Einführung in die Wissenschaftsphilosophie - eine Vorlesung VO1

July 25, 2017 | Author: Nikos Psarros | Category: Philosophy of Science
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Einführung in die Philosophie der Wissenschaften – eine Vorlesung I.

Teil

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Einleitung

Die Wissenschaften in allen ihren Facetten sind ein integraler Teil des menschlichen Lebens, und zwar schon seit der Zeit der Priester-Astronomen der Sumerer und der alten Ägypter. Der Gedanke, dass es wissenschaftliches Wissen gibt, ist nach fast vier tausend Jahren wissenschaftlicher Tradition so fest in unserem Leben verwurzelt, dass sogar die meisten modernen „wissenschaftskritischen“ Strömungen sich auf wissenschaftliches Wissen berufen, das die zeitgenössischen Wissenschaften nicht zur Kenntnis nehmen 1 würden – sei es aus Ignoranz oder aus Bosheit. Natürlich gibt es auch diejenigen, die sich auf ein Wissen anderer Art berufen – auf ein Wissen, das nur Wenigen zugänglich gemacht werden kann, sei es auf dem Wege der Erleuchtung oder der Offenbarung –, aber diese Bewegungen wurden schon in der Antike nicht ernstgenommen, misstrauisch beäugt oder sogar offen bekämpft. Das Schicksal der Pythagoreer ist da kei2 ne Einzelerscheinung. Die Tatsache, dass den Wissenschaften und dem wissenschaftlichen Wissen ein so hoher Respekt entgegengebracht wird, ein Respekt, der anscheinend kultur- und epochenübergreifend ist, geht einher (und dies lässt sich auch historisch belegen) mit der Frage nach der Wesensbestimmung und der „Qualitätssicherung“ sowohl dessen, was als Wissenschaft, als auch dessen, was als wissenschaftliches Wissen bezeichnet wird. Die Beantwortung dieser Frage gehört seit Parmenides und Platon zum Themenkatalog eines jeden philosophischen Entwurfs. Die Vorlesung wird im ersten Teil einige historisch überlieferte Antworten auf diese Frage kritisch nachzeichnen, wobei der Schwerpunkt auf die Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts gelegt wird. Im zweiten Teil der Vorlesung wird der Versuch unternommen, aus einem bestimmten philosophischen Blickwinkel heraus, der als „anti-nominalistisch“ bezeichnet wird, die grundlegenden wissenschaftliche Begriffe „(wissenschaftliches) Gesetz“, „Experiment“ und „Theorie“ zu explizieren und das Verhältnis zwischen den so genannten Natur- und den Geisteswissenschaften zu erläutern. Die erste Frage, die sich in diesem Rahmen stellt ist, die Frage nach der Bestimmung des Wesens der Wissenschaft. Das Wort „Wissenschaft“ ist aber ein abgeleitetes Wort, d.h. seine Bedeutung beruht auf der Bedeutung eines anderen Wortes, des Wortes „Wissen“. Dieses Ableitungsverhältnis ist auch in Sprachen gegeben, in denen keine etymologische Beziehung zwischen den Ausdrücken „Wissenschaft“ und „Wissen“ besteht, wie im Deutschen. Wissenschaft ist begrifflich von Wissen abhängig, denn es geht um eine besondere Art des Wissens, nämlich um wissenschaftliches Wissen. Bevor wir uns mit der Frage nach dem Wesen der Wissenschaft befassen, müssen wir also die fundamentalere Frage beantworten, die lautet:

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Was ist Wissen?

Die Frage nach dem Wesen des Wissens ist genauso alt wie die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft. Sie lässt sich bis zu den Reflexionen von Parmenides über die Natur der Dinge zurückverfolgen, die er in seinem gleichnamigen Lehrgedicht festgehalten hat. Parmenides hat im 5. Jahrhundert v.C. in Elea, einer griechischen Kolonie in Süditalien (gegründet von Flüchtlingen aus dem kleinasiatischen Phokäa), gelebt. Er war nicht der erste, der sich mit den Wissenschaften beschäftigt hat. Zu seiner Zeit blickte man auf eine mindestens zwei Jahrtausende alte Tradition, die auf die Sumerer und Babylonier zurückging, und auch in Ägypten hatte sich, lange bevor sich die Griechen als Volk und Kultur im Mittelmeerraum bemerkbar mach1 2

Der Verlauf der Debatten zur Nutzung der Kernenergie und zum Klimawandel sind zwei Beispiele dafür. Den Anhängern von Pythagoras wurde nachgesagt, exklusive Gemeinschaften zu bilden und ihr Wissen nur eingeweihten zu offenbaren. Dies, verbunden offenbar mit ihrer Unterstützung von konservativen und autoritären politischen Strukturen, hat dazu geführt, dass pythagoreische Gemeinschaften in vielen griechischen Städten zum Teil gewaltsam verfolgt wurden. Großen Zulauf fanden hingegen Gelehrte, die sogenannten Sophisten, die ihr Wissen öffentlich jedem feilboten, der bereit und in der Lage war, es zu kaufen. Sokrates kann als der Begründer einer dritten Richtung betrachtet werden, die wissenschaftliches Wissen zu öffentlichem Gut erklärt, das jedem Menschen zugänglich sein sollte. Das bedeutet, dass die Aufrechterhaltung des wissenschaftlichen Betriebs zur Staatsangelegenheit wird.

