Das Wesen der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Wissens Ziele
Wir haben im vorigen Abschnitt Wissen als Vermögen bestimmt, d.h. als die Fähigkeit, etwas zu tun – die Fähigkeit zu handeln. Die Tätigkeit, die Epistéme-‐Wissen realisiert, heißt Wissenschaft. Jede Tätigkeit hat ein Ziel, d.h. etwas, das sie anstrebt und dessen Erreichung die Tätigkeit zu einem Abschluss bringt. Dieses Ziel kann zum einen mit der Aktualisierung der Tätigkeit selbst zusammenfallen – man spricht in diesem Fall von einem inneren Ziel. Das Ziel z.B. des Spazierengehens ist es nicht, einen Ort gehend zu erreichen, son-‐ dern eben zu gehen – es ist ein inneres Ziel. Auch wenn wir eine bestimmte Tätigkeit nur zur Übung ausfüh-‐ ren, fällt das Ziel mit dieser Tätigkeit zusammen. Wir üben aber eine Tätigkeit ein oder wir machen einen Spaziergang nicht bloß um der Realisierung dieser Tätigkeit willen, sondern weil wir damit ein weiteres, darüber hinausgehendes Ziel verfolgen: Spazierenge-‐ hen fördert z.B. die Gesundheit, oder es macht Spaß, und eine eingeübte Tätigkeit wird später ausgeführt, um ein gesetztes Ziel eben besser erreichen zu können. In Bezug auf das Spazierengehen sind Erreichung der Gesundheit oder Spaßhaben äußere Ziele. Eine Tätigkeit, die sich bloß in ihrer Ausführung erschöpft, ist, verglichen mit einer Tätigkeit, die auf ein äußeres Ziel gerichtet ist, unvollkommener, weil es kein Krite-‐ rium gibt, das bestimmt, wann diese „Selbstzwecktätigkeit“ ausgeführt oder warum sie überhaupt ausge-‐ führt werden soll. Wenn ein Spaziergang lediglich seine eigene Realisierung zum Ziel hätte, und man nicht wüsste, was man darüber hinaus erreichen könnte, könnte man ihn genauso gut nicht ausführen. Es wäre ebenfalls sinnlos, etwas einzuüben, wovon man nicht weiß, wozu es gut ist. Damit also eine Tätigkeit einen Sinn hat, muss sie ein Ziel verfolgen, das sich nicht bloß in der Realisierung dieser Tätigkeit erschöpft – sie muss ein äußeres Ziel haben. Äußere Ziele lassen sich in drei Gruppen einteilen: Es gibt diejenigen Ziele, die zunächst als im Allgemeinen erstrebenswert betrachtet werden und deren Realisierungswürdigkeit erst auf einen Protest oder Einwand hin überprüft wird. Es ist z.B. im Allgemeinen erstrebenswert, ein Eigenheim zu bauen. Erst wenn eine an-‐ dere Person oder ein Personenkreis dagegen Einspruch erhebt, wird untersucht, ob dieses allgemein er-‐ strebenswerte Ziel im konkreten Fall angestrebt werden darf oder nicht. Wir wollen derartig verfasste Ziele gute Ziele nennen. Die zweite Gruppe bilden Ziele, die für eine bestimmte Person oder einen bestimmten Personenkreis zu einem gegebenen Zeitpunkt zwar erstrebenswert sind, deren generelle Realisierung aber dazu führen wür-‐ de, dass nur eine bestimmte Anzahl von Personen diese Ziele zu Lasten aller Übrigen erreichen könnte. Es kann z.B. sein, dass Verbrennungsmotoren sehr gut geeignet sind, um Privatfahrzeuge anzutreiben. Ange-‐ sichts aber der Tatsache, dass der Betrieb von Verbrennungsmotoren langfristig zur Verschlechterung der allgemeinen Lebensumstände führt, kann man schon jetzt abschätzen, dass nur ein Teil der Menschheit auf diese Weise sein Bedürfnis nach Individualtransport befriedigen kann. Ein uneingeschränkter Zugang aller Menschen zu dieser Technologie, hätte – zumindest nach heutigem Wissenstand – katastrophale Folgen. Deshalb arbeitet man ja schon daran, andere Motorentypen für den Individualtransport zu entwickeln. Ziele, deren Wert in diesem Sinne nicht verallgemeinert werden kann – auch wenn sie für eine bestimmte Zeit oder für bestimmte Personen als die beste Lösung erscheinen –, sollen bequeme Ziele genannt wer-‐ den. Schließlich gibt es auch diejenigen Ziele, die nur der Sättigung von partikulären Begierden dienen, und de-‐ ren Realisierung den direkten Schaden von anderen Personen zur Folge hat. Diese Ziele wollen wir schlech-‐ te Ziele nennen.
