Einige psychoanalytische Bemerkungen zum Mimesis-Konzept. - Conference on Mimesis. Fifty Years Later, Groningen 29.05.1996

October 20, 2017 | Author: Walter Schönau | Category: Literary Theory, Psychoanalysis And Literature
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Paper Conference Mimesis, Fifty Years Later, 29 May 1996


EINIGE PSYCHOANALYTISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUM MIMESIS-KONZEPT


Walter Schönau (Univ. Groningen)


Human kind cannot bear very much reality (T.S. Eliot)


Naiver und kritischer Realismus
Erich Auerbach ist mit Recht dafür kritisiert worden, daß er in seinem Buch
Mimesis (1946) literarische Wirklichkeitsdarstellungen von Homer bis
Virginia Woolf beschrieben hat, ohne die historische und kulturelle
Bedingtheit und Wandelbarkeit des jeweiligen Realitätskonzepts
verschiedener Kulturepochen als Problem zu erkennen. Es sind vor allem die
anthropologischen, epistemologischen und philosophischen Prämissen seines
Literaturkonzepts, nicht die Stilinterpretationen an sich, welche Auerbachs
großartiges Werk heute, fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen, als
revisionsbedürftig erscheinen lassen.
Weil man heute über Repräsentation auf Grund neuer Einsichten im
Bereich der Gehirnforschung, der Psychologie, der Linguistik, der Semiotik,
der Perzeptions- und Kognitionswissenschaften ganz anders denkt als vor
einem halben Jahrhundert, müssen wir auch die Repräsentation der
Wirklichkeit in der Dichtung, also das Mimesis-Konzept, neu überdenken. So
lehrt uns die genetisch-evolutionäre Betrachtungsweise, daß unser
Wahrnehmungssystem, mit dem wir von der Natur ausgestattet sind, sich im
Laufe der biologischen Evolution im Dienste des Überlebens, im Kampf ums
Dasein, entwickelt hat. Es ist keineswegs als ein Instrument zur objektiven
interesselosen Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit angelegt, so gerne wir
auch in der Praxis des Alltagslebens von dieser Annahme ausgehen, besonders
wenn es sich um unseren eigenen Wahrnehmungsapparat handelt. Unser
Erkenntnisinstrumentarium ist also in erster Linie ein Produkt biologischer
Anpassung, nicht philosophischer Schulung. In letzter Zeit hat besonders
Ludwig Haesler in seinem Buch Auf der Suche nach einer erträglichen Welt.
Über den Umgang des Menschen mit der Wirklichkeit (1995), dem ich für diese
Überlegungen viel verdanke, sehr klar ausgeführt, wie das rational-logisch-
diskursive Denken, eine im Rahmen der Evolution relativ späte
Errungenschaft, sich aus den ursprünglicheren Formen der Umbildung der
Wirklichkeit in unserer inneren Welt wie Traum, Phantasie und Illusion
entwickelt hat. Außerdem hat er gezeigt, wie dieses 'wissenschaftliche'
Denken ständig durch 'perverses', apokalyptisches oder psychotisches
'Denken' gefährdet ist. Wir suchen, so Haeslers Hauptthese, die innere
Repräsentanz unserer Umwelt mit unseren (oft unbewußten) Wünschen und
Hoffnungen in Einklang zu bringen um diese so psychisch erträglich zu
halten, ja wir können gar nicht anders. Seine Unterscheidung zwischen
wissenschaftlichem und vorwissenschaftlichem Denken entspricht ungefähr
derjenigen Freuds zwischen psychischem Sekundär- und Primärprozeß.
Das Studium der Perzeptionsmodi und -möglichkeiten hat uns auch