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ten, eine mehrere Bereiche umfassende wissenschaftliche Tradition entwickelt. Er war auch nicht der erste, der Wissenschaft nicht bloß als Mittel zur Bewältigung der Alltagsprobleme einsetzte – so wie es zu seiner Zeit die Zivilisationen am Nil und am Zweistromland bereits seit zwei Jahrtausenden praktizierten –, sondern um das Wesen der Welt zu begreifen und die Stellung des Menschen darin zu erklären. Die „ionischen Naturphilosophen“ hatten dieses Projekt bereits eine Generation zuvor gestartet. Was Parmenides auszeichnet, ist, dass er in seinem Lehrgedicht nicht nur eine wissenschaftliche Erklärung der Welt liefert, sondern auch zeigt, wie man die Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen sicherstellt: Parmenides entwickelt ein Konzept (oder Theorie) der Wahrheit und eine Methode zum Erwerb wahren wissenschaftlichen Wissens. Parmenides’ Konzept der Wahrheit besagt grob Folgendes: a. b.

Wahrheit ist eine Eigenschaft der Rede, genauer: eine Eigenschaft von Aussagen über die Existenz. Wenn man eine Aussage bejaht, dann bedeutet dies, dass der Inhalt dieser Aussage (das, was diese Aussage beschreibt) existiert – die Aussage ist dann wahr. Für ein Ding zu existieren, heißt, ein Teil der Existenz an sich, ein Teil des Seins zu sein. 3 Alle wahren Aussagen beziehen sich auf das eine Sein und bilden ein System.

c. d.

Parmenides sagt uns nicht, was Aussagen sind. Aus dem Kontext seines Lehrgedichtes wird aber klar, dass 4 er Aussagen als den (lautlich) wahrnehmbaren Ausdruck von Geisteszuständen (mentalen Zuständen) betrachtet. Mit dieser zusätzlichen Klärung gewinnen wir die Parmenidische Bestimmung von Wissen: Wissen besteht aus denjenigen Geisteszuständen, die in wahren, d.h. dem Sein entsprechenden, Aussagen ihren Ausdruck finden.

1.1

Die korrespondenztheoretische Bestimmung von Wissen

Wissen bezieht gemäß dieser Bestimmung den Geist auf das Sein, und zwar derart, dass jede wahre Aussage die reale Existenz des im Denken beschriebenen Gegenstandes bedeutet. Wenn das in der Aussage beschriebene nicht existiert, dann ist sie falsch und der mit dieser Aussage verbundene Geisteszustand ist kein Wissen. „Unrichtiges“ oder „unvollständiges“ Wissen gibt es für Parmenides nicht: Eine falsche Aussage ist kein Ausdruck von Wissen, sondern zeugt von einem Irrtum, an dem man aus Unwissenheit festhält. 5 Parmenides nennt einen solchen irrenden Geisteszustand „Vermutung“ (δόξα, Dóxa). Diese Auffassung (oder Theorie) des Wissens könnte man auch als die korrespondenztheoretische bezeichnen. Neben der Parmenidischen gibt es auch andere korrespondenztheoretische Varianten, die sich hauptsächlich von dieser darin unterscheiden, dass sie „das Sein“ von Parmenides näher bzw. anders zu bestimmen versuchen. Allen aber ist die Auffassung gemeinsam, dass sie Wissen über eine Korrespondenzbeziehung zwischen Geistes- und Weltzuständen bestimmen. Sie mag einleuchtend erscheinen, ist aber, wenn man sie im Detail untersucht, mit einigen Problemen behaftet, die sich als dermaßen unangenehm erweisen können, dass ihre Attraktivität verblasst. Ein Problem betrifft den Zusammenhang zwischen den Geisteszuständen, die in einer bestehenden Korrespondenzbeziehung zu den Weltzuständen stehen. Es ist nämlich so, dass das bloße Bestehen dieser Beziehung nicht ausreicht, um einen Geisteszustand als Wissen zu qualifizieren. Mit anderen Worten, das Bestehen der Korrespondenz ist eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für das Bestehen von Wissen. Das wird deutlich, wenn man sich eine Situation vor Augen führt, bei der es ausgeschlossen ist, dass man weiß, wie sie beschaffen ist, weil man Maßnahmen getroffen hat, dass es so ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die Teilnahme an einem Glückspiel. Sogenannte „Zufallsgeneratoren“ wie Roulette-Scheiben und Spielwürfel sind nämlich so konstruiert, dass es nicht möglich ist, im Voraus zu bestimmen, welchen Endzu3

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Das bedeutet, dass man – laut Parmenides – von jeder wahren Aussage alle anderen wahren Aussagen „erreichen“ kann, z.B. auf dem Wege der logischen Ableitung. Ob dies stimmt, ist selbst eine alte philosophische Streitfrage, die uns später beschäftigen wird. Ein anderer Ausdruck für „Geisteszustand“ ist „mentaler Zustand“. Dieser wird in der modernen Philosophie bevorzugt verwendet, weil er in den Augen vieler materialistischer Philosophen frei von der Konnotation eines von der Materie losgelöst existierenden Geistes ist. Aus Gründen, die später einsichtig werden, werde ich den Ausdruck „Geisteszustand“ verwenden. „Δόξα“ wird auch mit „Meinung“ übersetzt. Da „Meinung“ aber im Deutschen auch „(vernünftiger) Ratschlag“ bedeuten kann, scheint mir der Ausdruck „Vermutung“ zutreffender.