2.2
Praxen
Es gibt Tätigkeiten, die gute Ziele realisieren. In fast jeder menschlichen Gemeinschaft werden derartige Tätigkeiten in bestimmten Weisen organisiert, so dass ihre Realisierung geregelt stattfindet und das Wis-‐ sen, wie man sie realisiert und was damit erreicht wird, von Generation zu Generation weitergegeben wird. Solche Organisationszusammenhänge von Tätigkeiten, die gute Ziele realisieren, heißen Praxen. Die Praxen können sehr verschiedene Organisationsstrukturen aufweisen und manchmal sehr komplexe und hochgra-‐ 10
Einführung in die Philosophie der Wissenschaften – 2. Das Wesen der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Wissens
dig arbeitsteilig auszuführende Tätigkeiten beinhalten. Manche Praxen haben eine institutionelle Form, etwa als Beruf oder als staatliche oder gesellschaftliche Institution. Andere Praxen werden vorwiegend informell aufrechterhalten, wie z.B. das Hobbyangeln oder das Feiern von Geburtstagen. Tätigkeiten, die schlechte Ziele verfolgen, können keine Praxen konstituieren, allein schon deshalb, weil es nicht im allgemeinen Interesse ist, sie in der Gemeinschaft in die nächsten Generationen weiterzugeben. Das schließt zwar nicht aus, dass die unmittelbar an derartigen Tätigkeiten Interessierten, diese an potenti-‐ elle Komplizen lehren. Es kann auch mitunter vorkommen, dass Wissen um die Erreichung von schlechten Zielen in einer Form weitergegeben wird, die äußerlich an eine Praxis erinnert. Aber allein die Tatsache, dass eine Piratenbande diszipliniert vorgeht, macht sie nicht zu einem Zug von Polizisten. Wie ist es jedoch mit Tätigkeiten bestellt, die bequeme Ziele verfolgen? Eine weit verbreitete Ansicht ist, dass derartige Tätigkeiten ebenfalls Praxen konstituieren, zumindest solange die zu realisierenden Ziele nicht in offenem Widerspruch zu den Zielen oder den Lebensvollzügen anderer Menschen stehen, oder solange das betreffende bequeme Ziel „im Dienst“ eines höheren guten Zieles steht, oder solange dieses Ziel „die beste Lösung“ darstellt. Diese Ansicht ist falsch! Denn die Begriffsbestimmung des bequemen Zie-‐ les enthält bereits die Vorstellung seiner allgemeinen Schlechtigkeit bzw. seiner bloß lokal gültigen „Güte“. Das systematische Realisieren von bequemen Zielen kann somit höchstens „praxisähnliche“ Gewohnheiten oder Gebräuche herausbilden, aber keine Praxen. Das gilt auch und gerade für Ziele, die unter den gegebe-‐ nen Umständen als die „beste“ oder sogar die „einzige“ Möglichkeit erscheinen, ein höheres, gutes Ziel zu erreichen. Der Umstand z.B., dass die Anwendung von Verhörmethoden „dritten Grades“ Menschenleben retten kann oder gar gerettet hat, oder dass Versuche an Menschen ohne (oder sogar wider) deren Zu-‐ stimmung, die Medizin um wichtige Erkenntnisse über den menschlichen Organismus bereichert haben, die später sogar zu medizinischen Durchbrüchen gegen Krankheiten oder zu sichereren technischen Geräten6 führen könnten, ist weder der konstitutive Akt einer diesbezüglichen Praxis noch ein Grund für einen sol-‐ chen. Es mag mildernde Umstände geben, die das Urteil über Personen, die den bequemen Weg gewählt haben, abschwächen. Aber die Anerkennung eines mildernden Umstandes bedeutet nicht die Anerken-‐ nung, dass ein bequemes Ziel ein gutes Ziel ist. Die Unüberwindbarkeit des Grabens, der die bequemen von den guten Zielen trennt, beruht darauf, dass beim Verfolgen von bequemen Zielen stets Menschen zu bloßen Mitteln der Erreichung dieser Ziele wer-‐ den. Dies gilt auch für den Fall, dass das bequeme Ziel ein Zwischenschritt zur Erreichung eines guten Zieles ist. Ein Gefolterter bleibt nämlich ein Werkzeug auf dem Weg zu Findung der Wahrheit, auch wenn er unter der Folter die Wahrheit sagt und diese Wahrheit hilft, ein Verbrechen aufzuklären oder zu vermeiden. Der Hinweis, dass dem Befragten die Folter erspart geblieben wäre, wenn er kooperiert hätte, verwandelt das