gelehrt, daß unser inneres Bild der äußeren Realität - entgegen unserer
naiven Überzeugung und unseren lebenspraktischen Arbeitshypothesen - nicht
ein Abbild ist, sondern ein Konstrukt. Weil wir im Grunde keine
unmittelbaren Kenntnisse über die Welt `da draußen' haben und nur das
konstruierte Bild von ihr `hier drinnen', in der inneren Welt, besitzen,
gibt es auch gar keine Möglichkeit, das vermeintliche Abbild mit seinem
Original zu vergleichen. Das in unserm Innern konstruierte Bild kann
überhaupt kein ikonisches Abbild sein.
Damit ist aber auch das `naive' Mimesis-Konzept, das Auerbach in
seiner Analyse der `dargestellten Wirklichkeit' stillschweigend als
Prämisse benutzte - denn er vermied wohlweislich die Theorie - , fragwürdig
geworden. Es fußte auf der Überzeugung des `naiven' Realismus, das heißt
auf der Annahme, daß die äußere Wirklichkeit mit dem übereinstimmt, was wir
mit unseren beschränkten, nie interesselosen Möglichkeiten von ihr
wahrnehmen. Der `kritische' Realismus dagegen gesteht den Modi,
Möglichkeiten und Grenzen der Informationsaufnahme und
Informationsverarbeitung eine beträchtliche Mitwirkung am Erkenntnisprozeß
zu (Haesler 1995, 49). Im Sinne dieses kritischen Realismus müßte das
literaturtheoretisch so fruchtbare wie verwirrende Konzept der Mimesis also
neu definiert werden als die literarische Repräsentation (mittels der
historischen Konventionen, formalen und inhaltlichen Regeln und
Gattungsgesetze der Literatur) jener inneren Repräsentanz der äußeren
Wirklichkeit, die durch Selektion, Reduktion, Interpretation und Evaluation
zustande gekommen ist und die ihrerseits auch als ein historisch-kulturell
wandelbares Bild der jeweiligen `Realität' aufzufassen ist.
Heute vertritt, soweit ich sehe, die Literaturwissenschaft denn auch
in überwiegendem Maße im Sinne des kritischen Realismus die Ansicht, daß
literarische Werke, auch solche, die man als 'realistische' zu bezeichnen
pflegt, eher als schöpferische Darstellungen und Deutungen unseres
subjektiven Umgangs mit der Wirklichkeit denn als ihre getreue mimetische
Widerspiegelung aufzufassen sind. Wie - unter vielen anderen - Wolfgang
Iser schon in Der Akt des Lesens (1976) überzeugend ausgeführt und in
seinen späteren Studien weiter ausgearbeitet hat, bezieht der fiktionale
Text sich also nie auf Realität schlechthin, sondern auf variable
Wirklichkeitsmodelle, auf historisch bedingte Konstrukte, welche die
Kontingenz und Komplexität der Welt durch Selektion und Reduktion zu
Sinnsystemen verarbeiten (Renner/Habekost 1995, 19), während diese
Sinnsysteme dann ihrerseits in den Ausdrucksformen des Mediums Literatur
wiederum ihre selektive und interpretative Gestaltung erfahren. Jacques
Derrida hat im Rahmen seiner dekonstruktivistischen Kritik am
Logozentrismus und mit Hilfe der Sprechakttheorie auf seine Weise den
naiven Realismusbegriff einer grundsätzlichen Kritik unterworfen. Eines
seiner Argumente dabei hat er von Freud übernommen: es ist der Hinweis auf
die unbewußte Dimension nicht nur unserer Erkenntnisprozesse, sondern auch
der Repräsentationen ihrer Ergebnisse. Und damit sind wir beim Thema, auf
das ich jetzt etwas näher eingehen möchte: bei der Frage, was die
Psychoanalyse zur Erhellung der literarischen Repräsentation und ihrer
erkenntnistheoretischen Voraussetzungen beitragen könnte.