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stand sie nach ihrer Inbetriebnahme einnehmen werden. Das zeigt sich darin, dass die Häufigkeit eines bestimmten Zustands, etwa das Anhalten der Roulette-Kugel an einer bestimmten Zahl oder das Werfen einer bestimmten Augenzahl, für jeden möglichen Zustand, den das Gerät realisieren kann, gleich groß ist. Im Falle des Roulette-Scheibe beträgt diese 1/37. aller Inbetriebnahmen, bei Spielwürfeln beträgt sie 1/6. Man sagt auch, dass die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Zahl bzw. eine bestimmte Augenzahl nach einer Inbetriebnahme zu erreichen, 1:37 bzw. 1:6 ist. Es ist trotzdem möglich, eine wahre Aussage über den Ausgang einer gegebenen Inbetriebnahme eines Zufallsgenerators zu machen. Es ist sogar möglich, dass jemand in einer Serie derartige Aussagen macht, die sich über die gesamte Betriebsdauer des Generators erstreckt – es soll tatsächlich solche Glückssträhnen gegeben haben, die die Besitzer von Kasinos in Verzweiflung treiben. Personen, die derartige wahre Aussagen machen, muss gemäß der Korrespondenztheorie ein Wissen über die Funktion der Zufallsgeneratoren zugeschrieben werden. Dies ist aber durch das Konstruktionsprinzip der Maschinen ausgeschlossen – es sei denn, man hat dieses Prinzip nicht richtig realisiert. Die wahren Aussagen eines Glückspilzes sind somit nur zufällig wahr, weil sie, Parmenidisch gesprochen, nicht dem Sein des Zufallsgenerators entsprechen. Dieses Sein bestimmt nämlich, dass die einzelnen InbetriebnahmeErgebnisse nicht voneinander abhängen. Das kontinuierliche richtige Voraussagen von Roulette- oder Spielwürfelergebnissen, würde allerdings dann ein Wissen darstellen, wenn man auch angeben könnte, warum der betreffende Zufallsgenerator gestört ist – die Roulette-Scheibe könnte z.B. eine Unwucht aufweisen oder der Schwerpunkt des Spielwürfels könnte nicht mit seinem geometrischen Mittelpunkt übereinstimmen. In diesem Falle würden alle zeitlichen Zustände, die der Zufallsgenerator einnehmen würde, so miteinander verknüpft sein, dass am Ende ein bevorzugter Endzustand erreicht würde. Wahre Aussagen über gestörte Zufallsgeneratoren müssten so nicht nur die erreichten Endzustände beschreiben, sondern auch die dazu führenden Zwischenzustände. Wenn eine Person nun angeben könnte, welche Zustände des gestörten Zufallsgenerators zum richtig vorausgesagten Endzustand führen, dann würden alle ihre Geisteszustände, die dieses Gerät betreffen, den Weltzuständen des Gerätes entsprechen. Und nur dann würde sie über ein Wissen über seine Funktionsweise verfügen. Damit also ein Geisteszustand ein Wissen darstellt, muss er nicht nur zu einem Weltzustand korrespondieren, sondern er muss auch mit anderen Geisteszuständen so verbunden sein, dass diese Verbindung der Verbindung der diesen Geisteszuständen korrespondierenden Weltzuständen entspricht. Diese „innere Verbindung“ von Geisteszuständen nennt man traditionell „Begründetheit“. Ein Geisteszustand ist demnach begründet, wenn er mit anderen Geisteszuständen derart verbunden ist, dass das Vorhandensein jener Geisteszustände das Aufkommen dieses Geisteszustandes notwendigerweise zur Folge hat. In der modernen philosophischen Terminologie heißen Geisteszustände, die sich auf die Existenz von Weltzuständen beziehen, Überzeugungen (englisch: beliefs). Mit dieser terminologischen Fixierung kann die korrespondenztheoretische Bestimmung von Wissen so reformuliert werden: Wissen besteht aus begründeten Überzeugungen, die in wahren Aussagen ihren Ausdruck finden. Die korrespondenztheoretische Variante dieser Bestimmung verlangt, dass die Wahrheit der Aussagen auf der Entsprechung von Überzeugungen zu miteinander verknüpften Weltzuständen beruht. Die Forderung nach Begründung der wahren Überzeugungen beseitigt das Kontingenzproblem der korrespondenztheoretischen Bestimmung von Wissen, reicht aber immer noch nicht aus, um die Entsprechungsbeziehung zwischen Überzeugungen und Weltzuständen zu gewährleisten: Nehmen wir nämlich an, ein Kasinobesucher würde tatsächlich wissen, dass eine Roulette-Scheibe gestört ist und auch wissen, wie die Häufigkeitsverteilung der Endzustände ist. Er weiß somit auch, dass wenn er auf eine bestimmte Zahl setzt, langfristig einen Gewinn machen wird. Er fängt an, unter Wahrung aller Maßnahmen damit sein Wissen nicht auffällt, zu spielen. Im Laufe des Betriebs der Roulette-Scheibe wird aber zufällig für eine Weile die Störung des Gerätes beseitigt. Unser Spieler führt seine Strategie fort, weil er diesen Umstand nicht bemerkt hat, und erzielt einige Erfolge, die aber jetzt dem Zufall zu verdanken sind. Nach einigen Spielrunden stellt sich die Störung wieder ein und zwar so, wie sie ursprünglich beschaffen war. Unser Spieler beendet weiterhin erfolgreich seine Einsätze, kassiert seinen Gewinn ein und verschwindet. Unser Spieler hat nicht bemerkt, dass das Gerät temporär nicht so funktioniert hat, wie er es erwartet hat, so dass er sagen kann, dass er