bequeme Ziel der gewaltsamen Gewinnung von Aussagen nicht in ein gutes, denn schon die Androhung der Folter definiert die Rolle des Befragten als bloßes Werkzeug im Prozess der Wahrheitsfindung. Die durch Folter zutage gebrachte Wahrheit ist nicht die allgemeine Wahrheit, die auch den Befragten einschließt, sondern nur die Wahrheit der Befrager. Dasselbe gilt für die vermeintlichen „guten“ Ziele der Heilung von Millionen, die als Rechtfertigung von Menschenversuchen ohne Kenntnis oder sogar wider die Ablehnung der Versuchspersonen durchgeführt werden, oder für Zwangsumsiedlungen und Bevölkerungsaustausche im Namen des Friedens und der Stabilität usw. Das Fazit ist: Regelgeleitete (und auch gemeinschaftlich ausgeführte und in Gemeinschaften tradierte) Tätigkeiten, die lediglich bequeme Ziele verfolgen, können keine Praxen konstituieren, auch wenn sie manchmal, wie manche schlechte Tätigkeiten, sich den äußeren Schein einer Praxis geben.7 6
Im 19. und im 20. Jahrhundert sind etliche Fälle von unfreiwilligen Menschenversuchen dokumentiert worden, auch nachdem die Menschenversuche an KZ-‐Häftlingen durch Nazi-‐Mediziner bekannt geworden und die Täter verurteilt worden sind.
7
Aus diesen Überlegungen folgt nicht, dass man sich jeder Tätigkeit verweigern bzw. jede Tätigkeit und jede Ge-‐ meinschaft bekämpfen soll, die nicht ein explizit gutes Ziel verfolgt. Solange das verfolgte Ziel nicht explizit schlecht ist, ist jeder geregelte Tätigkeitszusammenhang einem Zustand der vollständiger Abwesenheit jeglicher Ordnung vorzuziehen. Insofern man aber erkennt, dass die verfolgten Ziele bloß bequem sind, hat man die Pflicht, 11
Einführung in die Philosophie der Wissenschaften – 2. Das Wesen der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Wissens
2.3
Wissenschaften als Praxen
Der Erwerb von Epistéme-‐Wissen ist eine Tätigkeit. Diese Tätigkeit verfolgt ein gutes Ziel, denn Epistéme-‐ Wissen ist von universeller Geltung, d.h. es gilt für alle Menschen und jeder Mensch, der nach Wissen strebt, strebt auch Epistéme-‐Wissen an. Dieses Streben erfolgt in organisierter und gesellschaftlich institu-‐ tionalisierter Form, und ist ein Prozess, der sich über die bisher bekannte Geschichte der Menschheit er-‐ streckt – auch wenn er nicht überall und in gleichem Maße sich entfaltet hat –, und in die Zukunft fortge-‐ führt wird. Der Erwerb von Epistéme-‐Wissen konstituiert deshalb eine Praxis, genauer: ein Bündel von ob-‐ jektbezogenen Praxen, den Wissenschaften. Als zeitlich ausgedehnte Entitäten haben Praxen, und somit auch die Wissenschaften, eine historische Entwicklung hinter sich, die sich in die Zukunft fortsetzt und sind Veränderung unterworfen. Bei manchen Wissenschaften können wir den ungefähren Zeitpunkt ihrer Kon-‐ stitution als separate Praxen bestimmen, bei anderen ist er in den Tiefen der Zeit verborgen. Wie jede andere Praxis entwickeln sich die Wissenschaften innerhalb menschlicher Gemeinschaften und sind Teil des gemeinschaftlichen Lebens. Ihre Realisierung erfordert Ressourcen, sowohl menschliche als auch materielle. D.h., eine Gemeinschaft muss in der Lage sein, eine oder mehrere Wissenschaften auf-‐ rechtzuerhalten – man muss sich Wissenschaften „leisten“ können. Ist dies nicht der Fall, dann bleibt das Streben von Epistéme-‐Wissen eine individuelle Angelegenheit, die sich der Priorität der Sicherstellung des-‐ täglichen Überlebens fügen muss. Deshalb erfordert die Herausbildung der Wissenschaft oder der Wissen-‐ schaften ein gewisses Maß an materiellem Wohlstand und, wie Aristoteles betont, ein gewisses maß an Muße. Die Gemeinschaft muss so wohlhabend sein, dass sie es sich leisten kann, zumindest einige ihrer Mitglieder zeitweise von der täglichen Überlebens-‐und Reproduktionsanstrengungen freizustellen, damit diese Epistéme-‐Wissen erwerben können. Auch wenn sie die Not lindern hilft, kann die Wissenschaft kein Kind der Not sein.
