rütli Wear“- Kollektion aus dem Jahr 2005. Doch wie kann beispielsweise der rasante Veränderungsprozess, in dem der facettenreiche Stadtteil momentan begriffen ist, erfasst und dargestellt werden? Wie wirkt sich die momentane Umschichtung auf die soziale Wirklichkeit des vielfältigen Stadtteils aus? Und über welche Objekte und Medien kann ein solcher Wandlungsprozess in einem Museum sichtbar gemacht werden? 2 Vgl.

Volker Kirchberg, Gesellschaftliche Funktionen von Museen. Makro-, meso- und mikrosoziologische Perspektiven. Berliner Schriften zur Museumskunde, Band 20, Wiesbaden 2005.

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99 × Neukölln Denn dass die Neuköllner Museumsmacher ein grundlegendes Gespür für den Umgang mit Objekten haben und dass sie diese zum Sprechen bringen können, haben sie mit „99 x Neukölln“ bewiesen. „Museum Neukölln? Nie jehört!“, lautete allerdings die Antwort einiger Passanten auf die Frage nach dem Weg zum Museum. Das ändert sich hoffentlich bald. Denn die Ausstellung „99 x Neukölln“ ist es überaus wert, erkundet zu werden – und zwar nicht nur von Neuköllnern. Berliner aus allen Stadtteilen und Touristen können hier gleichermaßen ihre Mental Map der Hauptstadt erweitern, historische Zusammenhänge begreifen und den narrativen Wert eines Ausstellungsobjektes zu schätzen lernen. Lucia Halder über Gößwald, Udo (Hrsg.): 99 × Neukölln. Berlin 15.10.2010, in: H-Soz-Kult 19.03.2011.

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