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über die gesamte Spieldauer der begründeten Überzeugung war, dass das Gerät gestört war. Diese Überzeugung war aber nur zeitweilig wahr, nämlich nur während der Anfangs- und der Endphase des Spielbetriebes, obwohl sie während der gesamten Betriebsdauer begründet gewesen ist. Dieses Beispiel scheint die korrespondenztheoretische Bestimmung des Wissens mit einem unüberwindlichen Problem zu konfrontieren, denn es scheint keine Möglichkeit zu geben, durch die Begründetheit die Wahrheit von Überzeugungen zu gewährleisten und somit die Bedingungen der korrespondenztheoretischen Bestimmung von Wissen immer zu erfüllen.

1.2

Die kohärentistische Bestimmung von Wissen

Ein Vorschlag zu Überwindung dieses Problems besteht darin, die Wahrheit von Aussagen nicht mehr über eine Korrespondenzbeziehung zu einzelnen Weltzuständen zu bestimmen, sondern sie direkt auf die Begründetheit von Überzeugungen zurückzuführen. Die Wahrheit von Aussagen beruht dieser Auffassung nach lediglich auf dem Umstand, dass sie genauso verknüpft sind, wie die Überzeugungen, die sie ausdrücken. Wahre Aussagen bilden kohärente Systeme, die Systeme von begründeten Überzeugungen ausdrücken. Man ist so zu folgender Bestimmung von Wissen gelangt: Wissen ist ein System kohärent wahrer Aussagen, das nicht an der Erfahrung der Welt scheitert. Für die Vertreter der Kohärenztheorie macht es keinen Sinn, einzelne Aussagen in eine Korrespondenzbeziehung zu einzelnen Weltzuständen stellen zu wollen, weil es keine Möglichkeit gibt, das Bestehen dieser Beziehung zu gewährleisten und zu überprüfen. Man kann höchstens das gesamte System der kohärenten Aussagen, d.h. das gesamte System der begründeten Überzeugungen, mit der Welt konfrontieren und schauen, ob und wo es „Passungsprobleme“ gibt. Diese können dann entweder durch eine Readjustierung des Überzeugungssystems oder eben durch ein selektives Ignorieren von einzelnen Weltzuständen gelöst werden (in dem Sinne, dass die nicht passenden Weltzustände als zufällig und somit als irrelevant betrachtet werden). Der Rückzug auf die kohärenztheoretische Position scheint ein kluges Manöver zu sein und viele Situationen des Alltagslebens angemessen zu erfassen. Man kann dadurch Aussagensysteme wie die homöopathische Medizin oder verschiedene religiöse Überzeugungen durchaus als Wissen über die Gesundheit oder als Wissen über Gott qualifizieren. Die Kohärenztheorie des Wissens liefert uns aber kein Kriterium zur Disqualifikation von Überzeugungssystemen als Irrtum, denn auch ihre Dysfunktionalität oder ihre offenkundige Unangemessenheit dem Alltagleben gegenüber kann nicht als Argument gegen ihre interne Begründetheit herangezogen werden. Anhänger der Kohärenztheorie versuchen dieses Problem zu beheben, indem sie das Bestehen der Kohärenz an zusätzliche Bedingungen knüpfen, wie z.B. an die konsensuelle Akzeptanz durch eine Menschengemeinschaft oder an das Erfüllen von formalen Prinzipien, wie etwa Fairness oder gleichberechtigte Behandlung von Interessen. Weder die Erreichung eines Konsenses noch die Aufstellung von Prinzipien reichen jedoch aus, um ein kohärentes System von Überzeugungen bzw. von Aussagen mit einem Ausmaß an notwendiger Geltung auszustatten, das dieses als Wissen qualifizieren würde. Der Konsens ist aus zwei Gründen nicht ausreichend: Erstens ist die Bindung an einen Konsens stets faktisch. Kein Konsens kann jemanden dazu verpflichten, sich diesem anzuschließen oder ihn nicht zu verlassen. Zweitens ist die Angemessenheit eines Konsenses zur Welt kontingent. Es gibt keine Möglichkeit, auszuschließen, dass diejenigen Aspekte der Welt, die der Konsens ignoriert, nicht doch in fundamentaler Weise relevant sind. An das Wissen wird aber der Anspruch herangetragen, dass nur seine Inhalte in fundamentaler Weise relevant sind. Selbstverständlich kann niemand sicherstellen, dass ein Wissen infallibel ist, d.h. dass es sich niemals als Irrtum erweisen kann. Jedes Wissen erhebt aber den Anspruch – und von jedem Wissen erwarten wir, dass es den Anspruch erhebt –, dass seine Inhalte für die Erfassung und Bewältigung eines gegebenen Weltzustandes fundamental relevant sind. Ein Wissen, das seine Inhalte selbst in Frage stellt, ist kein Wissen. Und ein Wissen, das auf einem Konsens beruht, stellt seine Inhalte allein deshalb in Frage, weil es vom faktischen Bestehen des Konsenses abhängig ist.