2.4
Das Wesen des wissenschaftlichen Wissens
Die Wissenschaft ist eine Praxis, die dem Erwerb von Epistéme-‐Wissen dient. Die Inhalte dieses Wissen bilden eine Ordnung, die die Forschungsziele der einzelnen Wissenschaften bestimmt. Schon in der Antike entbrannte eine Kontroverse über den genauen Inhalt bzw. die genaue Natur der Gegenstände wissen-‐ schaftlichen Wissens. Während die so genannten Naturphilosophen wissenschaftliches Wissen als die Er-‐ kenntnis der ersten Prinzipien oder der ersten Ausgangsstoffes oder der ersten materiellen Ursache der Welt betrachteten, erklärte der bereits erwähnte Parmenides die Erkenntnis des Seins und seiner Bezie-‐ hung zu den sinnlich wahrnehmbaren Phänomene zu seinem Inhalt. Platon erkannte, dass ein undifferen-‐ ziertes Sein nicht die hinreichende Grundlage für ein differenziertes wissenschaftliches Wissen sein konnte, obwohl es dafür notwendig war, und postulierte die Ideen als diejenigen Entitäten, die die Ursachen für die mannigfaltigen nach einer Idee geformten realen Existenzen waren. Demnach bestand wissenschaftliches Wissen in der Erkenntnis der Ideen und in der Erkenntnis der Mechanismen, die die „Implementierung“ der Ideen in die Materie ermöglichen. Allerdings ließ diese Konzeption die Frage offen, wie die Materie zu den Ideen kommt, d.h., woher die einzelnen Dinge „wissen“, welche Idee sie realisieren. Platon selbst hat er-‐ kannt, das Ideen keine raumzeitlich wirksamen Ursachen sein können weder in dem Sinne, dass sie „Welt-‐ bereiche“ abstecken, die die Materie in eine bestimmte Gestalt zwingen,8 noch als irgendwie auf einer an-‐ deren Weltebene (Ideenhimmel, die Welt außerhalb der „Höhle“9) existierende Prototypen der geformten Dinge.10 Aristoteles bietet die Lösung zu diesem Dilemma, indem er feststellt, dass es gar nicht nötig ist, dass die Materie sich auf die Suche nach den Ideen zu begeben braucht, denn die Ideen existieren zusam-‐ darauf hinzuarbeiten, dass das gemeinschaftliche Leben, an dem man teilnimmt, sich guten Zielen verschreibt und die bloß bequemen aufgibt, oder, dass die bequemen Zwischenziele, die als notwendig für die Erreichung eines gu-‐ ten Zieles erachtet werden, eliminiert werden. Dabei gilt es natürlich zu beachten, dass die Mittel, die man an-‐ wendet, um diese Reform zu erreichen, das bereits erreichte Niveau an „Güte“ in einer gegebenen Gemeinschaft nicht zerstören. 8
Das ist die so genannte „Persenning-‐Theorie“ der Ideen, vgl. Platon Parmenides xxx.
9
Vgl. das so genannte Höhlengleichnis in Platons Politeia (xxx).