Psychische Realität
Fruchtbar scheint mir in dieser Hinsicht zunächst die von Freud
vorgenommene Unterscheidung einer materiellen und einer psychischen
Realität, eine Unterscheidung, welche gerade für die Dichtung und ihre
Theorie eine besondere Relevanz hat. Durchaus schon im Sinne des kritischen
Realismus wies Freud darauf hin, daß es eine innere Wirklichkeit gibt, die
er als das dynamische Unbewußte, das eigentlich reale Psychische
definierte, das uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale
der Außenwelt (ist) und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso
unvollständig gegeben (ist) wie die Außenwelt durch die Angaben unserer
Sinnesorgane (Freud 1900, 617f.). Unser Bild von der Außenwelt, so meinte
er, ist qualitate qua von dieser uns zum größten Teil unbekannten
Innenwelt, von Strebungen, Wünschen, Ängsten und Konflikten, von
psychischen Interessen, von unserer unbewußten Ideologie sozusagen,
bestimmt. Die Wechselwirkung zwischen der materiellen und der psychischen
Realität ist die eigentliche Domäne der psychoanalytischen Therapie (vgl.
A.W.M. Mooij 1988). Und, so könnte man fragen, ist Literatur ihrem Wesen
nach nicht auch eher eine (ästhetische) Repräsentation dieser Interaktion
psychischer und äußerer Realität denn ein bloßes Spiegelbild äußerer
Wirklichkeit, wie es das Auerbachsche Mimesis-Konzept voraussetzte?
So wie es kein Modell der Wirklichkeit geben kann ohne spezifisches
Vorverständnis, das den Erkenntnisprozeß organisiert und als Informations-
Filter funktioniert (Haesler 1995, 51), so gibt es auch keine
Literaturtheorie ohne anthropologisches Vorverständnis, ohne - meist
implizite - Prämissen über den Menschen, die Gesellschaft und über die
Funktionen der Literatur als Ausdrucksmedium. Das spezifische
Vorverständnis der Psychoanalyse, das immer vom Einfluß des Unbewußten
ausgeht, führt meines Erachtens zu einem Literaturkonzept, das die
Literatur weniger als Mimesis und mehr als Creatio (vgl. Maatje 1970, 170-
173) auffaßt, einem Konzept, das in der Produktion von Literatur Analoga zu
den Mechanismen der Traumarbeit wiedererkennt und in der Rezeption von
Literatur Übereinstimmungen mit dem Traumerleben entdeckt, einem Konzept,
das Literatur nicht ausschließlich als künstlerisches Produkt des
Sekundärprozesses, also der kognitiven und rational-bewußten
Auseinandersetzung mit der Außenwelt erblickt, sondern zugleich als Produkt
des Primärprozesses, das heißt eines vorwissenschaftlichen, assoziativen,
wunschbestimmten, magischen oder mythischen Umgangs mit der Welt.
Namentlich in der Lyrik läßt sich diese These mit vielen Beispielen und
Argumenten belegen. So betrachtet ist Mimesis im traditionellen Sinne, als
dargestellte Wirklichkeit, wie Auerbach sie auffaßte, vielleicht eher eine
Vorbedingung für die Wirkung literarischer Fiktion als ihr Ergebnis. Ist
Traum Mimesis? Ja, wenn man darin - im weiteren Sinne - eine sich im
Traumbewußtsein vollziehende Umbildung der Lebenswirklichkeit in der
inneren Welt erblickt. Nein, wenn man etwa in der absurden Traumlogik die
Auswirkungen des Primärprozesses erblickt und die Traumszenen als
halluzinatorisch erlebte symbolisierte Wunscherfüllungen versteht (vgl.
Schönau 1983).
Die zentrale Frage in der Mimesis-Diskussion scheint mir also
diejenige nach dem Verhältnis zwischen Fiktion und Mimesis, nach der Art
und Weise ihrer Vermittlung im literarischen Werk zu sein. Versteht man
Literatur in erster Linie als Fiktion, dann ist auch die extrem
realistische, naturalistische oder veristische Wirklichkeitswiedergabe der
Fiktion untergeordnet. Das heißt, daß der vertraute Eindruck des Lesers,
dieser Text gebe die Erfahrungswelt lebensgetreu wieder, sein Gefühl dabei
ja, so ist das Leben!, den Sinn des Werkes nie erschöpft, weil der Anteil
psychischer Realität, der Einfluß unbewußter Phantasien, zwar übersehen,
aber nicht ausgeschaltet werden kann. Ein Weltbild ohne die Einfärbung
durch die psychische Realität, darauf muß die Psychoanalyse bestehen, ist
nicht denkbar.
Vielleicht läßt sich die These, daß auch im realistischen Text die
psychische Realität immer vertreten ist, an Hand jener Stoffe illustrieren,
die der historischen Realität entnommen, nicht von der schriftstellerischen
Einbildungskraft erfunden sind und trotzdem vielfache literarische
Gestaltung erfahren haben, etwa die Geschichte vom Bergwerk zu Falun in
Schweden (Frenzel 1970, 91-93). Es muß die mythische Struktur dieser
Begebenheit, die Wiederentdeckung im Jahre 1719 des unversehrten Leichnams
eines vor fünfzig Jahren verunglückten Bergmanns, der nun von seiner
ehemaligen Braut wiedererkannt wurde, es muß ihre Übereinstimmung mit
gewissen Urphantasien sein, welche an das Unbewußte der Autoren appelliert
und damit ihre Kreativität stimuliert haben, so daß sie sich zur
literarischen Bearbeitung gedrängt fühlten (vgl. Schönau 1997).
Eine psychoanalytische Sicht auf die Frage der literarischen
Repräsentation der Wirklichkeit kann den Anteil der Phantasie, gerade auch
als eines nie fehlenden Modus des Umgangs mit der Wirklichkeit, nicht außer
Betracht lassen. Literarische Werke, so wirklichkeitsgetreu sie sich auch
geben, sind letztlich phantasiegeleitete Szenarien. So erweist sich etwa,
um ein anderes Beispiel zu nennen, die dargestellte Wirklichkeit in Thomas
Manns Novelle Der Tod in Venedig mit all ihren realistischen Details durch
die Komposition der Geschichte, namentlich durch den Handlungsablauf, als
suggestive Repräsentation einer hochsymbolischen mythisierten Welt. In
psychologischer Hinsicht enthüllt sich die Novelle als Ausdruck eines
narzißtischen Phantasierens in der Nähe des Beziehungswahns, weil in dieser
Welt alle `Objekte' nur in ihrer Funktion für das Subjekt auftreten. Sie
haben im Grunde kein Eigenleben und erweisen sich alle als `Selbstobjekte'
(im Sinne Heinz Kohuts), als Statisten, als Funktionsträger im mythisierten
Drama vom vordergründig beschämenden, hintergründig aber grandios
inszenierten Untergang des Helden.