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Die Sicherstellung der Angemessenheit eines kohärentistisch fundierten Wissens kann durch Aufstellung von Prinzipien ebenfalls nicht erreicht werden, weil die Geltungsgründe eines Prinzips überhaupt nicht spezifiziert, geschweige denn begründet werden können. Ein Prinzip kann sich höchstens in seiner Anwendung bewähren, wobei man wieder vor die Frage gestellt wird, zu entscheiden, ob diese Bewährung notwendig oder bloß zufällig ist. In dieser Hinsicht sind Prinzipien sogar schlechter gestellt als die so genannten Axiome, denn Letztere erheben immerhin den (zugegebenermaßen schwer einlösbaren) Anspruch, dass ihre Wahrheit und somit auch ihre notwendige Geltung erkennbar ist, weil sie einem Grundzug der Welt entspricht. Man hat versucht, das kohärentistische Wissenskozept zu retten, indem man den Anspruch auf universelle Geltung für die Bestimmung von Wissen aufgegeben hat. Ein System von kohärenten Überzeugungen soll demnach bereits dann Wissen sein, wenn es lokal irgendwelchen Weltzuständen entspricht. Der Ausdruck „lokal“ bezieht sich hier hauptsächlich auf eine soziale Umgebung, etwa eine Kultur oder eine bestimmte Form von Tätigkeit. Aber auch dieses Manöver bringt nicht das erhoffte Ergebnis, denn, auch wenn man nicht verleugnen kann, dass es lokal gültiges Wissen gibt, so erhebt man doch den Anspruch, dass die Geltung eines Wissensbestandes jedem Anwesenden demonstriert werden kann, und nicht bloß den „Eingeweihten“ oder den „Wissenden“. Ein Wissen, das nicht jedem vermittelbar und/oder durch jeden überprüfbar ist, verliert auf Dauer seinen Status als Wissen auch wenn die „Wissenden“ für jeden Fall des Scheiterns, die Geltung dieses Wissens zu demonstrieren, eine in ihren Augen „gute“ Erklärung haben. Fassen wir zusammen: Die Bestimmung von Wissen als System von begründeten Überzeugungen, das in korrespondenz-wahren Aussagen seinen Ausdruck findet, scheint unzureichend zu sein, weil es nicht die Notwendigkeit der Korrespondenz zwischen Überzeugungen und Weltzuständen sicherstellen kann. Der Rückzug auf eine kohärentistische Auffassung von Wahrheit verschärft dieses Problem, weil diese den Inhalt von Überzeugungen von einem direkten Bezug zur Welt abkoppelt und dadurch die universelle Überprüfbarkeit von Wissen unmöglich macht. Sollen wir daraus den Schluss ziehen, dass Wissen unmöglich ist? Wenn dies so wäre, dann wäre das Projekt der Wissenschaft eine Chimäre. Andererseits aber, scheinen die Wissenschaften doch ein universell gültiges Wissen zu liefern. Wenn das so ist, dann muss es eine begriffliche Bestimmung von Wissen geben, die den erwähnten Problemen nicht ausgesetzt ist, eine Bestimmung, die nachvollziehbar ist und verstehbar macht, was Wissen und was Wissenschaft ist. Diese Bestimmung von Wissen muss einerseits mit unserer Beziehung zur Welt zu tun haben – sonst würden wir nicht aus dem Umgang mit der Welt Wissen gewinnen können – und andererseits auch mit der Tatsache, dass wir in dieser Welt tätige Existenzen mit bestimmten Tätigkeitsvermögen sind.

1.3

Wissen als Vermögen

Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die Bestimmung von Wissen über Geisteszustände und ihre Eigenschaften und Relationen zu anderen Zuständen problematisch ist. Als tätige, denkende und handelnde, Lebewesen verfügen wir natürlich über Geisteszustände, doch diese Geisteszustände sind nicht losgelöst von dem, was wir tun können, sondern sie sind Teil dieses Tuns. Und das, was wir tun können, macht unser Vermögen aus, d.h. das, wozu wir fähig sind. So haben wir das Vermögen zu denken, zu sprechen, aufrecht zu stehen, zu gehen, zu laufen, zu sehen – und offensichtlich auch das Vermögen zu wissen. Wir zeigen, dass wir über diese Vermögen verfügen, indem wir sie realisieren: wir stehen aufrecht, gehen, sprechen, laufen... Wie zeigen wir, dass wir über das Vermögen verfügen, zu wissen? Die Antwort lautet: Indem wir die Inhalte unseres Wissens realisieren. Das geschieht auf vielfältige Art und Weise, z.B. indem wir die Tätigkeit ausüben, worüber wir Wissen haben. Wir zeigen, dass wir wissen, wie man Auto fährt, indem wir ein Auto korrekt bedienen, uns im Verkehr einreihen, uns an die Regeln halten und unser Ziel sicher erreichen. Wir zeigen, dass wir wissen, wo sich ein Gebäude in unserer Stadt befindet, indem wir den Weg dorthin finden. Wir können aber zeigen, dass wir wissen, wo sich dieses Gebäude befindet, indem wir den Weg dorthin jemandem beschreiben, der seinerseits unserer Wegbeschreibung folgend dieses Gebäude erreicht. Wir können also unser Vermögen, zu wissen, entweder direkt durch das Ausführung einer Tätigkeit