10
Die Prototypen-‐Theorie wird mit dem „Dritter-‐Mann-‐Argument“ widerlegt, vgl. Platon Parmenides xxx. 12
Einführung in die Philosophie der Wissenschaften – 2. Das Wesen der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Wissens
men mit den nach ihnen geformten Dingen, und zwar in den geformten Dingen als ihre Formen. Eine Form ist gemäß dieser Konzeption die Instanz, die das Was-‐Sein eines geformten Dinges bestimmt, während die Materie diejenige Instanz ist, die sein So-‐Sein, d.h. seine jetzige Existenz in Raum und Zeit bestimmt. Die Form bestimmt allerdings über das Was-‐Sein auch das So-‐Sein eines geformten Dinges, da sie die Kriterien liefert, nach denen ein im Hier und Jetzt existierendes geformtes Ding in Bezug auf sein „Gelungen-‐Sein“ beurteilt wird. D.h. die Form liefert die Kriterien für Unterscheidungen wie krank/gesund, normal/defekt, typisch/untypisch usw. a. Realismus Die Aristotelische Konzeption der geformten Dinge betrachtet die Formen als real existierende Gegenstän-‐ de, die allerdings nicht unabhängig von den durch sie geformten real existierenden Einzeldingen bestehen – im Gegensatz zur „Platonistischen“ Konzeption, die die Formen/Ideen als real existierende Prototypen be-‐ trachtet. Wissenschaftliches Wissen hat die Erkenntnis dieser Formen zum Inhalt, was vermittels der Unter-‐ suchung der sie realisierenden geformten Einzeldinge erfolgt. Die Wissenschaft ist so laut Aristoteles die Praxis des Erkennens der Formen der geformten Dinge. Wissenschaftliches Wissen ist wahr, weil es auf der Erkenntnis der Formen als Realitäten beruht, d.h. es ist wahr im Sinne einer Korrespondenz zwischen Über-‐ zeugungen und Formen. Die universelle Geltung wissenschaftlichen Wissens wird durch den Umstand si-‐ chergestellt, dass seine Erkenntnisgegenstände in einem universellen Sinne existieren, nämlich als Allge-‐ meinheiten, die – günstige Umstände vorausgesetzt – überall das Vermögen haben, die Materie zur Bildung von geformten Dingen zu veranlassen. Die Aristotelische Konzeption der geformten Dinge und die damit verbundene Bestimmung der Aufgabe der Wissenschaft als Erkenntnis der Formen machen das erste und am längsten – über fast zwei Jahrtau-‐ sende – geistesgeschichtlich wirksame wissenschaftsphilosophische Programm aus, den (Formen)Realis-‐ mus. Die Umsetzung dieses Programms sah (und sieht) sich jedoch mit zwei gravierenden Problemen kon-‐ frontiert: 1.
2.
Die Formen sind nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern müssen aus den sinnlich wahrnehmbaren Ei-‐ genschaften geformter Dinge „abstrahiert“ werden. Um dies zu erreichen, müssen eine auf Former-‐ kenntnis ausgerichtete Wissenschaft die wesentlichen Eigenschaften von den bloß zufälligen (akziden-‐ tellen) Eigenschaften eines Dinges unterscheiden können. Die Formen haben das Vermögen, auf die Materie einzuwirken und sie zu den jeweiligen geformten Dingen zu organisieren. Eine auf Formerkenntnis ausgerichtete Wissenschaft muss diese „Informie-‐ rungsmechanismen“ aufklären. Dies ist jedoch schwierig, denn die Formen sind uns nur indirekt zu-‐ gänglich. Die Mechanismen, mit denen Formen ihr organisierendes Vermögen ausüben, können somit nur durch das Studium des Verhaltens der sinnlich wahrnehmbaren Materie geformter Dinge erschlos-‐ sen werden.