Der intermediäre Raum
Das Problem der Mimesis, das heißt hier, an diesem Punkt in unseren
Überlegungen, die Frage nach ihrem Stellenwert in der Literatur, deren
anthropologische Funktion nicht allein mit dem Realitätsprinzip, sondern
immer auch mit dem Lustprinzip als grundlegendem Regulativ des psychischen
Geschehens theoretisch zu begründen ist, läßt sich psychoanalytisch noch
präzisieren und - wie ich meine - auch bis zu einem gewissen Grade lösen,
wenn man Literatur als Phänomen des intermediären Raums, als
Übergangsphänomen im Sinne Winnicotts (1977) auffaßt. Der englische
Psychoanalytiker Donald Winnicott hat in seiner Theorie vom Verhältnis
zwischen der Welt des Spiels und derjenigen der Wirklichkeit einen
psychischen Raum beschrieben, der sich in der kognitiven und affektiven
Entwicklung dann etabliert, wenn das Kind lernt, mit bestimmten Objekten,
den sogen. Übergangsobjekten, die Perioden der Abwesenheit der Mutter zu
überbrücken, indem es diesen Objekten den Symbolwert ihrer Nähe zuerkennt.
Diese Objekte - ein Stofftier, der Zipfel eines Tuchs, eine Puppe -
bedeuten die Mutter, vermitteln dem Kinde das - etwa für das Einschlafen
oder das Wohlbefinden - notwendige Geborgenheitsgefühl, werden aber
andererseits schon als getrennte Objekte der Dingwelt wahrgenommen. Sie
sind die Vorläufer der Spielzeuggegenstände, etwa der Steckenpferde und
Zinnsoldaten, mit denen das Kinderspiel als eine Form des ausagierten
Phantasierens mit Hilfe konkreter und zugleich symbolischer Gegenstände
gespielt wird. Sie begründen aber auch - und das ist eine typisch
psychoanalytische, das heißt auch immer genetische Entdeckung - einen
intermediären psychischen Raum, in dem die Kulturdomänen der Religion, des
Mythus, des Rituals, der bildenden Kunst, der Musik und auch der Literatur,
ihren Ursprung und ihre Heimat haben. Dieser Zwischenraum der Kreativität,
des Spiels (und auch des Festes) ist der Bereich einer spielerischen
Vermittlung der inneren mit der äußeren Welt. Es ist das Gebiet der
virtuellen Realität, die Fortsetzung der Modalitäten des Kinderspiels im
psychischen Leben der Erwachsenen, in dem wir in einer Art von Probehandeln
wie im Realitätsmodell des Schachspiels uns auf unverbindliche Art und
Weise, das heißt ohne Existenzrisiko mit der Außenwelt und ihren
Anforderungen im Simulationsraum der Innenwelt auseinandersetzen.
Im Sinne des bekannten Diktums von T.S. Eliot, "Human kind cannot
bear very much reality" (Eliot, Burnt Norton, 1935) untersucht die
Psychoanalyse die vielen Formen (Traum, Phantasie, Illusion, Perversion,
Psychose, Wahn), die dem Menschen zur Verfügung stehen, um das Bild der
äußeren Welt in seiner Innenwelt erträglicher zu gestalten. Im
intermediären Bereich befreit er sich, wie das Kind in seinem Spiel, vom
inneren Druck der nie abgeschlossenen Aufgabe, die Realität zu akzeptieren
- und zwar nicht durch einfache Verleugnung, sondern durch Formen der
Vermittlung von psychischer und materieller Realität, durch