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demonstrieren, ohne dieses Wissen zu artikulieren, oder wir können es sprachlich artikulieren, und so es anderen ermöglichen, dieses Wissen zu realisieren. Um einem Missverständnis vorzubeugen, muss hier klargestellt werden, dass nicht alle Eigenschaften von uns Vermögen darstellen. Wir haben z.B. die Eigenschaft, im physikalischen Sinne mit Masse und Trägheit behaftete Körper zu sein, oder die Eigenschaft, bestimmte Haar- oder Augenfarben zu haben. Wir haben auch die Eigenschaft, Sauerstoffatmer und farbsichtig zu sein usw. Alle diese Eigenschaften sind keine Vermögen, weil sie für jeden von uns in ihrer qualitativen und/oder quantitativen Ausprägung unveränderlich sind, auch wenn sie vielleicht bei jedem von uns unterschiedlich ausfallen. Nur Eigenschaften, die in ihrer je individualbezogenen Ausprägung veränderlich sind, stellen Vermögen dar. Die Eigenschaft, ein aufrechtstehendes Lebewesen zu sein, ist somit ein Vermögen, weil diese Eigenschaft bei jedem Menschen während seines Lebens veränderlich ist. Je nach Lebensphase und äußeren oder auch inneren Umständen (z.B. auf Grund von Krankheiten oder Verletzungen) kann ein Mensch besser oder schlechter aufrechtstehen, oder er kann dieses Vermögen gar nicht realisieren. Für alle anderen Vermögen gilt dasselbe: Ein Mensch kann besser oder schlechter sehen, besser oder schlechter laufen, sprechen, denken oder es kann ihm widerfahren, dass er nicht mehr in der Lage ist, eines oder mehrere dieser Vermögen zu realisieren (sogar das Denkvermögen!). Man kann die Realisierung eines Vermögens verbessern, indem man die dazugehörige Tätigkeit pflegt (trainiert), man kann sie auch verschlechtern, indem man die Tätigkeit vernachlässigt. Man kann ein Vermögen auch fehlerhaft realisieren, was dann zu Schäden an einem selbst und/oder an der Umgebung und Anderen führen kann. Alle diese Aspekte des Umgangs mit einem Vermögen gelten auch für das Wissens-Vermögen: a. b. c. d. e.

Wie jedes Vermögen wird das Wissensvermögen als eine Tätigkeit realisiert: Man zeigt, dass man über wissen bezüglich einer Situation verfügt, indem man etwas auf diese Situation bezogenes vollbringt. Wie jedes Vermögen bezieht sich das Wissensvermögen auf die Welt – Was man als Wissender vollbringt, ist in der Welt. Das, was man dabei erzeugt, sind Weltzustände. Das Wissensvermögen kann verbessert oder vernachlässigt werden. Es gibt Situationen, in denen man das Wissensvermögen überhaupt nicht realisieren kann – man hat kein Wissen, man ist unwissend. Man kann das Vermögen fehlerhaft realisieren – man irrt sich.

Wir können Wissen als Vermögen folgendermaßen bestimmen: Wissen ist das Vermögen, den Inhalt von begründeten kognitiven Geisteszuständen mittels Handlungen als Weltzustände zu realisieren. Diese Bestimmung unterscheidet sich von den bisher gemachten in zwei Punkten: 1. 2.

Sie bezieht die Geisteszustände nicht unmittelbar auf die Weltzustände, sondern führt eine „Vermittlungsinstanz“ ein, nämlich die Handlungen. Sie bezieht einen besonderen Typ von Geisteszuständen auf die Weltzustände, nämlich die kognitiven Geisteszustände. Das stellt uns vor die Aufgabe, den Terminus „kognitiv“ zu bestimmen.

Ad 1: Der handlungsvermittelte Bezug von Geisteszuständen zu Weltzuständen begründet den Vermögenscharakter des Wissens. Wie wir schon gesehen haben, ist unser Vermögen, zu handeln, ein fundamentaler Aspekt unserer Seinsverfassung. Ad 2: Die Einschränkung von Wissen auf die handlungsvermittelte Korrespondenz von kognitiven Geisteszuständen zu Weltzuständen bedeutet, dass Wissen auf einer besonderen geistigen Tätigkeit – auf einem besonderen geistigen Vermögen – beruht, nämlich auf dem Kognitions- oder Erkenntnisvermögen. Erkennen bedeutet in diesem Zusammenhang sowohl das Erfassen des Typs einer gegebenen Situation als auch das Erfassen der wesentlichen Momente dieser Situation („kognitiv“ heißt dann „erkenntisbezogen“). Auch wenn es schwierig ist, anzugeben, worin sich genau das Erkenntnisvermögen vom Wissensvermögen unterscheidet, handelt es sich dennoch um zwei separate Vermögen. Dies zeigt sich daran, dass Wissen als

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Form des Handelns unmittelbar erfolgreich oder erfolglos sein kann, während die „Qualität“ der dieses Wissen anleitenden Erkenntnis, erst mittels (des Grades) des Wissenserfolges bestimmt werden kann. Während also das Wissen die Inhalte der ihn anleitenden Erkenntnis realisiert, beziehen sich die Inhalte der Erkenntnis auf die Welt. Insofern die Inhalte der Erkenntnis den auf sie bezogenen Weltzuständen entsprechen, ist die Erkenntnis wahr, im gegenteiligen Fall ist sie falsch. Die Bestimmung des Wissens als Vermögen beruht somit auf einer korrespondenztheoretischen Bestimmung der Erkenntnis und kann folgendermaßen reformuliert werden: Wissen ist das Vermögen, wahre Erkenntnis handelnd zu realisieren. Die Bestimmung des Wissens als Vermögen ist trotz ihres korrespondenztheoretischen Charakters nicht den erwähnten Problemen der Bestätigung ausgesetzt, weil Erkenntnis, die nicht handelnd bestätigt wird, potentiell wahre und nicht aktuell wahre Erkenntnis ist.