Diese Probleme haben zur Folge, dass das wissenschaftliche Wissen von Formen ungenau und fallibel ist. Außerdem läuft man ständig Gefahr, eine bestimmte sinnlich wahrnehmbare Konfiguration von Dingeigen-‐ schaften für den „eigentlichen“ Ausdruck bzw. Realisierung des Forminhalts zu halten. Es besteht mit ande-‐ ren Worten die Gefahr, ein bestimmtes Dóxa-‐Wissen eines geformten Dinges für das Epistéme-‐Wissen sei-‐ nes Formausdrucks zu halten. Dieses für Epistéme-‐Wissen-‐Halten eines bloßen Dóxa-‐Wissens bestimmt diejenige Geisteshaltung, die Dogmatismus genannt wird. Die Erkenntnis der Dogmatismus-‐Gefahr in Ver-‐ bindung mit der Erkenntnis der Fallibilität eines auf Formerkenntnis ausgerichteten wissenschaftlichen Wissens fördern die Entwicklung einer zweifelnden Geisteshaltung, des Skeptizismus. b. Skeptizismus Es gibt viele Varianten des Skeptizismus, die alle jedoch in verschiedenen Stufen der Radikalität die Ansicht vertreten, dass wir kein sicheres Wissen des Wesens der Dinge (und somit auch kein Epistéme-‐Wissen) haben können, weil wir keine von der Sinneswahrnehmung unabhängige Möglichkeit haben, zu entschei-‐ den, ob das, was wir für die Form eines geformten Dinges halten, tatsächlich die Form ist und ob das, was wir als Eigenschaft eines geformten Dinges wahrnehmen, tatsächlich durch die Form dieses Dinges bedingt wird. Wenn wir aber kein Wissen des Wesens der Dinge haben können, dann, so der radikale Skeptizismus, 13
Einführung in die Philosophie der Wissenschaften – 2. Das Wesen der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Wissens
können wir überhaupt kein Wissen haben, d.h. wir können überhaupt nicht unsere wahre Erkenntnis han-‐ delnd realisieren, weil wir eben keine wahre Erkenntnis haben können. Dass wir im Alltag mit unserem vermeintlichen Dóxa-‐und Epistéme-‐Wissen zurechtkommen, haben wir dem Umstand zu verdanken, dass das Weltgeschehen irgendwie geregelt abläuft, so dass wir im Strom der Ereignisse Wiederholungen und Regularitäten ausmachen können, aus denen wir bzw. unser Verstand Schemata oder Allgemeinheiten auf-‐ bauen. c. Nominalismus Die „positive“ Seite des Skeptizismus besteht darin, dass auch der Skeptiker nicht das Vermögen des Ver-‐ standes leugnen kann, Allgemeinbegriffe zu bilden, die in irgendeiner Weise praktisch verwertbar sind, in dem Sinne, dass sie zumindest den technischen Umgang mit der Welt ermöglichen. Dieser umstand wird nun benutz, um einen zumindest praktischen Ausweg aus einem alles vernichtenden Skeptizismus zu fin-‐ den: Der Verstand – so diese Lösung – erhebt gar nicht den Anspruch, dass die von ihm gebildeten Allge-‐ meinbegriffe irgendeine Entsprechung zu realen universellen Existenzen aufweisen – seien diese Formen, oder Ideen –, sondern dass sie (höchstens) Klassen11 (manche meinen sogar lediglich Mengen)12 von sinn-‐ lich wahrgenommenen und wahrnehmbaren Ereignissen beschreiben. Ihre sprachlichen Ausdrücke sind „bloße Namen“ oder „Termini“ – Fachbezeichnungen –, daher fasst man derartige philosophische Systeme unter dem Titel Nominalismus. Alle nominalistischen Varianten stimmen in Folgendem überein: 1. 2. 3. 4.
Sie nehmen eine skeptische Haltung gegenüber der Behauptung ein, dass es möglich sei, Epistéme-‐ Wissen von Formen zu gewinnen. Sie vertreten die Ansicht, dass das Epistéme-‐Wissen im besten Fall Wissen über Systeme von begrün-‐ deten Überzeugungen sein kann. Sie stimmen darin überein, dass die Allgemeinbegriffe, die das Epistéme-‐Wissen ausmachen, Beschrei-‐ bungen von Klassen oder Mengen von „wahrgenommenen“ Einzelgegenständen sind. Sie stimmen darin überein, dass diese Klassen oder Mengen durch die Verstandestätigkeit erst auf Grund und nach13 dem „Vollzug“ der Wahrnehmung dieser Gegenstände gebildet werden. Die Konsti-‐ tutionstätigkeit des Verstandes wird allgemein als Reflexion bezeichnet.
Die Unterschiede zwischen den Varianten des Nominalismus manifestieren sich entlang dreier Dimensio-‐ nen: a. b. c.