Kompromißbildungen. Das gelungene Kunstwerk läßt sich vielleicht daran
erkennen, daß es seine Betrachter oder Leser letztlich nicht der
Wirklichkeit entfremdet, sondern sie darauf zurückführt. Seine
anthropologische Funktion liegt vielleicht in der (vorübergehenden)
Befreiung vom inneren Druck der Aufgabe, die äußere Realität anzuerkennen.
Dichtung stellt, so betrachtet, eine Kompensation der fortschreitenden
Entzauberung der Welt unter der wachsenden Herrschaft des Realitätsprinzips
dar, indem sie durch ihre Hilfskonstruktionen auch den Anforderungen des
Lustprinzips, wenn auch meist unerkannt, gerecht wird.
Das Konzept des intermediären Raums, so scheint mir, ermöglicht es
uns erst, die Schichten des Realismus und des Symbolismus, die wir in
unseren Literaturanalysen immer wieder nebeneinander feststellen (vgl. u.a.
J.J.A. Mooij 1993, 149-169), in ihrer Beziehung zueinander zu verstehen und
theoretisch miteinander zu vermitteln. Im freien ästhetischen Spiel der
Einbildungskraft werden unsere wunschbestimmten Phantasien als
Kompromißbildung zwischen Wunsch und Abwehr gestaltet. Gäbe es nicht, auch
noch in den Tagträumen, die Verbote, die Versagungen, die Drohungen und die
Hindernisse, so wäre Literatur spannungslose Utopie. Kein Spiel ohne
Spielregeln, kein Sieg ohne die Möglichkeit des Verlierens - so auch keine
Dichtung ohne Bewältigung von Schwierigkeiten, ohne Bestehen von Gefahren -
und ohne die Verbote seitens des Gewissens, dessen Stimme sich in der
Gestaltung jedes Phantasmas auch Gehör zu verschaffen weiß. Die
Urphantasien als universelle unbewußte Grundstrukturen erweisen sich in der
psychoanalytischen Interpretation auch als die Modelle der literarischen
Fiktion, sie werden in der Dichtung gestaltet und umgestaltet, allerdings -
und das ist das Beunruhigende, Kränkende und schwer zu Akzeptierende der
psychoanalytischen Literaturtheorie - dies geschieht unbewußt, in der Regel
sowohl vom Autor wie vom Leser nicht erkannt, höchstens geahnt. Dies ist
der Punkt, in dem die psychoanalytische Literaturtheorie etwa von
derjenigen Wolfgang Isers abweicht, dessen anthropologische Bestimmung der
Dichtung als Spielraum des Fiktiven und des Imaginären (Iser 1993) sonst
mit ihr übereinstimmt.
Die eigentümliche Doppel-Qualität der Fiktion als eine Präsentation
von ist/ist nicht, als scheinhafte Mimesis, entspricht genau den von
Winnicott zum erstenmal beschriebenen psychischen Übergangsphänomenen.
Dichtung, verstanden als künstlerisches Spiel, ist - so können wir nun
zusammenfassen - nicht ein Abbild der Wirklichkeit, sondern eine
modellhafte Konstruktion, die wir aus der frühkindlichen Entwicklung
beibehalten haben und auf die wir dann nicht mehr verzichten wollen, unter
anderem weil sie sich in ihrer sublimierten Gestalt als kulturell so
wertvoll gezeigt hat. Mimesis, so können wir jetzt folgern, sollte, wenn
man den Begriff schon beibehalten will, nicht ohne Einbeziehung der
psychischen Realität und des psychischen Zwischenraums konzeptualisiert
werden.
LITERATUR