1.4

Dimensionen des Wissens – Dóxa und Epistéme

Wie viele andere Vermögen, kann Wissen entlang mehrerer Dimensionen realisiert und verbessert/vernachlässigt werden. Im Falle des Wissens gibt es zwei solche Dimensionen, die zwei Typen von Wissen konstituieren: a. Die Dimension der lokalen Geltung – Dóxa Lokal gültiges Wissen bezieht sich auf das lokale Umfeld oder auf klar eingegrenzte Tätigkeitsbereiche, die nur bestimmte Prozesse, Materialien und natürliche oder künstliche Gegenstände umfassen. Jenseits dieser Grenzen ist lokal gültiges Wissen nicht anwendbar. Ein Beispiel für ein derartiges Wissen ist das Wissen, das zum Steuern eines Segelschiffes benötigt wird. Dieses Wissen ist nicht auf andere Wasserfahrzeugarten anwendbar, auch wenn es in seinen Inhalten teilweise mit dem Steuerungswissen anderer Wasserfahrzeuge übereinstimmt. Ähnlich bestellt ist es mit dem Heilungswissen eines Schamanen, der in der Lage ist, die im Umkreis seiner Stammesgenossen auftretenden Erkrankungen erfolgreich zu kurieren. Allen Manifestationen lokalen Wissens ist es gemeinsam, dass ihre Inhalte in Sätzen des Typs: „Wenn X der Fall ist, dann ist Y-tun geboten“ formuliert werden. Dabei gilt Folgendes: Der Adressat ist immer eine in den partikulären Tätigkeitsbereich eingeführte und darin auch tatsächlich tätige Person. Die Wahrheit der Aussage „Wenn X der Fall ist, dann ist Y-tun geboten“ wird nur durch den faktischen Erfolg der Tätigkeit Y begründet. Der Misserfolg einer lokalen Wissensaussage wird immer darauf zurückgeführt, dass entweder Y nicht richtig durchgeführt wurde, oder dass die Situation X nicht bestanden hat. Das Scheitern lokalen Wissens wird aus der Perspektive seiner Träger niemals auf den Umstand zurückgeführt, dass Y-tun doch nicht zur Bewältigung der Situation X geeignet ist. Das heißt, dass innerhalb eines lokalen Wissens die dieses Wissen artikulierenden Sätze nicht durch Gegenevidenz widerlegt (technischer Terminus: falsifiziert) werden können. Lokal gültiges Wissen hat deshalb auch den Charakter einer Vermutung, in die sein Träger blindes Vertrauen setzt – lokal gültiges Wissen hat den Charakter einer Dóxa. b. Die Dimension der universellen Geltung – Epistéme Universell gültiges Wissen bezieht sich nicht auf klar eingegrenzte Tätigkeits- und/oder Weltbereiche, sondern auf universell eindeutig realisierbare Gegenstände und Situationen. Der Terminus „universell“ bedeutet hier: weder räumlich noch zeitlich gebunden. Universell gültiges Wissen erhebt den Anspruch, den Erfolg bzw. die Geltung lokalen Wissens begründen zu können, indem es aufweist, welche universell bestehenden Sachverhalte für die Geltung eines gegebenen lokalen Wissens notwendig und hinreichend sind. Universell gültiges Wissen kann auch als Wissen über die „Wahrheitsmacher“ von lokalem Wissen bezeichnet werden. Aussagen, die universell gültiges Wissen zum Ausdruck bringen, haben folgende (logisch äquivalente) Strukturen:

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„A geschieht, weil B geschieht“, oder „Wenn A der Fall ist, dann ist notwendigerweise B der Fall“, oder „A ist die Ursache von B“. Im Unterschied zu lokal gültigen Wissensaussagen sind universell gültige Wissensaussagen offen für Falsifikationen, die nicht durch Argumente der Art „Wenn X kein B war, dann war es auch kein A“ aufgehoben werden können. Wie dies im Detail geschieht, werden wir in einem späteren Abschnitt untersuchen. Man kann lokal gültiges Wissen mit dem Wissen eines Menschen vergleichen, der auf einer Ebene sich bewegt, und aus den ihm sichtbaren Landschaftsmerkmalen Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der gesamten Gegend zu ziehen sucht, und universell gültiges Wissen mit dem Wissen eines Menschen, der über dieser Gegend fliegt, und einen unmittelbaren Gesamtüberblick der Landschaft hat. Universell gültiges Wissen ist in Bezug auf das lokal gültige ein Übersichts- und Aufsichtswissen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass es bereits im Altgriechischen mit dem Terminus ἐπιστήμη (Epistéme) belegt worden ist, der soviel wie „Aufsicht“ bedeutet. Der im Deutschen geläufige Terminus ist „wissenschaftliches Wissen“. Dieser Vergleich macht auch deutlich, dass wissenschaftliches Wissen (Epistéme-Wissen) stets auf lokal gültiges Wissen (Dóxa-Wissen) bezogen ist, und zwar so dass es die Geltung des Dóxa-Wissens begründet. Umgekehrt aber ist nicht jedes Dóxa-Wissen durch Epistéme-Wissen begründbar. Dóxa-Wissen, dass durch Epistéme-Wissen nicht begründbar ist, ist entweder ein Scheinwissen oder es bezieht sich auf Wahrheiten, die für das menschliche Leben konstitutiv sind und deren universelle Geltung nicht durch wissenschaftliche Tätigkeit ausgewiesen werden kann, weil sie das Fundament für die Geltung wissenschaftlichen Wissens sind. Dóxa-Wissen dieses Typs erhält seine Aufsicht und Führung durch philosophische Reflexion. Die Bezogenheit des Epistéme-Wissens auf das Dóxa-Wissen bedeutet jedoch nicht, dass Epistéme-Wissen allein durch Verfeinerung oder Vervollkommnung des Dóxa-Wissens entsteht. D.h., es gibt keinen direkten Weg, der vom Dóxa-Wissen ins Epistéme-Wissen führt. Dies zeigt sich auch am Umstand, dass die Inhalte des Epistéme-Wissens sich von den Gegenständen des Dóxa-Wissens wesensmäßig unterscheiden. DóxaWissen bezieht sich auf einzelne, raumzeitlich isolierte Dinge und Ereignisse. Man sagt auch, dass die Inhalte von Dóxa-Wissen konkret sind: Es geht um Wissen, wie man mit einem bestimmten Lebewesen oder eine mit einer bestimmten Lebewesenart, oder mit einem bestimmten Ereignis oder Ereignisart umgeht. Wie man eine bestimmte Krankheit heilt, oder eben weiß, wie man den Boden in einer bestimmten Gegend bestellt usw. Und die Richtigkeit des Dóxa-Wissens zeigt sich eben am Wohlergehen dieser Herde oder an der reichen Ernte in dieser Gegend, oder an der Heilung einer bestimmten Person, die an einer bestimmten Krankheit litt usw. Epistéme-Wissen hingegen ist allgemein oder abstrakt, man bezeichnet es auch als theoretisch. Seine Inhalte lassen sich nicht als konkrete Gegenstände oder Ereignisse in der Welt betimmen. Epistéme-Wissen über eine Tierart X bezieht sich auf die Tierart, unabhängig davon, ob ein bestimmtes Tier der Tierart X, alle Merkmale aufweist, die die Mitglieder der Tierart bestimmen. Für das Epistéme-Wissen ist eine Tierart nicht eine große Herde, sondern ein selbständiger Gegenstand, der seine ihm eigenen Merkmale aufweist. Dasselbe gilt für Stoffe, Bewegungen, Krankheiten usw. Das kann durchaus zu der unangenehmen Situation führen, das jemand zwar über Epistéme-Wissen über eine Situation im Allgemeinen verfügt, dieses Wissen aber nicht als Dóxa-Wissen auf eine konkrete Instantiierung der Situation realisieren kann. Man sagt in diesem Fall, dass jemand über theoretisches, aber nicht über praktisches Wissen verfügt. Deswegen gehört es zur Ausbildung von Wissenschaftlern, dass sie sich mit praktischem Wissen, d.h. mit Dóxa-Wissen, das von einem bestimmten Epistéme-Wissen begründet wird, zumindest ansatzweise vertraut machen. Und es ist ein Gebot der Vernunft, dass die Anwender eines bestimmten Dóxa-Wissen sich ebenfalls zumindest ansatzweise mit dem dieses Dóxa-Wissen begründenden Epistéme-Wissen vertraut machen, damit sie in der Lage sind, zu beurteilen, ob eine vermeintliche Begründung tatsächlich aus diesem Epistéme-Wissen ableitbar ist oder nicht.

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Dóxa-Wissen und philosophische Reflexion

Unsere Alltagserfahrung zeigt uns aber, dass es ein Dóxa-Wissen gibt, das, obwohl es nicht durch Epistéme-Wissen begründet werden kann, trotzdem kein Scheinwissen ist. Wissen dieses Typs wird in Aussagen ausgedrückt wie „alles, was geschieht, hat eine Ursache“, „es ist nicht möglich, Geschehenes ungeschehen zu machen“, „materielle Körper sind ausgedehnt“ oder „Stoffe sind unbelebt“. Derartige Wahrheiten sind Teil unseres Dóxa- und interessanterweise auch Teil unseres Epistéme-Wissens. Das EpistémeWissen kann sie deshalb nicht begründen, da es auf ihnen aufbaut. Wir sind trotzdem in der Lage, zu begründen, warum diese Überzeugungen wahr sind. Diese Art der Begründung stützt sich nicht auf einem positiven, universell gültigen Epistéme-Wissen. Wir gewinnen sie vielmehr, indem wir die Konsequenzen der Annahme ihrer Falschheit untersuchen. Mit anderen Worten, indem wir darüber nachdenken, warum derartige Überzeugungen wahr sind, loten wir die Grenzen unseres Wissensvermögens aus, und zwar nicht diejenigen Grenzen, die uns die materielle Welt setzt, sondern die Grenzen, die diesem Vermögen durch die Endlichkeit unseres Erkenntnisvermögens selbst gegeben sind. Diese Tätigkeit ist ein Teil der philosophischen Reflexion. Als Tätigkeit ist sie selbst die Realisierung eines Vermögens und hat wie jede Tätigkeit ein Ziel: In ihrem Fall ist dies die Vervollkommnung unseres Wissens und da Epistéme-Wissen vollkommener ist als Dóxa-Wissen, ist das Ziel philosophischer Reflexion die Vervollkommnung des Epistéme-Wissens.

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