Bezüglich der „Natur“ bzw. der „Konsistenz“ der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände – die Basisdi-‐ mension. Bezüglich der Methoden, gemäß denen Allgemeinbegriffe konstituiert bzw. gebildet werden – die Kon-‐ stitutionsdimension. Bezüglich der Methoden, mit denen die Geltung bzw. die Richtigkeit oder Tauglichkeit der epistemi-‐ schen Begriffssysteme geprüft und sichergestellt wird – die Geltungsdimension.
Man kann die verschiedenen nominalistischen Ansätze in drei „Großfamilien“ einteilen, und zwar je nach dem wie sie die Tätigkeit der „Wahrnehmung“ von der Tätigkeit der „Reflexion“ abgrenzen. 1.
Erste Familie: Die Wahrnehmung wird als Resultat einer besonderen Lebensaktivität begriffen, die als Sinnlichkeit oder als Sinnestätigkeit bezeichnet wird. Die Sinnestätigkeit ist passiv und wird von der Existenz ihr äußerlicher Gegenstände angeregt (man sagt auch: affiziert). Die verschiedene Qualitäten oder Dimensionen der sinnlichen Wahrnehmung (Sehen, Hören, riechen, Tasten, Schmecken usw.) gel-‐
11
Eine Klasse ist eine „Gruppe“ von Gegenständen, die zumindest ein gemeinsames Merkmal haben. Man sagt auch, dass Klassen nach einer Bildungsregel konstituiert werden.
12
Mengen sind „Gruppen“ von Gegenständen, die lediglich durch Festsetzung (Stipulation) konstituiert werden. Klassen sind eine „Unterart“ von Mengen, d.h. alle Klassen sind Mengen, aber nicht alle Mengen Klassen.
13
Dieses „nach“ wird nicht in allen Varianten des Nominalismus zeitlich verstanden. 14
Einführung in die Philosophie der Wissenschaften – 2. Das Wesen der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Wissens
ten als fundamental und unanalysierbar. Nominalistische Varianten, die auf der Primordialität der sinn-‐ lichen Wahrnehmung aufbauen, bilden die Großfamilie des Empirismus. 2.
Zweite Familie: Die Wahrnehmung wird als ein von drei Aspekten der allgemeinen Verstandestätigkeit begriffen (die beiden anderen sind die Affektion und das rationale Denken). Die Wahrnehmung ermög-‐ licht die gegenseitige Erkenntnis denkender Wesen. Das, was als Sinnlichkeit bezeichnet wird, ist ein Resultat dieser zunächst rein geistigen Tätigkeit. Nominalistische Varianten mit diesem Verständnis von Wahrnehmung bilden die Großfamilie des absoluten Idealismus. Seine prominentesten Vertreter sind der bereits erwähnte Parmenides, Spinoza, Leibniz, Fichte, (vielleicht) Hegel und im frühen 20. Jahrhundert der englische Philosoph John McTaggart Ellis McTaggart.
3.
Die dritte „Großfamilie“, die inhomogen ist, und deshalb eher eine lose „Sippe“ als eine „Großfamilie“ bildet, besteht aus Positionen, die zwischen Empirismus und absolutem Idealismus zu vermitteln ver-‐ suchen. Dazu gehören die philosophischen Systeme von Descartes und Kant.
Die Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts ist durch den Empirismus geprägt. Wir werden deshalb im zweiten Teil der Vorlesung den geschichtlichen Weg dieser „Großfamilie“ von ihrem Aufstieg mit Carnap und dem Logischen Empirismus bis zu ihrem Zerfall in die verschiedenen „Konstruktivisten“ verfolgen und am Ende mit einem am klassischen Realismus orientierten Entwurf konfrontieren. Der absolute Idealismus hat im späteren 20. Jahrhundert an Einfluss verloren, vor allem weil man im Siegeszug der Physik und der Chemie meinte, eine „materialistische“ Philosophie, wie sie der Empirismus propagiert, sei den Naturwis-‐ senschaften angemessener. Die Philosophien von Descartes und Kants haben ebenfalls die wissenschafts-‐ philosphischen Debatten des 20. Jahrhunderts bis in die 90er Jahre hinein kaum beeinflusst, zum Teil aus kontingenten Gründen, zum Teil aber, weil diese Philosophien von den Empiristen als „dualistisch“ entlarvt werden (was sogar als schlimmer als der absolute Idealismus gilt).
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Report "Einführung in die Wissenschaftsphilosophie - eine Vorlesung VO2 "