Erich Auerbach (1946): Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der
abendländischen Literatur. 9. Aufl. Bern 1994.

T.S. Eliot (1935): Four Quartets: Burnt Norton. In; Collected Poems 1909-
1962. London 1963, 190.

Elisabeth Frenzel (1970): Stoffe der Weltliteratur. 3. Aufl. Stuttgart.

Sigmund Freud (1900): Die Traumdeutung. Ges. Werke Bd II. Frankf.a.M.

Ludwig Haesler (1995): Auf der Suche nach einer erträglichen Welt. Über den
Umgang des Menschen mit der Wirklichkeit. Darmstadt.

Wolfgang Iser (1976): Der Akt des Lesens. München.

Wolfgang Iser (1991): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven
literarischer Anthropologie. Frankf.a.M.

Frank C. Maatje (1970): Literatuurwetenschap. Grondslagen van een theorie
van het literaire werk. Utrecht.

A.W.M. Mooij (1988): De psychische realiteit. Over psychiatrie als
wetenschap. Meppel/Amsterdam.

J.J.A. Mooij (1993): Fictional Realities. The uses of literary imagination.
Amsterdam/Philadelphia. Ch. VI: Realism in Fiction, 125-147.

R.G. Renner/E. Habekost (Hrsg.) (1995): Lexikon literaturtheoretischer
Werke. Stuttgart.

Walter Schönau (1983): Erdichtete Träume. Zu ihrer Produktion,
Interpretation und Rezeption. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren
Germanistik 17, 41-68.

Walter Schönau: True Stories: Some Psychoanalytic Remarks on Mimesis. In:
Proceedings of the 13th International Conference on Literature and
Psychology, Boston (USA),2-7 July 1996. Lisbon: ISPA 1997.

D.W. Winnicott (1971): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1971.

13th INTERNATIONAL CONFERENCE IN LITERATURE AND PSYCHOLOGY
Boston (USA) July 2-7, 1996


SOME PSYCHOANALYTIC REMARKS ON THE CONCEPT OF MIMESIS

Walter Schönau, University of Groningen (Netherlands)


Abstract

Erich Auerbach, author of the famous book on realism in literature Mimesis
(1946), has been criticised for not taking into account the historical
change of the concept of reality in different periods and in different
cultures. As Wolfgang Iser, among other people, has argued very
convincingly, the literary text does not, however, represent reality as
such, but various models of reality, different historical constructions
"that react to the contingency and complexity of the world through
selection and reduction to systems of meaning".

The contribution of psychoanalysis to the debate about a new definition of
the relation between literature and reality seems to consist of the
differentiation between inner (psychical) and outer reality just as in the
differentiation between the pleasure principle and the principle of
reality. Psychoanalysis can be seen as a method of studying the interaction
of inner and outer reality, governed by both principles.

These concepts have necessarily consequences for literary theory. In a
psychoanalytic approach, literary representation of reality is always
influenced by unconscious fantasies. In Realism, the reality principle may
be the rule, but the pleasure principle will always modify the way our
world is rendered. Fictional representation of reality has to be considered
as a form of wish fulfillment in disguise, for instance as an expression of
the eternal longing for justice.

One of the anthropological functions of literary fiction could be a
compensation for the progressing disenchantment of our world under the
increasingly more important control of the reality principle.













file:mimesis.ab3


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